tag:blogger.com,1999:blog-84239021971773472892024-02-20T02:43:49.496+01:00KammermusikkammerWMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.comBlogger389125tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-53060453765419432852020-04-02T13:32:00.000+02:002020-04-02T13:32:06.206+02:00Johannes Ockeghem: Missa Mi Mi -- Heinrich Isaac: Missa carminum (Historische Aufnahmen)<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjVwPB0MOtFWNTSygfALTKMlrhgMU7s93a5zhqHYBRZpi5Ddw6exxLvcIRAXTqDpmtQP4wCnh4aGpJr7839eVOUxM2FkDaobyCLgC5472TG0c4bhjh5p75iWnELxWf-WLFsrc4AxBdIirc/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1407" data-original-width="1417" height="317" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjVwPB0MOtFWNTSygfALTKMlrhgMU7s93a5zhqHYBRZpi5Ddw6exxLvcIRAXTqDpmtQP4wCnh4aGpJr7839eVOUxM2FkDaobyCLgC5472TG0c4bhjh5p75iWnELxWf-WLFsrc4AxBdIirc/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
<b>OPTIMUS COMPOSITOR Jehan de Ockeghem oder das ewige Fließen der Welt</b><br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>Nymphes des boys, déesses des fontaines,
Chantres expers de toutes nations,
Changés vos vois fort clères et haultaines
En cris trenchans et lamentations.
Car Atropos, très terrible satrappe,
A vostre Ock'ghem attrappé en sa trappe,
Vray trésorier de musique et chief d'oeuvre,
Dot, élégant de corps et non point trappé.
Grand dommaige est que la terre se coeuvre.
Accoustrès vous d'habis de deoul
Josquin, Perchon, Brumel, Compère,
Et plouré grosses larmes d'oeul:
Perdu avès vostre bon père.
Qu'il repose en paix.
Amen
</pre>
</td><td><pre>Nymphen des Waldes, Göttinnen der Quellen,
Kundige Sänger aller Nationen,
Ändert euren klaren, schönen Gesang
In durchdringende Schreie und Klagen.
Denn Atropos, die fürchterliche Tyrannin,
Hat euren Ockeghem gefangen in ihrer Falle,
Wahrhaft Schatzmeister der Musik und Meisterstück,
Gelehrt, mit elegantem Körper, nicht gedrungen.
Großes Unglück, dass die Erde ihn nun bedeckt.
Legt an eure Trauerkleidung
Josquin, Perchon, Brumel, Compère,
Und vergießt Fluten von Tränen:
Verloren habt ihr euren lieben Vater.
Er möge in Frieden ruhen.
Amen
</pre>
</td></tr>
</tbody></table>
<br />
Josquin Desprez hat diese Verse auf seinen Mentor, der möglicherweise auch sein Lehrer war, anrührend komponiert.<br />
<br />
Jehan de Ockgehem, (so lautete wohl die verbindliche Schreibweise, gehörte zu jenen Musikern, die schon zu Lebzeiten als geheiminsumwittert galten und der nach seinem Tode entgültig zum Mythos wurde.<br />
<br />
Geboren im Flandrischen irgenwann zwischen 1400 und 1430 ist über die Herkunft, Jugend und Ausbildung des Meisters nichts überliefert.<br />
<br />
Dabei ist es gar nicht so, daß es an biographischen Informationen mangeln würde (wie das bei so vielen Komponisten älterer Zeiten der Fall ist): Im Gegenteil, Ockeghems Leben ist uns so ausführlich dokumentiert wie allenfalls noch das seines Komponistenkollegen und Freund Guillaume Dufay (ca. 1400–1474). Allerdings gilt dies nur für seine späteren Jahre.<br />
<br />
1443/44 treffen wir Ockeghem erstmals als Kapellsänger an der Marienkirche in Antwerpen, 1446/48 war er erster Sänger in der Kapelle des Herzogs von Bourbon; und spätestens 1451 trat er in den Dienst jenes Herrn, dem er fast ein halbes Jahrhundert treu bleiben sollte: des französischen Königs, dessen "premier chapelain" er sein Leben lang blieb.<br />
<br />
Hier beginnt Ockeghems Karriere von dem üblichen Lebenslauf eines Komponisten im 15. Jahrhundert abzuweichen. Mit der Erwerbung eines Kanonikats an der Abtei von Saint-Martin in Tours 1454 hat er den bedeutsamsten Schritt seines künftigen Lebens getan. Seit der Merowinger Chlodwig I. den heiligen Martin zum Patron seiner Dynastie ernannt hatte, war Tours eines der bedeutendsten Heiligtümer der fränkischen und später der französischen Monarchie, und Abt von Tours war kein Geringerer als der französische König selbst. Als Karl VII. Ockeghem 1459 zum “trésorier” (Schatzmeister) von Tours ernannte, hatte dieser eines der höchsten Ämter Frankreichs inne, er wurde dadurch zum Baron von Chasteauneuf mit nahezu feudalen Rechten und war persönlicher Ratgeber des Königs. Kein anderer Musiker seiner Zeit hat auch nur annähernd Vergleichbares erreicht; und es unterliegt keinem Zweifel, daß Ockeghems Verdienste – er diente bis zu seinem Tod drei französischen Königen – sehr wenig mit seinen musikalischen, sehr viel aber mit politischen und diplomatischen Talenten zu tun gehabt haben müssen.<br />
<br />
Ockeghems Musik verwirklicht das Ideal einer ununterbrochen, nahezu zäsurlos fließenden Polyphonie gleichartiger Stimmen mit ganz frei und asymmetrisch verlaufenden melodischen Linien. Die einzelnen Motive sind einer ständigen Veränderung unterworfen. Man bringt dieses rational kaum fassbare Strömen des musikalischen Flusses mit der in den Niederlanden neu aufblühenden Mystik in Verbindung: das sich stets verwandelnde Fliessen der Klänge als Symbol göttlicher Wesenskräfte.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: <a href="https://www.tamino-klassikforum.at/index.php?thread/6084-optimus-compositor-jehan-de-ockeghem-oder-das-ewige-flie%C3%9Fen-der-welt/" target="_blank">BigBerlinBear, am 19. Juli 2007 im Tamino-Klassikforum</a></i></span><br />
<br />
<pre>TRACKLIST
JOHANNES OCKEGHEM
(ca. 1410 - 1497)
Missa Mi Mi 25:45
01 I. Kyrie 1:55
02 II. Gloria 5:02
03 III. Credo 7:36
04 IV. Sanctus 5:05
05 V. Agnus Dei 5:56
Kurrende der Peterskirche Leipzig
ADD Aufnahme: 1966
HEINRICH ISAAC
(ca. 1450 - 1505)
Missa carminum 21:55
06 I. Kyrie 2:23
07 II. Gloria 4:47
08 III. Credo 5:28
09 IV. Sanctus 5:07
10 V. Agnus Dei 4:10
Mitglieder des Rundfunk-Kinderchores Berlin
Capella Lipsiensis
Dietrich Knothe
ADD Aufnahme: 1972
Gesamt: 47:40
(P) + (C) 1998
</pre>
<br />
<br />
<div style="text-align: center;">
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Poesie der Welt:</b></span></span></div>
<div style="text-align: center;">
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b><br /></b></span></span></div>
<div style="text-align: center;">
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>12 Italienische Sonette</b></span></span></div>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjD_fOpBE1ZF6eIA6SIPYIUYwdkN97pu3Rwr6n26no7Nmauyi-B8pPP_VuWTtuRQd7BwEXepAkbo5H-EG0bVTl_dN06QsWeSwZ-P0z5ofqweDKzQ_bIrYzYHbVUR400yc6-BHgookGRCLc/s1600/01_Guittone_d%2527Arezzo.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1020" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjD_fOpBE1ZF6eIA6SIPYIUYwdkN97pu3Rwr6n26no7Nmauyi-B8pPP_VuWTtuRQd7BwEXepAkbo5H-EG0bVTl_dN06QsWeSwZ-P0z5ofqweDKzQ_bIrYzYHbVUR400yc6-BHgookGRCLc/s400/01_Guittone_d%2527Arezzo.jpg" width="255" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Guittone d'Arezzo</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>GUITTONE D'AREZZO</b></td><td><b>FRANZ RAUHUT</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(ca. 1230-1294)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Ahi! con mi dol vedere omo valente
star misagiato e povero d’avere‚
e lo malvagio e vile esser manente,
regnare a benenanza ed a piacere;
e donna pro cortese e canoscente
ch’è laida sí, che vive in dispiacere;
e quella ch’ha bieltá dolze e piagente,
villana ed orgogliosa for savere.
Ma lo dolor di voi, donna, m’amorta,
ché bella e fella assai piú ch’altra sete,
e piú di voi mi ten prode e dannaggio.
Oh, che mal aggia il die che voi fu porta
si gran bieltá, ch’altrui ne confondete,
tanto è duro e fellon vostro coraggio!
</pre>
</td><td><pre>Wie schmerzt mich einen tüchtigen Mann zu sehn,
der arm ist und der Mangel leiden muß,
und seh den schlechten ich im Reichtum stehn,
in Macht und Wohlsein und im Überfluß,
und eine höfische und gescheite Frau
mißachtet ganz ob ihrer Häßlichkeit,
und wenn ich die in holder Schönheit schau,
die dumm und stolz ist und voll Bäurischkeit.
Der Schmerz um Euch treibt, Herrin, mich ins Grab,
denn schön und böse, keine ist Euch gleich,
und doch kommt Wohl und Weh mir nur von Euch.
Verwünscht der Tag, der Euch die Schönheit gab,
die allen andern Schande bringt und Schmerz:
so hart, ach, und so falsch ist Euer Herz.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Ach wie schmerzt es mich zu sehen, wenn ein wackerer Mann kümmerlich und arm an Habe lebt, der Böse und Gemeine aber wohlhabend ist, nach Gutdünken und Vergnügen herrscht.<br />
<br />
Und wenn eine Frau, beherzt, voll Anstand und klug, die aber häßlich ist, im Ungemach lebt, jene aber, die süße und gefällige Schönheit hat, niedrig, überheblich und ohne Bildung ist.<br />
<br />
Doch der Schmerz über Euch, Herrin, bringt mich um, denn schön und schnöde seid Ihr mehr als jede andere, und mehr hält mich alles Wohl und Wehe, das von Euch kommt‚ fest.<br />
<br />
O daß der Tag verwünscht sei, an dem Euch so große Schönheit angetragen wurde, mit der Ihr andere verstört, so hart und türkisch ist Euer Herz.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiPgKrsoqiegoCB1e6T8C2uZ_mhdThmhJv1OOlvC1NL14JSHeYj9YxRQ6xOLpnwryonhtbCbCl-W3qb8ssNCTAXVGHHhbbiBRlZOQsJBeq5QsrKP1xZ481mDuIzCyz17eejSaTs5N2Zd4Q/s1600/02_Guido_Cavalcanti.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="768" data-original-width="591" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiPgKrsoqiegoCB1e6T8C2uZ_mhdThmhJv1OOlvC1NL14JSHeYj9YxRQ6xOLpnwryonhtbCbCl-W3qb8ssNCTAXVGHHhbbiBRlZOQsJBeq5QsrKP1xZ481mDuIzCyz17eejSaTs5N2Zd4Q/s320/02_Guido_Cavalcanti.jpg" width="245" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Guido Cavalcanti</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>GUIDO CAVALCANTI</b></td><td><b>HUGO FRIEDRICH</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(ca. 1260-1300)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Voi che per li occhi mi passaste ‘l core
e destaste la mente che dormia,
guardate a l'angosciosa vita mia,
che sospirando la distrugge Amore.
E’ vèn tagliando di si gran valore‚
che’ deboletti spiriti van via:
riman figura sol en segnoria
e voce alquanta, che parla dolore.
Questa vertù d’amor che m’ha disfatto
da’ vostr’ occhi gentil’ presta si mosse:
un dardo mi gittò dentro dal fianco.
Si giunse ritto ‘l colpo al primo tratto‚
che l’anima tremando si riscosse
veggendo morto ’l cor nel lato manco.
</pre>
</td><td><pre>Ihr schlugt mir durch die Augen in das Herz
Und habt den Geist geweckt, der lange schlief;
Ach, schaut nun mein beklommenes Wesen an,
wie unter Seufzern Amor es zerstört.
Mit solcher Wucht hieb seine Schneide ein,
Daß meine Sinne kraftlos wurden, schwanden.
Nur noch mein Anblick zeugt von seinem Bann,
Und eine Stimme, die erstickend klagt.
Solch Wirken Amors, das mich niederzwang,
Im Nu fiel’s her aus Euren edlen Augen:
Ein Pfeil, den er mir in den Leib gejagt.
Und gleich beim ersten Schuß traf er so gut,
Daß ein Erschauern durch die Seele bebte,
Da tot sie fand das Herz zur linken Brust.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Ihr, die Ihr mit den Augen mir ins Herz gedrungen seid, und den schlafenden Sinn mir wecktet, seht her auf mein angsterfülltes Leben, das mit soviel Seufzen von Amor zerstört wird.<br />
<br />
Und er schießt mit solcher Kraft hinein, daß meine schwachen Sinne vergehen: nur mein Gesicht bleibt als Zeichen seiner Macht, und ein wenig Stimme, die den Schmerz ausdrückt.<br />
<br />
Diese Kraft Amors, die mich vernichtet hat, sie kam aus euren edlen Augen gar geschwind hervor: einen Pfeil trieb sie mir in die Seite.<br />
<br />
So genau traf der Schlag schon beim ersten Mal, daß die Seele zitternd auffuhr, sah sie doch das Herz links im Körper tot.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgRel6F_3o8GXWLowiGBILNtthv0sGxMJ4SvKmyTMWRGeYM8hNPT0HLs6WpgVRuayHmGefd5zvwdqh8dG-OCC-dJRZgle9XiMaHGyyVWXcyOU1tAVarwYAxsrTwvQKdvGBxjcn9otc7LME/s1600/03_Dino_Frescobaldi.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="768" data-original-width="561" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgRel6F_3o8GXWLowiGBILNtthv0sGxMJ4SvKmyTMWRGeYM8hNPT0HLs6WpgVRuayHmGefd5zvwdqh8dG-OCC-dJRZgle9XiMaHGyyVWXcyOU1tAVarwYAxsrTwvQKdvGBxjcn9otc7LME/s320/03_Dino_Frescobaldi.jpg" width="232" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Familienwappen der Bankiers Frescobaldi</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>DINO FRESCOBALDI</b></td><td><b>FRANZ RAUHUT</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(ca. 1271-1316)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Un’ alta stella di nova bellezza‚
che del sol ci to’ l’ombra la sua luce,
nel ciel d’Amor di tanta virtù luce,
che m’innamora de la sua chiarezza.
E poi si trova di tanta ferezza,
vedendo come nel cor mi traluce,
c’ha preso‚ con que’ raggi ch’ella ’nduce,
nel firmamento la maggior altezza.
E come donna questa nova stella
sembiante fa che ’l mi’ viver le spiace
e per disdegno cotanto è salita.
Amor, che ne la mente mi favella,
del lume di costei saette face
e segno fa de la mia poca vita.
</pre>
</td><td><pre>Ein Stern von neuer Schöne, ohne Trübe‚
der selbst der Sonne Leuchte überstrahlt,
im Liebeshimmel glänzt mit Allgewalt,
daß ich in seine Helle mich verliebe.
Und dann so stolz er wird, da er erkennt,
wie er ins Herz mir leuchtet tief hinein,
daß er herabzusenden seinen Schein
den höchsten Ort ersteigt am Firmament.
Gleich einer Frau macht dieser neue Stern
mir Miene, daß mein Leben ihm mißfällt
und daß er aus Verachtung ward so fern.
Und Liebe, die im Geiste zu mir spricht,
sich starke Pfeile schärft aus seinem Licht
und sich zum Ziel mein armes Leben wählt.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Ein hoher Stern von ungekannter Schönheit, dessen Licht uns das Bild der Sonne wegnimmt‚ leuchtet an Amors Himmel mit solcher Kraft, daß er mich durch seine Helligkeit in Liebe versetzt.<br />
<br />
Und dann erweist er sich von solch sprödem Stolz, als er sieht, wie er das Herz mir durchstrahlt, daß er mit den Strahlen, die er aussendet‚ die höchste Höhe am Firmament eingenommen hat.<br />
<br />
Und — zur Frau gewandelt — macht dieser neue Stern eine Miene, als gefiele ihm mein Leben nicht und als sei er aus Verachtung so hoch aufgestiegen.<br />
<br />
Amor, der im Gemüt zu mir spricht, macht aus seinen Lichtstrahlen Pfeile, und als Zielscheibe nimmt er sich mein geringes Leben.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhn6il1fqEeiJj4N5qeOhsHX9kASdbTrzvPhsWOYKGRVcajw-ZR4E7n9vZw2UQXKNaPBMHYzCJmE030oIRXjKbj8Ppl-bTxbnit5VJdV4UlDPY4fSbWZ9-ETjSMOlabqcPLkgsab1QbZjU/s1600/04_Matteo_Maria_Boiardo.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1272" data-original-width="1120" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhn6il1fqEeiJj4N5qeOhsHX9kASdbTrzvPhsWOYKGRVcajw-ZR4E7n9vZw2UQXKNaPBMHYzCJmE030oIRXjKbj8Ppl-bTxbnit5VJdV4UlDPY4fSbWZ9-ETjSMOlabqcPLkgsab1QbZjU/s320/04_Matteo_Maria_Boiardo.jpg" width="281" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Matteo Maria Boiardo</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>MATTEO MARIA BOIARDO</b></td><td><b>KARL THEODOR BUSCH</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(ca. 1440-1494)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Già vidi uscir de l’onde una matina
il sol di ragi d’or tutto jubato,
e di tal luce in facia colorato
che ne incendeva tutta la marina;
e vidi a la rogiada matutina
la rosa aprir d’un color si infiamato
che ogni luntan aspetto avria stimato
che un foco ardesse ne la verde spina;
e vidi a la stagion prima e novella
uscir la molle erbetta come sole
aprir le foglie ne la prima etade;
e vidi una legiadra donna e bella
su l’erba coglier rose al primo sole
e vincer queste cose di beltate.
</pre>
</td><td><pre>Einst sah ich aus den Wogen in der Frühe
Die Sonne auferstehn, umstrahlt von Gold
Und solchen Lichts beglänzt das Antlitz hold,
Als ob ringsum das ganze Meer erglühe;
Und sah die Rose offen, daß sie blühe
Entflammt vom frischen Tau und aufgerollt,
Daß jedem schien, der fernher schauen wollt,
Als ob aus Dornengrün ein Feuer sprühe;
Und sah im jungen Frühjahr sich getrauen
Die Gräser aus der Erde weich und fein,
Die Blätter zart erwachen aus dem Schlaf;
Und sah der Frauen eine, hold zu schauen,
Beim Rosenpflücken früh im Sonnenschein,
Die alles dies an Schönheit übertraf.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Einst sah ich aus den Wellen eines Morgens die Sonne emporsteigen, bekränzt mit einer Mähne von goldenen Strahlen und so mit Lieht im Angesicht gefärbt, daß sie damit das ganze Meer entzündete;<br />
<br />
und sah im Morgentau die Rose sich in so glühender Farbe öffnen, daß jeder ferne Blick dafürgehalten hätte, ein Feuer brenne im grünen Dornbusch;<br />
<br />
und sah im jungen Frühjahr das zarte Gras aufsprießen, wie es die Blätter zu entfalten pflegt in seinem frühen Wachsen;<br />
<br />
und sah eine holde schöne Frau im Gras bei der ersten Sonne Rosen pflücken und alles dies an Schönheit übertreffen.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhJppDsUdZJrGxS3hu5Ln_y8t10L2ZCNWsx8ediPjVVF4BXixhjhCB-CIkH_vxHV4zflYw3xt4TNUYjsJn0K3iK2FvgeZeOOLPbL1umRkUzHxhcZ8Pr6Ou4L6a3_6k9DnVDxPUiN-qFDX4/s1600/05_Benedetto_Gareth.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1111" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhJppDsUdZJrGxS3hu5Ln_y8t10L2ZCNWsx8ediPjVVF4BXixhjhCB-CIkH_vxHV4zflYw3xt4TNUYjsJn0K3iK2FvgeZeOOLPbL1umRkUzHxhcZ8Pr6Ou4L6a3_6k9DnVDxPUiN-qFDX4/s320/05_Benedetto_Gareth.jpg" width="222" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Der edle Poet (Symbolbild)<br />
Kein Bild von Benedetto Gareth überliefert</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>BENEDETTO GARETH gen. IL CHARITEO</b></td><td><b>ELSE THAMM</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(1450-1515)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Ecco la notte; el ciel scintilla e splende
di stelle ardenti, lucide e gioconde;
i vaghi augelli e fere il nido asconde
e voce umana al mondo or non s’intende.
La rugiada del ciel tacita scende;
non si move erba in prato o ’n selva fronde;
chete si stan nel mar le placide onde;
ogni corpo mortal riposo prende.
Ma non riposa nel mio petto amore,
amor d’ogni creato acerbo fine;
anzi la notte cresce il suo furore.
Ha sementato in mezzo del mio core
mille pungenti avvelenate spine,
e ‘l frutto che mi rende è di dolore.
</pre>
</td><td><pre>Sieh, es ist Nacht! Vom Himmel blinkt hernieder
in Strahlenglanz ein blitzend Sternenheer.
Was kreucht und fleucht ruht nestwarm, schlummerschwer,
es schweigt die Welt — kein Menschenlaut hallt wider!
Es senkt sich Himmelstau sacht auf die Lider,
kein Halm, kein Blättlein regt sich rings umher,
die Wellen atmen ruhevoll im Meer,
was sterblich ist, es ruht die müden Glieder.
Doch nimmer ruht die Lieb’ in meinem Herzen,
die Liebe — bittres Los der Kreatur —
verzehrend wächst sie in des Dunkels Stunde.
Sie senkt als Saat in meines Herzens Grunde
viel tausend gift'ger Dornen Stachel nur;
als Frucht entsprießen ihnen eitel Schmerzen.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Die Nacht ist da: der Himmel funkelt und glänzt von glühenden Sternen, leuchtend und heiter, die lieblichen Vögel und das Wild birgt das Nest, und Menschenstimme ist auf der Welt jetzt nicht mehr zu hören.<br />
<br />
Der Tau des Himmels sinkt still herab; kein Halm bewegt sich auf der Wiese oder im Wald kein Blatt, reglos stehen im Meer die friedlichen Wellen, jeder sterbliche Leib pflegt der Ruhe.<br />
<br />
Aber nicht ruht mir im Busen Amor, Amor, allen Geschöpfes bitterer Zweck; vielmehr steigert die Nacht noch sein Wüten.<br />
<br />
Gesät hat er mir mitten ins Herz hinein tausend stechende, vergiftete Dornen, und die Frucht, die er mir trägt, ist aus Leid.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg8ewu26tsYJ3P3Ay-rW0LmSUt2q_Kru_9s4SVhA1xV7_xju9XODjxybi7j1F2e2oFKMpszpxEQh6s4pEKigqWVGWSPYg9njIouff7w_1dpdA4OH06bVXi2WifiZocEe7blQb9ew7nMJqs/s1600/06_Giovanni_Pico_della_Mirandola.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1592" data-original-width="947" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg8ewu26tsYJ3P3Ay-rW0LmSUt2q_Kru_9s4SVhA1xV7_xju9XODjxybi7j1F2e2oFKMpszpxEQh6s4pEKigqWVGWSPYg9njIouff7w_1dpdA4OH06bVXi2WifiZocEe7blQb9ew7nMJqs/s400/06_Giovanni_Pico_della_Mirandola.jpg" width="237" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Giovanni Pico della Mirandola</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>GIOVANNI PICO DELLA MIRANDOLA</b></td><td><b>ELSE THAMM</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(1463-1494)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Io mi sento da quello ch‘era in pria,
Mutato da una piaga alta e soave,
E vidi Amor del cor tormi la chiave
E porla in mano alla nimica mia.
E lei vid’io accettarla altera e pia
E di una servitù leggera e grave
Levarmi, e da man manca in vie più prave
Guidarmi occultamente Gelosia.
Vidi andarne in esilio la ragione,
E desiderii informi e voglie nove
Ratte venire ad alloggiar con meco.
E vidi dall’antica sua prigione
L’alma partir per abitar altrove;
E vidi innanti a lei per guida un cieco.
</pre>
</td><td><pre>Ich fühl’s‚ ein hehres, süßes Schmerzensregen
verkehrt mein früh’res Selbst zu neuem Leben.
Mein Herz mußt’ ich dem Liebesgotte geben
und sah ihn in der Feindin Hand es legen.
Sie nahm es stolz und mitleidsvoll entgegen;
will als Vasallen mich zu sich erheben,
doch unheilvoll führt Eifersucht daneben
mich insgeheim auf frevelhaften Wegen;
Vernunft will flieh’n, schon spüre ich ihr Wanken;
verworr'ne Wünsche und ein neu Verlangen
sich jäh im Innern meiner Seele finden;
und diese seh ich sprengen ihre Schranken,
um aus der Haft ins Freie zu gelangen,
und sehe mich als Führer: — einen Blinden!
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Ich fühle mich aus dem, der ich vorher war, verwandelt durch eine tiefe und süße Wunde, und ich sah Amor den Schlüssel meines Herzens wegnehmen und ihn meiner Feindin in die Hand legen.<br />
<br />
Und sie sah ich ihn annehmen, hoheitsvoll und huldvoll, und mich aus einer leichten und schweren Knechtschaft erheben, und sah zur linken Hand auf verderbtere Wege Eifersucht mich insgeheim wegführen.<br />
<br />
Ich sah die Vernunft in Verbannung gehen und unbändige Wünsche und neue geschwinde Gelüste bei mir einziehen.<br />
<br />
Und ich sah aus ihrem alten Verlies die Seele entweichen um anderswo zu wohnen; und ich sah vor ihr als Führer einen Blinden.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjIidoCLfJh32ed0U4oWsAutqZc1oikQbs7oxcvOEw14iFChNe9DMQOi4SvA6TQHvvzljQM9zCNuK9OgAl8HOYAGDicLSlKgBDbodjC-BuGQPv31qkh5OFMCfZ0jBetNeKYw0x0JPen6DU/s1600/07_Pietro_Bembo.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1023" data-original-width="826" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjIidoCLfJh32ed0U4oWsAutqZc1oikQbs7oxcvOEw14iFChNe9DMQOi4SvA6TQHvvzljQM9zCNuK9OgAl8HOYAGDicLSlKgBDbodjC-BuGQPv31qkh5OFMCfZ0jBetNeKYw0x0JPen6DU/s320/07_Pietro_Bembo.jpg" width="258" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Kardinal Pietro Bembo</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>PIETRO BEMBO</b></td><td><b>MARIA und LEO LANCKORONSKI</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(1470-1547)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Rime leggiadre, che novellamente
Portaste nel mio cor dolce veneno,
E tu stil d’armonia, di grazia pieno,
Com’ella‚ che ti fa puro e lucente;
Vedete quanto in me veracemente
L'incendio cresce e la ragion vèn meno;
E se nel volto nol dimostro a pieno,
Dentro è ’l mio mal, più che di fuor, possente.
Sappia ognun ch’io vorrei ben farvi onore,
Tal me ne sprona; e si devea per certo,
Lasso, ma che pò far un che si more?
Era ‘l sentier da sé gravoso et erto
A dir di voi: or tiemmi il gran dolore
D’ogni altro schivo e di me stesso incerto.
</pre>
</td><td><pre>Ihr heitren Reime, neu mir vorgebracht
Als süßes Gift für meines Herzens Zelle,
Du edler Stil, so klar und wunderhelle
Wie sie, die glänzend dich und lieblich macht,
Schaut her, seht mich in heißer Glut entfacht,
Die ständig wächst, seht an des Wahnsinns Schwelle
Schon den Verstand, sind Zeichen nicht zur Stelle,
So wißt: Im Innern deckt den Geist die Nacht.
Ich künde jedem: Gern würd ich sie preisen,
Wozu michs drängt, und was mir süße Pflicht,
Allein, was kann ein Sterbender noch weisen?
Der Weg war steil und steinig, voll Verzicht,
Sie zu besingen. Da die Stimme bricht
Vor Schmerz, gelingt mir fürder kein Gedicht!
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Ihr anmutigen Reime, die ihr erneut süßes Gift in mein Herz trugt, und du, harmonischer Stil, voller Liebreiz, wie sie, die dich rein und leuchtend macht;<br />
<br />
Seht, wie in mir wahrhaftig die Inbrunst wächst und die Vernunft vergeht; und wenn ich es auch im Gesicht nicht voll zeige, so ist meine Qual im Innern doch, mehr als draußen, mächtig.<br />
<br />
Jeder möge wissen, daß ich euch wohl gerne Ehre erwiese, dazu drängt es mich; und das war gewiß auch nötig, doch ach, was kann einer tun, der doch schon dahinstirbt?<br />
<br />
Es war der Weg von sich aus steinig und steil, euch zu besingen: jetzt macht mich der große Schmerz allem anderen gegenüber scheu und meiner selbst unsicher.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjh8PvPSeGaJ3XQE1SLj00D5xDawSPm3yuDZvWp_J68KfsOOOf8cOuOihFUw-vuCZGKRXUMq2WHHQHuLTtQmzZrXePt9lINnJDZNgUkAq_G_ryduYITsYNb0jckxueBiHL3pLKm1kqkwF8/s1600/08_Ludovico_Ariosto.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1217" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjh8PvPSeGaJ3XQE1SLj00D5xDawSPm3yuDZvWp_J68KfsOOOf8cOuOihFUw-vuCZGKRXUMq2WHHQHuLTtQmzZrXePt9lINnJDZNgUkAq_G_ryduYITsYNb0jckxueBiHL3pLKm1kqkwF8/s400/08_Ludovico_Ariosto.jpg" width="303" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ludovico Ariosto</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>LUDOVICO ARIOSTO</b></td><td><b>KARL THEODOR BUSCH</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(1474-1533)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Aventuroso carcere soave,
dove né per furor né per dispetto,
ma per amor e per pietá distretto
la bella e dolce mia nemica m’ave;
gli altri prigioni al volger de la chiave
s’attristano, io m’allegro; ché diletto
e non martir, vita e non morte aspetto,
né giudice sever né legge grave,
ma benigne accoglienze, ma complessi
licenziosi‚ ma parole sciolte
da ogni fren, ma risi, vezzi e giochi;
ma dolci baci, dolcemente impressi
ben mille e mille e mille e mille volte;
e, se potran contarsi, anche fien pochi.
</pre>
</td><td><pre>In mildem Kerker hält man mich gefangen,
Worein nicht Bosheit und nicht Haß mich zerrte,
Doch meine Feindin liebevoll mich sperrte,
Die schön ist, wonniglich in ihrem Prangen.
Es drehn sich Schlüssel; traurig rnüßte bangen
Ein andrer — ich bin froh, daß Lieb, nicht Härte,
Daß Leben‚ nicht des Todes Angelgerte,
Nicht streng Gesetz und Urteil nach mir langen,
Doch herzlicher Willkomm und ein beglückt
Umarmen, Worte frei und ohne Zahl,
Gelächter, Kosen, Scherze Zug um Zug
Und süße Küsse, süß mir aufgedrückt,
Wohl tausend, tausend, tausend, tausend Mal —
Soviel du nennst, es wären nie genug.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Glückbringender sanfter Kerker, in den mich nicht aus Raserei und Zorn, sondern aus Liebe und Erbarmen meine schöne süße Feindin eingeschlossen hat;<br />
<br />
die anderen Gefangenen bekümmern sich beim Drehn der Schlüssel, ich werd froh; erwart ich doch Lust und nicht Pein, Leben und nicht Tod, und keinen strengen Richter und kein lastendes Gesetz,<br />
<br />
doch liebreichen Willkomm und ausgelassenes Umarmen, doch zügelloses Plaudern, doch Lachen, Kosen, Spielen;<br />
<br />
doch suße Küsse, süß geschenkte wohl tausend, tausend, tausend, tausend Mal; und kann man sie noch zählen, sinds zuwenig.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhEBS3qhlXyPdSv-1KaWq9oCjbJYuFb4jGnlQgmErrrgaAh_Stik_t2imwjihHQ9NNhP3cbe1X8z6bwX8w6GiWHzAC3Y-0ba_NnDABaJmiH4GLgoNKSIaHyLBr81Rh2DRoV6-CfbJfXSH4/s1600/09_Gaspara_Stampa.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1087" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhEBS3qhlXyPdSv-1KaWq9oCjbJYuFb4jGnlQgmErrrgaAh_Stik_t2imwjihHQ9NNhP3cbe1X8z6bwX8w6GiWHzAC3Y-0ba_NnDABaJmiH4GLgoNKSIaHyLBr81Rh2DRoV6-CfbJfXSH4/s400/09_Gaspara_Stampa.jpg" width="271" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Caspara Stampa</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>GASPARA STAMPA</b></td><td><b>LEO LANCKORONSKI</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(ca. 1525-1554)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>O diletti d’amor dubbi e fugaci,
O speranza che s’alza e cade spesso,
E nasce e more in un momento istesso;
O poca fede, o poco lunghe paci!
Quegli, a cui dissi: — Tu solo mi piaci,
E pur tornato, io l’ho pur sempre presso,
Io pur mi specchio e mi compiaccio in esso
E ne’ begli occhi suoi chiari e vivaci;
E tuttavia nel cor mi rode un verme
Di fredda gelosia, freddo timore
Di tosto tosto senza lui vederme.
Rendi tu vana la mia téma, Amore
Tu, che beata e lieta pòi tenerme‚
Conservandomi fido il mio signore.
</pre>
</td><td><pre>O Liebe, Seligkeit voll Leid und Tücke,
O Hoffnung, kaum erblüht und schon zerstoben,
O Treue, arm und mühsam zu erproben,
O Friede, zwischen Kämpfen kaum noch Brücke! —
Dem ich gestanden: ›Du nur bist mein Glücke‹,
Der kehret heim. Es schweigt des Herzens Toben,
In seinem Anblick bin ich aufgehoben,
Wie ich, in ihm mich spiegelnd, mich entzücke.
Doch eisig macht ein Hauch mein Herz erschauern,
Der Zweifel würgt, es schüttelt mich die Angst:
Bald möcht’ ich, einsam schmachtend, wieder trauern.
Die gänzlich du in deine Macht mich zwangst
O Liebe, daß mein Ängsten sich zerstreue,
Schenk und erhalte mir des Liebsten Treue.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
O Freuden der Liebe, unsicher und flüchtig, o Hoffnung, die oft sich erhebt und niederfällt, und im selben Augenblick entsteht und wieder stirbt; o geringer Glaube, o wenig lange Zeiten des Friedens!<br />
<br />
Der, zu dem ich gesagt hatte: — Du allein gefällst mir —, ist endlich zurückgekehrt, endlich habe ich ihn immer bei mir, endlich spiegele ich mich und gefalle mir in ihm und in seinen klaren und lebhaften Augen;<br />
<br />
Und doch nagt mir im Herzen ein Wurm der kalten Eifersucht, kalte Furcht, mich ganz bald ohne ihn zu sehen.<br />
<br />
Laß meine Furcht unbegründet sein, Amor, du, der du mich glücklich und fröhlich erhalten kannst, wenn Du mir meinen Herrn treu erhältst.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiHPKqnvB72WkPYDpVDuNbqBj4g6Gcr3ASbOhYmkKZTm6NwIyhA4JLrEesKJYcx1-gV9HybMsrOtgwTpvGLoaxtTao2yolvQMrHTEPuaxeHvZBZrNWHZzT5I2QBUTK0oeeQt7GQ2UhqG_8/s1600/10_Battista_Guarini.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="969" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiHPKqnvB72WkPYDpVDuNbqBj4g6Gcr3ASbOhYmkKZTm6NwIyhA4JLrEesKJYcx1-gV9HybMsrOtgwTpvGLoaxtTao2yolvQMrHTEPuaxeHvZBZrNWHZzT5I2QBUTK0oeeQt7GQ2UhqG_8/s400/10_Battista_Guarini.jpg" width="241" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Battista Guarini</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>BATTISTA GUARINI</b></td><td><b>AUGUST WILHELM VON SCHLEGEL</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(1538-1612)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Quando de la mia pace Amor nemico
al suo dolce m’invita amaro gioco
con duo lumi leggiadri, a poco a poco
sento in me rinovar l’incendio antico.
Ma‚ poi che l’alma in un silenzio amico
la notte acqueta e i sensi al ver dan loco,
raccolgo i pensier vaghi e spengo il foco
e de l’onda di Lete il cor nudrico.
Così qual augellin, che dianzi al visco
fu colto‚ or volo a l’esca‚ or fuggo ’l laccio,
e ‘ncontra Amor, quant’è più dolce, ardisco.
Così tra due mi vivo, or foco, or ghiaccio‚
e di Penelopea la tela ordisco,
tessendo il di quel che la notte sfaccio.
</pre>
</td><td><pre>Wann Liebe, meinem Frieden nicht gewogen,
Zu süßem bittern Spiel mich will gewinnen
Mit zweien holden Lichtern, so beginnen,
Aufs neu die Flammen, die ich sonst gepflogen.
Doch wann die Nacht, mit Schweigen mild umzogen,
Die Seele stillt, und Wahres gilt den Sinnen,
Lösch’ ich das Feuer, sammle mich nach innen,
Und nähre mir das Herz mit Lethes Wogen.
So, gleich dem Vogel, den beleimte Stäbe
Schon fiengen, nah’ ich, fliehe dann die Stricke;
je süßer Lieb’ ist, mehr ich widerstrebe.
So zwischen Feu’r und Eis ist mein Geschicke;
Ich wirke der Penelope Gewebe,
Bei Tage webend, was ich Nachts entstricke.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Wenn Amor, meinem Seelenfrieden feind, mich mit zwei anmutigen Augen zu seinem süßen Spiel auffordert, dem bitteren, dann fühle ich, wie nach und nach sich der alte Liebesbrand in mir erneuert.<br />
<br />
Doch nachdem die Nacht in freundlicher Stille die Seele beruhigt hat und die Sinne der Wahrheit Raum geben, sammle ich die schweifenden Gedanken, lösche das Feuer und nähre das Herz mit den Wassern des Lethe.<br />
<br />
So wie das Vögelchen, das mit der Leimrute gefangen wurde, fliege ich bald zum Lockvogel bald zum Netz hin, und erkühne mich desto mehr gegen Amor, je schöner er ist.<br />
<br />
So lebe ich zwischen zweien dahin, bald Feuer, bald Eis, und webe Penelopes Tuch, am Tage knüpfend, was ich bei Nacht wieder auftrenne.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEigy0YKJEHxlXNRCuLsBFBZyb61KYDyYa6P6Le-jE8xdFcNwo5o7noS0r8yW-7TpEuMrr-SxJSGxpoqqVdgHElU5h1pe-7aZC4P6MK58mjWrymUydYk-D1aCKpXo1lwvfK1FtUWcPJspxs/s1600/11_Torquato_Tasso.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1164" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEigy0YKJEHxlXNRCuLsBFBZyb61KYDyYa6P6Le-jE8xdFcNwo5o7noS0r8yW-7TpEuMrr-SxJSGxpoqqVdgHElU5h1pe-7aZC4P6MK58mjWrymUydYk-D1aCKpXo1lwvfK1FtUWcPJspxs/s320/11_Torquato_Tasso.jpg" width="232" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Torquato Tasso</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>TORQUATO TASSO</b></td><td><b>HUGO FRIEDRICH</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(1544-1595)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Quando vedrò nel verno il crine sparso
aver di neve e di pruina algente,
e ’l seren del mio giorno, or si lucente,
col fior de gli anni miei fuggito e sparso,
al tuo bel nome io non sarò più scarso
de le mie lodi o de l'affetto ardente,
né fian dal gelo intepidite o spente
quelle fiamme amorose ond’io son arso.
Ma, se rassembro augel palustre e roco,
cigno parrò lungo il tuo nobil fiume
ch’abbia l’ore di morte omai vicine;
e quasi fiamma, che vigore e lume
ne l’estremo riprenda, innanzi al fine
risplenderà più chiaro il vivo foco.
</pre>
</td><td><pre>Wenn einst im Winter meines Lebens Schnee
Sich auf das Haar gelegt und kalter Reif,
Und meine heitren Tage, jetzt so strahlend,
Wegsanken mit der Blüte meiner Jahre,
Verschwend’ ich immer noch an Deinen Namen
Das Rühmen und das lodernde Gefühl.
Kein Frost wird kühlen oder löschen können
Die Liebesgluten, drinnen ich verbrenne.
Bin ich auch sumpfbehauster, heis’rer Vogel,
Werd’ ich an Deinem großen Strom zum Schwan,
Der singt, weil seine Todesstunde naht.
Und gleich der Flamme, die, zur Neige gehend,
Noch einmal helle Kraft gewinnt, so wird
Mein Feuer stärker strahlen, eh’ es stirbt.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
Wenn ich dann einst im Winter mein Haar mit Schnee und eisigem Reif bestreut und die Heiterkeit meiner Tage, jetzt so leuchtend, mit der Blüte der Jahre entflohen und aufqelöst sehe,<br />
<br />
werd ich deinem schönen Namen gegenüber nicht weniger freigebig sein mit meinem Lob und meiner glühenden Leidenschaft, noch werden vom Frost jene Liebesflammen abgekühlt oder ausgelöscht werden, in denen ich jetzt<br />
brenne.<br />
<br />
Doch gleich ich auch einem heiseren Sumpfvogel, werd ich dann wie ein Schwan sein deinem edlen Fluß entlang, dem die Todesstunde schon nah ist;<br />
<br />
und wie eine Flamme, die Kraft und Licht im letzten Augenblick wiedergewinnt, wird vor dem Ende das lebendige Feuer desto heller strahlen.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjYNc6WxBfer7zwv2ovX1jqcKLan-jLFSbsgF8Bv-ZVU1LnAeLxMuD5_3JdX2llL-njzjp8y2KtwaAGatyocacxeXObLZKRjadJlJ3WpqOzU_4uB4X7j978fLdvv4l23hCJZN95chCb-bg/s1600/12_Giordano_Bruno.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1118" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjYNc6WxBfer7zwv2ovX1jqcKLan-jLFSbsgF8Bv-ZVU1LnAeLxMuD5_3JdX2llL-njzjp8y2KtwaAGatyocacxeXObLZKRjadJlJ3WpqOzU_4uB4X7j978fLdvv4l23hCJZN95chCb-bg/s320/12_Giordano_Bruno.jpg" width="223" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Giordano Bruno</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#00ffff"><td><b>GIORDANO BRUNO</b></td><td><b>ERNESTO GRASSI</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ababab"><td><b>(1548-1600)</b></td><td><b></b></td></tr>
<tr><td><pre>Alle selve i mastini e i veltri slaccia
il giovan Atteon, quand‘il destino
gli drizz’il dubio ed incauto camino,
di boscareccie fiere appo la traccia.
Ecco tra l’acqui il più bel busto e faccia,
che veder poss’il mortal e divino,
in ostro ed alabastro ed oro fino
vedde; e ’l gran cacciator dovenne caccia.
Il cervio ch’a’ più folti
luoghi drizzav’i passi più leggieri,
ratto voráro i suoi gran cani e molti.
I’ allargo i miei pensieri
ad alta preda, ed essi a me rivolti
morte mi dàn con morsi crudi e fieri.
</pre>
</td><td><pre>Zum Hochwald hetzt Aktaion seine Meute,
Der Doggen Schar reißt ungestüm ihn mit
Und lenkt den kühnen, unbedachten Schritt.
Auf Wildes Fährte führt ihn ihr Geleite,
Bis wo im Waldsee, tief im Schilfgereute,
Ein göttlich Antlitz hemmt den leichten Tritt,
Ein Bild von Alabaster, Gold, Perlmutt —
Da ward der große Jäger selbst zur Beute.
Auf neuen Pfad leichtfüßig fortgehetzt,
In dicht’res Buschwerk zielt umsonst sein Streben,
Die eig‘nen Hunde rauben ihm das Leben.
So spanne hoch ich die Gedanken jetzt
Zum Ziel. Allein sie wenden sich zurücke
Und reißen mich mit scharfem Biß in Stücke.
</pre>
</td></tr>
<tr><td colspan="2"><br />
In die Wälder läßt der junge Aktäon die Jagdhunde los, wie das Schicksal ihm den unsicheren und unbedachten Weg weist, den Waldtieren auf der Spur.<br />
<br />
Da sah er zwischen den Wassern das Schönste an Leib und Antlitz, das ein Sterblicher oder Göttlicher sehen kann, in Purpur, Alabaster und feinem Gold; und der große Jäger wurde zum Wild.<br />
<br />
Den Hirsch, der ins dichteste Gehölz die immer leichteren Schritte lenkte, zerfleischten seine großen und zahlreichen Hunde im Nu.<br />
<br />
Ich sende meine Gedanken auf hohe Beute aus, und sie bringen mir, auf mich zurückgewendet, den Tod mit rohen und wilden Bissen.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quellen: Die Gedichte und ihre Übersetzungen wurden folgenden Werken entnommen:<br />
<br />
[Boiardo / Ariosto / Tasso:] Poesie der Welt: Renaissance Sonette. (Auswahl, Prosa-Auflösungen und Nachwort von Hans Staub). Propyläen, Berlin, 1980 (Edition Stichnote) ISBN 3-549-05359-2<br />
<br />
[andere Autoren:] Poesie der Welt: Italien. (Auswahl, Prosa-Auflösungen und Nachwort von Hartmut Köhler). Ullstein, Frankfurt/Berlin/Wien, 1985. (Edition Stichnote - Ex-Libris-Ausgabe) ISBN 3-550-08516-8</i></span><br />
<br />
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<b>Noch mehr alte und neuere Messen aus der Kammermusikkammer:</b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2020/02/firminus-caron-ca-1440-ca-1475-messen.html" target="_blank">Firminus Caron (ca. 1440 – ca. 1475): Messen und Chansons (Bilder aus Amiens) | Jean Tinguely: «Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht»</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2020/01/johannes-ciconia-opera-omnia-diabolus.html" target="_blank">Johannes Ciconia: Opera Omnia - Diabolus in Musica, La Morra (Bilder aus Padua) | Die Schönste im ganzen Land: Die Berliner Büste der Nofretete</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/03/das-gansebuch-nurnberg-1510.html" target="_blank">Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) (Bilder aus eben demselben) | Navid Kermanis <i>ungläubiges Staunen</i> über Dürers <i>Hiob</i></a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2016/10/beethoven-missa-solemnis-op-123-karl.html" target="_blank">Beethoven: Missa Solemnis op. 123, Karl Böhm, 1975 – Messe C-Dur op. 86, Karl Richter, 1970 | Natürlich, das Mittelalter. Umberto Ecos Nachschrift zum »Namen der Rose«</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2016/06/haydn-missa-cellensis-in-honorem-bvm.html" target="_blank">Haydn: Missa Cellensis in honorem BVM (Missa Sanctae Caeciliae), Paukenmesse (Missa in tempore belli), Schöpfungsmesse | Der illiterate Laie als Leser des Weltbuches. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt</a></b><br />
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<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 14 MB <br />
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<span style="background-color: #d9ead3;">Unpack x389.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: [47:40] 3 parts 222 MB</span>WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com2tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-20822029430759134712020-03-23T10:22:00.003+01:002020-03-23T10:22:48.593+01:00Guy Klucevsek: Song of Remembrance (2007)<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgt__xieW5W5OA6pGq_WYHAMwq7MNxSVYVRxIaAaz3K52z1mAszzNeA3QRlyW1k9jc0W0n6X_PpvouQYM68kbsyjfRUu8ZBbQVBY4fIxzxyqBh4yu7DvQbUDRJl1n_pJkE5FbXLnQ_mdVE/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1419" data-original-width="1421" height="319" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgt__xieW5W5OA6pGq_WYHAMwq7MNxSVYVRxIaAaz3K52z1mAszzNeA3QRlyW1k9jc0W0n6X_PpvouQYM68kbsyjfRUu8ZBbQVBY4fIxzxyqBh4yu7DvQbUDRJl1n_pJkE5FbXLnQ_mdVE/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Guy Klucevsek zählt zu den vielseitigsten und renommiertesten Akkordeon-Virtuosen der Welt. Der „rebel with an accordian" (Downbeat) und „trailbazing virtuoso" (The Wall Street Journal) arbeitete mit zahlreichen internationalen Spitzen-Künstlern wie Laurie Anderson, Bang On a Can, Anthony Braxton, Dave Douglas, Bill Frisell, Rahim al Haj, Robin Holcomb, KepaJunkera, dem Kronos Quartet, Natalie Merchant und John Zorn zusammen.<br />
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Klucevsek spielte die Uraufführungen von mehr als 50 Akkordeon-Solostücken, darunter sowohl Eigenkompositionen als auch Auftragswerke von Mary Ellen Childs, William Duckworth, Fred Frith, Aaron Jay Kernis, Jerome Kitzke, Stephen Montague, SomeiSatoh, Lois V Vierk und John Zorn.<br />
<br />
Seine Karriere umfasst Auftritte beim Ten Days on the Island Festival (Tasmanien), Adelaide Festival (Australien), Berlin Jazz Festival, Lincoln Center, Spoleto Festival (USA), BAM Next Wave Festival, Cotati Accordion Festival, San Antonio International Accordion Festival und dem Internationalen Akkordeon-Festival Wien sowie in der Kinder-TV-Show "Mr. Rogers' Neighborhood".<br />
<br />
Sein Projekt "Polka From the Fringe" aus dem Jahr 1988, eine Sammlung von Polkas von Fred Frith, Elliott Sharp, Bobby Previte, Carl Finch u.a., wurde weltweit mit höchst erfolgreich aufgeführt und später als Doppel-CD beim Musiklabel eva veröffentlicht. 1992 wurde "Polka From the Fringe" vom WNYC-FM "New Sounds" Programm unter die besten Aufnahmen des Jahres gewählt.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjYqX_OHLieq0SksVZym2V1VxMSDBs1PKP7I9_Tg9jX8vDh9mAHC7fI2zvGeacG8g2qURP7eX04VAMxf4VDdv0DHVGGOpwYqb4pQHaNGSPu0KkRh8Rvf23YGXrPIoZAjuaWo_2s4ONQsko/s1600/GuyKlucevsek.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="640" data-original-width="435" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjYqX_OHLieq0SksVZym2V1VxMSDBs1PKP7I9_Tg9jX8vDh9mAHC7fI2zvGeacG8g2qURP7eX04VAMxf4VDdv0DHVGGOpwYqb4pQHaNGSPu0KkRh8Rvf23YGXrPIoZAjuaWo_2s4ONQsko/s400/GuyKlucevsek.jpg" width="271" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Guy Klucevek (* 1947)</td></tr>
</tbody></table>
1996 gründete Klucevsek gemeinsam mit den Komponisten und Akkordeonisten Otto Lechner (Österreich), Maria Kalanemi (Finnland), Lars Hollmer (Schweden) und Bratko Bibic (Slowenien) das internationale Ensemble "AccordionTribe", welches bis 2009 regelmäßig Konzertbühnen in aller Welt bespielte und insgesamt drei Alben beim deutschen Label Intuition veröffentlichte. Größte Bekanntheit erreichte das Ensemble durch den preisgekrönten Dokumentarfilm "AccordionTribe: Music Travels" von Stefan Schwietert.<br />
<br />
Klucevsek komponierte Bühnenmusik zu "Chinoiserie" und "Obon" (Ping Chong and Company), "Hard Coal" (Bloomsburg Theatre Ensemble), "Industrious Angels" (Laurie McCants), "Cirque Lili" (für den französischen Zirkuskünstler Jérôme Thomas mit weltweit 250 Aufführungen mit Live-Musik) und zu seinem eigenen Stück „Squeeze Play", bei dem Dan Hurlin, David Dorfman, Dan Froot, Claire Porter und Mary Ellen Childs mitwirkten. Für "The Heart oft the Andes", das u.a. beim Henson International Puppetry Festival (London) und beim Ten Days on the Island Festival gespielt wurde, erhielt er gemeinsam mit Dan Hurlin einen „Bessie".<br />
<br />
Klucevsek veröffentlichte mehr als 20 Alben als Solist und Bandleader, u.a. bei Tzadik, Winter & Winter, Starkland, Review, Intuition, CRI und XI. Das renommierte Magazin Stereo Review bezeichnete seine Starkland Aufnahme "Transylvanian Softwear" von 1995 als "Recording of Special Merit".<br />
<br />
Nicht zuletzt ist Guy Klucevsek auch im Kino allgegenwärtig: er ist etwa in John Williams' Filmmusik für die Steven Spielberg Klassiker "Indiana Jones und das Königreich des Kristallschädels", "The Terminal", "München" und "The Adventures of Tin-Tin", sowie auf A.R. Rahmans Soundtrack für "Welcome to People" zu hören.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: <a href="https://www.kulturrheinneckar.de/dancing-on-the-volcano-best-of-guy-klucevsek" target="_blank">“Dancing on the Volcano" auf Kultur-Rhein-Neckar e.V.</a></i></span><br />
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<pre>TRACKLIST
GUY KLUCEVSEK
(* 1947)
SONG OF REMEMBRANCE
Fallen Shadows (1993) 39:42
01. overture 5:12
02. song of remembrance 5.31
03. procession of the gypsy divas 5:03
04. more gypsy divas 2:11
05. bandoneons, basil and bay leaves* 5.50
06. incidentally, the coroner called 4:28
07. intro/dance of the blue flamingos 6:04
08. eulogy for the divas 5:17
*in memory of Astor Piazzalla
Dora Ohrenstein - voice
Joyce Hamman - violin
Guy Klucevsek - accordion
Blair McMillen - piano
09. Tea Song (1995) 3:52
Theo Bleckmann - voice
Steve Elson - clarinet
Nurit Tilles - piano
10. My Walk With Ligeti (2007) 5.45
in memory of Gyargy Ligeti
Guy Klucevsek - accordion
Cameos (1996) 7:43
11 choir practice chiropractic 1:13
12 java good time 0:59
13 tangoed in gospel 1:23
14 balkan merengue ("everybody’s doin’ it!") 1:00
15 accordion foaled 1:12
16 chiropractic choir pracdce 1:47
Double Edge:.
Edmund Niemann, Nurit Tilles - duo pianists
Time Total: 57:20
produced by GUY KLUCEVSEK - session producer SILAS BROWN (tracks 5, 9-16)
executive producer JOHN ZORN - associate producer KAZUNORI SUGIYAMA
tracks 1-4,7,8 recorded April-June 2007 by SCOTT LEHRER at Second Story Sound, NYC
tracks 5,9,10 recorded April-June 2007 by SILAS BROWN and SCOTT LEHRER at Second Story Sound, NYC
track 6 recorded in 1993 at the Packard Building, Philadelphia, PA
tracks 11-16 recorded March 2007 by SILAS BROWN at Hoff-Barthelson Music School, Scarsdale, NY
(C)+(P) 2007
</pre>
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<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Charles-Augustin Sainte-Beuve:</b></span></span><br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b><br /></b></span></span>
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Flaubert - Madame Bovary</b></span></span><br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi98YbJm8I4-16pHy17aW3pKIxKei3YQjOM9znpKPbhnyNzMWJqa-jZu524IlPfr0O5Y0UZGgRsP4DlduDO5vj3oH49D66J3D8SR0ifP7jmq3Gpi9BYOByDsj4BmkniXGit16KZJU0PPCc/s1600/01.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="816" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi98YbJm8I4-16pHy17aW3pKIxKei3YQjOM9znpKPbhnyNzMWJqa-jZu524IlPfr0O5Y0UZGgRsP4DlduDO5vj3oH49D66J3D8SR0ifP7jmq3Gpi9BYOByDsj4BmkniXGit16KZJU0PPCc/s640/01.jpg" width="508" /></a></div>
Ich vergesse nicht, daß dieses Werk Gegenstand einer Erörterung war, die nichts weniger als eine literarische Erörterung bedeutete, aber ich erinnere mich vor allem an die Ergebnisse und an die Weisheit der Richter. Das Werk gehört seither der Kunst, ganz allein der Kunst, Gerichtsbarkeit an ihm hat nur die Kritik zu üben, und die kann ihre ganze Unabhängigkeit brauchen, wenn sie hier spricht.<br />
<br />
Sie kann und sie muß das. Man nimmt sich oft Mühe, Vergangenes auszurufen, alte Autoren wieder zu erwecken. Werke, die kein Mensch mehr liest — und man gibt ihnen einen Augenblick lang blitzflüchtig Beachtung, Schein eines Lebens. Aber wenn dann wahrhaftige, wirklich lebendige Gebilde an uns vorbeiziehn, in Rufweite, Segel auf und mit flatternder Fahne, wenn sie zu sprechen scheinen, gleichsam „was sagt Ihr dazu?" — und wenn da einer wirklich Kritiker ist, wenn er in seinen Adern einen Tropfen von dem Blut hat, das einen Pope beseelte, einen Boileau, einen Johnson, einen Jeffrey, Hazlitt oder einfach Herrn de La Harpe, so zuckt er vor Ungeduld, hat es satt, immer zu schweigen, brennt darauf, sein Wort hinzuschleudern und diese neu Herkommenden zu grüßen bei ihrem Vorübergehen oder sie mit heftigem Geschütz anzufallen. Es ist lange her, daß es Pindar für die gebundene Rede ausgesprochen hat: „Hoch der alte Wein und die jungen Lieder!“ Junge Lieder, das ist auch das Stück von heute abend, der Roman des Tages, ist, was im Augenblick seines Erscheinens die Jugend beschäftigt.<br />
<br />
Ich hatte Madame Bovary in der ersten Fassung nicht gelesen, in jener Zeitschrift, die ursprünglich das Werk in Fortsetzungen brachte. Wie packend auch diese Teile waren, es mußte dabei verlieren und besonders die Idee des Ganzen, die Auffassung mußte leiden. Der Leser brach kurz ab nach schon gewagten Szenen und fragte sich: „Was kann darüber hinaus noch kommen?“ Es war gut möglich, dem Werk tolle Wucherungen anzusinnen und dem Autor Absichten, die er gar nicht hatte. Ununterbrochenes Lesen erst gibt jeder Szene ihre Bedeutung zurück. Madame Bovary ist vor allem ein Buch, ein ausgewogenes und bedachtes Buch, darin alles zusammenhält, nichts einem Zufall überlassen ist, darin überhaupt der Autor, besser noch der Künstler, von einem Ende zum andern erreicht hatte, was er nur wollte.<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg2DqTDaRr7uYk7CvTs5STIYomtE2yszgItsKPk5seWDmo2l1Zn4voCPP1uJHmrnbQNzfS5Gw9z5LdGihWy_NoXeoqWSHDzGFcYIi4BmsmYI52uw6wqT609o9p5-j4-mU8s-f-LyCKgAg4/s1600/02.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="720" data-original-width="635" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg2DqTDaRr7uYk7CvTs5STIYomtE2yszgItsKPk5seWDmo2l1Zn4voCPP1uJHmrnbQNzfS5Gw9z5LdGihWy_NoXeoqWSHDzGFcYIi4BmsmYI52uw6wqT609o9p5-j4-mU8s-f-LyCKgAg4/s400/02.jpg" width="352" /></a></div>
Der Verfasser hat offenkundig lange auf dem Lande gelebt, in jener Landschaft der Normandie, die er uns so unvergleichlich wahrhaft beschreibt. Sonderbar! Wenn man lange im Freien lebt, wenn man diese Natur so recht mit allen Sinnen aufnimmt und sie so gut zu malen versteht, so liebt man sie völlig, insgesamt, oder man stellt sie wenigstens recht schön hin, gar wenn man sie verlassen hat; man neigt dazu, in ihr die Umrahmung eines Glücks, einer Seligkeit zu sehen, nach der man mehr oder weniger Heimweh hat, man gestaltet eine Idylle daraus, ein Ideal. Bernardin de Saint-Pierre langweilte sich weidlich auf lle-de-France, solang er da lebte, aber als er zurück und weit weg war, wußte er nur noch von der Schönheit der Landschaft und von dem sanften Frieden ihrer Täler; dahin versetzte er die Gebilde seiner WahL, und so entstand Paul et Virginie. Nicht so weit wie Bernardin de Saint-Pierre ging Madame Sand, die sich vermutlich anfangs in ihrem Berry gelangweilt hatte; aber späterhin gefiel ihr, es lediglich anziehend zu schildern. Sie hat uns, das ist gewiß, den Zauber der Creuse-Landschaft nicht etwa genommen, und wenn sie darin selbst Figuren auftreten ließ, die Ansichten hatten oder Leidenschaften, so wehte um sie immer der volle Hauch von Land und Feld und Poesie im Sinn der Alten. <br />
<br />
Hier, bei dem Autor der Madame Bovary. kommen wir an einen andern Vorgang, an eine andere Art Inspiration und, wenn man alles aussprechen soll, an eine Verschiedenheit der Generationen. Das Ideal ist dahin, die Lyrik abgestorben; man will das nicht mehr. Wahrheit, streng und unerbittlich, ist auch in die Kunst eingedrungen als das letzte Wort der Erfahrung. Der Autor dieser Madame Bovary hat in der Provinz gelebt, auf dem Land, im Dorf und in der kleinen Stadt; und er ist da nicht an einem Frühlingstag vorbeigekommen, wie der Wanderer eines La Bruyère, der droben auf der Höhe seinen Traum als Bild am Hügelabhang ausmalt, sondern er hat dort wirklich und wahrhaftig gelebt. Und was hat er geschaut? Nichtigkeit, Jämmerlichkeit, Anmaßung. Dummheit, Gewitztheit, Eintönigkeit, Langeweile: davon erzählt er uns. Die Landschaft in ihrer Wahrheit und Wesentlichkeit, den reinen Hauch dieses freien Himmels atmend, sie dient ihm nur als Staffage für gemeine, platte Geschöpfe von dümmstem Ehrgeiz, unwissend oder halbgebildet, für Liebende ohne Zartgefühl. Die einzige träumerisch vornehme Natur, die sich hineingeschleudert sieht, nach einer Welt über diese hinaus suchend, sie wird da wie ohne Heimat sein, ohne Atem; und wie sie so leidet, wie sie niemand findet, der ihr Antwort gibt, gerät sie außer sich, nimmt den schlechten Weg, gibt sich immer mehr einem trügerischen Traum und dem Reiz der Ferne hin und fällt Stufe um Stufe ins Verderben und in Vernichtung. Ist das moralisch? Ist es trostreich? Der Verfasser scheint sich die Frage nicht gestellt zu haben. Er hat sich nur eines gefragt: Ist es wahr? Man möchte glauben, daß er selber Ähnliches beobachtet hat oder daß es ihm zum mindesten beliebte, in diesem so fest gefügten Ausschnitt manches zur Gestalt zu verdichten, daß er das Ergebnis verschiedentlicher Wahrnehmungen zusammenfassen wollte, bei einer Grundstimmung bitterster Ironie.<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgqh_UuBfKDZJ__KEXWk5OOAnd74LnYM4hM3k0vC32fcCONfzWOtUTatuVSpzZq3ZxO2ffjdK6B8yzN28A6U9tbR6GJL1BpScItSz2BOECf5ynj6QJ8uvX5Eq_XHdwbMwWZIcDDft76cOQ/s1600/03.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1466" data-original-width="1034" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgqh_UuBfKDZJ__KEXWk5OOAnd74LnYM4hM3k0vC32fcCONfzWOtUTatuVSpzZq3ZxO2ffjdK6B8yzN28A6U9tbR6GJL1BpScItSz2BOECf5ynj6QJ8uvX5Eq_XHdwbMwWZIcDDft76cOQ/s400/03.jpg" width="281" /></a></div>
Eine andere Besonderheit, gleichermaßen bemerkenswert: unter all diesen ganz wirklichen, ganz lebendigen Personen ist auch nicht eine, in der sich der Autor vermuten lassen möchte: keine ist von ihm zu einem andern Ende gehegt worden, als damit sie sich mit aller Genauigkeit und Grausamkeit abgeschildert sehe, niemanden hat er geschohnt, wie man Freunde schont. Dieser Autor hat sich völlig zurückgehalten, er ist nur da, um alles zu sehen, alles zu zeigen und alles zu sagen. Aber in keinenm Winkel des Romans merkt man auch nur seinen Schatten. Das Werk ist ganz und gar unpersönlich. Eine starke Probe seiner Kraft.<br />
<br />
Die wichtigste Gestalt neben Madame Bovary ist Herr Bovary. Charles Bovary, der Sohn (denn er hat einen Vater, der gleichfalls nach der Natur abgeschildert wird), erscheint uns seit seiner Schulzeit als ein ordentlicher junger Mensch, fügsam, aber ungeschickt, unbedeutend oder doch heillos mittelmäßig, ein bißchen „blöde“, ohne jede Eigenheit, ohne Neigung, unempfindlich gegen Reize, geboren, um zu gehorchen, Schritt für Schritt den gebahnten Weg zu gehen und sich führen zu lassen. Der Vater war zuvor Hilfschirurg in der Armee und nicht im besten Ruf, aber der Sohn hat nichts von seinem Leichtsinn und von seinen Lastern. Die Ersparnisse seiner Mutter haben es ihm ermöglicht, sich in Rouen schlecht und recht durchzustudieren, und so ist er Amtsarzt geworden. Nicht ohne Mühe graduiert, hat er jetzt nur noch den Ort seiner Wirksamkeit zu wählen. Er entscheidet sich für Tostes, einen kleinen Ort nicht weit von Dieppe; man verheiratet ihn mit einer Witwe, die viel älter ist als er und eine mäßige Rente haben soll. Er läßt es geschehen, und es fällt ihm nicht einmal ein zu bemerken, daß er nicht glücklich ist.<br />
<br />
Eines Nachts wird er unversehens auf einen Hof geholt, gut sechs Meilen weit, um dem alten Rouault ein gebrochenes Bein einzurenken, einem behäbigen, verwitweten Landmann, der mit seiner einzigen Tochter zusammenhaust. Der Weg durch die Nacht, zu Pferd, immer näher heran an das reiche Gehöft (es heißt Bertaux) — und wie man es dann sieht, wie er anlangt und von dem jungen Mädchen empfangen wird, das so gar keine Bäuerin ist, sondern in einem Kloster als Fräulein erzogen wurde, das Verhalten des Kranken, alles das ist wunderbar geschildert und Punkt für Punkt wiedergegeben, als ob wir dabei wären: es ist holländisch, flämisch, normannisch. Bovary nimmt die Gewohnheit an, Bertaux zu besuchen und sogar öfter, als es für die Verbände des Kranken nötig wäre; ja, er geht auch nach der Heilung immer wieder hin. Die Besuche auf dem Hof sind ihm, ohne daß er es recht weiß, nach und nach nötig geworden, in der Mühseligkeit seines Tuns liebe Entspannung.<br />
<br />
„An solchen Tagen stand er früh auf, enteilte im Galopp, spornte das Tier, stieg dann ab, um die Füße im Gras abzustreifen und zog seine schwarzen Handschuhe an, bevor er eintrat. Er hatte es gern, wenn er so in den Hof kam, wenn er seine Schulter gegen die sich wendende Schranke drückte, wenn der Hahn auf der Mauer krähte und die jungen Burschen ihm entgegenkamen. Er liebte die Scheune, die Ställe: liebte Vater Rouault, der die Hand in die seine schlug und ihn seinen Retter nannte; liebte Fräulein Emmas kleine Holzpantinen auf den sauberen Fliesen der Küche: die hohen Stöckel machten sie ein wenig größer, und wenn sie vor ihm herging, klappten die hölzernen Sohlen, rasch aufgerichtet, mit einem trockenen Schlag gegen das Leder am Schuh.<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhur9rrgAg0B9z4GMXvYrhK3UYXQ7hEVKv5oXMsS-pJr2aVO4uYynnpL_K6I5Mm11pU79Z4pQ3o08uiMNQbCyveDJnBASrx6GkxeFhV7GcQKjXnGJ1vfkB-2p6L2vDckegFYT4SpgrpH00/s1600/04.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="833" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhur9rrgAg0B9z4GMXvYrhK3UYXQ7hEVKv5oXMsS-pJr2aVO4uYynnpL_K6I5Mm11pU79Z4pQ3o08uiMNQbCyveDJnBASrx6GkxeFhV7GcQKjXnGJ1vfkB-2p6L2vDckegFYT4SpgrpH00/s400/04.jpg" width="325" /></a></div>
Sie brachte ihn immer bis an die erste Stufe der Treppe. Wenn sein Pferd noch nicht herangeführt war, blieb sie da. Man hatte sich verabschiedet, sprach nicht mehr; um sie war die freie Luft, und sie hob ihr die kleinen Haare im Nacken wirr durcheinander oder zerrte am Schürzenband über ihrer Hüfte, daß es sich wand wie ein Wimpel. Einmal, bei Tauwetter, tropfte es von den Rinden der Bäume auf den Hof herab, und der Schnee auf den Bedachungen der Gebäude schmolz. Sie stand auf der Schwelle; ging ihren Schirm holen, machte ihn auf. Die taubengraue Seide des Schirms beleuchtete, sonnendurchschimmert, mit huschendem Flimmern die weiße Haut in ihrem Gesicht: sie lächelte darunter in der lauen Wärme‚ und man hörte die Wassertropfen, einen um den andern, auf den gespannten Stoff fallen.“<br />
<br />
Kann man sich ein frischeres Bild denken oder eines, das feiner oder besser umrissen, besser beleuchtet wäre, eines, das die Erinnerung an Formen der Antike besser ins Moderne hinübertäuschen könnte? Dieses Geräusch der Tropfen von geschmolzenem Schnee, die auf den Schirm fallen, erinnert mich an jenes andere der Eistropfen, die klingen, wenn sie von den Zweigen auf die trockenen Blätter am Steig fallen: in den „Mittagsspaziergängen im Winter" von William Cowper. Eine köstliche Eigenschaft unterscheidet Herrn Gustave Flaubert von den andern mehr oder minder genauen Beobachtern, die heutzutage darauf aus sind, einzig die Wirklichkeit ins Bewußtsein zu bringen und die es manchmal treffen: er hat Stil. Er hat sogar ein bißchen zuviel davon; seiner Feder behagen Absonderlichkeiten und Winzigkeiten, die er unaufhörlich beschreibt, und das schadet gelegentlich dem Gesamteindruck. Bei ihm werden die Dinge und die Gestalten, die er am meisten betrachtet haben mochte, ein wenig verlöscht oder verdrängt durch das allzu deutliche Hervortreten von Gegenständen um sie herum. Madame Bovary selbst, dieses Fräulein Emma, das wir soeben und so reizvoll auftreten sahen, wird uns so oft im einzelnen und im kleinsten beschrieben, daß ich nicht recht imstande bin, ihren äußeren Eindruck als Ganzes festzuhalten, und sie ist mir weder vollkommen deutlich noch bleibend gegenwärtig.<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjtbS5CuoQnILFqaFsVPmqzZlVI2Bw3vQLY0D6twsDiK5yT0eznaVfiE3aaNqdPewpB1xEzO7pPbt6tUaDGpW5gO9ujiZoHm5ZkBdLnnJ2n18FXME2BmU-HPOoiAozZCrEKlrxUYXl9Zeo/s1600/05.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1535" data-original-width="1280" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjtbS5CuoQnILFqaFsVPmqzZlVI2Bw3vQLY0D6twsDiK5yT0eznaVfiE3aaNqdPewpB1xEzO7pPbt6tUaDGpW5gO9ujiZoHm5ZkBdLnnJ2n18FXME2BmU-HPOoiAozZCrEKlrxUYXl9Zeo/s400/05.jpg" width="332" /></a></div>
Die erste Frau Bovary stirbt, und Fräulein Emma wird die zweite und einzige Frau Bovary. Das Kapitel von der Hochzeitsfeier in Bertaux ist ein vollendetes Gemälde von reicher, fast überquellender Wirklichkeitstreue, ein Gemisch von Natürlichkeit und Sonntagsgeziere, von Häßlichkeit, Steifheit, grober Freude und auch Anmut, von Üppigkeit und gefühlvoller Schilderung. Diese Hochzeit, der Besuch und der Ball auf dem Schloß von Vaubyessard, der dazu förmlich das Gegenstück bietet, dieser ganze Auftritt der Landwirtschaftsversammlung, der späterhin folgen wird, das gibt Bilder, die man, wären sie gemalt, wie sie geschildert sind, in einer Galerie zu dem besten Genre hängen könnte.<br />
<br />
So ist also Emma Frau Bovary geworden, daheim in dem Häuschen von Tostes mit seinen engen Räumen und mit einem Gärtchen, das eher tief als breit ist und nach den Feldern zu liegt. Alsbald bringt sie Ordnung hinein, Sauberkeit, einen Schein von Eleganz; der Mann, der nur daran denkt, ihr etwas Liebes zu tun, kauft einen gerade erreichbaren Kutschierwagen, damit sie nach Belieben auf der Landstraße oder in die Umgebung hinausfahren könne. Und er ist, zum erstenmal in seinem Leben, glücklich, er merkt's; tagsüber mit seinen Kranken beschäftigt, findet er, wenn er heimkommt, Frieden und süßen Rausch; er ist in seine Frau verliebt. Er wünscht sich nichts mehr, als daß dieses bürgerlich-ruhige Glück dauere. Aber sie, die Besseres erträumte und sich in der Mädchenlangenweile mehr als einmal gefragt hat, wie man es anstellen müßte, um glücklich zu sein, sie merkt rasch genug, und seit den Flitterwochen, daß sie es nicht ist.<br />
<br />
Hier beginnt eine tiefgründige, feine, gedrängte Analyse; ein grausames Sezieren hebt an und hört nicht mehr auf; wir dringen in das Herz der Frau Bovary. Wie wäre da zu sondern? Sie ist eine Frau; ist, im Beginn, nur romantisch, ist durchaus nicht verderbt. Der Maler, Herr Gustave Flaubert, schont sie nicht. Er verrät uns die raffinierten, koketten Liebhabereien des kleinen Mädchens, des Pensionsfräuleins, er zeigt sie verträumt und maßlos empfänglich für allerhand Vorstellungen, er treibt seinen Spott mit ihr und kennt kein Erbarmen. Darf ich's gestehen? Man ist, genau genommen, nachsichtiger gegen sie, als er zu sein scheint. Emma hat, an dem Platz, der ihr nun zugewiesen ist und an dem sie etwas sein sollte, eine Eigenschaft zu viel oder eine Tugend zu wenig: das ist der Beginn ihres ganzen Unrechts und ihr Unglück. Die Eigenschaft, die sie zu viel hat — sie ist eben nicht nur eine romantische Natur, sondern auch eine, die Bedürfnisse des Herzens, des Verstandes, Ehrgeizes kennt, die ein höheres, reicheres, ein mehr verfeinertes Dasein ersehnt als das, wie es ihr eben zuteil geworden ist. Und die Tugend, die ihr fehlt — sie hat nicht gelernt, daß die Grundbedingung eines ordentlichen Lebens die Fähigkeit ist, Langeweile ertragen zu können, dieses ungewisse Entbehren, diesen Mangel an einem angenehmeren, unseren Neigungen besser entsprechenden Dasein; sie versteht es nicht, sich ganz still zu fügen, ohne sich etwas merken zu lassen, vermag es nicht, sich selber, sei es in der Liebe ihres Kindes, sei es durch ein nützliches Wirken in ihrer Umgebung, Verwendung für ihren Tätigkeitsdrang zu schaffen, Bindung, Schutz, einen Zweck. Kein Zweifel, sie kämpft dagegen an und kehrt sich nicht an einem Tag vom rechten Weg ab, sie wird ein paarmal, jahrelang ansetzen müssen, bevor sie ins Verderben rennt. Aber sie tut jeden Tag einen Schritt näher hin, und zuletzt ist sie verirrt und toll verloren. Doch ich berede es, und der Verfasser der Madame Bovary hat nur vorgehabt, uns seine Gestalt Tag für Tag, Minute für Minute in ihrem Denken und Handeln zu zeigen.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgXC_7iLHCrI9Gydh1PSYq3EwbKfTfg1REhIU-LiGO0B2bEnAghRfUSJrHOnd7th8vHlec2fR1K8vBzXl4F1nd9Z3HNsC3lNIEORmYeY1s94TzNtLWU0dZzlOlZsoRbz-kC6hGKVFWIY6o/s1600/06.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="779" data-original-width="1024" height="303" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgXC_7iLHCrI9Gydh1PSYq3EwbKfTfg1REhIU-LiGO0B2bEnAghRfUSJrHOnd7th8vHlec2fR1K8vBzXl4F1nd9Z3HNsC3lNIEORmYeY1s94TzNtLWU0dZzlOlZsoRbz-kC6hGKVFWIY6o/s400/06.jpg" width="400" /></a></div>
Die langen, schwermütigen Tage, die Emma in der Einsamkeit verbringt, in den ersten Monaten ihrer Ehe sich selber überlassen, ihre Spaziergänge bis an das Buchenwäldchen von Banneville in Gemeinschaft mit Djali, dem getreuen Windspiel, Grübeleien ins Endlose über ihr Schicksal, ihre Fragen, wie es sonst hätte kommen können, alles das wird abgelöst und abgeleitet mit der gleichen analytischen Feinheit, mit gleich zartem Verständnis wie in einem noch so sehr verinnerlichten Roman früherer Zeit, noch so sehr bestimmt, Träumen Nahrung zu geben. Die Eindrücke draußen in der Natur, sie dringen wie in den Tagen des René oder Oberman über Launen und Anfälle in ihre bekümmerte Seele und erwecken unbestimmte Sehnsucht:<br />
<br />
„Es kam manchmal in Stößen der Wind, kamen Brisen vom Meer, fegten in einem Ansprung über das ganze Plateau von Caux und brachten weit hinein ins Gefilde eine salzige Frische. Das Rohr pfiff dicht an der Erde, und die Buchenblätter rauschten in heftigem Schauer auf, während die Wipfel, immerzu schaukelnd, unaufhörlich murmelten. Emma preßte ihr Tuch um die Schultern und stand auf.<br />
<br />
In der Allee erhellte grünes Licht, vom Laubwerk niedergedrückt, das rosige Moos; leise krachte es unter ihren Schritten. Die Sonne senkte sich; der Himmel flammte zwischen den Zweigen, und die gleichragenden Stämme der Bäume, in gerader Linie gepflanzt, sahen aus wie braune Säulen über einem Goldgrund. Es ergriff sie Angst, sie rief Djali, ging schnell auf der Straße nach Tostes zurück, sank in einen Lehnstuhl und sprach über den ganzen Abend hin nichts.“<br />
<br />
Um diese Zeit gibt ein Nachbar, der Marquis d’Andervilliers, der als Politiker seine Wahl vorbereitet, einen großen Ball auf seinem Schloß, und er lädt alles ein, was in der Umgebung Glanz und Einfluß hat. Ein Zufall hat ihn mit Bovary bekannt gemacht, der ihn, in Ermangelung eines anderen Arztes, einmal von einem Abszeß an der Lippe geheilt hat; der Marquis hat dann gelegentlich in Testes Madame Bovary gesehen und sie mit einem Blick würdig befunden, zu dem Ball geladen zu werden. Und so kommt es zu dem Besuch von Herrn und Frau Bovary auf Schloß Vaubyessard; es ist eine der wichtigsten Stellen im Buch, ist mit besonderem Können erreicht.<br />
<br />
Dieser Abend, an dem Emma so höflich empfangen wird, wie es einer jungen, schönen Frau überall gewiß ist, da sie schon beim Eintreten einen Hauch des aristokratisch-eleganten Lebens atmet, von dem sie träumt, eben das, wofür sie sich geboren glaubt, der Abend, an dem sie tanzt, sich im Walzer wiegt, ohne es gelernt zu haben, alles errät, was vonnöten ist und einen ganz anständigen Erfolg hat, dieser Abend berauscht sie und wird mit schuld an ihrem Untergang: sie ist wie vergiftet von dem Parfüm. Das Gift wirkt nur langsam, aber es ist in ihre Adern gedrungen, ist nicht mehr wegzubekommen. Alle Vorfälle, und selbst die nichtigsten an diesem denkwürdig-einzigen Abend, bleiben ihr ins Herz geprägt, und da arbeitet es dumpf weiter: „Ihre Reise nach Vaubyessard hatte eine Bresche in ihr Leben gerissen, vergleichbar den großen Spalten, die der Sturm in einer einzigen Nacht im Gebirge manchmal aushöhlt." Wie sie am Tage nach dem Ball frühmorgens von Vaubyessard abreisen und zur Speisestunde daheim sind und sich nun, Herr und Frau Bovary, in dem kleinen Zuhause wiederfinden, vor ihrem bescheidenen Tisch, auf dem eine Zwiebelsuppe dampft und ein Stück Kalbfleisch in Sauerampfer, und wie sich dann Bovary die Hände reibt vor Glück und sagt: „Es freut einen, wieder daheim zu sein“ — da blickt sie mit unaussprechlicher Verachtung zu ihm hin. Sie hat seit gestern im Geist einen tüchtigen Weg gemacht und in ganz entgegengesetzter Richtung. Als die zwei in ihrem Wägelchen zu dem Fest hinfuhren, waren sie nur sehr verschiedene Menschen: jetzt, da sie zurück sind, trennt sie ein Abgrund.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjCL3Rene7ZZwMtd9eygOa04fdau4Q2vNE9r-t8t50KlFSkWdPEVuqY-iC5xf63O7RNdu4cG8KQprxEiaNxsTz_wUZXJER5evBXODQ3e-gj8G8luwiTMpms9CIyxH4yxfKB3V22L6KcDtQ/s1600/07.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1000" data-original-width="802" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjCL3Rene7ZZwMtd9eygOa04fdau4Q2vNE9r-t8t50KlFSkWdPEVuqY-iC5xf63O7RNdu4cG8KQprxEiaNxsTz_wUZXJER5evBXODQ3e-gj8G8luwiTMpms9CIyxH4yxfKB3V22L6KcDtQ/s400/07.jpg" width="320" /></a></div>
Ich kürze da, was Seiten füllt und sich über Jahre hin dehnt. Die Gerechtigkeit muß man Emma widerfahren lassen: sie braucht Zeit. Sie möchte ihrer angespannten Tugend zu Hilfe kommen; und sie sucht in sich und ringsum. In sich: aber sie hat einen schweren Fehler, sie hat nicht viel Herz; ihre Phantasie hat frühzeitig alles eingenommen, alles erfüllt. Um sich herum: neues Unheil! Der gute Charles, der sie liebt und den sie manchen Augenblick versuchen will wieder zu lieben, hat nicht die Art, sie zu verstehen oder zu erraten. Wenn er wenigstens Ehrgeiz hätte, sich's angelegen sein ließe, in seinem Beruf hervorzuragen, sich durch Studium, durch Arbeit emporzumühen, seinen Namen zu Ehren und Geltung zu bringen! Aber nein, er hat keinen Ehrgeiz, keine Wißbegierde, nichts von den Trieben, die einen über seinen Kreis hinausbringen, vorwärts drängen, eine Frau überall stolz sein lassen auf den Namen, den sie trägt. Darüber regt sie sich auf: „Das ist doch kein Mann, dieser Mensch. Ein armer Teufel, ruft es in ihrem Innern, ein ganz armer Teufel.“ Einmal durch ihn gedemütigt, wird sie ihm nicht mehr verzeihen. <br />
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[…]<br />
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<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: [Charles-Augustin] Sainte-Beuve: Literarische Portraits. Aus dem Frankreich des XVII. - XIX. Jahrhunderts. Herausgegeben von Stefan Zweig. Gerd Hatje, Calw, 1947. Zitiert wurde der Beginn des Porträts "Flaubert / Madame Bovary", Seite 803 ff. (übersetzt von Paul Stefan)</i></span><br />
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<i>Die Abbildungen zu diesem Artikel zeigen Jennifer Jones in der Rolle der <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Madame_Bovary_(1949_film)" target="_blank">Emma Bovary in der Verfilmung von Vincente Minnelli (USA, 1949)</a></i><br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2020/03/gruppo-di-improvvisazione-nuova.html" target="_blank">Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza (ed. RZ 1009) | Norbert Elias: Die höfisch-aristokratische Verflechtung</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2020/02/ursula-mamlok-werke-fur-soloinstrumente.html" target="_blank">Ursula Mamlok: Werke für Soloinstrumente und kleine Kammerensembles | Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur</a><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-70318183542874381972020-03-09T13:23:00.003+01:002020-03-09T13:23:22.092+01:00Henri Pousseur: Aquarius-Memorial <div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEilmlq68wfjpgiZoDcG2Dazok09WzfRBvuL2UkV7FE94yIsoyyzwIBDYGjxQtCpCGjH8u-ZWgOA-FoNsLP4h2KMu1Y4UrXmPsQLSV3OXItY3k1XM6dCt5I1dAYp_d49PAVSTrwxvxGPrTo/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1430" data-original-width="1600" height="286" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEilmlq68wfjpgiZoDcG2Dazok09WzfRBvuL2UkV7FE94yIsoyyzwIBDYGjxQtCpCGjH8u-ZWgOA-FoNsLP4h2KMu1Y4UrXmPsQLSV3OXItY3k1XM6dCt5I1dAYp_d49PAVSTrwxvxGPrTo/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Henri Pousseur (1929-2009), einer der bedeutendsten zeitgenössischen Komponisten in Belgien, war noch keine 20 Jahre alt, als er den Weg der seriellen Musik einschlug, und dieser Schritt hat aus ihm, neben Pierre Boulez und Karl-Heinz Stockhausen, einen der Pioniere und später einen der Hauptvertreter der Avantgarde und der verschiedenen daraus entstandenen Wege gemacht. Als leidenschaftlicher Forscher und Theoretiker ist er allen Klangwelten und allen Beiträgen, die das musikalische Schaffen erweitern können, gegenüber offen, und es war ihm sehr früh bewusst, wie schwierig es ist, sich der kreativen Subjektivität zu entziehen, und ebenso, dass der Komponist der ausschließliche Meister seines Werkes ist. Hierher stammt seine Vorliebe für das Konzept des "oeuvre ouverte" (offenes Werk), das Umberto Eco übernehmen wird, und bei dem versucht wird, die Distanz zwischen Komponist und Interpret zu reduzieren, wenn nicht sogar zwischen Komponist, Interpret und Publikum. <br />
<br />
So entstanden Ende der 50er Jahre eine Anzahl von Werken, bei denen es dem Interpreten oder dem Publikum oder sogar beiden ermöglicht wurde, sowohl das Material auszuwählen als auch den Verlauf des Szenarios zu beeinflussen. Das ist zum Beispiel der Fall bei <i>Scambi</i> aus elektronischen Klängen, bei <i>Mobile</i> für zwei Klaviere, bei <i>Répons</i> für sieben Musiker und einen Schauspieler, bei <i>Ephémérides d'Icare 2</i> für einen Solisten und ein in ein Trio und ein Quartett geteiltes Instrumentalensemble, bei der "fantaisie variable, genre opéra" (variablen Fantasie in der Art einer Oper) <i>Votre Faust</i>, erstes Opus (1961-1967) aus einer treuen und fruchtbaren Zusammenarbeit mit Michel Butor, bei dem die letzte Szene und der Weg dorthin von der Wahl des Publikums abhängt, welches an einigen Stellen eingreifen kann. <br />
<br />
Diese dem Interpreten und dem Publikum eingeräumte Freiheit, und auch die soziale Utopie (mit klar formulierten Übernahmen von Fourier), auf der sie basiert - eines von Pousseurs Werken, geschrieben 1971 und Erweiterung von <i>Ephémérides</i>, heißt <i>Invitation à l'Utopie</i> - haben einen Dialog ausgelöst, eine dialektische Erforschung und Bemächtigung, mit mehr oder weniger von unserer musikalischen Tradition entfernten Momenten der Vergangenheit - <i>Votre Faust, die Erprobung des Petrus Hebraicus / Le Procès du jeune chien, Seconde Apothéose de Rameau, Dichterliebesreigentraum, L'Effacement du prince Igor</i> ... - und mit seiner eigenen Produktion - die vielen Satellitenwerke von <i>Votre Faust, La Guirlande de Pierre</i> ... <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEizSfFmieFCpvlBhocs0d5h99scnLtHKRltYUHRTeorrXsthCjGh9C3MfL1y6tGznt0Dj98JMItOwmkDKLPvy2s2cDjxnOcxqKeZ4joCbUW8I3WL0ynU_1ff8NIV4In5bvBPTC6ZHnRU_4/s1600/1HenriPousseur.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="759" data-original-width="1350" height="223" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEizSfFmieFCpvlBhocs0d5h99scnLtHKRltYUHRTeorrXsthCjGh9C3MfL1y6tGznt0Dj98JMItOwmkDKLPvy2s2cDjxnOcxqKeZ4joCbUW8I3WL0ynU_1ff8NIV4In5bvBPTC6ZHnRU_4/s400/1HenriPousseur.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Henri Pousseur (1929-2009)</td></tr>
</tbody></table>
Es ist diese Tendenz zur reduzierten Dichte und zum Prozess einer "Begegnung-Übernahme-Dialog", die in ihrem Konzept der großen "offenen" Form und ihrer Entstehung als "work in progress" die vier Stücke des Zyklus <i>Aquarius-Memorial</i> illustriert. Es handelt sich um eine Sammlung, die Henri Pousseur zwischen 1994 und 1999 im Rahmen seiner sechsjährigen "Amtszeit" an der Universität von Leuven, die ihm nach dem Tod von Karel Goeyvaerts, der diese Position voher inne hatte, angeboten wurde, komponiert hat. Die Anordnung der Stücke (die nicht die originale, chronologische ist) verläuft wie ein Stoffstrang aus Beziehungen und Zusammenfügungen von Erinnerungsteilen: <i>Les Litanies d'Icare, Danseurs gnidiens cherchant la perle clémentine, Les Fouilles de Jéruzona</i> und <i>Icare aux jardins du Verseau</i>. <br />
<br />
Goeyvaerts, um einige Jahre älter als Pousseur, spielte im flämischen Teil des Landes eine ähnliche Rolle wie Pousseur im französischen: als Pionier der post-seriellen Avantgarde (<i>Sonate pour deux pianos</i> von 1950/51) hat er sich der elektronischen Musik zugewandt, um dann zu einer freieren Schreibweise in Kombination mit traditionelleren Mitteln zurückzukehren. Die letzten Jahre seines Lebens dienen dem Reifungsprozess (fünf <i>Litanie</i> für verschiedene Solisten und kleine Ensembles, komponiert zwischen 1979 und 1982) und zwischen 1983 und 1993 der definitiven Ausarbeitung des visionären, utopischen und "abstrakten" Opern-Oratoriums <i>Aquarius</i>. Es ist für 16 Stimmen und großes Orchester komponiert und wurde kurz nach dem Ableben des Autors in Antwerpen und später in Brüssel von Pierre Bartholomée und dem Orchestre Philharmonique de Liège uraufgeführt. <br />
<br />
<i>Aquarius-Memorial</i> lebt somit von der Ähnlichkeit in der intellektuellen und künstlerischen Entwicklung und von der thematischen Verwandtschaft. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjaxFoINrtg5qjqpxGuQFL7qarAO_bpdsiSCPKxLDSkaFl0sK3E826RVGz4owwoSNbNYh8Cgsufc6fiWkBh6fvYuL943lRSGzXj41mZxM094IAuP-x0F50JIVVf7vEbVmwBEJCAFn3Bv50/s1600/2KarelGoeyvaerts.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1519" data-original-width="1010" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjaxFoINrtg5qjqpxGuQFL7qarAO_bpdsiSCPKxLDSkaFl0sK3E826RVGz4owwoSNbNYh8Cgsufc6fiWkBh6fvYuL943lRSGzXj41mZxM094IAuP-x0F50JIVVf7vEbVmwBEJCAFn3Bv50/s320/2KarelGoeyvaerts.jpg" width="212" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Karel Goeyvaerts (1923-1993)</td></tr>
</tbody></table>
Mit einem großen Stück für Klavier solo - das Klavier war Goeyvaerts Instrument - hat Pousseur den posthumen Dialog mit dem Werk und dem Idiom seines älteren Kollegen eingeleitet, und hat sich dabei durch die Übernahme von Themen aus <i>Icare und Mnémosyne</i> der utopischen, symbolisierten Thematik bedient. Die gleichen Titel einiger ihrer Partituren sind rein zufällig - ohne über die Projekte von Goeyvaerts informiert zu sein, hatte auch Pousseur in den 80er Jahren eine Serie von <i>Litanies</i> komponiert, bei der er auf seine Weise die Frage der Wiederholbarkeit behandelt hat. <br />
<br />
Die <i>Litanies d'Icare</i> entwickeln sich aus sehr einfachem Material: die Ton-Konstellation A, E, G, A, Es, die sich durch die fünf Teile des Werkes zieht, findet sich (A, E, G, A, S) in dem Namen von Karel Goeyvaerts. Dieses Material ist nach einem für Henri Pousseur seit über 35 Jahren sehr wichtigen Prinzip organisiert, als ein Netzwerk, das Transformationsprinzipien unterworfen ist und sich fortschreitend in einem einzigen "Klangbogen" ausbreitet, "ein liebevolles Heraufbeschwören einer Abwesenheit" (H. Pousseur). Das Werk wurde als erster Teil des Zyklus <i>Aquarius-Memorial</i>, das nach damaligem Plan drei Teile enthalten sollte, von Frederic Rzewski im Februar 1995 in Leuven im Rahmen des Festivals "Nieuwe Stemmen" uraufgeführt. <br />
<br />
Die beiden folgenden Stücke richten sich nur an das Orchester, und zwar das der Beethoven Akademie mit seinen 36 Musikern unter der Leitung von Jan Caeyers, welches im ersten Teil, <i>Danseurs gnidiens cherchant la perle clémentine</i>, durch einen Schlagzeuger bereichert ist. Es entstand später als die in offener Form komponierten <i>Fouilles de Jéruzona</i> und wurde, als Antwort auf eine ausdrückliche Anfrage nach einem relativ kurzen Stück in traditioneller Schreibweise, im Oktober 1998 uraufgeführt. Es war von Anfang an als Einführung in den ersten Entwurf konzipiert, wo es eine Art Scherzo darstellt, und bildet auf diese Weise mit den grammatikalischen Elementen des gesamten Zyklus ein Echo zu dem Kammermusiktheaterstück <i>Don Juan à Gnide ou les Séductions de la Chasteté</i>, welches 1996 zum 70. Geburtstag von Michel Butor komponiert wurde, sowie zu dessen Serien von in proportionalen Verhältnissen organisierten Tanzrhythmen (Passepied, Gigue, Badinerie / Bosniaque, Gaillarde, Thébaine / Sarabande, Sicilienne, Pavane) und auch zur Erinnerung - variiert in Rhythmus, Stärke, Klangfarbe und Register -an die melodischen Konturen der Romanze <i>Le temps des Cerises</i>, die seit Anfang der 70er Jahre ein wichtiges Thema der Pousseurschen Utopie waren. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhlbkOC2wDKh59Og2Rv2rlVyqhbdrynqgE8NuVx_z1u-GSPuoQy_r1WcFmKpxkvQwv6AulV5n1mnxXpdYKvIQOquK21ybVSI_Z30e55SuiwtSSE9prh1M_i5fQFQS1GdgyArcyMeYWfLr0/s1600/3PierreBartholomee.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="702" data-original-width="1248" height="179" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhlbkOC2wDKh59Og2Rv2rlVyqhbdrynqgE8NuVx_z1u-GSPuoQy_r1WcFmKpxkvQwv6AulV5n1mnxXpdYKvIQOquK21ybVSI_Z30e55SuiwtSSE9prh1M_i5fQFQS1GdgyArcyMeYWfLr0/s320/3PierreBartholomee.jpg" width="320" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Pierre Bartholomée (* 1937)</td></tr>
</tbody></table>
Das zweite Stück ist nur für Orchester, und der Titel <i>Les Fouilles de Jéruzona</i> erinnert durch seine Mischung und Verkettung der, von nun an nicht mehr vorhandenen, historischen Zitate an <i>Ruines de Jéruzona</i>, eines der zahlreichen 20 Jahre früher komponierten Satellitenwerke von <i>Votre Faust</i>. Denn aus der Gesamtheit der kreativen Initiativen jedes einzelnen Interpreten wird eine neue Musik aus dem Reservoir an Noten, die ihm die Partitur anbietet, geschaffen, welche der Komponist als "jungfräulich" bezeichnet. Dieses Konzept der mehr oder weniger spontanen Öffnung und Improvisation, die Pousseur seit mehr als vierzig Jahren studiert und ausfeilt, damit es nicht zu Unordnung oder Unleserlichkeit der Musik führt, wird hier auf relativ strenge Wiederholungsphänomene angewendet, die dem späten Goeyvaerts sehr wichtig waren: <br />
<br />
Jeder der 36 Musiker (organisiert in Sechsergruppen) muss eine bestimmte Anzahl an ziemlich einfachen Figuren erfinden, die dann nach einer durch die Partitur festgelegten polyphonen Steigerung wiederholt werden, aber gleichzeitig die anfängliche Wahl der Interpreten verändern. Es folgt eine zentrale, etwas träumerische Episode, bei der die Improvisation, die weiterhin auf den gegebenen allgemeinen Harmonien, dieselben wie in <i>Litanies d'Icare</i>, wo sie vollständig bestimmt sind, basiert, etwas flexibler ist. Das Stück endet mit einer Reprise des Materials, das in dem ersten Teil geschaffen wurde, und nimmt an Komplexität in der Art eines <i>Decrescendos</i> ab. Dieser Teil von <i>Aquarius-Memorial</i> wurde von seinen Widmungsträgern im Herbst 1995 uraufgeführt. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiQbHRy81oQ5ge2xSnOiRJA4OhyuwtxVYGphDGkDha4Xk6MLN6Uc8rY1SjaxuOl7sh3Q8LBWs8cxVpJoqt3c43MaG9UvRUazBKo3jnrlc4Fpm4N-BUz3Kwli8GHisNh2vozOF4Cm8G0bY0/s1600/4FredericRzewski.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="800" data-original-width="1200" height="213" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiQbHRy81oQ5ge2xSnOiRJA4OhyuwtxVYGphDGkDha4Xk6MLN6Uc8rY1SjaxuOl7sh3Q8LBWs8cxVpJoqt3c43MaG9UvRUazBKo3jnrlc4Fpm4N-BUz3Kwli8GHisNh2vozOF4Cm8G0bY0/s320/4FredericRzewski.jpg" width="320" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Frederic Rzewski (* 1938)</td></tr>
</tbody></table>
Das letzte Stück des Zyklus, <i>Icare aux Jardins du Verseau</i>, wurde schließlich im Winter 1998/99 komponiert und ist bei weitem das längste und komplexeste: in einer Art Synthese der drei anderen verbindet es das Klavier solo mit dem Orchester aus 37 Musikern (weiterhin geteilt in Sechsergruppen und einen zusätzlichen Schlagzeuger in halbsolistischer Funktion). Die Struktur des Ensembles greift auf die von <i>Litanie d'Icare</i> zurück, indem sie in allen Dimensionen vervielfacht wird: das von dem Klavier geführte Orchester spielt bis zu vier Variationen der <i>Litanies</i> gleichzeitig, was die Dichte merklich verstärkt, während der Solist seinerseits langsam immer freiere Improvisationen hinzufügt. Im Moment des Höhepunktes dieser Entwicklung, ungefähr nach drei Viertel der Zeit, erscheinen breite Zitate aus <i>Fouilles de Jéruzona</i>, zu denen sich noch überarbeitete, in neue prismatische Transformationen gelangte Erinnerungen aus <i>Danseurs gnidiens</i> mischen. Dieses mehr und mehr überladene bunte Treiben führt in eine große Kadenz, bei der der Solist all seine improvisatorischen Fähigkeiten maximal entfalten kann. Durch ein schnelles Abnehmen von der stärksten zu einer sehr reduzierten Dichte, welche den ersten Klavierteil beendet, gelangt man dann in die Atmosphäre der <i>Litanies</i> zurück. <br />
<br />
So schließt sich der Kreis, und das Wenigerwerden, mit dem drei seiner Bestandteile, hier besonders feinfühlend, enden, ist wie die Wiederholung des bewegten Abschiednehmens von einem Komponisten, "dessen lächelndes Schweigen geheimnisvolle Tiefe heraufbeschwörte" (Henri Pousseur). <br />
<br />
Die vollständige Version von <i>Aquarius-Memorial</i> wurde im Oktober 2000 in Leuven von Frederic Rzewski und der Beethoven Academie unter der Leitung von Pierre Bartholomée uraufgeführt. <br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Marie-Isabelle Collart (Übersetzung: Monica Winterson), im Booklet</i></span><br />
<br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiHa6Il9exZy48XEIXDRh3YKfO8nPcZ3ddGTntferYWI9PVvIO-zyVkWOSoMYaf_RKpww4td6xO3uEMlA1sV3rqpMg1m0i5WvM82V8VFmToTTmchfmdjXO7-F_NZXu1iq8NVbtZe347EgE/s1600/1942-05-20.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="594" data-original-width="750" height="316" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiHa6Il9exZy48XEIXDRh3YKfO8nPcZ3ddGTntferYWI9PVvIO-zyVkWOSoMYaf_RKpww4td6xO3uEMlA1sV3rqpMg1m0i5WvM82V8VFmToTTmchfmdjXO7-F_NZXu1iq8NVbtZe347EgE/s400/1942-05-20.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">This is an aerial view of Times Square looking north from the New York Times<br />
newspaper building at 42nd St., during a dim-out in midtown Manhattan on <br />
May 20, 1942 in World War II. The large signs illuminating Broadway, <br />
street on left, are out in addition to the marquee lights above the theaters<br />
and restaurants along Seventh Ave., right.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<pre>TRACKLIST
Henri Pousseur
(1929-2009)
Aquarius-Memorial
01 Les litanies d'Icare 24:14
02 Danseurs gnidiens cherchant la perle clémentine 11:21
03 Les fouilles de Jéruzona 17:31
04 Icare aux jardins du verseau 28:44
Total time 79:02
Frederic Rzewski, Piano
Beethoven Academie, directed by Pierre Bartholomée
Recording: Leuven, Lemmens Institut, 23 October 2000 (live) and 24 October
Producer: Michel Stockhem
Sound Engineer: Emmanuelle Bailliet
Editing: Emmanuelle Bailliet
Premastering: Louis-Philippe Fourez
(P)(C) 2001
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Theodor W. Adorno:</b></span></span><br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b><br /></b></span></span>
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Minima Moralia</b></span></span><br />
<b><br /></b>
<b><i>Aus dem zweiten Teil der Minima Moralia (1945)</i></b><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg6zgW07_h5lNu-jbSnffDHfgK6w2lt6FCBHjZPsPNi8zchnLjBOOdRuKAhwP-N2jCjXHDeamkwdROaHuBRDSy0tuYPZygOnQ4XAPK4_f726hd12TgGEhycIfoqYqlt2ZAYxUZ8Y4VcqjE/s1600/1942-05-21.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="686" data-original-width="750" height="365" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg6zgW07_h5lNu-jbSnffDHfgK6w2lt6FCBHjZPsPNi8zchnLjBOOdRuKAhwP-N2jCjXHDeamkwdROaHuBRDSy0tuYPZygOnQ4XAPK4_f726hd12TgGEhycIfoqYqlt2ZAYxUZ8Y4VcqjE/s400/1942-05-21.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Customers gather at soft drink stand during a dimout in Times Square, <br />
New York, May 21, 1942. Dimouts were necessary to conserve energy and <br />
also cloak the city and surrounding waters in darkness in case of enemy attack.</td></tr>
</tbody></table>
64<br />
<br />
<i>Moral und Stil.</i> — Man wird als Schriftsteller die Erfahrung machen, daß, je präziser, gewissenhafter, sachlich angemessener man sich ausdrückt, das literarische Resultat für um so schwerer verständlich gilt, während man, sobald man lax und verantwortungslos formuliert, mit einem gewissen Verständnis belohnt wird. Es hilft nichts, alle Elemente der Fachsprache, alle Anspielungen auf die nicht mehr vorgegebene Bildungssphäre asketisch zu vermeiden. Vielmehr bewirken Strenge und Reinheit des sprachlichen Gefüges, selbst bei äußerster Einfachheit, ein Vakuum. Schlamperei, das mit dem vertrauten Strom der Rede Schwimmen, gilt für ein Zeichen von Zugehörigkeit und Kontakt: man weiß, was man will, weil man weiß, was der andere will. Beim Ausdruck auf die Sache schauen, anstatt auf die Kommunikation, ist verdächtig: das Spezifische, nicht bereits dem Schematismus Abgeborgte erscheint rücksichtslos, ein Symptom der Eigenbrötelei, fast der Verworrenheit. Die zeitgemäße Logik, die auf ihre Klarheit so viel sich einbildet, hat naiv solche Perversion in der Kategorie der Alltagssprache rezipiert. Der vage Ausdruck erlaubt dem, der ihn vernimmt, das ungefähr sich vorzustellen, was ihm genehm ist und was er ohnehin meint. Der strenge erzwingt Eindeutigkeit der Auffassung, die Anstrengung des Begriffs, deren die Menschen bewußt entwöhnt werden, und mutet ihnen vor allem Inhalt Suspension der gängigen Urteile, damit ein sich Absondern zu, dem sie heftig widerstreben. Nur, was sie nicht erst zu verstehen brauchen, gilt ihnen für verständlich; nur das in Wahrheit Entfremdete, das vom Kommerz geprägte Wort berührt sie als vertraut. Weniges trägt so sehr zur Demoralisierung der Intellektuellen bei. Wer ihr entgehen will, muß jeden Rat, man solle auf Mitteilung achten, als Verrat am Mitgeteilten durchschauen.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjxajsKMx-wW63oC8OxZm-ykAvNAH3JEt3g6KHLsqbdlqfzmwKk84Fqnj4IcmmtKNlTI6kaVdxtJF0U0t8UcNOdedcaVpeZjzNxD7VjSdQMSqOI83AmiIp0DSZZLGzg_j6qJ-4jZTwWTx0/s1600/1943-11-02.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="612" data-original-width="750" height="326" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjxajsKMx-wW63oC8OxZm-ykAvNAH3JEt3g6KHLsqbdlqfzmwKk84Fqnj4IcmmtKNlTI6kaVdxtJF0U0t8UcNOdedcaVpeZjzNxD7VjSdQMSqOI83AmiIp0DSZZLGzg_j6qJ-4jZTwWTx0/s400/1943-11-02.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">After 18 months in the dark, theater marquees on Broadway light up again while<br />
underneath the crowds come out of the dimout gloom in New York, Nov. 2, 1943.</td></tr>
</tbody></table>
71<br />
<br />
<i>Pseudomenos.</i> — Die magnetische Gewalt, welche die Ideologien über die Menschen ausüben, während sie ihnen bereits ganz fadenscheinig geworden sind, erklärt sich jenseits der Psychologie aus dem objektiv bestimmten Verfall der logischen Evidenz als solcher. Es ist dahin gekommen, daß Lüge wie Wahrheit klingt, Wahrheit wie Lüge. Jede Aussage, jede Nachricht, jeder Gedanke ist präformiert durch die Zentren der Kulturindustrie. Was nicht die vertraute Spur solcher Präformation trägt, ist vorweg unglaubwürdig, um so mehr, als die Institutionen der öffentlichen Meinung dem, was sie aus sich entlassen, tausend faktische Belege und alle Beweiskraft mitgeben, deren die totale Verfügung habhaft werden kann. Die Wahrheit, die dagegen anmöchte, trägt nicht bloß den Charakter des Unwahrscheinlichen, sondern ist überdies zu arm, um in Konkurrenz mit dem hochkonzentrierten Verbreitungsapparat durchzudringen. Über den gesamten Mechanismus belehrt das deutsche Extrem. Als die Nationalsozialisten zu foltern begannen, terrorisierten sie damit nicht nur die Völker drinnen und draußen, sondern waren zugleich vor der Enthüllung um so sicherer, je wilder das Grauen anstieg. Dessen Unglaubwürdigkeit machte es leicht, nicht zu glauben, was man um des lieben Friedens willen nicht glauben wollte, während man zugleich davor kapitulierte. Die Zitternden reden sich darauf hinaus, es werde doch viel übertrieben: bis in den Krieg hinein waren in der englischen Presse Einzelheiten über die Konzentrationslager unerwünscht. Jedes Greuel in der aufgeklärten Welt wird notwendig zum Greuelmärchen. Denn die Unwahrheit der Wahrheit hat einen Kern, auf den das Unbewußte begierig anspricht. Nicht nur wünscht es die Greuel herbei. Sondern der Faschismus ist in der Tat weniger »ideologisch«, insoweit er das Prinzip der Herrschaft unmittelbar proklamiert, das anderswo sich versteckt. Was immer die Demokratien an Humanem ihm entgegenzustellen haben, kann er spielend widerlegen mit dem Hinweis darauf, daß es ja doch nicht die ganze Humanität, sondern bloß ihr Trugbild sei, dessen er mannhaft sich entäußerte. So desperat aber sind die Menschen in der Kultur geworden, daß sie auf Abruf das hinfällige Bessere fortwerfen, wenn nur die Welt ihrer Bosheit den Gefallen tut zu bekennen, wie böse sie ist. Die politischen Gegenkräfte jedoch sind gezwungen, selbst immer wieder der Lüge sich zu bedienen, wenn nicht gerade sie als destruktiv völlig ausgelöscht werden wollen. Je tiefer ihre Differenz vom Bestehenden, das ihnen doch Zuflucht gewährt vor der ärgeren Zukunft, um so leichter fällt es den Faschisten, sie auf Unwahrheiten festzunageln. Nur die absolute Lüge hat noch die Freiheit, irgend die Wahrheit zu sagen. In der Vertauschung von Wahrheit und Lüge, die es fast ausschließt, die Differenz zu bewahren, und die das Festhalten der einfachsten Erkenntnis zur Sisyphusarbeit macht, kündet der Sieg des Prinzips in der logischen Organisation sich an, das militärisch am Boden liegt. Lügen haben lange Beine: sie sind der Zeit voraus. Die Umsetzung aller Fragen der Wahrheit in solche der Macht, der Wahrheit selber nicht sich entziehen kann, wenn sie nicht von der Macht vernichtet werden will, unterdrückt sie nicht bloß, wie in früheren Despotien, sondern hat bis ins Innerste die Disjunktion von Wahr und Falsch ergriffen, an deren Abschaffung die Söldlinge der Logik ohnehin emsig mitwirken. So überlebt Hitler, von dem keiner sagen kann, ob er starb oder entkam.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhSjKD3FskNxlB8zmRDf41L9WryItL48sUkQpZYzDf9QliZyNF70Qn0KQQtMWk5hgDoMeSBbmzoCNR9noqphvXBr8SyTVwFTVU0G5imCb5iBBQ3sXSWP_6WM7HTr5JlKh0sMnD9X9DMtig/s1600/1945-08-14.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="603" data-original-width="750" height="321" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhSjKD3FskNxlB8zmRDf41L9WryItL48sUkQpZYzDf9QliZyNF70Qn0KQQtMWk5hgDoMeSBbmzoCNR9noqphvXBr8SyTVwFTVU0G5imCb5iBBQ3sXSWP_6WM7HTr5JlKh0sMnD9X9DMtig/s400/1945-08-14.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">A huge crowd in New York’s Times Square jubilantly welcome the news that<br />
the Japanese had accepted the allies terms of surrender on Aug. 14, 1945.</td></tr>
</tbody></table>
76<br />
<br />
<i>Galadiner.</i> — Wie Fortschritt und Regression heute sich verschränken, ist am Begriff der technischen Möglichkeiten zu lernen. Die mechanischen Reproduktionsverfahren haben sich unabhängig von dem zu Reproduzierenden entfaltet und verselbständigt. Sie gelten für fortschrittlich‚ und was an ihnen nicht teilhat für reaktionär und krähwinklerisch. Solcher Glaube wird um so gründlicher gefördert, als die Superapparaturen‚ sobald sie irgend ungenützt bleiben, in Fehlinvestitionen sich zu verwandeln drohen. Da aber ihre Entwicklung wesentlich das betrifft, was unterm Liberalismus Aufmachung hieß, und zugleich durch ihr Eigengewicht die Sache selber erdrückt, der ohnehin die Apparatur äußerlich bleibt, so hat die Anpassung der Bedürfnisse an diese den Tod des sachlichen Anspruchs zur Folge. Der faszinierte Eifer, die jeweils neuesten Verfahren zu konsumieren, macht nicht nur gegen das Übermittelte gleichgültig, sondern kommt dem stationären Schund und der kalkulierten Idiotie entgegen. Sie bestätigt den alten Kitsch in immer neuen Paraphrasen als haute nouveauté. Auf den technischen Fortschritt antwortet der trotzige und bornierte Wunsch, nur ja keinen Ladenhüter zu kaufen, hinter dem losgelassenen Produktionsprozeß nicht zurückzubleiben, ganz gleichgültig, was der Sinn des Produzierten ist. Mitläufertum, das sich Drängeln, Schlange Stehen substituiert allenthalben das einigermaßen rationale Bedürfnis. Kaum geringer als der Haß gegen eine radikale, allzu moderne Komposition ist der gegen einen schon drei Monate alten Film, dem man den jüngsten, obwohl er von jenem in nichts sich unterscheidet, um jeden Preis vorzieht. Wie die Kunden der Massengesellschaft sogleich dabei sein wollen, können sie auch nichts auslassen. Wenn der Kenner des neunzehnten Jahrhunderts sich nur einen Akt der Oper ansah, mit dem barbarischen Seitenaspekt, daß er sein Diner von keinem Spektakel sich mochte verkürzen lassen, so kann mittlerweile die Barbarei, der die Auswegsmöglichkeit zum Diner abgeschnitten ist, an ihrer Kultur sich gar nicht sattfressen. Jedes Programm muß bis zu Ende abgesessen‚ jeder best seller gelesen, jeder Film während seiner Blütetage im Hauptpalast beguckt werden. Die Fülle des wahllos Konsumierten wird unheilvoll. Sie macht es unmöglich, sich zurechtzufinden, und wie man im monströsen Warenhaus nach einem Führer sucht, wartet die zwischen Angeboten eingekeilte Bevölkerung auf den ihren.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj2uOG_ycbVDwgceJUX0rKwp6epJNHPLx-QfdOUVCskcRPIPDAHZFv0fh1J4RObgouRX8bDV2VR5L0e037nvCbZoVF_7z7nrWAoSL22NWoqR-q-jNpNH1RVYZ6KekKW4TRW3DRxZo3IYRw/s1600/1946-06-01.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="592" data-original-width="750" height="315" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj2uOG_ycbVDwgceJUX0rKwp6epJNHPLx-QfdOUVCskcRPIPDAHZFv0fh1J4RObgouRX8bDV2VR5L0e037nvCbZoVF_7z7nrWAoSL22NWoqR-q-jNpNH1RVYZ6KekKW4TRW3DRxZo3IYRw/s400/1946-06-01.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">An open pushcart vendor cleans fresh fish before weighing it for a customer<br />
at the corner of Orchard St. and Stanton in the Jewish section of New York’s<br />
Lower East Side on June 1, 1946.</td></tr>
</tbody></table>
86<br />
<br />
<i>Hänschen klein.</i> — Der Intellektuelle, und gar der philosophisch gerichtete, ist von der materiellen Praxis abgeschnitten: der Ekel vor ihr trieb ihn zur Befassung mit den sogenannten geistigen Dingen. Aber die materielle Praxis ist nicht nur die Voraussetzung seiner eigenen Existenz, sondern liegt auch auf dem Grunde der Welt, mit deren Kritik seine Arbeit zusammenfällt. Weiß er nichts von der Basis, so zielt er ins Leere. Er steht vor der Wahl, sich zu informieren oder dem Verhaßten den Rücken zu kehren. Informiert er sich, so tut er sich Gewalt an, denkt gegen seine Impulse und ist obendrein in Gefahr, selber so gemein zu werden wie das, womit er sich abgibt, denn die Ökonomie duldet keinen Spaß, und wer sie auch nur verstehen will, muß »ökonomisch denken«. Läßt er sich aber nicht darauf ein, so hypostasiert er seinen an der ökonomischen Realität, dem abstrakten Tauschverhältnis überhaupt erst gebildeten Geist als Absolutes, während er zum Geist werden könnte einzig in der Besinnung auf die eigene Bedingtheit. Der Geistige wird dazu verführt, eitel und beziehungslos den Reflex für die Sache unterzuschieben. Die einfältig-verlogene Wichtigkeit, wie sie Geistesprodukten im öffentlichen Kulturbetrieb zugewiesen wird, fügt Steine zu der Mauer hinzu, welche die Erkenntnis von der wirtschaftlichen Brutalität absperrt. Dem Geistesgeschäft verhilft die Isolierung des Geistes vom Geschäft zur bequemen Ideologie. Das Dilemma teilt sich den intellektuellen Verhaltensweisen bis in die subtilsten Reaktionen hinein mit. Nur wer gewissermaßen sich rein erhält, hat Haß, Nerven, Freiheit und Beweglichkeit genug, der Welt zu widerstehen, aber gerade vermöge der Illusion der Reinheit — denn er lebt als »dritte Person« — läßt er die Welt nicht draußen bloß, sondern noch im Innersten seiner Gedanken triumphieren. Wer aber das Getriebe allzu gut kennt, verlernt darüber es zu erkennen; ihm schwinden die Fähigkeiten der Differenz, und wie den anderen der Fetischismus der Kultur, so bedroht ihn der Rückfall in die Barbarei. Daß die Intellektuellen zugleich Nutznießer der schlechten Gesellschaft und doch diejenigen sind, von deren gesellschaftlich unnützer Arbeit es weithin abhängt, ob eine von Nützlichkeit emanzipierte Gesellschaft gelingt — das ist kein ein für allemal akzeptabler und dann irrelevanter Widerspruch. Er zehrt unablässig an der sachlichen Qualität. Wie der Intellektuelle es macht, macht er es falsch. Er erfährt drastisch, als Lebensfrage die schmähliche Alternative, vor welche insgeheim der späte Kapitalismus all seine Angehörigen stellt: auch ein Erwachsener zu werden oder ein Kind zu bleiben.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjOAb3ZVaZkV93Cjdv-uue6X87N4GKV9FvQuv5eJEnGl_0Jkd8tn2KkXQUSPOaPC-LKarMWRQ8FotgCAhOeRuaXOrQJ0LHcBOGr4CiKk6b4Kl8ynzSLILZtbsQEOi0ZP8VsVCsp8eHziSk/s1600/1947-07-14.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="590" data-original-width="750" height="313" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjOAb3ZVaZkV93Cjdv-uue6X87N4GKV9FvQuv5eJEnGl_0Jkd8tn2KkXQUSPOaPC-LKarMWRQ8FotgCAhOeRuaXOrQJ0LHcBOGr4CiKk6b4Kl8ynzSLILZtbsQEOi0ZP8VsVCsp8eHziSk/s400/1947-07-14.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">A pedestrian stops and enjoys a hot ear of corn from the vendor, at left, <br />
with his corn cooking machine in New York, July 14, 1947.</td></tr>
</tbody></table>
88<br />
<br />
<i>Dummer August.</i> — Daß das Individuum mit Haut und Haaren liquidiert werde, ist noch zu optimistisch gedacht. Wäre doch in seiner bündigen Negation, der Abschaffung der Monade durch Solidarität, zugleich die Rettung des Einzelwesens angelegt, das gerade in seiner Beziehung aufs Allgemeine erst ein Besonderes würde. Weit entfernt davon ist der gegenwärtige Zustand. Das Unheil geschieht nicht als radikale Auslöschung des Gewesenen, sondern indem das geschichtlich Verurteilte tot, neutralisiert, ohnmächtig mitgeschleppt wird und schmählich hinunterzieht. Mitten unter den standardisierten und verwalteten Menscheneinheiten west das Individuum fort. Es steht sogar unter Schutz und gewinnt Monopolwert. Aber es ist in Wahrheit bloß noch die Funktion seiner eigenen Einzigkeit, ein Ausstellungsstück wie die Mißgeburten, welche einstmals von Kindern bestaunt und belacht wurden. Da es keine selbständige ökonomische Existenz mehr führt, gerät sein Charakter in Widerspruch mit seiner objektiven gesellschaftlichen Rolle. Gerade um dieses Widerspruchs Willen wird es im Naturschutzpark gehegt, in müßiger Kontemplation genossen. Die nach Amerika importierten Individualitäten‚ die durch den Import bereits keine mehr sind, heißen colorful personality. Ihr eifrig hemmungsloses Temperament, ihre quicken Einfälle, ihre »Originalität«, wäre es auch nur besondere Häßlichkeit, selbst ihr Kauderwelsch verwerten das Menschliche als Clownskostüm. Da sie dem universalen Konkurrenzmechanismus unterliegen und durch nichts anderes dem Markt sich angleichen und durchkommen können als durch ihr erstarrtes Anderssein, so stürzen sie sich passioniert ins Privileg ihres Selbst und übertreiben sich dermaßen, daß sie vollends ausrotten‚ wofür sie gelten. Sie pochen schlau auf ihre Naivetät, welche, wie sie rasch herausbekommen, die Maßgebenden so gern mögen. Sie verkaufen sich als Herzenswärmer in der kommerziellen Kälte, schmeicheln sich ein durch aggressive Witze, die von den Protektoren masochistisch genossen werden, und bestätigen durch lachende Würdelosigkeit die ernste Würde des Wirtsvolkes. Ähnlich mögen die Graeculi im römischen Imperium sich benommen haben. Die ihre Individualität feilhalten, machen als ihr eigener Richter freiwillig den Urteilsspruch sich zu eigen, den die Gesellschaft über sie verhängt hat. So rechtfertigen sie auch objektiv das Unrecht, das ihnen widerfuhr. Die allgemeine Regression unterbieten sie als privat Regredierte, und selbst ihr lauter Widerstand ist meist nur ein verschlageneres Mittel der Anpassung aus Schwäche.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi0UagaTctiyKjvNPKJBG1Uv9jo5-8984-5PKJZr_um4l9gJ9prwwKl0N67dWuo0wKrrUSOGnQIyJ9bFxnWXEIoeBKMzuBqpOLxrsb8VLM9dqsyI7vsnD1A7a7Okxh6AYC23yLOVGnelQE/s1600/1947-09-26.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="599" data-original-width="750" height="318" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi0UagaTctiyKjvNPKJBG1Uv9jo5-8984-5PKJZr_um4l9gJ9prwwKl0N67dWuo0wKrrUSOGnQIyJ9bFxnWXEIoeBKMzuBqpOLxrsb8VLM9dqsyI7vsnD1A7a7Okxh6AYC23yLOVGnelQE/s400/1947-09-26.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">A prospective customer grumbles under his breath at the prices scribbled on<br />
the window of this Bowery restaurant on New York’s Lower East Side, <br />
Sept. 26, 1947. The high cost of living has hit the Bowery like every other<br />
place and it’s tough on the residents. One of the biggest selling items is <br />
soup and coffee, for 10 cents. It used to be a Nickel. A room with a partition<br />
and an electric light is up from 30 cents to 40 cents. <br />
The dormitories are 35 cents up from 20.</td></tr>
</tbody></table>
90<br />
<br />
<i>Taubstummenanstalt.</i> — Während die Schulen die Menschen im Reden drillen wie in der ersten Hilfe für die Opfer von Verkehrsunfällen und im Bau von Segelflugzeugen, werden die Geschulten immer stummer. Sie können Vorträge halten, jeder Satz qualifiziert sie fürs Mikrophon, vor das sie als Stellvertreter des Durchschnitts plaziert werden, aber die Fähigkeit miteinander zu sprechen erstickt. Sie setzte mitteilenswerte Erfahrung, Freiheit zum Ausdruck, Unabhängigkeit zugleich und Beziehung voraus. Im allumgreifenden System wird Gespräch zur Bauchrednerei. Jeder ist sein eigener Charlie McCarthy: daher dessen Popularität. Insgesamt werden die Worte den Formeln gleich, die ehedem der Begrüßung und dem Abschied vorbehalten waren. Ein mit Erfolg auf die jüngsten Desiderate hin erzogenes Mädchen etwa müßte in jedem Augenblick genau sagen, was diesem als einer »Situation« angemessen ist, und wofür probate Anweisungen vorliegen. Solcher Determinismus der Sprache durch Anpassung aber ist ihr Ende: die Beziehung zwischen Sache und Ausdruck ist durchschnitten, und wie die Begriffe der Positivisten bloß noch Spielmarken sein sollen, so sind die der positivistischen Menschheit buchstäblich zu Münzen geworden. Es geschieht den Stimmen der Redenden, was der Einsicht der Psychologie zufolge der des Gewissens widerfuhr, von deren Resonanz alle Rede lebt: sie werden bis in den feinsten Tonfall durch einen gesellschaftlich präparierten Mechanismus ersetzt. Sobald er nicht mehr funktioniert, Pausen eintreten, die in den ungeschriebenen Gesetzbüchern nicht vorgesehen waren, folgt Panik. Um ihretwillen hat man sich auf umständliches Spiel und andere Freizeitbeschäftigungen verlegt, die von der Gewissenslast der Sprache dispensieren sollen. Der Schatten der Angst aber fällt verhängnisvoll über die Rede, die noch übrig ist. Unbefangenheit und Sachlichkeit in der Erörterung von Gegenständen verschwinden noch im engsten Kreis, so wie in der Politik längst die Diskussion vom Machtwort abgelöst ward. Das Sprechen nimmt einen bösen Gestus an. Er wird sportifiziert. Man will möglichst viele Punkte machen: keine Unterhaltung, in die nicht wie ein Giftstoff die Gelegenheit zur Wette sich eindrängte. Die Affekte, die im menschenwürdigen Gespräch dem Behandelten galten, heften sich verbohrt ans pure Rechtbehalten, außer allem Verhältnis zur Relevanz der Aussage. Als reine Machtmittel aber nehmen die entzauberten Worte magische Gewalt über die an, die sie gebrauchen. Immer wieder kann man beobachten, daß einmal Ausgesprochenes, mag es noch so absurd, zufällig oder unrecht sein, weil es einmal gesagt ward, den Redenden als sein Besitz so tyrannisiert, daß er nicht davon ablassen kann. Wörter, Zahlen, Termine machen, einmal ausgeheckt und geäußert, sich selbständig und bringen jedem Unheil, der in ihre Nähe kommt. Sie bilden eine Zone paranoischer Ansteckung, und es bedarf aller Vernunft, um ihren Bann zu brechen. Die Magisierung der großen und nichtigen politischen Schlagworte wiederholt sich privat, bei den scheinbar neutralsten Gegenständen: die Totenstarre der Gesellschaft überzieht noch die Zelle der Intimität, die vor ihr sich geschützt meint. Nichts wird der Menschheit nur von außen angetan: das Verstummen ist der objektive Geist.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhJVnPPR4ZSesmQx4kIKsakI4spc5JrzRDAtY8pP5r71L3ORjTHOpf7pkkqrXzxaWgUcAZP95ErZ1HQ4z9yXyKIhCsc6ul8c1afUsbC74SlQiGkzHw1rET0iJ7bUj_j2lSed27csCMOWx8/s1600/1947-12-27.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="608" data-original-width="750" height="323" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhJVnPPR4ZSesmQx4kIKsakI4spc5JrzRDAtY8pP5r71L3ORjTHOpf7pkkqrXzxaWgUcAZP95ErZ1HQ4z9yXyKIhCsc6ul8c1afUsbC74SlQiGkzHw1rET0iJ7bUj_j2lSed27csCMOWx8/s400/1947-12-27.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">A pedestrian walks between drifts of snow in Times Square in New York City,<br />
Dec. 27, 1947, following the record-breaking snowfall of the day before. <br />
This view looks south on Broadway with the Times Building in the center <br />
background.</td></tr>
</tbody></table>
91<br />
<br />
<i>Vandalen.</i> — Was seit dem Aufkommen der großen Städte als Hast, Nervosität, Unstetigkeit beobachtet wurde, breitet nun so epidemisch sich aus wie einmal Pest und Cholera. Dabei kommen Kräfte zum Vorschein, von denen die pressierten Passanten des neunzehnten Jahrhunderts nichts sich träumen ließen. Alle müssen immerzu etwas vorhaben. Freizeit verlangt ausgeschöpft zu werden. Sie wird geplant, auf Unternehmungen verwandt, mit Besuch aller möglichen Veranstaltungen oder auch nur mit möglichst rascher Fortbewegung ausgefüllt. Der Schatten davon fällt über die intellektuelle Arbeit. Sie geschieht mit schlechtem Gewissen, als wäre sie von irgendwelchen dringlichen, wenngleich nur imaginären Beschäftigungen abgestohlen. Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, praktiziert sie den Gestus des Hektischen, des Hochdrucks, des unter Zeitnot stehenden Betriebs, der jeglicher Besinnung, ihr selber also, im Wege steht. Oft ist es, als reservierten die Intellektuellen für ihre eigentliche Produktion nur eben die Stunden, die ihnen von Verpflichtungen, Ausgängen, Verabredungen und unvermeidlichen Vergnügungen übrig bleiben. Widerwärtig, doch einigermaßen rational ist noch der Prestigegewinn dessen, der als so wichtiger Mann sich präsentieren kann, daß er überall dabei sein muß. Er stilisiert sein Leben mit absichtlich schlecht gespielter Unzufriedenheit als einen einzigen acte de présence. Die Freude, mit der er eine Einladung unter Hinweis auf eine bereits akzeptierte ablehnt, meldet den Triumph in der Konkurrenz an. Wie darin, so wiederholen sich allgemein die Formen des Produktionsprozesses im Privatleben oder in den von jenen Formen ausgenommenen Bereichen der Arbeit. Das ganze Leben soll wie Beruf aussehen und durch solche Ähnlichkeit verbergen, was noch nicht unmittelbar dem Erwerb gewidmet ist. Die Angst, die darin sich äußert, reflektiert aber nur eine viel tiefere. Die unbewußten Innervationen, die jenseits der Denkprozesse die individuelle Existenz auf den historischen Rhythmus einstimmen, gewahren die heraufziehende Kollektivierung der Welt. Da jedoch die integrale Gesellschaft nicht sowohl die Einzelnen positiv in sich aufhebt, als vielmehr zu einer amorphen und fügsamen Masse sie zusammenpreßt, so graut jedem Einzelnen vor dem als unausweichlich erfahrenen Prozeß des Aufgesaugtwerdens. Doing things and going places ist ein Versuch des Sensoriums, eine Art Reizschutz gegen die drohende Kollektivierung herzustellen, auf diese sich einzuüben‚ indem man gerade in den scheinbar der Freiheit überlassenen Stunden sich selber als Mitglied der Masse schult. Die Technik dabei ist, die Gefahr womöglich zu überbieten. Man lebt gewissermaßen noch schlimmer, also mit noch weniger Ich, als man erwartet leben zu müssen. Zugleich lernt man durch das spielerische Zuviel an Selbstaufgabe, daß einem im Ernst ohne Ich zu leben nicht schwerer fallen könnte sondern leichter. Dabei hat man es sehr eilig, denn beim Erdbeben wird nicht geläutet. Wenn man nicht mitmacht, und das will sagen, wenn man nicht leibhaft im Strom der Menschen schwimmt, fürchtet man, wie beim allzu späten Eintritt in die totalitäre Partei, den Anschluß zu verpassen und die Rache des Kollektivs auf sich zu ziehen. Pseudoaktivität ist eine Rückversicherung, der Ausdruck der Bereitschaft zur Selbstpreisgabe‚ durch die einzig man noch die Selbsterhaltung zu garantieren ahnt. Sekurität winkt in der Anpassung an die äußerste Insekurität. Sie wird als Freibrief auf die Flucht vorgestellt, die einen möglichst rasch an einen anderen Ort bringt. In der fanatischen Liebe zu den Autos schwingt das Gefühl physischer Obdachlosigkeit mit. Es liegt dem zugrunde, was die Bürger zu Unrecht die Flucht vor sich selbst, vor der inneren Leere zu nennen pflegten. Wer mit will, darf sich nicht unterscheiden. Psychologische Leere ist selber erst das Ergebnis der falschen gesellschaftlichen Absorption. Die Langeweile, vor der die Menschen davonlaufen, spiegelt bloß den Prozeß des Davonlaufens zurück, in dem sie längst begriffen sind. Darum allein erhält der monströse Vergnügungsapparat sich am Leben und schwillt immer mehr auf, ohne daß ein einziger Vergnügen davon hätte. Er kanalisiert den Drang dabei zu sein, der sonst wahllos, anarchisch, als Promiskuität oder wilde Aggression dem Kollektiv sich an den Hals werfen würde, das zugleich doch aus niemand anderem besteht als aus denen unterwegs. Am nächsten verwandt sind sie den Süchtigen. Ihr Impuls reagiert exakt auf die Dislokation der Menschheit, wie sie von der trüben Verwischung des Unterschieds von Stadt und Land, der Abschaffung des Hauses, über die Züge von Millionen Erwerbsloser, bis zu den Deportationen und Völkerverschiebungen im verwüsteten europäischen Kontinent führt. Das Nichtige, Inhaltslose aller kollektiven Rituale seit der Jugendbewegung stellt nachträglich als tastende Vorwegnahme übermächtiger historischer Schläge sich dar. Die Unzähligen, die plötzlich der eigenen abstrakten Quantität und Mobilität, dem von der Stelle Kommen in Schwärmen wie einem Rauschgift verfallen, sind Rekruten der Völkerwanderung, in deren verwilderten Räumen die bürgerliche Geschichte zu verenden sich anschickt.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgPev2SIO4V6fN_Tk3pjSrruD03D6g3UHnqyRFs6ADTs7OZJ55VMSJdZlS0aJqErreCBw0aXCERGRknw3VjNPYbOyEIH0ibGOwRfgrJIRl0KcpOtNkF1HkA1fgwO3-ijrSpggz5cxGqdd0/s1600/1948-08-28.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="620" data-original-width="750" height="330" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgPev2SIO4V6fN_Tk3pjSrruD03D6g3UHnqyRFs6ADTs7OZJ55VMSJdZlS0aJqErreCBw0aXCERGRknw3VjNPYbOyEIH0ibGOwRfgrJIRl0KcpOtNkF1HkA1fgwO3-ijrSpggz5cxGqdd0/s400/1948-08-28.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">This general view from the Steeplechase Pier shows part of the crowded beach<br />
at Coney Island in Brooklyn, N.Y., Aug. 28, 1948. In the background beyond<br />
the boardwalk is the ferris wheel, center, and the Cyclone roller coaster at right.</td></tr>
</tbody></table>
92<br />
<br />
<i>Bilderbuch ohne Bilder.</i> — Der objektiven Tendenz der Aufklärung, die Macht aller Bilder über die Menschen zu tilgen, entspricht kein subjektiver Fortschritt des aufgeklärten Denkens zur Bilderlosigkeit. Indem der Bildersturm nach den metaphysischen Ideen unaufhaltsam die ehedem als rational verstandenen, die eigentlich gedachten Begriffe demoliert, geht das von Aufklärung entbundene und gegen Denken geimpfte Denken in zweite Bildlichkeit, eine bilderlose und befangene, über. Mitten im Netz der ganz abstrakt gewordenen Beziehungen der Menschen untereinander und zu den Sachen entschwindet die Fähigkeit zur Abstraktion. Die Entfremdung der Schemata und Klassifikationen von den darunter befaßten Daten, ja die reine Quantität des verarbeiteten Materials, die dem Umkreis der einzelmenschlichen Erfahrung ganz inkommensurabel geworden ist, zwingt unablässig zur archaischen Rückübersetzung in sinnliche Zeichen. Die Männchen und Häuschen, die hieroglyphenhaft die Statistik durchsetzen, mögen in jedem Einzelfall akzidentiell, als bloße Hilfsmittel erscheinen. Aber sie sehen nicht umsonst ungezählten Reklamen, Zeitungsstereotypen, Spielzeugfiguren so ähnlich. In ihnen siegt die Darstellung übers Dargestellte. Ihre übergroße, simplistische und daher falsche Verständlichkeit bekräftigt die Unverständlichkeit der intellektuellen Verfahren selber, die von deren Falschheit — der blinden begriffslosen Subsumtion — nicht getrennt werden kann. Die allgegenwärtigen Bilder sind keine, weil sie das ganz Allgemeine, den Durchschnitt, das Standardmodell als je Eines, Besonderes präsentieren zugleich und verlachen. Aus der Abschaffung des Besonderen wird auch noch hämisch das Besondere gemacht. Das Verlangen danach hat sich bereits im Bedürfnis sedimentiert und wird allerorten von der Massenkultur, nach dem Muster der Funnies, vervielfacht. Was einmal Geist hieß, wird von Illustration abgelöst. Nicht bloß daß die Menschen sich nicht mehr vorzustellen vermögen, was ihnen nicht abgekürzt gezeigt und eingedrillt wird. Sogar der Witz, in dem einmal die Freiheit des Geistes mit den Fakten zusammenstieß und diese explodieren machte, ist an die Illustration übergegangen. Die Bildwitze‚ welche die Magazine füllen, sind großenteils ohne Pointe, sinnleer. Sie bestehen in nichts anderem als in der Herausforderung des Auges zum Wettkampf mit der Situation. Man soll, durch ungezählte Präzedenzfälle geschult, rascher sehn‚ was »los ist«‚ als die Bedeutungsmomente der Situation sich entfalten. Was von solchen Bildern vorgemacht, vom gewitzigten Betrachter nachvollzogen wird, ist, im Einschnappen auf die Situation, in der widerstandslosen Unterwerfung unter die leere Übermacht der Dinge alles Bedeuten wie einen Ballast abzuwerfen. Der zeitgemäße Witz ist der Selbstmord der Intention. Wer ihn begeht, findet sich belohnt durch Aufnahme ins Kollektiv der Lacher, welche die grausamen Dinge auf ihrer Seite haben. Wollte man solche Witze denkend zu verstehen trachten, so bliebe man hilflos hinterm Tempo der losgelassenen Sachen zurück, die in der einfachsten Karikatur noch rasen wie in der Hetzjagd am Ende des Trickfilms. Gescheitheit wird ganz unmittelbar zur Dummheit im Angesicht des regressiven Fortschritts. Dem Gedanken bleibt kein Verstehen als das Entsetzen vorm Unverständlichen. Wie der besonnene Blick, der dem lachenden Plakat einer Zahnpastaschönheit begegnet, in ihrem angestellten Grinsen der Qual der Folter gewahr wird, so springt ihm aus jedem Witz, ja eigentlich aus jeder Bilddarstellung das Todesurteil übers Subjekt entgegen, das im universalen Sieg der subjektiven Vernunft eingeschlossen liegt.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjlD8FOFMC5APBiw3Nd75ToOOg_Jh4tGnLZ7TPYmcf1Cq7v3JIqRtyz_KZ9W5BPuqC6PLO9EbADWsB6kyqHxFadCUWwqehQGqeHXqIgtSvoPU37wnvPdf97ExtnsF3PzLmNE8YJ1AYfVTo/s1600/1949-12-31.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="628" data-original-width="750" height="333" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjlD8FOFMC5APBiw3Nd75ToOOg_Jh4tGnLZ7TPYmcf1Cq7v3JIqRtyz_KZ9W5BPuqC6PLO9EbADWsB6kyqHxFadCUWwqehQGqeHXqIgtSvoPU37wnvPdf97ExtnsF3PzLmNE8YJ1AYfVTo/s400/1949-12-31.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Three-quarters of a million people crowd into Times Square, in New York,<br />
Dec. 31, 1949, to welcome in the New Year.</td></tr>
</tbody></table>
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2003 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Bd. 1704). ISBN 978-3-518-29304-1. Zitiert wurden Auszüge aus dem 2. Teil (geschrieben 1945) auf den Seiten 114 bis 161.</i></span><br />
<br />
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<b>B&W Photos Give Firsthand Perspective of Daily Life in 1940s New York<a href="https://mymodernmet.com/daily-life-new-york-1940s/" target="_blank"> (By Jessica Stewart on May 4, 2017)</a></b><br />
<i>New York City in the 1940s was buzzing with activity, with the population of Manhattan almost reaching 2 million inhabitants. These incredible black and white photographs, which document everyday life in New York City, are a glimpse back at this era. </i><br />
<br />
<br />
<b>Musik aus alter und neuer Zeit, aus der Kammermusikkammer:</b> <br />
<br />
<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2020/02/pierre-boulez-polyphonie-x-poesie-pour.html" target="_blank">Pierre Boulez: Polyphonie X | Poésie pour pouvoir | Structures II | Jacob Burckhardt: Die Ruinenstadt Rom.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2020/01/johannes-ciconia-opera-omnia-diabolus.html" target="_blank">Johannes Ciconia: Opera Omnia (Diabolus in Musica, La Morra) | Die Schönste im ganzen Land: Die Berliner Büste der Nofretete</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/12/w-b-yeats-poems-gedichte.html" target="_blank">W. B. Yeats: Poems / Gedichte | Das Haus des Tauben: Goyas „pinturas negras“</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/11/george-gershwin-rhapsody-in-blue.html" target="_blank">George Gershwin: Rhapsody in Blue | Ovid: Diana und Aktäon: "Dumque ibi perluitur solita Titania lympha, / ecce nepos Cadmi dilata parte laborum / per nemus ignotum non certis passibus errans / pervenit in lucum: sic illum fata ferebant."</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/10/beethoven-bagetellen-sonaten-und-trio.html" target="_blank">Beethoven: Bagatellen, Sonaten und Trio (Glenn Gould, 1952/54) | Ninfa Fiorentina - Aby Warburg: Florentinische Wirklichkeit und antikisirender Idealismus. </a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/06/turina-zilcher-dvorak-klaviertrios.html" target="_blank">Turina | Zilcher | Dvorák: Klaviertrios | Ein Paradies fürs Auge: Gartendarstellungen auf Tapisserien der Renaissance</a></b><br />
<br />
<br />
<a href="https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Henri-Pousseur-1929-2009-Aquarius-memorial/hnum/4362411" target="_blank"><b>CD bestellen bei JPC</b></a> <br />
<br />
<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 36 MB <br />
<a href="http://www.embedupload.com/?d=0HBBNYYSC5" rel="nofollow" target="_blank">Embedupload</a> --- <a href="https://mega.nz/#!OwY1zKQZ!TbdKiMEnnKMmtHKllODbbXTq97CI2Dupc81113SCfZw" rel="nofollow" target="_blank">MEGA</a> --- <a href="http://depositfiles.com/files/ki42dnq22" rel="nofollow" target="_blank">Depositfile</a></b> <br />
<span style="background-color: #d9ead3;">Unpack x387.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: [79:02] 4 parts 301 MB</span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-39023824358819938452020-03-02T10:42:00.002+01:002020-03-02T10:42:26.664+01:00Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza (ed. RZ 1009)<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjmZR-yo99Bw1uBmewgSZxKeuUB5B1IFBDxDtzbp9JnQYoynD041Ybb3FK5XJKVhf3jrPs10KafMW3eK2RTtOE0tisIxy7f_IZKX8Ha67AbKvyUBLsxHeFyM0CJGoiryea_WRrlhAq4sHE/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1437" data-original-width="1600" height="359" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjmZR-yo99Bw1uBmewgSZxKeuUB5B1IFBDxDtzbp9JnQYoynD041Ybb3FK5XJKVhf3jrPs10KafMW3eK2RTtOE0tisIxy7f_IZKX8Ha67AbKvyUBLsxHeFyM0CJGoiryea_WRrlhAq4sHE/s400/Cover.jpg" width="400" /></a></div>
Die Improvisationsgruppe Nuova Consonanza entstand 1964 auf Anregung von Franco Evangelisti. Den Namen übernahm sie von der Konzertgesellschaft <i>Nuova Consonanza</i>, die 1961 in Rom gegründet wurde und im Rahmen deren dritten Festivals im Frühling 1965 die Gruppe ihr Debüt gab. Der Ausdruck »nuova consonanza« wurde im Vorwort zur Sammlung <i>Le musiche di Iacopo Peri</i> aus dem Jahre 1600 vorgefunden. Er verweist auf kein neuartiges Gesetz der Harmonielehre, sondern auf ein ästhetisches Programm: über die Grenzen hinausschauen, um immer wieder »neue Übereinstimmungen« zu erreichen. Die »historische« Besetzung der Gruppe - die in der vorliegenden Schallplatte dokumentiert ist - war: Mario Bertoncini (Schlagzeug und Klavier), Walter Branchi (Kontrabaß), Franco Evangelisti (Klavier), John Heineman (Posaune und Violoncello), Roland Kayn (Hammond-Orgel, Vibraphon und Marimbaphon), Egisto Macchi (Schlagzeug und Celesta) und Ennio Morricone (Trompete). In <i>Improvvisazione per cinque</i> und <i>RKBA 1675/1</i> kommt Frederic Rzewski (Klavier) hinzu; in <i>Eflot</i> und <i>Soup</i> erscheinen auch Giovanni Piazza (Horn) und Jesus Villa Roja (Klarinette). Mit der historischen Besetzung trat die Gruppe bei mehreren europäischen Festivals auf: 1968 beim Maggio Musicale von Florenz und der Biennale von Venedig, 1969 bei den Sechs Tagen Musik von Berlin, 1971 anläßlich der Konzertsaison vom ORF in Wien und 1972 bei der Internationalen Musikfestwoche in Luzern. <br />
<br />
Gegenüber den vielen Improvisationsgruppen, die sich im Laufe der sechziger Jahre bildeten, zeichnet sich Nuova Consonanza durch Merkmale aus, die sie zu einer einzigartigen Erscheinung machen. Nach dem Modell des kurzlebigeren New Music Ensemble des Amerikaners Larry Austin, das Evangelisti bei der Bildung von Nuova Consonanza inspiriert hatte, sollen die Mitglieder der Gruppe zunächst das jeweils eigene Instrument beherrschen; sie sollen aber zugleich Komponisten sein, und in dieser Doppelfunktion verstehen sie ihre Tätigkeit als improvisierende Musiker. Improvisation wird also nicht als neodadaistischer Angriff gegen den Werkbegriff, sondern als dessen Erweiterung praktiziert. Das Werk als intendiertes Kunstobjekt bleibt bestehen, es wird aber zu einem transitorischen, von einem kollektiven Subjekt produzierten Werk. Das jeweilige Ergebnis ähnelt einem Mosaik aus unendlich vielen Steinchen, die als solche keine Selbständigkeit haben und erst im Zusammenhang mit den anderen ihren Sinn erhalten. Es ist eine »instantane« Komposition, an deren Konstitution alle mit gleichem Recht und zur gleichen Zeit teilnehmen. <br />
<br />
Selbstverständlich ist solchen »instantanen« Kompositionen nicht mit der Haltung zu begegnen, die der Rezeption schriftlich fixierter Werke angemessen ist. Die gewöhnlichen Kategorien des Musikwerkes - Beginn, Entwicklung, Kontrast, Übergang und Schluß können zum Verständnis der kompositorischen Aktion von Nuova Consonanza nicht das geringste beitragen. Das Schaffen von Nuova Consonanza hat für die Musik der sechziger Jahre insgesamt Signalcharakter: der Akzent hat sich von Form und Struktur auf das Material verschoben. Die Substanz des instantanen Werkes fällt mit den angewendeten Klängen und ihren Produktionsvorgängen zusammen. Die Eigenart von <i>String Quartet</i> beispielsweise erklärt sich aus einem Verfahren, das Bertoncini eingeführt hatte: die Haare eines Geigenbogens werden unter den Saiten eines Flügels hin- und hergezogen, wodurch kontinuierliche Klangbänder entstehen. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhzqCEuFzTVPqiQJBzW1P5mjWLUoIRF9pk0zfDktyj6XSywe2fvJAsYcT3O_aqpTT-JOMxpbweRA-HOnjiToHWZCVZYp7L6msvdxWWiRt-EsXZ85BUKgIQCFpXJhDoJcyDuZXRD5LAfkKg/s1600/Foto.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="987" data-original-width="1214" height="325" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhzqCEuFzTVPqiQJBzW1P5mjWLUoIRF9pk0zfDktyj6XSywe2fvJAsYcT3O_aqpTT-JOMxpbweRA-HOnjiToHWZCVZYp7L6msvdxWWiRt-EsXZ85BUKgIQCFpXJhDoJcyDuZXRD5LAfkKg/s400/Foto.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Von links nach rechts: Walter Branchi, Mario Bertoncini, Egisto Macchi,<br />
Franco Evangelisti, Ennio Morricone, John Heineman. </td></tr>
</tbody></table>
Im Repertoire von Nuova Consonanza überwiegt ohnehin eine unkonventionelle Behandlung der Instrumente: Hauchen und Sprechen in Blasinstrumente, der Flügel als Resonanzkörper für andere Instrumente, die Verwendung von Fagottmundstücken bei Blechbläsern sowie unzählige geräuschproduzierende Objekte. Die Entscheidung für deformierte Klänge entsprach nicht dem Selbstzweck einer spielerischen Effektistik, sondern einer ästhetischen Orientierung, die die Unzulänglichkeit des temperierten Systems erkannt hatte und nach einer neuen Klangwelt suchte. <br />
<br />
Evangelisti sah die Gruppe als Ausweg aus dem etablierten Musikbetrieb mit seinen Auftragswerken, seinen Einschränkungen, seinen abgenutzten Kommunikationsformen. Er sah Nuova Consonanza als ersten Schritt auf dem Weg zu einer neuen Klangwelt, die nicht mehr Musik heißen kann. Dieser Schritt war einer der Negation. Die kollektive Arbeit setzte einen Katalog der Verbote voraus, der von allen Mitgliedern akzeptiert wurde: keine Priorität eines einzelnen Spielers zulassen, keinen an das tonale System gebundenen Klang hervorbringen, keine rhythmische Periodik, gestalten, keine einprägsamen Motive einfügen, keine genaue Wiederholung eines Gewesenen ausführen. Der Katalog war auf alle Klischees erweiterbar, auch auf die der Avantgarde: keinen Jargon der Negativität bilden, das Sichtbare nicht über das Klangliche vorherrschen lassen. <br />
<br />
Den Improvisationen gingen meistens Übungen voraus, die gleichsam als Training für die eigentliche kompositorische Aktion erfunden wurden. Sie betrafen einzelne Dimensionen des Klanges: eine Farbengruppe, einen dynamischen Bereich, eine Verhaltensweise (wie das Spielen nach je individuellem Zeitmaß oder das Bilden von schnellen Kettenreaktionen); sie galten aber nicht als normatives Schema für eine Improvisation. Die einzige positive, immer geltende Vorschrift war das alte Prinzip der Ökonomie der kompositorischen Arbeit; geboten war eine nicht verschwenderische Verwendung der Klangelemente, eine Arbeit in Minimalbereichen, eine Reduktion der Mittel - was übrigens der in der Improvisation üblichen Neigung entgegenwirkte, vielfältige Materialien zu akkumulieren und ihre Ressourcen rasch auszuschöpfen, um die Aufmerksamkeit der Zuhörer wachzuhalten. Fundament für Vorarbeit und kompositorische Aktion von Nuova Consonanza ist jedoch das Hören und das Hören-lernen. Erst aus einer prinzipiellen Bereitschaft, die anderen und sich selbst mit den anderen zu hören, erklären sich Ergebnisse derartigen Gleichgewichtes. Denn - wie Evangelisti sagte - "in dieser Fähigkeit des Anhörens der eigenen Fehler und der Fehler der anderen und in der unmittelbaren Reaktion sich entsprechend zu korrigieren, also in der Verteilung der individuellen Energie im Dienste der gemeinsamen Idee, liegt das Wesen der Improvisation" . <br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Gianmario Borio, im Booklet</i></span><br />
<br />
<br />
<pre>TRACKLIST
Gruppo di Improvvisazione Nuova Consonanza
01. String Quartet (RCA-1967) 4'13
Mario Bertoncini, Franco Evangelisti, John Heineman, Roland Kayn
02. Improvvisazione per cinque (RCA-1967) 7'06
Mario Bertoncini, Franco Evangelisti, John Heineman, Roland Kayn, Frederic Rzewski
03. RKBA 1675/I (RCA-1967) 5'12
Mario Bertoncini, Franco Evangelisti, John Heineman, Roland Kayn, Frederic Rzewski
04. Percussione per tutti (General Music-1969) 7'23
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, John Heineman, Egisto Macchi, Ennio Morricone
05. Mirage (General Music-1969) 4'44
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, John Heineman, Egisto Macchi, Ennio Morricone
06. Wenig aber kurz (SFB-15.12.69) 2'00
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, John Heineman, Egisto Macchi, Ennio Morricone
07. NC Berlino 1969 (SFB-15.12.69) Ausschnitt: 7'40
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, John Heineman, Egisto Macchi, Ennio Morricone
08. Zum Schluß (Wien-1971) 6'13
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, Egisto Macchi, Ennio Morricone, Giovanni Piazza, Jesus Villa Rojo
09. Eflot (Cinevox-1975) 11'15
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, Egisto Macchi, Ennio Morricone, Giovanni Piazza, Jesus Villa Rojo
10. Soup (Cinevox-1975) 7'37
Mario Bertoncini, Walter Branchi, Franco Evangelisti, Egisto Macchi, Ennio Morricone, Giovanni Piazza, Jesus Villa Rojo
Time Total: 64'34
(C) 1992 ADD
Edition RZ
Ed. RZ 1009
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: large;"><span style="color: red;"><b><span style="font-size: x-large;">Norbert Elias:</span> </b></span></span><br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b><br /></b></span></span>
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Die höfisch-aristokratische Verflechtung</b></span></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi0uTDyOj0ZiRPw7o-WylttjPgiR6Bxy7C-L1i058NMUMHrFet5YlO1GmaeWQcTwypSNTCrchyQk5L1yJ_Eov1w2JHaOyXIeJqIDaUobk_bH7LIq03eBa5pi5rrpZ0msZ_8DM0SeLXRsEY/s1600/1_DeLaNuit.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1157" data-original-width="750" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi0uTDyOj0ZiRPw7o-WylttjPgiR6Bxy7C-L1i058NMUMHrFet5YlO1GmaeWQcTwypSNTCrchyQk5L1yJ_Eov1w2JHaOyXIeJqIDaUobk_bH7LIq03eBa5pi5rrpZ0msZ_8DM0SeLXRsEY/s640/1_DeLaNuit.jpg" width="414" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ludwig XIV. in der Rolle der Sonne im <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Ballet_de_la_nuit" target="_blank">Ballet de la nuit, </a><br />
<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Ballet_de_la_nuit" target="_blank">23. Februar 1653, Salle du Petit Bourbon, Paris</a></td></tr>
</tbody></table>
1) Wie man sieht, ist die Verstrickung der sozialen Existenz einer nicht arbeitenden Schicht nicht weniger zwingend und unausweichlich als die Verstrickung, welche eine arbeitende Schicht zum Ruin führt. Das ist die Situation, die in dem Wort des Herzogs von Croy zum Ausdruck kommt: »Ce sont les maisons qui ont écrasé la plupart des grandes familles«.<br />
<br />
Die besondere Figuration, die eine solche Haltung züchtet und zu ihrer Aufrechterhaltung nötig hat, wird mit alledem ganz gewiß erst andeutungsweise sichtbar. Aber die spezifische Haltung selbst, die der Verflechtung in eine solche höfische Gesellschaft entspringt, tritt bei dieser Art der Untersuchung aus der Überlagerung durch heteronome Wertungen, aus der Verdeckung durch das berufsbürgerliche Wirtschaftsethos, für den Blick des Betrachters bereits etwas klarer heraus. Dieses Wirtschaftsethos ist nicht etwas Selbstverständliches. Menschen handeln nicht seinen Geboten gemäß, gleichgültig in welcher Gesellschaft sie leben, sofern sie nur für sich selbst »rational« oder »logisch« zu denken vermögen. Daß die höfisch-aristokratische Haltung zu Geldeinnahmen und Geldausgaben von der berufsbürgerlichen verschieden ist, läßt sich nicht einfach durch die Annahme einer zufälligen Häufung von persönlichen Mängeln oder Lastern einzelner Menschen erklären; es handelt sich nicht um eine Epidemie der Willkür oder der Schwächung von Langsicht und Selbstkontrolle der beteiligten Individuen. Man begegnet hier einem anderen gesellschaftlichen System der Normen und Wertungen, dessen Geboten sich Individuen nur zu entziehen vermögen, wenn sie auf den Umgang innerhalb ihrer gesellschaftlichen Zirkel, auf die Zugehörigkeit zu ihrer sozialen Gruppe verzichten. Diese Normen lassen sich nicht erklären aus einem Geheimnis, das in der Brust vieler einzelner Menschen begraben ist; sie lassen sich nur erklären im Zusammenhang mit der spezifischen Figuration, die die vielen Individuen miteinander bilden und mit den spezifischen Interdependenzen‚ die sie aneinander binden.<br />
<br />
2) Auf der einen Seite steht das gesellschaftliche Ethos des Berufsbürgertums, dessen Normen die einzelne Familie dazu verpflichten, die Ausgaben den Einnahmen unterzuordnen und, wenn irgend möglich, den gegenwärtigen Verbrauch unter dem Niveau der Einnahmen zu halten, so daß die Dfferenz als Ersparnis in der Hoffnung auf erhöhte zukünftige Einnahmen investiert werden kann. In diesem Falle hängt die Sicherung der erreichten Familienposition und noch weit mehr der gesellschaftliche Erfolg, der Erwerb eines höheren Status und Prestiges davon ab, daß der Einzelne in seiner Einnahmen-Ausgaben-Strategie auf lange Sicht hin seine kurzfristigen Verbrauchsneigungen ohne allzu große Abweichungen dem Ethos des Sparens für künftigen Gewinn (saving-for-future-profit ethos) unterordnet.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIBzKIG98MXvzOnC8q4wFL0HAXxYtYwV7whrX152rOQisvcVnUjwmgCeJ3mPqk6o1TseqjrrDYUgrxN2Lj_Fqysw4T5LkwVbk9m8-KKbR8zlVmFxO_juk1yL2cIF_8uUpI739A4f3D_mo/s1600/2_Polen.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1194" data-original-width="771" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIBzKIG98MXvzOnC8q4wFL0HAXxYtYwV7whrX152rOQisvcVnUjwmgCeJ3mPqk6o1TseqjrrDYUgrxN2Lj_Fqysw4T5LkwVbk9m8-KKbR8zlVmFxO_juk1yL2cIF_8uUpI739A4f3D_mo/s400/2_Polen.jpg" width="256" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ballett in den <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ballet_at_the_Tuileries_for_the_Polish_ambassadors,_1573.jpg" target="_blank">Tuilerien, Paris 1573,</a><br />
<a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Ballet_at_the_Tuileries_for_the_Polish_ambassadors,_1573.jpg" target="_blank"> zu Ehren der Polnischen Gesandten</a></td></tr>
</tbody></table>
Von diesem berufsbürgerlichen Verhaltenskanon unterscheidet sich der des Prestigeverbrauchs. In Gesellschaften, in denen dieses andere Ethos, das des Statuskonsums (statusconsumption ethos) vorherrscht, hängt allein schon die bloße Sicherung der vorhandenen gesellschaftlichen Position einer Familie und noch weit mehr die Erhöhung des gesellschaftlichen Ansehens, der gesellschaftliche Erfolg, davon ab, daß man die Kosten seiner Haushaltung, seinen Verbrauch, seine Ausgaben überhaupt, in erster Linie von dem gesellschaftlichen Rang, von dem Status oder Prestige, das man besitzt oder anstrebt, abhängig macht. Jemand der nicht seinem Range gemäß auftreten kann, verliert den Respekt seiner Gesellschaft. Er bleibt in dem ständigen Wettrennen um Status- und Prestigechancen hinter den Konkurrenten zurück und läuft Gefahr, ruiniert beiseite stehen und aus dem Verkehrskreis seiner Rang- und Statusgruppe ausscheiden zu müssen. Diese Verpflichtung zu Ausgaben entsprechend seinem Rang, verlangt eine Erziehung zur Handhabung des Geldes, die von der berufsbürgerlichen verschieden ist. Einen paradigmatischen Ausdruck dieses sozialen Ethos’ findet man in einer von Taine berichteten Handlung des Herzogs von Richelieu: Er gibt seinem Sohn einen Beutel mit Geld, damit er lernt, es wie ein Grandseigneur auszugeben, und als der junge Mann das Geld wieder zurückbringt, wirft der Vater den Beutel vor den Augen des Sohnes zum Fenster hinaus. Das ist eine Sozialisierung im Sinne einer gesellschaftlichen Tradition, die dem Einzelnen einprägt, daß sein Rang ihm die Verpflichtung zur Großzügigkeit auferlegt. Im Munde höfisch-aristokratischer Menschen hat der Ausdruck »économie« im Sinne der Unterordnung von Ausgaben unter die Einnahmen und der planmäßigen Einschränkung des Verbrauchs um des Sparens willen bis spät ins achtzehnte Jahrhundert und gelegentlich auch noch über die Revolution hinaus einen etwas verächtlichen Beigeschmack. Es ist ein Symbol für die Tugend der kleinen Leute. Veblen, wie man sieht, wird bei seiner Untersuchung des »Prestige-Konsums« noch in hohem Maße durch den unkritischen Gebrauch bürgerlicher Werthaltungen als Maßstab für das Wirtschaftsverhalten von anderen Gesellschaften geblendet. Er verstellt sich damit den Weg zu einer soziologischen Analyse des Prestigekonsums. Er sieht nicht klar die sozialen Zwänge dahinter. […]<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjOzXbNtGFzqzJzqAdv-RSRRkAGNg1n3e6r92qBCnD1J0tEYcX0721PfKDLJC1hCPSka0LWjyNAzzDon57RFG7F9jXyFrTk3q3K6SrPla8XijCZ1Akmoqmbb79iKk9x9KQDc5tshJtO0qs/s1600/3_Schweden.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="900" data-original-width="1600" height="225" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjOzXbNtGFzqzJzqAdv-RSRRkAGNg1n3e6r92qBCnD1J0tEYcX0721PfKDLJC1hCPSka0LWjyNAzzDon57RFG7F9jXyFrTk3q3K6SrPla8XijCZ1Akmoqmbb79iKk9x9KQDc5tshJtO0qs/s400/3_Schweden.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://nypl.getarchive.net/media/ballet-a-la-cour-de-suede-471db7" target="_blank">Ballett am Hof von Schweden, 17. Jahrhundert</a></td></tr>
</tbody></table>
3) Montesquieu hat eines der frühesten soziologischen Modelle, das es in der europäischen Entwicklung gibt, entworfen, um die Regelmäßigkeit, mit der sich in seinem Beobachtungsfelde Adelsfamilien ruinieren, zu erklären. Er stellt diesen Abstieg von Familien des Schwertadels als Phase in der gesellschaftlichen Zirkulation von Familien innerhalb der Stände dar. Er geht dabei von zwei Voraussetzungen aus, die für den Aufbau seiner Gesellschaft, ebenso wie für seine eigene Standeszugehörigkeit, bezeichnend sind. Er geht davon aus, daß die gesetzlichen wie alle anderen Barrieren, die die verschiedenen sozialen Eliten seiner Gesellschaft voneinander trennen, unangetastet bleiben. Seiner Meinung können und sollen die Unterschiede zwischen den führenden ständischen Kadern der französischen Gesellschaft, wie zwischen den Ständen überhaupt, nicht verwischt werden. Gleichzeitig aber sieht er, daß es innerhalb dieses festen Gerüsts der Stände und ihrer Eliten eine ständige Zirkulation von Familien gibt, die auf- und die absteigen.<br />
<br />
Eine der wichtigsten Schranken, die die beiden Adelsformationen der französischen Gesellschaft, die des Schwertes und die der Robe, von der Masse des Volkes abtrennt, ist das gesetzliche Verbot, sich an irgendwelchen kommerziellen Unternehmungen zu beteiligen. Auf diese Weise sein Einkommen zu vermehren, gilt als unehrenhaft und hat den Verlust des Titels und des Ranges zur Folge. Montesquieu hält dieses Verbot für eine nützliche, in der Tat für eine ganz unentbehrliche Einrichtung einer absoluten Monarchie. Jeder der Spitzengruppen‚ so argumentiert er, fällt bei dieser Anordnung eine gesellschaftliche Belohnung eigener Art zu, die von der jeder anderen verschieden ist. Gerade das gibt ihnen den Ansporn:<br />
<br />
»Die Belohnung der Steuerpächter sind die Reichtümer, und Reichtümer machen sich selbst belohnt. Ruhm und Ehre sind die Belohnung desjenigen Adels, der nichts anderes kennt, nichts anderes sieht, nichts anderes fühlt als Ruhm und Ehre. Respekt und Achtung sind die Belohnung der hohen Gerichts- und Verwaltungsbeamten, die nichts anderes auf ihrem Wege finden, als Arbeit nach der Arbeit und die Tag und Nacht über die Wohlfahrt des Reiches wachen.« <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhGjJWLtm9eGOWTMh1KqGn5XjECQwM5GWjLjExT-xX_Ur0UNhRCOypdRjSBzNEcmAozbjLwLFkj0OFUaxtVZdcT1FXSGIfnuga-CNkzBqOQXJk_ZUp-oPb9ZYtstG_nI9oICtQGvUHOMoo/s1600/4_Espagnolz.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="934" data-original-width="1536" height="242" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhGjJWLtm9eGOWTMh1KqGn5XjECQwM5GWjLjExT-xX_Ur0UNhRCOypdRjSBzNEcmAozbjLwLFkj0OFUaxtVZdcT1FXSGIfnuga-CNkzBqOQXJk_ZUp-oPb9ZYtstG_nI9oICtQGvUHOMoo/s400/4_Espagnolz.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10543965f.item" target="_blank">Entrée Des Espagnolz Joueurs de guitaire. Zeichnung Daniel Rabel</a></td></tr>
</tbody></table>
Man sieht aus solchen Bemerkungen ziemlich deutlich, wo Montesquieu selbst steht. Er gehört der letztgenannten Gruppe, der Robe, an. Die Rivalität zwischen diesem Amtsadel und dem Schwertadel kommt in seiner Darstellung deutlich zum Ausdruck. Er kann es sich selten versagen, von dem Schwertadel zu sprechen, ohne einige ironische Bemerkungen einzuflechten. Aber verglichen mit anderen Bemerkungen, die Vertreter der zwei rivalisierenden Adelsformationen übereinander machen, sind die Montesquieus noch maßvoll und mild. Wenige Menschen haben so klar wie er gesehen, daß die Regelmäßigkeit, mit der sich Familien des Schwertadels ruinieren, nicht einfach Ausdruck persönlicher Schwächen, sondern eine Folge ihrer gesellschaftlichen Lage und besonders ihres gesellschaftlichen Wertsystems ist.<br />
<br />
Er bemerkt zunächst, wie unrichtig es wäre, die Bestimmung aufzuheben, die es Adligen verbietet, sich durch Handel zu bereichern. Täte man das, so würde man Kaufleuten den Hauptantrieb nehmen, den sie haben, um recht viel Geld zu verdienen: Je tüchtiger sie als Kaufleute sind, um so größer ist ihre Chance, den Kaufmannsstand verlassen und sich einen Adelstitel kaufen zu können. Wenn sie mit Hilfe ihrer Reichtümer zunächst in den Amtsadel aufgestiegen sind, dann kann die Familie etwas später vielleicht auch noch in den Schwertadel aufsteigen. Wenn das geschieht, dann sind sie recht bald gezwungen, ihr Kapital durch standesgemäße Ausgaben wieder zu verringern. Denn der Schwertadel, sagt Montesquieu mit leicht ironischem Unterton, das sind die Leute, die immer daran denken, wie sie ein Vermögen machen können, die aber zugleich auch denken, es sei eine Schande, sein Vermögen zu vermehren, ohne sogleich damit zu beginnen, es zu verschleudern. Das ist derjenige Teil der Nation, der das Grundkapital seines Besitzes verbraucht, um der Nation zu dienen. Wenn sich eine Familie auf diese Weise ruiniert hat, macht sie einer andern Platz, die ebenfalls bald damit beginnt, ihr Kapital aufzuzehren. […]<br />
<br />
4) Man kann diese Kombination von Starrheit und Beweglichkeit der sozialen Schichtung nicht verstehen, ohne sich daran zu erinnern, daß sie in der Form, in der sie Montesquieu beobachtet, ein integrales Bestandstück der absolutistischen Herrschaftsapparatur Frankreichs bildet. Ludwig XIV. hatte in seiner Jugend am eigenen Leibe zu spüren bekommen, wie gefährlich es für die Position des Königs sein kann, wenn ständische Eliten, vor allem die des Schwertadels und die der hohen Gerichts- und Verwaltungsbeamten, ihre Abneigung gegeneinander überwinden und gemeinsame Sache gegen den König machen. Vielleicht hatte er auch von der Erfahrung der englischen Könige gelernt, die die Bedrohung und Schwächung ihrer Position in hohem Maße dem vereinten Widerstand von Adels- und Bürgergruppen verdankten. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhfwUdBWEW5a46DbaUCRNqY8K-lMUf0yjfqT8LbgFLo1gYPmNfUrY0CFJPi88vovctw2f5t4DkCEyiWfEoRM1CTwIZol4JlhULgprBDcGGWak-Poj87SBG1bJ_MJXMHJf3X_7OaDQhkpCQ/s1600/5_Feen.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="974" data-original-width="1516" height="256" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhfwUdBWEW5a46DbaUCRNqY8K-lMUf0yjfqT8LbgFLo1gYPmNfUrY0CFJPi88vovctw2f5t4DkCEyiWfEoRM1CTwIZol4JlhULgprBDcGGWak-Poj87SBG1bJ_MJXMHJf3X_7OaDQhkpCQ/s400/5_Feen.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://cmbv.fr/en/introducing-baroque/ballet-de-cour" target="_blank">Ballet des Fées des forêts de Saint-Germain 'Entrée des Eperlucattes',</a><br />
Zeichnung Daniel Rabel, Musée du Louvre</td></tr>
</tbody></table>
Jedenfalls gehörte die Stärkung und Festigung der vorhandenen Unterschiede, der Gegensätze und Rivalitäten zwischen den Ständen, ganz besonders zwischen den ständischen Eliten und auch innerhalb ihrer zwischen den verschiedenen Rängen und Stufen ihrer Status- und Prestigehierarchie, zu den festen Maximen seiner Herrschaftsstrategie. Es war ganz offenbar, wie noch genauer zu zeigen sein wird, daß diese Gegensätze und Eifersüchteleien zwischen den mächtigsten Elitegruppen seines Reiches zu den Grundbedingungen für die Machtfülle der Könige gehörten, die in Begriffen, wie »unumschränkt« oder »absolutistisch« ihren Ausdruck findet.<br />
<br />
Die lange Herrschaft Ludwigs XIV. hat viel dazu beigetragen, daß die spezifische Härte und Schärfe, die ständische Unterscheidungen und andere soziale Rangunterschiede durch ihre ständige Nutzung als Herrschaftsinstrumente des Königs erwarben, auch gedanklich und gefühlsmäßig in den beteiligten Gruppen selbst als ein wesentlicher Charakterzug ihrer eigenen Überzeugungen zu spüren ist. Dank dieser Verwurzelung der scharfen Rang-‚ Status- und Prestigekonkurrenz in den Überzeugungen, in den Werthaltungen und Idealen der Beherrschten reproduzieren sich die derart erhöhten und verhärteten Spannungen und Eifersüchteleien zwischen den verschiedenen Ständen und Rängen, und besonders zwischen den rivalisierenden Spitzengruppen dieser hierarchisch gegliederten Gesellschaft, wie eine Maschine im Leerlauf immer von neuem, selbst wenn das bewußte Spiel auf dieser Spannungsbalance und deren systematische Steuerung durch den König nach dem Tode Ludwigs XIV. einer weit nachlässigeren und weniger konsequenten Handhabung Platz macht. Wie in anderen Fällen, so trägt auch hier die Gewöhnung ganzer Gruppen von Menschen an Haltungen, die zunächst durch deren Abhängigkeit von anderen, deren Beherrschung durch andere, erzwungen oder jedenfalls verstärkt wurden, erheblich zur Routinisierung von Spannungen und Konflikten bei.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi2Ew8ZeSUljR1vv9nbDgUES2RNemdKMnVeJwuOQvQee3ZdXo3jRnNjuuwEkQCjgpip2MtOLv6Dco2ctouLhjzGNrXmCaPZLzPSRPPf1wx3Fk46xUQrav6ukwZDpHYjEdEsgzxE_GfarxY/s1600/6_Bilbao_a.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="941" data-original-width="1066" height="352" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi2Ew8ZeSUljR1vv9nbDgUES2RNemdKMnVeJwuOQvQee3ZdXo3jRnNjuuwEkQCjgpip2MtOLv6Dco2ctouLhjzGNrXmCaPZLzPSRPPf1wx3Fk46xUQrav6ukwZDpHYjEdEsgzxE_GfarxY/s400/6_Bilbao_a.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:Daniel_Rabel_-_The_Royal_Ballet_of_the_Dowager_of_Bilbao%27s_Grand_Ball_-_WGA18593.jpg" target="_blank">The Royal Ballet of the Dowager of Bilbao's Grand Ball</a>, <br />
Zeichnung Daniel Rabel, 1626, Musée du Louvre</td></tr>
</tbody></table>
Was hier bei der Untersuchung der Unterscheidungen und Konflikte zwischen ständischen Eliten zutage tritt, gilt nicht weniger für die gesellschaftliche Mobilität, die trotz aller Rivalitäten und Rangunterschiede von einer ständischen Schicht zur andern führt. Auch sie, auch der Aufstieg und Abstieg von Familien innerhalb der ständisch geschichteten Gesellschaft, ist zunächst gesellschaftlich vorgegeben; das heißt, sie sind nicht von irgendeinem König oder von irgendeinem anderen Individuum geschaffen. Wie die ständische Anordnung der sozialen Schichtung selbst, so sind auch Aufstieg und Abstieg von Familien zunächst Erscheinungsformen der immanenten Dynamik dieser Figuration. Aber wenn sich das Machtgleichgewicht dieser Gesamtfiguration von Menschen nach einer Reihe von Kämpfen zwischen Vertretern der Stände und der Könige zugunsten der letzteren verschiebt, wie das in Frankreich nach vielen Schwankungen schließlich im 17. Jahrhundert der Fall ist, dann fällt dem Inhaber der Königsposition die Chance zu, die soziale Mobilität entsprechend den Vorstellungen, die er von den Interessen der Königsposition oder ganz einfach von seinen eigenen Interessen und Neigungen hat, zu steuern. Ludwig XIV. tut das mit großer Bewußtheit. Nach seinem Tode wird die Ausnutzung solcher Chancen zu einer Art von Routine; am Ende ist sie wieder etwas mehr dem internen Machtkampf höfischer und anderer Eliteformationen selbst ausgesetzt.<br />
<br />
Solange der Machtspielraum der Königsposition groß genug bleibt, haben es jedenfalls die Könige und deren Repräsentanten in der Hand, durch Verleihung von Adelstiteln an reiche bürgerliche Familien den sozialen Aufstieg von Familien im eigenen Interesse und nach eigenem Ermessen zu steuern. Da auch sie in hohem Maße an das Ethos des Statusverbrauchs‚ an die Verpflichtung, ihren Rang als oberstes Maß ihrer Ausgaben zu betrachten, gebunden sind, nutzen sie das Vorrecht des Adelns häufig als standesgemäße Einkommensquelle.<br />
<br />
Genau wie im Rahmen einer solchen Figuration der soziale Aufstieg von der Königsposition her kontrolliert und gesteuert werden kann, so kann auch der soziale Abstieg in gewissen Grenzen von dieser Position her kontrolliert und gesteuert werden. Der König kann die Verarmung oder den Ruin einer Adelsfamilie durch seine persönliche Gunst mildern oder verhindern. Er kann der Familie durch die Verleihung eines Hofamtes, eines militärischen oder diplomatischen Postens zu Hilfe kommen. Er kann ihnen eine der Pfründen, über die er verfügt, zugänglich machen. Er kann ihnen einfach ein Geldgeschenk, etwa in der Form einer Pension, geben.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhJ9NtOavYV_kyubo4abHfJEfDSw3R37oAhlR7vQtxvj7fetkiElOSJalSuxz7WDqdLwIk58yl_bFp_zDdeo8z1WEVV19Fhr-7uXePGGSnHskEM80Jvf-hK1uI9Ofy_UwjOm5Y-KqqjQ2w/s1600/7_Bilbao_b.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="700" data-original-width="1086" height="257" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhJ9NtOavYV_kyubo4abHfJEfDSw3R37oAhlR7vQtxvj7fetkiElOSJalSuxz7WDqdLwIk58yl_bFp_zDdeo8z1WEVV19Fhr-7uXePGGSnHskEM80Jvf-hK1uI9Ofy_UwjOm5Y-KqqjQ2w/s400/7_Bilbao_b.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:Daniel_Rabel_-_The_Royal_Ballet_of_the_Dowager_of_Bilbao%27s_Grand_Ball_-_WGA18592.jpg" target="_blank">The Royal Ballet of the Dowager of Bilbao's Grand Ball,</a><br />
Zeichnung Daniel Rabel, 1626, Musée du Louvre</td></tr>
</tbody></table>
Die Gunst des Königs gehört dementsprechend zu den wichtigsten Chancen, die Familien des Schwertadels haben, um dem Teufelszirkel des Repräsentationszwanges auf Kosten ihres Kapitals Einhalt zu gebieten. Es ist verständlich, daß man sich diese Chance nicht gern verstellt, dadurch daß man sich in einer dem König nicht genehmen Weise verhält. Der König bringt seine Untertanen dazu, wie Montesquieu einmal bemerkt, zu denken »comme il veut«. Wenn man das Abhängigkeitsgeflecht untersucht, in das hier König und Untertanen verstrickt sind, dann ist es nicht schwer zu verstehen, wie das möglich ist. […]<br />
<br />
8) Man lernt die gesellschaftlichen Zusammenhänge des eigenen Lebens besser verstehen, wenn man sich in die des Lebens von Menschen anderer Gesellschaften vertieft. Die Untersuchung der höfischen Gesellschaft bringt klarer zutage, als das gewöhnlich der Fall ist, wenn man nur an die eigene Gesellschaft denkt, daß die eigene Werthaltung ein Glied in der Kette der Interdependenzzwänge bildet, denen man ausgesetzt ist. Philosophische und soziologische Theorien behandeln oft das, was man »Werte« oder »Werthaltungen« nennt, als etwas nicht weiter Erklärbares, etwas »Letztliches« und »Absolutes«. Menschen, so scheint es dann, entscheiden in völliger Freiheit, welche Werte, welche Werthaltungen sie zu den ihren machen wollen. Man fragt so wenig, woher die Werte kommen, die Menschen zu den ihren machen können, wie Kinder fragen, woher der Weihnachtsmann seine Geschenke nimmt oder der Storch die Kinder. Auch die Einschränkungen, auch die Zwänge, denen man durch die Werte, denen man anhängt, durch die eigenen Werthaltungen‚ ausgesetzt ist, übersieht man leicht.<br />
<br />
Was hier über die höfische Gesellschaft gesagt wurde, kann den Zugang zum Verständnis der Zusammenhänge von Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen und Werthaltungen erleichtern. Wenn man in einer Gesellschaft aufwächst, in der der Besitz eines Adelstitels höher rangiert als der Besitz erworbener Reichtümer, und in der die Zugehörigkeit zum Hofe des Königs oder gar das Privileg des Zutritts zur Person des Königs — ent- sprechend der existierenden Machtstruktur — als Lebenschance in der Skala der gesellschaftlichen Werte außerordentlich hoch rangieren, dann ist es schwer, sich dem Zwang zu entziehen, die persönlichen Zielsetzungen im Sinne dieser gesellschaftlichen Wertsetzungen und Normen auszurichten und sich an dem Konkurrenzkampf um solche Chancen zu beteiligen, sofern die soziale Position der eigenen Familie und die Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten die Möglichkeit dazu gibt. Was man als Zielsetzung der Mühe des langfristigen Strebens für wert hält, ist niemals allein durch den Zuwachs an Genugtuung und an Wert bestimmt, den jeder Fortschritt in der Richtung auf das Ziel einem Menschen in den eigenen Augen gibt, sondern auch durch die Erwartung einer Bestätigung des eigenen Wertes oder eines Zuwachses an Achtung und Wert in den Augen anderer. […]<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhnZe67llUV2uyGoHgInepkD6vwQiQagID6E6YQQOxYbfNMr2meZ6C_4JK45FBGotFCj0sq5a3NbZglN0dzvt41CE7g2BmpD8euWu1OBT546-UjOlcvLnX9jN569EiAxpXKOr7nO1GDTMc/s1600/8_Navarra.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1060" data-original-width="1600" height="265" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhnZe67llUV2uyGoHgInepkD6vwQiQagID6E6YQQOxYbfNMr2meZ6C_4JK45FBGotFCj0sq5a3NbZglN0dzvt41CE7g2BmpD8euWu1OBT546-UjOlcvLnX9jN569EiAxpXKOr7nO1GDTMc/s400/8_Navarra.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">La Princesse de Navarre, Comédie-ballet von Voltaire und Rameau, <br />
Nicolas Cochin, 1745</td></tr>
</tbody></table>
Viele — wenn auch durchaus nicht alle — Lebenschancen, um deren Besitz sich Menschen der höfischen Gesellschaft oft mit dem Aufwand ihres ganzen Lebens bemühten, haben inzwischen Glanz und Bedeutung verloren. Wie konnten sich Menschen nur um solcher Nichtigkeiten willen erregen, so mag man fragen, oder gar ihr ganzes Leben auf solche sinnleeren Ziele abstellen? Aber obwohl der Glanz vieler hoher Werte mit der Machtstruktur, die ihnen Bedeutung gab, verblaßt ist, die Situation der Menschen in dieser Gesellschaft selbst und mit ihr auch das Verständnis für die Interdependenz der Wertungen, die in dem Einzelnen das Verlangen nach solchen gesellschaftlich für wert gehaltenen Zielen verankert, kann in der soziologischen Untersuchung auch für Menschen einer anderen Gesellschaft klar und lebendig wieder auferstehen. Man braucht die Werthaltungen höfischer Menschen nicht zu teilen, um zu verstehen, daß sie zu den Zwängen ihres gesellschaftlichen Daseins gehörten und daß es für die meisten der zugehörigen Menschen schwer, wenn nicht unmöglich war, aus der Konkurrenz um die gesellschaftlich für wert gehaltenen Chancen herauszutreten. Es war in der höfischen Gesellschaft für einen Herzog sinnvoll, ein Herzog, für einen Grafen, ein Graf, und für jeden höfisch Privilegierten‚ ein Privilegierter zu sein. Jede Bedrohung der privilegierten Stellung eines einzelnen Hauses wie des Systems der abgestuften Privilegien überhaupt bedeutete eine Bedrohung dessen, was Menschen in dieser Gesellschaft in ihren eigenen Augen und in denen der Menschen, mit denen sie verkehrten und an deren Meinung ihnen lag, Wert, Bedeutung und Sinn gab. Jeder Verlust bedeutete eine Sinnentleerung. Deswegen mußte jeder dieser Menschen auch alle Repräsentationspflichten erfüllen, die mit seiner Position, mit seinen Privilegien verbunden waren. <br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Norbert Elias: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt / Main, Suhrkamp, 9. Aufl. 1999. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Bd. 423). ISBN 3-518-28023-6. Zitiert wurden Auszüge aus Kapitel IV. "Zur Eigenart der höfisch-aristokratischen Verflechtung" (Seiten 102-117).</i></span><br />
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<br />
<b>Musik aus alter und neuer Zeit, aus der Kammermusikkammer:</b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/09/henry-cowell-1897-1965-klavier-kammer.html" target="_blank">Musik von Henry Cowell (1897-1965) | "Wer Laura war, können wir allein von Petrarca selber erfahren" (Hugo Friedrich)</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/07/carl-orff-carmina-burana-szenische.html" target="_blank">Die Szenische Kantate «Carmina Burana» von Carl Orff | "Einige Bücher soll man schmecken, andere verschlucken, und einige zuwenige kauen und verdauen" (Francis Bacon)</a></b><br />
<b><br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/06/la-frottola-eine-fast-vergessene.html" target="_blank">Der Begriff <i>Frottola</i> bezeichnet ein Konglomerat willkürlicher Gedanken oder auch eine Flunkerei | Das Fest des Fleisches (Rubens und Helene Fourment)</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/05/ts-eliot-waste-land-and-other-poems-das.html" target="_blank">T.S. Eliot: The Waste Land and Other Poems / Das Öde Land und andere Gedichte | Die unerträgliche Leichtigkeit des Zeichnens (Die Kunst Paul Floras)</a></b><br />
<b><br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/08/susie-ibarra-trio-songbird-suite-2002.html" target="_blank">Susie Ibarra (* 1970) ist eine US-amerikanische Perkussionistin, Jazzschlagzeugerin und Komponistin | Einst, so schreibt Plinius, gelang dem Maler Protogenes durch den Wurf mit einem Schwamm die ungeahnt wirklichkeitsgetreue Abbildung eines Hundes</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/12/songs-of-carl-michael-bellmann-martin.html" target="_blank">Songs of Carl Michael Bellmann (Martin Best): Ich bin da, und ich will leben, / Daß ich meine Zeit genieß, / Wie's der alte Adam eben / Tat im Paradies.</a></b><br />
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<br />
<a href="https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Gruppo-di-Improvvisazione-Nuova-Consonanza/hnum/3054871" target="_blank"><b>CD bestellen bei JPC</b></a> <br />
<br />
<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 23 MB <br />
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<span style="background-color: #f6b26b;">Unpack x386.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: [64:34] 3 parts 281 MB</span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-27734781515906884952020-02-24T11:13:00.003+01:002020-02-24T11:13:41.802+01:00Pierre Boulez: Polyphonie X | Poésie pour pouvoir | Structures II<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhPPDIFycG6oOaswyBfoKTByI1IyfeUpgwixdAxFO7SRwoOpvxoAbvjxY4mhV2wrlSDDaLnC6BCQEOZdVL8ZUMs6PimG2L_QgnlU7gzIiTXKjDyqCvbwwIL5h6n8pk3MFoZqJ1RquY9Vkc/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1429" data-original-width="1413" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhPPDIFycG6oOaswyBfoKTByI1IyfeUpgwixdAxFO7SRwoOpvxoAbvjxY4mhV2wrlSDDaLnC6BCQEOZdVL8ZUMs6PimG2L_QgnlU7gzIiTXKjDyqCvbwwIL5h6n8pk3MFoZqJ1RquY9Vkc/s320/Cover.jpg" width="316" /></a></div>
Wäre es nach dem Willen seines Vaters gegangen, wäre der 1925 in Montbrison an der Loire geborene Pierre Boulez nie Musiker geworden, sondern hätte nach einem Mathematikstudium die Ingenieurslaufbahn eingeschlagen - und der Musikwelt wäre ein großes Mehrfachtalent vorenthalten worden: So ist aus dem Schüler Olivier Messiaens nicht nur einer der bedeutendsten und zu Beginn seiner Karriere auch innovativsten französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein weltberühmter Dirigent und wichtiger Musiktheoretiker geworden. <br />
<br />
Als der 26-jährige Boulez 1951 in Donaueschingen mit der Uraufführung seiner <b>Polyphonie X für 18 Soloinstrumente</b> antrat, sorgte er gleich für einen "Skandalerfolg", der ihn mit einem Schlag zu einem der vielbeachtetsten Komponisten machte. <i>Polyphonie X</i> gilt bis heute als die strengste serielle Komposition, wurde jedoch vom Komponisten, nachdem er die Aufnahme zu Gehör bekam, ebenso zurückgezogen wie die 1958 uraufgeführte <i>Poésie pour pouvoir</i>. Dank der Mitschnitte sind beide Werke aber zumindest als Tondokumente verfügbar, was den Wert dieser Einspielungen unterstreicht. Die serielle Technik, die Messiaen, an Schönbergs und Weberns Reihentechnik anknüpfend, entwickelt hatte und die von Boulez und Stockhausen perfektioniert wurde, wird noch lange das Musikdenken der gesamten europäischen Avantgarde beherrschen. <br />
<br />
In <b>Poésie pour pouvoir</b>, nach einem Text von Henri Michaux entstanden, kombinierte Boulez die serielle Technik mit elektronischer Klangerzeugung. Begeistert über die Möglichkeiten des seinerzeit neuen Mediums, schrieb er an seinen Freund John Cage: <i>“So wird jedes Werk sein eigenes Universum haben, seine eigene Struktur und seinen eigenen Modus der Erzeugung auf allen Ebenen.“</i> Boulez wird zwar ein großer Verfechter der elektronischen Musik bleiben, hat sich aber auch in den späteren Kompositionen nie ausschließlich der Elektronik gewidmet. <br />
<br />
Als Boulez 1959, ein Jahr nach der Aufführung von <i>Poésie pour pouvoir</i>, erstmals in Donaueschingen als Dirigent auftrat, brach die Kritik sofort in Lobeshymnen aus, wogegen die Aufführung seines <b>Tombeau à la mémoire du Prince Max Egon zu Fürstenberg</b> geradezu verblasste. Dass es sich dabei um ein "work in progress", die erste Fassung des Schlussteils eines weiteren großen Werkes handelte, nämlich <i>Pli selon pli</i>, konnte niemand ahnen, das brachte erst die Geschichte zutage. <br />
<br />
<b>Structures II</b> (1961) gehört zu den wenigen endgültig abgeschlossenen und nicht zurückgezogenen Werken. Wie schon in seiner <i>Dritten Klaviersonate</i> arbeitete Boulez mit aleatorischen Verfahren, dem "gelenkten Zufall", die den Interpreten für ihr Zwiegespräch, das in diesem Werk gemeint ist, gewisse Freiheiten gestattet und so jede Aufführung zu einem neuen Ereignis werden lassen. <br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Ralf Kasper, im Booklet</i></span><br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg2kP9wrCK2A9JEJLxkOOGMObx6OEIX2BCfo1cfY6uoAVbB58d5VNUHoRbbJ3jopV_kAz9Pmooo4UlxCovybjDoBn2VtCCEAs1ksXtszrViVVD8GO2_qMdJBeI1Stfp1m6MuWBbCgM2FHQ/s1600/Pierre-Boulez-est-mort.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1188" data-original-width="1024" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg2kP9wrCK2A9JEJLxkOOGMObx6OEIX2BCfo1cfY6uoAVbB58d5VNUHoRbbJ3jopV_kAz9Pmooo4UlxCovybjDoBn2VtCCEAs1ksXtszrViVVD8GO2_qMdJBeI1Stfp1m6MuWBbCgM2FHQ/s400/Pierre-Boulez-est-mort.jpg" width="343" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Pierre Boulez (1925-2016) <a href="https://www.diapasonmag.fr/a-la-une/pierre-boulez-est-mort-19825" target="_blank">[Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<pre>TRACKLIST
Pierre Boulez
(1925-2016)
Orchestral Works and Chamber Music
Polyphonie X for 18 solo instruments (1951) 16:21
[01] modéré 07:24
[02] lent 04:09
[03] vif 04:48
SWF Symphony Orchestra
Hans Rosbaud, director
[04] Poésie pour pouvoir (1958) 18:29
SWF Symphony Orchestra
Hans Rosbaud / Pierre Boulez, directors
Michel Bouquet, voice (on tape)
Ludwig Heck, technical director
Fred Bürck / Susanne Vogt / Hans Wurm, sound engineers
[05] Tombeau à la mémoire du
Prince Max Egon zu Fürstenberg (1959) 07:16
Eva-Maria Rogner, soprano
Ensemble Domaine Musical Paris
Pierre Boulez, director
Structures II pour deux pianos 7 deuxième livre
(1961) 35:00
[06] Chapitre I 08:54
[07] Chapitre II / Version 1 13:11
[08] Chapitre II / Version 2 12:55
Yvonne Loriod / Pierre Boulez, pianos
total time 77:55
Recordings October 1951 / 1958 / 1959 / 1961, World Premieres
Donaueschinger Musiktage
Mastering: Jiri Pospichal
Editors: Brigitte Weinmann / Dominik Weinmann
(P) 1951 / 1958 / 1959 / 1961
(C) 2000
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Jacob Burckhardt:</b></span></span><br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b><br /></b></span></span>
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Die Ruinenstadt Rom</b></span></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIKRbUnqGKjK5x1SqEK_BbfSr5yVqqNpvT6O4j19k30qJhB9UNzgmMUMRbIbIVXITdQfhbMfVjfFNE4trOas5hKXu4rQ6i9miVCh7vnbdHn3GfSnv4Ub78BSGKFjmwtFVdb2WmafYH31I/s1600/1Colosseum.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="818" data-original-width="1280" height="408" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIKRbUnqGKjK5x1SqEK_BbfSr5yVqqNpvT6O4j19k30qJhB9UNzgmMUMRbIbIVXITdQfhbMfVjfFNE4trOas5hKXu4rQ6i9miVCh7vnbdHn3GfSnv4Ub78BSGKFjmwtFVdb2WmafYH31I/s640/1Colosseum.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Giovanni Battista Piranesi: Das Kolosseum, 1757</td></tr>
</tbody></table>
Vor allem genießt die Ruinenstadt Rom selber jetzt eine andere Art von Pietät als zu der Zeit, da die Mirabilia Romae und das Geschichtswerk des Wilhelm von Malmesbury verfaßt wurden. Die Phantasie des frommen Pilgers wie die des Zaubergläubigen und des Schatzgräbers tritt in den Aufzeichnungen zurück neben der des Historikers und Patrioten. In diesem Sinne wollen Dantes Worte verstanden sein: Die Steine der Mauern von Rom verdienten Ehrfurcht, und der Boden, worauf die Stadt gebaut ist, sei würdiger, als die Menschen sagen. Die kolossale Frequenz der Jubiläen läßt in der eigentlichen Literatur doch kaum eine andächtige Erinnerung zurück; als besten Gewinn vom Jubiläum des Jahres 1300 bringt Giovanni Villani seinen Entschluß zur Geschichtschreibung mit nach Hause, welchen der Anblick der Ruinen von Rom in ihm geweckt. Petrarca gibt uns noch Kunde von einer zwischen klassischem und christlichem Altertum geteilten Stimmung; er erzählt, wie er oftmals mit Giovanni Colonna auf die riesigen Gewölbe der Diokletiansthermen hinaufgestiegen; hier, in der reinen Luft, in tiefer Stille, mitten in der weiten Rundsicht, redeten sie zusammen, nicht von Geschäft, Hauswesen und Politik, sondern, mit dem Blick auf die Trümmer ringsum, von der Geschichte, wobei Petrarca mehr das Altertum, Giovanni mehr die christliche Zeit vertrat; dann auch von der Philosophie und von den Erfindern der Künste.<br />
<br />
Wie oft seitdem bis auf Gibbon und Niebuhr hat diese Ruinenwelt die geschichtliche Kontemplation geweckt.<br />
<br />
Dieselbe geteilte Empfindung offenbart auch noch Fazio degli Uberti in seinem um 1360 verfaßten Dittamondo, einer fingierten visionären Reisebeschreibung, wobei ihn der alte Geograph Solinus begleitet wie Virgil den Dante. So wie sie Bari zu Ehren des St. Nicolaus, Monte Gargano aus Andacht zum Erzengel Michael besuchen, so wird auch in Rom die Legende von Araceli und die von S. Maria in Trastevere erwähnt, doch hat die profane Herrlichkeit des alten Rom schon merklich das Übergewicht; eine hehre Greisin in zerrissenem Gewand — es ist Roma selber — erzählt ihnen die glorreiche Geschichte und schildert umständlich die alten Triumphe; dann führt sie die Fremdlinge in der Stadt herum und erklärt ihnen die sieben Hügel und eine Menge Ruinen — che comprender potrai, quanto fui bella! —<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhBi9ekNUtiZe1h6FFLuknv5b4vmMNCTCRb0PL6gQN1JUrAS_N2XM5t47t0VcdYVbhIWSmuKeR7p_wfA3QSzb25_c_VBet_PCKZqYz1ttdYpfCb6ZvqqLamr-5Gi_Q6VEiCPsN2sL7qQmA/s1600/2Cibele.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="589" data-original-width="858" height="273" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhBi9ekNUtiZe1h6FFLuknv5b4vmMNCTCRb0PL6gQN1JUrAS_N2XM5t47t0VcdYVbhIWSmuKeR7p_wfA3QSzb25_c_VBet_PCKZqYz1ttdYpfCb6ZvqqLamr-5Gi_Q6VEiCPsN2sL7qQmA/s400/2Cibele.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Giovanni Battista Piranesi: Der Tempel der Cibele an der<br />
Piazza della Bocca della Verita, aus 'Ansichten von Rom'.</td></tr>
</tbody></table>
Leider war dieses Rom der avigonesischen und schismatischen Päpste in bezug auf die Reste des Altertums schon bei weitem nicht mehr, was es einige Menschenalter vorher gewesen war. Eine tödliche Verwüstung, welche den wichtigsten noch vorhandenen Gebäuden ihren Charakter genommen haben muß, war die Schleifung von 140 festen Wohnungen römischer Großer durch den Senator Brancaleone um 1258; der Adel hatte sich ohne Zweifel in den besterhaltenen und höchsten Ruinen eingenistet gehabt. Gleichwohl blieb noch immer unendlich viel mehr übrig, als was gegenwärtig aufrecht steht, und namentlich mögen viele Reste noch ihre Bekleidung und Inkrustation mit Marmor, ihre vorgesetzten Säulen und andern Schmuck gehabt haben, wo jetzt nur der Kernbau aus Backsteinen übrig ist. An diesen Tatbestand schloß sich nun der Anfang einer ernsthaften Topographie der alten Stadt an.<br />
<br />
In Poggios Wanderung durch Rom ist zum erstenmal das Studium der Reste selbst mit dem der alten Autoren und mit dem der Inschriften (welchen er durch alles Gestrüpp hindurch nachging) inniger verbunden, die Phantasie zurückgedrängt, der Gedanke an das christliche Rom geflissentlich ausgeschieden. Wäre nur Poggios Arbeit viel ausgedehnter und mit Abbildungen versehen! Er traf noch sehr viel mehr Erhaltenes an als achtzig Jahre später Raffael. Er selber hat noch das Grabmal der Caecilia Metella und die Säulenfronte eines der Tempel am Abhang des Kapitols zuerst vollständig und dann später bereits halb zerstört wiedergesehen, indem der Marmor noch immer den unglückseligen Materialwert hatte, leicht zu Kalk gebrannt werden zu können; auch eine gewaltige Säulenhalle bei der Minerva unterlag stückweise diesem Schicksal. Ein Berichterstatter vom Jahre 1443 meldet die Fortdauer dieses Kalkbrennens, »welches eine Schmach ist; denn die neueren Bauten sind erbärmlich, und das Schöne an Rom sind die Ruinen«. Die damaligen Einwohner in ihren Campagnolenmänteln und Stiefeln kamen den Fremden vor wie lauter Rinderhirten, und in der Tat weidete das Vieh bis zu den Banchi hinein; die einzige gesellige Reunion waren die Kirchgänge zu bestimmten Ablässen; bei dieser Gelegenheit bekam man auch die schönen Weiber zu sehen.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj8M2qdTHaR1ws6lgf1UoUr27e7B5I9hf6OI0tGJj9VQkLQTa7wghjma3yJw6fjxAI1Ed4OVsddhKS9A6ehG0oh2clcYCzK95F-Twhx5cBwr_2ABspodSQ7VEIDOekrF_7eGuRI6VjdcXQ/s1600/3Concord.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="800" data-original-width="1195" height="267" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj8M2qdTHaR1ws6lgf1UoUr27e7B5I9hf6OI0tGJj9VQkLQTa7wghjma3yJw6fjxAI1Ed4OVsddhKS9A6ehG0oh2clcYCzK95F-Twhx5cBwr_2ABspodSQ7VEIDOekrF_7eGuRI6VjdcXQ/s400/3Concord.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Giovanni Battista Piranesi: Der sogenannte Tempel der Concordia,<br />
aus 'Ansichten von Rom', 1774</td></tr>
</tbody></table>
In den letzten Jahren Eugens IV. (gest. 1447) schrieb Blondus von Forli seine Roma instaurata, bereits mit Benutzung des Frontinus und der alten Regionenbücher, sowie auch (scheint es) des Anastasius. Sein Zweck ist schon bei weitem nicht bloß die Schilderung des Vorhandenen, sondern mehr die Ausmittelung des Untergegangenen. Im Einklang mit der Widmung an den Papst tröstet er sich für den allgemeinen Ruin mit den herrlichen Reliquien der Heiligen, welche Rom besitze.<br />
<br />
Mit Nicolaus V. (1447-1455) besteigt derjenige neue monumentale Geist, welcher der Renaissance eigen war, den päpstlichen Stuhl. Durch die neue Geltung und Verschönerung der Stadt Rom als solcher wuchs nun wohl einerseits die Gefahr für die Ruinen, anderseits aber auch die Rücksicht für dieselben als Ruhmestitel der Stadt. Pius II. ist ganz erfüllt von antiquarischem Interesse, und wenn er von den Altertümern Roms wenig redet, so hat er dafür denjenigen des ganzen übrigen Italiens seine Aufmerksamkeit gewidmet und diejenigen in der Umgebung der Stadt in weitem Umfange zuerst genau gekannt und beschrieben. Allerdings interessieren ihn als Geistlichen und Kosmographen antike und christliche Denkmäler und Naturwunder gleichmäßig, oder hat er sich Zwang antun müssen, als er z. B. niederschrieb: Nola habe größere Ehre durch das Andenken des St. Paulinus als durch die römischen Erinnerungen und durch den Heldenkampf des Marcellus? Nicht daß etwa an seinem Reliquienglauben zu zweifeln wäre, allein sein Geist ist schon offenbar mehr der Forscherteilnahme an Natur und Altertum, der Sorge für das Monumentale, der geistvollen Beobachtung des Lebens zugeneigt. Noch in seinen letzten Jahren als Papst, podagrisch und doch in der heitersten Stimmung, laßt er sich auf dem Tragsessel über Berg und Tal nach Tusculum, Alba, Tibur, Ostia, Falerii, Ocriculum bringen und verzeichnet alles, was er gesehen; er verfolgt die alten Römerstraßen und Wasserleitungen und sucht die Grenzen der antiken Völkerschaften um Rom zu bestimmen. Bei einem Ausflug nach Tibur mit dem großen Federigo von Urbino vergeht die Zeit beiden auf das angenehmste mit Gesprächen über das Altertum und dessen Kriegswesen, besonders über den trojanischen Krieg; selbst auf seiner Reise zum Kongreß von Mantua (1459) sucht er, wiewohl vergebens, das von Plinius erwähnte Labyrinth von Clusium und besieht am Mincio die sogenannte Villa Virgils. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjdFChjyAKygG9DuC_hVjZaJYL9cN_imXHb2CIhT4bngP7oBjv9n14mhCoWCeRs5HS6l2vZ6PczogCXJhxf15Xl9PyuAMsTai2-KzGZO85bH-MyY2Vq18gQDe_NQW05VA7MtPF2-7gWOW4/s1600/4Janus.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="866" data-original-width="1280" height="270" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjdFChjyAKygG9DuC_hVjZaJYL9cN_imXHb2CIhT4bngP7oBjv9n14mhCoWCeRs5HS6l2vZ6PczogCXJhxf15Xl9PyuAMsTai2-KzGZO85bH-MyY2Vq18gQDe_NQW05VA7MtPF2-7gWOW4/s400/4Janus.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Giovanni Battista Piranesi: Janusbogen (Arco di Giano), Forum Boarium.</td></tr>
</tbody></table>
Daß derselbe Papst auch von den Abbreviatoren ein klassisches Latein verlangte, versteht sich beinahe von selbst; hat er doch einst im neapolitanischen Krieg die Arpinaten amnestiert als Leute des M. T. Cicero sowie des C. Marius, nach welchen noch viele Leute dort getauft waren. Ihm allein als Kenner und Beschützer konnte und mochte Blondus seine Roma triumphans zueignen, den ersten großen Versuch einer Gesamtdarstellung des römischen Altertums.<br />
<br />
In dieser Zeit war natürlich auch im übrigen Italien der Eifer für die römischen Altertümer erwacht. Schon Boccaccio nennt die Ruinenwelt von Bajae »altes Gemäuer, und doch neu für moderne Gemüter«; seitdem galten sie als größte Sehenswürdigkeit der Umgegend Neapels. Schon entstanden auch Sammlungen von Altertümern jeder Gattung. Ciriaco von Ancona durchstreifte nicht bloß Italien, sondern auch andere Länder des alten Orbis terrarum und brachte Inschriften und Zeichnungen in Menge mit; auf die Frage, warum er sich so bemühe, antwortete er: »Um die Toten zu erwecken«. […]<br />
<br />
Kehren wir nach Rom zurück. Die Einwohner, »die sich damals Römer nannten«, gingen begierig auf das Hochgefühl ein, das ihnen das übrige Italien entgegenbrachte. Wir werden unter Paul II.‚ Sixtus IV. und Alexander VI. prächtige Karnevalsaufzüge stattfinden sehen, welche das beliebteste Phantasiegebilde jener Zeit, den Triumph altrömischer Imperatoren, darstellten. Wo irgend Pathos zum Vorschein kam, mußte es in jener Form geschehen.<br />
<br />
Bei dieser Stimmung der Gemüter geschah es am 18. April 1485, daß sich das Gerücht verbreitete, man habe die wunderbar schöne, wohlerhaltene Leiche einer jungen Römerin aus dem Altertum gefunden. Lombardische Maurer, welche auf einem Grundstück des Klosters S. Maria Nuova, an der Via Appia, außerhalb der Caecilia Metella, ein antikes Grabmal aufgruben, fanden einen marmornen Sarkophag angeblich mit der Aufschrift: Julia, Tochter des Claudius. Das Weitere gehört der Phantasie an: die Lombarden seien sofort verschwunden samt den Schätzen und Edelsteinen, welche im Sarkophag zum Schmuck und Geleit der Leiche dienten; letztere sei mit einer sichernden Essenz überzogen und so frisch, ja so beweglich gewesen, wie die eines eben gestorbenen Mädchens von 15 Jahren; dann hieß es sogar, sie habe noch ganz die Farbe des Lebens, Augen und Mund halb offen. Man brachte sie nach dem Konservatorenpalast auf dem Kapitel, und dahin, um sie zu sehen, begann nun eine wahre Wallfahrt. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj4GX60J_KQe7cVzrS6LL7z8Mpufex9eQntddAn0lJGy8fL5sGxmSyd-FaDaur1OJ4H5XSUUdceaG32cAGbGUonTyU7YenBBErAKYMBDifjq1gDsBRAY4pJ0UvtkC7FEWJ2jpDQLQqIqv0/s1600/5Caracalla.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="778" data-original-width="1200" height="259" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj4GX60J_KQe7cVzrS6LL7z8Mpufex9eQntddAn0lJGy8fL5sGxmSyd-FaDaur1OJ4H5XSUUdceaG32cAGbGUonTyU7YenBBErAKYMBDifjq1gDsBRAY4pJ0UvtkC7FEWJ2jpDQLQqIqv0/s400/5Caracalla.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Giovanni Battista Piranesi: Ruine der Caracalla-Thermen, <br />
aus 'Ansichten von Rom', 1766</td></tr>
</tbody></table>
Viele kamen auch, um sie abzumalen; »denn sie war schön, wie man es nicht sagen noch schreiben kann, und wenn man es sagte oder schriebe, so würden es, die sie nicht sahen, doch nicht glauben«. Aber auf Befehl Innocenz’ VIII. mußte sie eines Nachts vor Porta Pinciana an einem geheimen Ort verscharrt werden; in der Hofhalle der Konservatoren blieb nur der leere Sarkophag. Wahrscheinlich war über den Kopf der Leiche eine farbige Maske des idealen Stiles aus Wachs oder etwas Ähnlichem modelliert, wozu die vergoldeten Haare, von welchen die Rede ist, ganz wohl passen würden. Das Rührende an der Sache ist nicht der Tatbestand, sondern das feste Vorurteil, daß der antike Leib, den man endlich hier in Wirklichkeit vor sich zu sehen glaubte, notwendig herrlicher sein müsse als alles, was jetzt lebe.<br />
<br />
Inzwischen wuchs die sachliche Kenntnis des alten Rom durch Ausgrabungen; schon unter Alexander VI. lernte man die sogenannten Grotesken, d. h. die Wand- und Gewölbedekorationen der Alten kennen, und fand in Porto d’Anzo den Apoll von Belvedere; unter Julius II. folgten die glorreichen Auffindungen des Laokoon, der Vatikanischen Venus, des Torso der Kleopatra u. a. m.; auch die Paläste der Großen und Kardinäle begannen sich mit antiken Statuen und Fragmenten zu füllen. Für Leo X. unternahm Raffael jene ideale Restauration der ganzen alten Stadt, von welcher sein (oder Castigliones) berühmter Brief spricht. Nach der bittern Klage über die noch immer dauernden Zerstörungen, namentlich noch unter Julius II., ruft er den Papst um Schutz an für die wenigen übriggebliebenen Zeugnisse der Größe und Kraft jener göttlichen Seelen des Altertums, an deren Andenken sich noch jetzt diejenigen entzünden, die des Höhern fähig seien. Mit merkwürdig durchdringendem Urteil legt er dann den Grund zu einer vergleichenden Kunstgeschichte überhaupt und stellt am Ende denjenigen Begriff von »Aufnahme« fest, welcher seitdem gegolten hat: er verlangt für jeden Überrest, Plan, Aufriß und Durchschnitt gesondert. Wie seit dieser Zeit die Archäologie, in speziellem Anschluß an die geheiligte Weltstadt und deren Topographie, zur besondern Wissenschaft heranwuchs, wie die vitruvianische Akademie wenigstens ein kolossales Programm aufstellte, kann nicht weiter ausgeführt werden.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhXPQoJ07M6oH7e4BlFEzy46zwKw43G6Mr_Ta3rRwQWIq6Vl_PwR7Hbk09QrnVmNfxdsYSzW86W1DIEZXpmVxpNPGXBTH30_DUGUxQpXZreZ1Y7Hxu-KuP7Fb5xnfq98rjl4L29TKAatCI/s1600/6Nerva.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1082" data-original-width="1600" height="270" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhXPQoJ07M6oH7e4BlFEzy46zwKw43G6Mr_Ta3rRwQWIq6Vl_PwR7Hbk09QrnVmNfxdsYSzW86W1DIEZXpmVxpNPGXBTH30_DUGUxQpXZreZ1Y7Hxu-KuP7Fb5xnfq98rjl4L29TKAatCI/s400/6Nerva.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Giovanni Battista Piranesi: Ansicht des Nerva-Forums,<br />
aus 'Ansichten von Rom', 1770</td></tr>
</tbody></table>
Hier dürfen wir bei Leo X. stehenbleiben, unter welchem der Genuß des Altertums sich mit allen andern Genüssen zu jenem wundersamen Eindruck verflocht, welcher dem Leben in Rom seine Weihe gab. Der Vatikan tönte von Gesang und Saitenspiel; wie ein Gebot zur Lebensfreude gingen diese Klänge über Rom hin, wenn auch Leo damit für sich kaum eben erreichte, daß sich Sorgen und Schmerzen verscheuchen ließen, und wenn auch seine bewußte Rechnung, durch Heiterkeit das Dasein zu verlängern, mit seinem frühen Tode fehlschlug. Dem glänzenden Bilde des leonischen Rom, wie es Paolo Giovio entwirft, wird man sich nie entziehen können, so gut bezeugt auch die Schattenseiten sind: die Knechtschaft der Emporstrebenden und das heimliche Elend der Prälaten, welche trotz ihrer Schulden standesgemäß leben müssen, das Lotteriemäßige und Zufällige von Leos literarischem Mäzenat, endlich seine völlig verderbliche Geldwirtschaft. Derselbe Ariost, der diese Dinge so gut kannte und verspottete, gibt doch wieder in der sechsten Satire ein ganz sehnsüchtiges Bild von dem Umgang mit den hochgebildeten Poeten, welche ihn durch die Ruinenstadt begleiten würden, von dem gelehrten Beirat, den er für seine eigene Dichtung dort vorfände, endlich von den Schätzen der Vatikanischen Bibliothek. Dies, und nicht die längst aufgegebene Hoffnung auf mediceische Protektion, meint er, wären die wahren Lockspeisen für ihn, wenn man ihn wieder bewegen wolle, als ferraresischer Gesandter nach Rom zu gehen. <br />
<br />
Außer dem archäologischen Eifer und der feierlich-patriotischen Stimmung weckten die Ruinen als solche, in und außer Rom, auch schon eine elegisch-sentimentale. Bereits bei Petrarca und Boccaccio finden sich Anklänge dieser Art; Poggio besucht oft den Tempel der Venus und Roma, in der Meinung, es sei der des Castor und Pollux, wo einst so oft Senat gehalten worden, und vertieft sich hier in die Erinnerung an die großen Redner Crassus, Hortensius, Cicero. Vollkommen sentimental äußert sich dann Pius II. zumal bei der Beschreibung von Tibur, und bald darauf entsteht die erste ideale Ruinenansicht nebst Schilderung bei Polifilo: Trümmer mächtiger Gewölbe und Kolonnaden, durchwachsen von alten Platanen‚ Lorbeeren und Zypressen nebst wildem Buschwerk. In der heiligen Geschichte wird es, man kann kaum sagen wie, gebräuchlich, die Darstellung der Geburt Christi in die möglichst prachtvollen Ruinen eines Palastes zu verlegen. Daß dann endlich die künstliche Ruine zum Requisit prächtiger Gartenanlagen wurde, ist nur die praktische Äußerung desselben Gefühls.<br />
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<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Verlag Alfred Kröner, Stuttgart, 1988. (Kröners Taschenausgabe Bd. 53). ISBN 3-520-05311-X. Ausgezogen wurde aus dem III. Abschnitt das Kapitel "Die Ruinenstadt Rom" (Seite 131-138, geringfügig gekürzt).</i></span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-52783481203220967682020-02-10T14:40:00.000+01:002020-02-10T14:40:01.443+01:00Firminus Caron (ca. 1440 – ca. 1475): Messen und Chansons<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj6FNTO0OaIpGJkmBCmhTHzh-zUQkZbmoImHWHpTeN0ghscd9QHXgORQIAdPkvud_LkJxUbno8H5MAGhQ3JHrPd6jhwjse3jQeXkiOOMUdtD57Chz9Nb4x2xTPUxmXKE-mFKheCX4O9Hro/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1368" data-original-width="1600" height="273" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj6FNTO0OaIpGJkmBCmhTHzh-zUQkZbmoImHWHpTeN0ghscd9QHXgORQIAdPkvud_LkJxUbno8H5MAGhQ3JHrPd6jhwjse3jQeXkiOOMUdtD57Chz9Nb4x2xTPUxmXKE-mFKheCX4O9Hro/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Wenn man sich die Liste seiner überlieferten Kompositionen und die Zahl ihrer Quellen anschaut, wird klar, dass Firminus Caron in der zweiten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts sehr geschätzt wurde, besonders als Komponist französischer Chansons.<br />
<br />
Die Mehrzahl der Quellen seiner Kompositionen ist italienischer Provenienz; dennoch lassen uns die ältesten, französischen Quellen aus den Jahren um 1470 wenig Zweifel, dass der Komponist ein Franzose war.<br />
<br />
Um 1440 in Amiens geboren und vermutlich ausgebildet an der dortigen Kathedralschule, entwickelt er hier unter stilistischem Einfluss Guillaume Dufays seine eigene Sprache. Ein im 18. Jahrhundert verfasstes Kompendium der Finanzen der Kathedrale erwähnt ihn noch als <i>primus musicus</i>. In neulich aufgefundenen Dokumenten in Amiens finden wir ihn um 1459 als <i>maitre d’école</i>. In dieser Position wird er ohne es zu wollen in einen hartnäckigen Konflikt zwischen zwei nebeneinander existierenden Schulen hineingezogen. Andererseits soll ihn das gesellschaftliche Leben seiner Stadt zur Komposition mehrstimmiger Lieder auf höfische Texte inspiriert haben; anscheinend wurden diese schnell beliebt und gefielen sogar schon am Ende der 1460er Jahre dem Kompilator der sogenannten <i>«Loire Chansonniers»</i>. Somit zählen diese Quellen zu den frühesten Überlieferungen seiner Werke.<br />
<br />
Laut Dokumenten der Kathedrale in Cambrai wurde dort um 1472 eine seiner mehrstimmigen Messen in die Chorbucher eingetragen; zudem finden wir Carons Namen auch in der Motette <i>Omnium bonorum plenum</i> des jungen Komponisten Loyset Compère, in deren Text Dufay und eine Anzahl ihm anscheinend nahe stehender Musiker aufgelistet werden. Zu gleicher Zeit wurde er vom Musiktheoretiker Johannes Tinctoris‚ zusammen mit Johannes Ockeghem, Antoine Busnoys und Johannes Regis als «einer der besonders hervorragenden Komponisten» erwähnt. Dennoch sind von den ihm zugeschriebenen Kompositionen nur vier seiner Lieder in französischen Quellen überliefert worden. Somit müssen wir annehmen, dass die Zerstörung von Kirchen und ihren Gütern während der Revolution von 1789 Carons musikalischem Nachlass in Frankreich zum Verhängnis wurde. Weil bis jetzt in Italien kein Nachweis für einen Aufenthalt Carons aufgefunden wurde, verdanken wir es nur der damaligen allgemeinen Beliebtheit der französischen Kompositionen in Italien, dass wir uns dennoch ein ziemlich konkretes Bild seiner kompositorischen Entwicklung machen können, vor allem mittels seiner Lieder.<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg8eDb7gM7sYqmoSeBKiohJxkTe7KYYHYSoKQScLxzKe7FZbfudzougbuuTd5x_kqOIAebW2SicHQ2gnZVlN9wY6A6LC7LBJ8SpA7dv0zcWK3LH8qmOn15Bvb7olJ7X-zGZUMgqEVQz8nA/s1600/1.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="960" data-original-width="1280" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg8eDb7gM7sYqmoSeBKiohJxkTe7KYYHYSoKQScLxzKe7FZbfudzougbuuTd5x_kqOIAebW2SicHQ2gnZVlN9wY6A6LC7LBJ8SpA7dv0zcWK3LH8qmOn15Bvb7olJ7X-zGZUMgqEVQz8nA/s400/1.jpg" width="400" /></a></div>
Auffallend in diesem überwiegend dreistimmigen Repertoire ist Carons Anteil an der Entwicklung einer richtigen Bassus-Stimme und die Bevorzugung zweiteiliger Mensuren. Letzteres verleiht Carons Melodien in ihrer Präsentation des Textes eine ganz moderne Prägnanz. In <b>Accueilly m'a la belle</b> wird der Text, ein Rondeau, vom Discantus und Tenor gesungen, wobei die Melodien der beiden Stimmen überwiegend nur rhythmisch aufeinander bezogen sind, sich aber melodisch ziemlich frei von einander entwickeln. Eine dritte Stimme in der Stimmlage des Tenors, der «Contratenor», begleitet diese beiden Stimmen, teilweise Lücken füllend mit Annäherungen oder Reminiszenzen an die Struktur der beiden gesungenen Stimmen. In einer etwas späteren Überlieferung der Komposition ist dieser begleitende Contratenor ausgetauscht gegen eine neukomponierte Stimme, die eine Quinte tiefer geht, und somit schon mehr den Charakter einer begleitenden Bassus-Stimme annimmt (In unserer Aufnahme werden beide Stimmen abwechselnd musiziert).<br />
<br />
In Rhythmik und Melodiebau nahe verwandt mit <b>Accueilly m'a la belle</b> wird in <b>S'il est ainsy</b> das Aufeinander-Bezogen-Sein von Discantus und Tenor mittels identem Beginn ihrer Phrasen weiter hervorgehoben. Diese beiden Chansons sind in dreiteiliger Mensur geschrieben, die Abwechslung mit einem schnelleren Zweitakt in <b>S'il est ainsy</b> wurde von der Form des Textes, einem Virelay, bedingt. <b>Cuidez vous</b>, konzipiert in einer langsamen zweiteiligen Mensur, vollendet dieses Konzept. Discantus und Tenor haben überwiegend die selben Melodien, nur beim Abschluss der unterschiedlichen Phrasen findet jede Stimme ihren eigenen Weg. Auch hier ist die Stimmlage der beiden Unterstimmen praktisch ident, aber jetzt, im einander fortwährenden Umkreisen der Stimmen, wirkt sie als eindrucksvolles Symbol für die Beschreibung der aussichtslosen Position, in der der Dichter sich anscheinend befindet. <b>Du tout ainsy</b> und <b>Hélas m’amour</b> wiederholen diese kompositorischen Aspekte innerhalb schnellerer Zweiertakt-Strukturen, aber mit weniger Noten. Im anscheinend munteren <b>Du tout ainsy</b> spiegelt sich die hintergründige Herausforderung im Text deutlich in der Musik, in <b>Hélas m'amour</b> entwickelt sich eine fast abstrakte kontrapunktische Passage, die das sich bis zum Irrsinn Verlieren in Schmerz und Melancholie klanglich illustriert mittels einer Musik, die für die Zeit ihres Entstehens ziemlich unorthodox war. In der eindrucksvollen Vertonung von <b>Le despourveu infonuné</b> erscheinen die unterschiedlichen Stimmen, teilweise nur rhythmisch auf einander bezogen, in völliger Gleichwertigkeit.<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhcneP5Cr6ejcAZFDbvlKsxrBDTqvXZtj_LL6_HKkgNP4iNeBfDgzhU8R8WIrv7IsJ4ptNy3oCNxyTft9kTL-tgQJI_ymO6BjmQX66a-IUOaJJYJmPN_9vzH_tAsfdAMi0u5vCKHnXk59o/s1600/2.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="960" data-original-width="1280" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhcneP5Cr6ejcAZFDbvlKsxrBDTqvXZtj_LL6_HKkgNP4iNeBfDgzhU8R8WIrv7IsJ4ptNy3oCNxyTft9kTL-tgQJI_ymO6BjmQX66a-IUOaJJYJmPN_9vzH_tAsfdAMi0u5vCKHnXk59o/s400/2.jpg" width="400" /></a></div>
Leider sind nur für etwa die Hälfte der Caron zugeschriebenen Lieder deren französische Texte komplett überliefert worden. So kennen wir für <b>Mort ou mercy</b> nur die ersten fünf Zeilen, den Refrain oder Kehrreim. Dennoch hoffen wir, mit der Aufnahme des Chansons durch Teilrekonstruktion der formalen Struktur seine musikalische Wirkung annähernd hervorzurufen. Somit stellt sich heraus, dass in dieser Komposition die Kombination melodischer Expressivitat und meisterhaftem Kontrapunkt ihre formelle Funktion zum Textvortrag weit übersteigt und ihre eigene Welt des Trauerns malt.<br />
<br />
In den Quellen für diese Lieder wurde der Text nur teilweise unter die Noten des Discantus geschrieben, der Rest des Gedichtes, falls vollständig überliefert, zwar auf derselben Seite, aber ganz unten hinzugefügt. Deshalb können wir davon ausgehen, dass beim Vortrag dieser Lieder die Wahl, ob vokaler oder instrumentaler Vortrag der beiden anderen Stimmen, vom Ambiente bedingt wurde. Für die meisten der hier aufgenommenen Lieder Carons lässt sich der Text in allen Stimmen gut vortragen. Wo sich solches als problematisch erwies, wurde der Contratenor auf der Laute gespielt.<br />
<br />
***<br />
<br />
Die Messen Carons sind uns nur in italienischen Quellen überliefert, und sogar teilweise in problematischer Kondition. So sind die Manuskripte der <b>Missae Accueilly m'a la belle, Jesus autem transiens</b> und <b>Sanguis sanctorum</b> ziemlich vom Tintenfraß beschädigt worden. Für die <b>Missa Clemens et benigna</b> gibt es sogar eine zweite Quelle, die die Messe ziemlich überarbeitet überliefert und im Credo sogar eine hinzugefügte Komposition der Sätze «Et in Spiritum Sanctum» bis «et apostolicam ecclesiam» aufweist. Die Stilistik dieser Bearbeitung gibt keinen Anlass anzunehmen, dass sie von Caron stammt. Für die in beiden Quellen überlieferten b-Vorzeichen im Contratenor altus und Tenor stellt sich heraus, dass sie nur in beschränkter Weise für beide Stimmen zu beachten sind.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjZoU5noWfMnVMvC5V6jZxJkV7096sRDtloFkhRfePjCp9vymfB4oeGnVWTAP4l8QTQtbnL1UFKTeM314Ho1-rEJS39NOgsLrXhcqK70HQJNh8S9gYzFnDuWShKqKHNSJ_hOpL2wSnnwTA/s1600/3.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="1103" data-original-width="800" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjZoU5noWfMnVMvC5V6jZxJkV7096sRDtloFkhRfePjCp9vymfB4oeGnVWTAP4l8QTQtbnL1UFKTeM314Ho1-rEJS39NOgsLrXhcqK70HQJNh8S9gYzFnDuWShKqKHNSJ_hOpL2wSnnwTA/s400/3.jpg" width="290" /></a></div>
In der ältesten Überlieferung der <b>Missa Sanguis sanctorum</b> fehlt das Agnus Dei. Anscheinend scheiterte ein Versuch, diesen Teil nachzukomponieren, denn eine zweite Quelle für diese Messe überliefert dazu nur den fragmentarischen Anfang einer Discantus—Stimme. Beim Durchsingen der Komposition stellt sich aber heraus, dass der Text des Kyrie wenig überzeugend zu den überlieferten Noten passt, dass jedoch der fehlende Agnus Dei-Text sich diesen Noten nahtlos unterlegen lässt. Also wäre denkbar, dass die Messe ursprünglich kein mehrstimmiges Kyrie hatte, aber im Laufe ihrer Überlieferung die Musik des Agnus Dei nach vorne verlegt wurde, so dass auch der Kyrie—Text mehrstimmig vorzutragen war. Wenn dann eine hinzugefügte Anweisung auf ein solches Vorgehen irgendwann nicht mitkopiert wurde, bleiben uns heute nur Hypothesen zum Ausprobieren: Deshalb wird in der Aufnahme die hypothetische Rekonstruktion des Agnus Dei gesungen; die Messe fängt mit einem einstimmig gesungenen gregorianischen Kyrie im F-Modus an, das in Carons Zeit in Nord-Frankreich gesungen wurde.<br />
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In sämtlichen Quellen ist auch die vom Komponisten intendierte Beziehung zwischen Text und Noten mehrmals problematisch. Im Besondern macht die Struktur der unterschiedlichen Kompositionen des Credo-Textes klar, dass dann und wann das Komponieren beträchtlicher Textstellen vom Komponisten unterlassen wurde. So fehlt in der <b>Missa Accueilly m'a la belle</b> der Satz «Et in unam sanctam catholicam ecclesiam»; in der <b>Missa Clemens et benigna</b> der Text «cuius regni non erit finis» bis «Confiteor unum baptisma»; in der Missa <b>Jesus autem transiens</b> «Genitum, non factum, consubstantialem Patri, per quem omnia facta sunt» und «Et unam sanctam catholicam» bis «Et exspecto resurrectionem» sowie die Worte «secundum Scripturas», und in der <b>Missa Sanguis sanctorum</b> «Deum de Deo» bis «per quem omnia facta sunt» und «Et exspecto resurrectionem mortuorum». War dieses Vorgehen in Westeuropa ziemlich geläufig, so wurde in Italien Fehlendes manchmal hinzugefügt, was eine alternative, zuweilen sehr unbefriedigende Textunterlegung von Seiten des Bearbeiters oder Kopisten zur Folge hatte; ein Aspekt, der auch heute noch in modernen Editionen nicht immer beachtet wird. Wenn in dieser Hinsicht die Quelle als problematisch erscheint, passt sich die Wahl des Textes in der hier aufgenommenen Fassung der Messen der Kompositionsstruktur an.<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjYSGwCpMeGhKYHhp7wM7zlhvYv0m0pFEIPLGZgLPEOfjYuXSDjUtp5-v_P2lEk5c7daSx0-QqFGVvzf2Ejem9mo043vjc60x88F5dqTFbpwxUsADb4mBbTRWkjR9mMejEwR3SnaLrChHs/s1600/4.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="768" data-original-width="1024" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjYSGwCpMeGhKYHhp7wM7zlhvYv0m0pFEIPLGZgLPEOfjYuXSDjUtp5-v_P2lEk5c7daSx0-QqFGVvzf2Ejem9mo043vjc60x88F5dqTFbpwxUsADb4mBbTRWkjR9mMejEwR3SnaLrChHs/s400/4.jpg" width="400" /></a></div>
Die Cantus-firmus-Missae <b>Clemens et benigna, Jesus autem</b> und <b>Sanguis sanctorum</b> haben alle in der Tenorstjmme eine gregoriänische Melodie, die sich innerhalb der unterschiedlichen Teile der Messe in mehreren Gestalten präsentiert. Anfangs deutlich erkennbar durch ihre Präsentation in längeren Notenwerten, integriert sie sich allmählich mittels Vergrößerung oder Verkürzung, hinzugefügter Einzelnoten und melodischen Ausschweifens in den Notenwerten der übrigen Stimmen. Am weitesten geht dieses Abwandeln in der <b>Missa Clemens et benigna</b>, wobei die fast ekstatische Wirkung ihrer vierstimmigen Teile von dreistimmigen Intermezzi ohne Tenor unterbrochen wird. Auch sie entlehnen ihr melodisches Material mehr oder weniger dem cantus firmus.<br />
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Die <b>Missa Accueilly m'a la belle</b> basiert auf Carons eigenem Chanson, sowohl auf deren Oberstimme als auch deren Tenor. Schon im zweistimmigen Anfang des ersten Kyrie hören wir in der Oberstimme die ersten zwei Discantus-Phrasen des Liedes, im Tenor folgen dann die ersten drei Phrasen seines ursprünglichen Tenors. In der Oberstimme der Messe bereitet uns die variierte Version der zweiten Phrase schon auf unerwartete Erweiterungen und Paraphrasierungen der ursprünglichen Liedmelodien in den nachfolgenden Teilen vor. Weil sowohl das ursprüngliche Lied als auch die Messe in C-mixolydisch konzipiert sind, und deshalb innerhalb des Satzes eine Orientierung auf C oder G mit einer auf F oder auf g(-Moll) abwechselt, nimmt der Verlauf der Harmonien fortwährend eine unerwartete Wendung. Das bewirkt, dass die Struktur der Melodien im Discantus, die auch in der Messe ohne Vorzeichen notiert wurde, sich dauernd diesen hannonischen Bedingungen anpassen muss.<br />
<br />
Ähnliches weist auch die <b>Missa L'Homme armé</b> auf. Mit dieser Komposition zeigt sich Caron als engagierter Teilhaber eines Repertoires en vogue. Nachdem höchstwahrscheinlich um 1454 Ockeghem dieses Lied zum ersten Mal als Tenor in einer seiner frühen Messen verwendete, entwickelte sich innerhalb weniger Dezennien ein künstlerischer Wettbewerb unter den Komponisten: wie weit lässt sich die ursprünglich dorische Melodie dieses französischen Liedes, modal, melodisch und kontrapunktisch abgewandelt, als cantus firmus in einer Messekomposition verwenden? Die Melodie ist ziemlich einfach und passt Note um Note zu den Silben eines Textes aus der letzten Phase des Hundertjährigen Krieges, der anscheinend zum Kampf gegen die Engländer aufruft:<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgIVzHHqNl586XoPgMmAPSLxPArJ905ryL4TQhTjhuI0z1mbPyLtjr1EIy5hCvJRiPvVYRECFsFDpKJt90nQS0ldHSptcKEbuVl4dRaRGXEcRzjMvCkWYfiivAshFyWxDDFSKPpi-KrQRc/s1600/5a.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="768" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgIVzHHqNl586XoPgMmAPSLxPArJ905ryL4TQhTjhuI0z1mbPyLtjr1EIy5hCvJRiPvVYRECFsFDpKJt90nQS0ldHSptcKEbuVl4dRaRGXEcRzjMvCkWYfiivAshFyWxDDFSKPpi-KrQRc/s400/5a.jpg" width="300" /></a></div>
<i>L’Homme, l’homme, l’homme armé,</i><br />
<i>l’Homme armé doibt on doubter!</i><br />
<i>On a fait par tout crier,</i><br />
<i>que chacun se viegne armer</i><br />
<i>d’ung aubregon de fer.</i><br />
<i>L’Homme‚ l’homme, l’homme armé</i><br />
<i>l’Homme armé doibt on doubter!</i><br />
<br />
<i>Den Mann, den Mann, den Mann im Harnisch,</i><br />
<i>den Mann im Harnisch muss man fürchten!</i><br />
<i>Und überall es wird verkündet:</i><br />
<i>Ein jeder Mann soll sich bewaffnen,</i><br />
<i>und zwar mit einem Panzerhemd.</i><br />
<i>Den Mann, den Mann, den Mann im Harnisch,</i><br />
<i>den Mann im Harnisch muss man fürchten!</i><br />
<br />
So wie der Text, wird auch der erste Teil der Melodie am Ende wiederholt. So finden wir sie als cantus firmus in der ersten Generation der <b>Missae L'Homme armé</b> von Ockeghem, Busnoys, Dufay, Faugues und Regis.<br />
<br />
Caron jedoch befreit sich in den unterschiedlichen Teilen seiner Messe von dieser Wiederholung und ersetzt sie durch kürzere oder längere, paraphrasenartige Melodiestrukturen, die überwiegend beim Material des zweiten Teils der Melodie anknüpfen. Das Resultat solch einer Abwandlung bewirkt zum Beispiel im «Christe» und im letzten «Agnus Dei» einen ausgewogenen, in sich gekehrten Abschluss des Satzes, am Ende des «Gloria» und im ersten «Osanna» jedoch eine fast obsessive Steigerung der musikalischen Intensität. Noch stärker tritt dies in den letzten Abschnitten des «Credo» hervor, wo die Melodie in ein kaleidoskopartiges Muster von Fragmenten zerschellt und innerhalb der Vierstimmigkeit die Selbständigkeit des Tenors sich fast bis auf Null reduziert. Nur im ersten «Agnus Dei» erscheint der cantus firmus nahezu in seiner ursprünglichen Form. In dieser Weise erlöst der Komponist den Verlauf der unterschiedlichen Sätze von dem Zwang eines in Zeit und Zusammenklang vorher festgelegten Musters und erlaubt sich, den Ablauf des Satzes dem Inhalt des Textes gemäß nach persönlicher Ansicht zu gestalten.<br />
<br />
Auch die Überlieferung dieser Messe weist für die Oberstimmen die traditionelle Notierung ohne Vorzeichen auf, was ihr die Freiheit lässt, sich den harmonischen Bedingungen der tieferen Stimmen anzupassen, oder sie sogar zu beeinflussen. Anzunehmen ist, dass solche Aspekte in der Komposition schon damals nur unter der Leitung des Komponisten oder eines Eingeweihten richtig gesungen wurden. Also etabliert sich Caron mittels persönlich geprägter Erweiterungen spätgotischer Fonnen und Verwendung des melodischen Materials in seinen Messen als ein inspirierter und ausgesprochen individualistischer Künstler auf der Schwelle der Neuzeit.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Jaap van Benthem, im Booklet</i></span><br />
<span style="font-size: x-small;"><br /></span>
<span style="font-size: x-small;"><i>Illustrationen: <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Statues_of_the_Portal_of_the_Last_Judgment_(Amiens_Cathedral)?uselang=de" target="_blank">Statuen vom Portal des Jüngsten Gerichts (Südportal), Kathedrale Notre Dame d'Amiens</a></i></span><br />
<br />
<br />
<pre>TRACKLIST
Firminus Caron
(ca. 1440 - ca. 1475)
Masses and Chansons
CD 1 [65:38]
Chanson
01. Accueilly m'a la belle [04:27]
Missa Accueilly m'a la belle
02. I. Kyrie [05:28]
03. II. Gloria [06:46]
04. III. Credo [09:53]
05. IV. Sanctus [07:26]
06. V. Agnus Dei [06:06]
Missa Sanguinis sanctorum
07. I. Kyrie [01:21]
08. II. Gloria [07:03]
09. III. Credo [08:15]
10. IV. Sanctus [05:51]
11. V. Agnus Dei [02:57]
CD 2 [63:53]
Missa Jesus autem
01. I. Kyrie [03:47]
02. II. Gloria [07:10]
03. III. Credo [07:15]
04. IV. Sanctus [07:09]
05. V. Agnus Dei [05:22]
Missa L'homme armé
06. I. Kyrie [03:08]
07. II. Gloria [07:18]
08. III. Credo [09:21]
09. IV. Sanctus [06:55]
10. V. Agnus Dei [06:25]
CD 3 [60:46]
Missa Clemens et benigna
01. I. Kyrie [02:18]
02. II. Gloria [06:16]
03. III. Credo [07:21]
04. IV. Sanctus [04:25]
05. V. Agnus Dei [03:14]
Chansons
06. Cuidez vous [06:07]
07. Du tout ainsi [02:40]
08. Accueilly m'a la belle [04:26]
09. Mort ou mercy [04:21]
10. S'il est ainsy [05:11]
11. Hélas m'amour [06:47]
12. Le despourveu [07:33]
Total [119:17]
The Sound and the Fury:
David Ertler - Countertenor
John Potter - Tenor
Christian Wegmann - Tenor
Colin Mason - Bass
Michael Mantaj - Bass
Sven Schwannberger - Lute
Recorded live at Kartause Mauerbach, May - September 2011
"paradise regained" - polyphonie der renaissance
(C) + (P) 2012
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Jean Tinguely:</b></span></span><br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b><br /></b></span></span>
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>«Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht»</b></span></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiSMCFBTAeR7VdGaiQ3t5EO49dZ-nO6xH56PBOfA_o2O_VJvmULqdcx6AZgg1qNIj3EmAsntjRS1MD8T9__fdzqlYm4t7IIWiNhS-yAfelGb_PzbP5EborPSiiwVqa2zBPxjskZhedQg1g/s1600/1.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="789" data-original-width="975" height="516" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiSMCFBTAeR7VdGaiQ3t5EO49dZ-nO6xH56PBOfA_o2O_VJvmULqdcx6AZgg1qNIj3EmAsntjRS1MD8T9__fdzqlYm4t7IIWiNhS-yAfelGb_PzbP5EborPSiiwVqa2zBPxjskZhedQg1g/s640/1.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">«Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht» – so lautet der Grundgedanke der Kunst des Schweizer Eisenplastikers<br />
<a href="https://www.tinguely.ch/de/tinguely/tinguely-biographie.html" target="_blank">Jean Tinguely (1925–1991).</a></td></tr>
</tbody></table>
Jean Tinguely (1925–1991), in Freiburg geboren und in Basel aufgewachsen, gehört zu den grossen Meistern der kinetischen Kunst. 1954 setzt der gelernte Dekorateur Drahtplastiken, die er vorher als Schaufensterdekorationen wie auch als autonome Kunstwerke geschaffen hat, in Bewegung. Diese lässt ihn seither nicht mehr los. Im Frühwerk dient sie häufig der Erörterung innerkünstlerischer Probleme. Tinguely greift auf die abstrakte Formen- und Farbensprache von Kasimir Malewitsch, Wassily Kandinsky, Auguste Herbin und anderen zurück. Die auf seine Reliefs gesetzten Elemente drehen sich in verschiedenen Geschwindigkeiten um die eigene Achse. Das Werk existiert in immer neuen Variationen und stellt die definitive Farb-Form-Konstellation, bisher eine Selbstverständlichkeit, infrage zugunsten der ständigen Veränderung. Die erste automatische Zeichenmaschine von 1955, der später mehrere Varianten folgen, ironisiert den Werkprozess und das Künstlergenie, indem sie die gestische Malerei von Jackson Pollock oder Georges Mathieu maschinell herstellt. Doch letztlich steht hinter jeder beweglichen Plastik von Tinguely der von ihm geäusserte Grundgedanke: «Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht.»<br />
<br />
<b>Attraktive Phänomene</b><br />
<br />
Ab 1960 verwendet er bereits bestehende, zumeist von der Wegwerfgesellschaft ausgeschiedene Gegenstände, darunter Industrieschrott, Metallräder, Tierfelle, Federn, Textilien, Trödel aus Kunststoff usw. Jetzt entstehen die «Balubas», kleine, vertikal ausgerichtete Arbeiten, die das an einem Gestänge angebrachte Zubehör schütteln und rütteln. In der Mitte der 1960er Jahre streicht Tinguely seine Plastiken schwarz an. Er erzeugt attraktive optische Phänomene durch das unkalkulierbare Schwingen eines Metallteiles, eine endlos sich drehende Spirale oder einen kleinen Metalldraht, der sich so schnell um die eigene Achse dreht, dass er ein virtuelles Volumen generiert.<br />
<br />
Dies ist auch die Zeit der spektakulären und provokativen Aktionen. 1960 baut Tinguely im Garten des Museum of Modern Art in New York eine riesige Maschinerie aus Schrott, die sich selber zerstört. Er wird damit zum Vater der autodestruktiven Kunst. In der Wüste von Nevada errichtet er bewegliche Installationen, die er zur Explosion bringt. Diese medienwirksamen Auftritte machen ihn international bekannt. Er beginnt mit der bis an sein Lebensende nicht mehr abreissenden Reihe der «Kollaborationen», Gemeinschaftsarbeiten mit Yves Klein, Bernhard Luginbühl, Daniel Spoerri und seinen beiden Ehefrauen Eva Aeppli und Niki de Saint-Phalle, um nur einige wenige zu nennen. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgHBiHvIg9rkGPTAJfBa5F8MANi3EDEFvuTVZgwrt82QN9u-PMCkQI2Crp-20CVqLNcNi7vxsOnQLyaebXF1-DbkXWwSjF__w1pxkdDb5yV1oa5TxqgyVkIKvzLVWQ7HpkRL9c3RVshv8Q/s1600/2Heureka.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="848" data-original-width="1280" height="265" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgHBiHvIg9rkGPTAJfBa5F8MANi3EDEFvuTVZgwrt82QN9u-PMCkQI2Crp-20CVqLNcNi7vxsOnQLyaebXF1-DbkXWwSjF__w1pxkdDb5yV1oa5TxqgyVkIKvzLVWQ7HpkRL9c3RVshv8Q/s400/2Heureka.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Heureka_(Plastik)" target="_blank">Jean Tinguely: Heureka, Zürichhorn; Zürich-Seefeld</a>. <a href="https://www.youtube.com/watch?v=VD15V4PuZn0" target="_blank"> [Video]</a></td></tr>
</tbody></table>
An der Landesausstellung in Lausanne von 1964 zeigt Tinguely die «Heureka», ein Schrott-Ungetüm, das ihm auch in der Schweiz die Aufmerksamkeit eines breiten Publikums sichert und das später seinen festen Platz am Ufer des Zürichsees finden wird. Seine Schrott-Assemblagen funktionieren wie Maschinen, die aber nichts produzieren und stattdessen sinnlose Bewegungen ausführen. Das gestalterische Recycling zielt jedoch nicht auf Unsinn ab, sondern lässt sich als kreativer Umgang mit dem Industriematerial und als zeitgemässer künstlerischer Ausdruck des Maschinenzeitalters verstehen, bringt aber laut Tinguely auch Kritik an der Gleichförmigkeit industrieller Vorgänge und der Produktion von unnützen Dingen an. Andererseits bezeichnet sich der Künstler als Romantiker, der die Maschine poetisiert.<br />
<br />
Für alle Arbeiten Tinguelys gilt, dass die integrierten Bestandteile eine neue Funktion erhalten: Bohrer dienen als Motoren, die einen Staubwedel herumwirbeln; Räder unterschiedlichster Fahrzeuge drehen sich, ohne sich fortzubewegen; ein Kühlschrank enthält anstelle von Getränken und Esswaren eine Alarmsirene. Daher ist nicht voraussehbar, was passiert, wenn das Werk per Knopfdruck oder auf andere Weise in Aktion versetzt wird.<br />
<br />
Ende der 1970er Jahre setzt das Spätwerk ein. Eines seiner Merkmale ist die Verwendung von bunten, hölzernen Gussmodellen, die Tinguelys zunehmenden Hang zum Monumentalen begünstigen. Der Einsatz von tierischen Gebeinen ab 1981 verrät die Auseinandersetzung mit Vergänglichkeit und Tod. Beinerne und metallene Teile gehen dabei – der Prothetik vergleichbar – eine Einheit ein: Knochen, Schädel und Hörner werden auf einen aus der Karosserie von Rennautos gebauten Flügelaltar montiert, einem in einen tödlichen Unfall verwickelten Motorrad aufgesetzt oder mit Schrottteilen zu zoomorphen Gebilden, etwa einem Flusspferd oder einer Kuh, verbunden. Höhepunkt dieser Entwicklung ist der «Mengele-Totentanz» von 1986, ein vielteiliges Gesamtkunstwerk aus dem Brandschutt eines Bauernhofes, Tierschädeln, künstlichem Licht und Schattenspiel. Trotz der Todesthematik steckt viel Witz hinter dieser Kunst. Die Paarung von Ernst und Humor gehört zu den herausragenden Qualitäten von Tinguelys Spätwerk.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgj7HdpDs6cs_gocArMtE1ihp7om8EvIJn9W6gbZvCvAEY4kcAnEDca_-eqoiM2wZMLXs_o_SY16jXP6eCBuWDIGw4dMZJfBNF77YH4U3WFti2HKkFCqPD621AmZUd992yx0jvgK_arMF4/s1600/3Gismo.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1202" data-original-width="1600" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgj7HdpDs6cs_gocArMtE1ihp7om8EvIJn9W6gbZvCvAEY4kcAnEDca_-eqoiM2wZMLXs_o_SY16jXP6eCBuWDIGw4dMZJfBNF77YH4U3WFti2HKkFCqPD621AmZUd992yx0jvgK_arMF4/s400/3Gismo.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Jean Tinguely: Gismo (1968), Stedelijk Museum Amsterdam <a href="https://www.youtube.com/watch?v=x32VDxRaZQM" target="_blank"> [Video]</a></td></tr>
</tbody></table>
<b>Mechanisches Ballett</b><br />
<br />
Tinguely ist ein Erneuerer des Brunnenbaus. Schon 1960 experimentiert er mit beweglichen Fontänen, die er später zu mehrteiligen Ensembles erweitert. Der 1977 auf dem Basler Theaterplatz eingeweihte «Fasnachtsbrunnen», ein Auftrag, der aus Tinguelys aktiver Teilnahme an der Fasnacht hervorging, führt an der Stelle der Bühne des alten Stadttheaters ein mechanisches Ballett auf: Düsen und Rasensprenger verspritzen das Wasser in alle Richtungen, und Wasserspiele wie «dr Schuufler», der Wasser schaufelt, ohne je an ein Ziel zu kommen, vollführen ein heiteres Treiben. Im Winter gefriert mitunter die Mechanik ein, und dann trägt die Natur das Ihre zum Kunstwerk bei, indem sie die Fontänen mit bizarren Eisplastiken überformt. Die 1980 konzipierte, heute im Park vor dem Museum Tinguely in Basel installierte «Schwimmwasserplastik» ist ein Meisterwerk der Brunnenbaukunst, eine elegante Maschine aus schwarz bemalten Metallrädern und Schläuchen, deren Wasserstrahlen silbrig glitzernde Perlenfäden ziehen, wenn die Sonne in sie hinein scheint. Später kommen die «Fontaine Jo Siffert» in Freiburg und zwei Kollaborationen mit Niki de Saint-Phalle in Paris und im burgundischen Château-Chinon hinzu.<br />
<br />
<b>Privat ein Raser</b><br />
<br />
Notorisch ist Tinguelys Begeisterung für den Autorennsport. Jahrelang soll er seinen Terminkalender nach den Formel-1-Rennen ausgerichtet haben. Zu seinen Freunden gehören Jo Siffert, Clay Regazzoni, Jim Clark oder Joakim Bonnier. Einigen von ihnen, die tödlich verunfallt sind, gedenkt er in seiner Kunst. Privat ein Raser, erwirbt er im Verlauf seines Lebens mehrere Ferraris sowie einen Lotus von 1963 und ein Motorrad. Die letzten beiden stellt er als Plastiken in seinem Schlafzimmer auf.<br />
<br />
Es ist nur folgerichtig, dass Tinguely das Prinzip des Kinetischen auf das Wesen des Automobils, die selbständige Fortbewegung, ausweitet. Bereits 1954 konstruiert er mit «Auto-Mobile» ein mit einem Aufziehrädchen versehenes Gestell aus Eisen und Draht. Wenn Tinguely in seinem Frühwerk eine Werkkategorie einführt, nimmt er sie später in Variationen, Weiterentwicklungen oder Kombinationen mit anderen Kategorien wieder auf. So dehnt er auch das Prinzip der Fortbewegung auf die Zeichenmaschine und die Musikmaschine aus. «Le Safari de la Mort Moscovite» von 1989 besteht aus einem fahrbaren Renault 5, der allerdings nur noch ein elender Schrotthaufen ist, ein Todesgerippe wie die an ihm angebrachten Tierschädel, überragt von einer drohenden Sense. Tinguely verwandelt das Auto, eines der glanzvollsten Prestigeobjekte, zu einem Symbol für die Vergänglichkeit der Konsumgüter und zu einem Memento mori für den Menschen.<br />
<br />
Fast jede Arbeit von Tinguely besitzt ihren eigenen Klang. 1955 entwirft er die ersten, noch leisen Klangreliefs. Es folgen die Radioplastiken, die das zufällig im Äther herumschwirrende Klangmaterial einfangen. Schrottplastiken wie die «Heureka» werden begleitet von Klappern, Scheppern und Kreischen. Quietschen und Ächzen der Mechanik sind konstituierende Bestandteile des «Mengele-Totentanzes». Die vier «Méta-Harmonien», monumentale Musikmaschinen, werden von Gussmodellen betrieben und erzeugen eine Überharmonie, eine unkalkulierbare Klangfolge mit einer je eigenen Klangfarbe.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEheeT4goVlHaZ2xUQY94f0jkNhTN_dDxA6qRnIodLPub1cZqWy9VCxUc3ps1vyH9ITExWHFVt-8zrN4A1bu7OrdoxjsTtCYw4T2cMo7Xjv-Y9MdVJzHwmvh9E-_Q-WXBqzWTJke_9p7PN0/s1600/4fasnachts.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="768" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEheeT4goVlHaZ2xUQY94f0jkNhTN_dDxA6qRnIodLPub1cZqWy9VCxUc3ps1vyH9ITExWHFVt-8zrN4A1bu7OrdoxjsTtCYw4T2cMo7Xjv-Y9MdVJzHwmvh9E-_Q-WXBqzWTJke_9p7PN0/s400/4fasnachts.jpg" width="300" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Jean Tinguely: d’Fontääne. Eine Skulptur des <br />
<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Fasnachts-Brunnen" target="_blank">Fasnachts-Brunnen (Tinguely-Brunnen),</a> <br />
Theaterplatz, Basel <a href="https://www.youtube.com/watch?v=2GkCHMqfTrc" target="_blank"> [Video]</a></td></tr>
</tbody></table>
<br />
Eine weitere Facette von Tinguelys Œuvre sind die Lampenplastiken. Sie kulminieren im mehrere Tonnen schweren «Luminator» von 1991, der mit Tinguelys Einverständnis unmittelbar nach dem Tod des Künstlers in der Schalterhalle des Bahnhofs SBB in Basel aufgestellt wurde. Sieben Jahre lang konnten inmitten der Hektik des Bahnhofs Reisende beobachtet werden, die vor dem «Luminator» staunend innehielten. Wegen des Umbaus der Schalterhalle wurde der «Luminator» 1998 demontiert und anschliessend von den SBB verschmäht. Jetzt hat er im Basler Euro-Airport bis 2014 eine temporäre Bleibe gefunden.<br />
<br />
<b>Gigantisches Gemeinschaftswerk</b><br />
<br />
Heute wird Tinguelys Kunst, ihrer Vielseitigkeit entsprechend, in einem sehr breiten Rahmen rezipiert, so im Zusammenhang mit Themen wie Künstlerpaare, Musik in der bildenden Kunst oder Roboterkunst sowie in materialorientierten Ausstellungen. 2012 wurde im Expoparc in Biel das akrobatische und musikalische Werk «Cyclope» aufgeführt, das Elemente von «Le Cyclop» aufnahm, einem gigantischen Gemeinschaftswerk, das unter der Leitung von Tinguely ab 1971 südlich von Paris gebaut wurde.<br />
<br />
Tinguely zählt zu den Wegbereitern der kinetischen Kunst. Eine Ausstellung von 2006 im Museum Bochum hiess: «und es bewegt sich doch – von Alexander Calder und Jean Tinguely bis zur zeitgenössischen ‹mobilen Kunst›». Eine Zusammenarbeit zwischen dem Kunsthaus Graz und dem Museum Tinguely zeigte 2004/05 unter dem Titel «Bewegliche Teile» die Bandbreite der kinetischen Kunst von heute auf. Die Bewegung fand auch Eingang in die Lichtinstallationen von Jenny Holzer. Tinguelys Vorreiterrolle bei der autodestruktiven Kunst wurde 2010/11 in der Ausstellung «Under Destruction» im Museum Tinguely gewürdigt. Die automatischen Zeichenmaschinen waren Anlass zur Gründung der «Métamatic Research Initiative» in Amsterdam, die sich der künstlerischen und wissenschaftlichen Erforschung der Themen «Autorschaft» und «künstlerische Authentizität» verschrieben hat. Tinguelys Kunst bleibt somit aktuell und fruchtbar.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: <a href="http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/stillstand-gibt-es-nicht-1.18004162" target="_blank">Rudolf Suter: Jean Tinguely bewegt: «Stillstand gibt es nicht», in der NZZ vom 16.02.2013</a></i></span><br />
<br />
<b>Link-Tipp</b><br />
<a href="https://www.tinguely.ch/de/tinguely/tinguely-biographie.html" target="_blank"><b>Leben und Werk von Jean Tinguely (1925-1991), Webseite des Museum Tinguely</b></a><br />
<br />
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<b>Mehr Alte Musik aus der Kammermusikkammer:</b> <br />
<br />
<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2020/01/johannes-ciconia-opera-omnia-diabolus.html" target="_blank">Johannes Ciconia: Opera Omnia (Diabolus in Musica, La Morra) | Die Schönste im ganzen Land: Die Berliner Büste der Nofretete.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/08/weltliche-musik-im-christlichen-und.html" target="_blank">Weltliche Musik im christlichen und jüdischen Spanien 1490-1650 | Ein Mensch ist kein Stilleben: Oskar Kokoschka portraitiert Karl Kraus.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/06/la-frottola-eine-fast-vergessene.html" target="_blank">La Frottola - eine fast vergessene Kunstgattung des 15. und 16. Jh | Das Fest des Fleisches: Rubens und Helene Fourment.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2015/03/heinrich-biber-sonatae-tam-aris-quam.html" target="_blank">Heinrich Biber: Sonatae tam aris, quam aulis servientes (1676) | Arnold Böcklin wandelt an den Wassern.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2015/03/marin-marais-pieces-de-viole-du.html" target="_blank">Marin Marais: Pièces de Viole du Cinquième Livre | Einfälle und Bemerkungen - aus Lichtenbergs Sudelbüchern (Heft D, 1773-1775).</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2015/04/henry-purcell-10-sonaten-zu-vier.html" target="_blank">Henry Purcell: 10 Sonaten zu vier Stimmen + 12 Sonaten zu drei Stimmen | Richard Alewyn: Maske und Improvisation. Die Geburt der europäischen Schauspielkunst.</a></b><br />
<br />
<br />
<a href="https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Firminus-Caron-15-Jh-Messen/hnum/3338523" target="_blank"><b>CD bestellen bei JPC.de</b></a> <br />
<br />
<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 17 MB <br />
<a href="http://www.embedupload.com/?d=4GQIKHZXKV" rel="nofollow" target="_blank">Embedupload</a> --- <a href="https://mega.nz/#!jtYglYgJ!078aqoR-5uXJg61Rc1yy3LnN6hrMoDbaUYUFRhVJWIk" rel="nofollow" target="_blank">MEGA</a> --- <a href="http://depositfiles.com/files/p02odaoo4" rel="nofollow" target="_blank">Depositfile</a> </b> <br />
<span style="background-color: #ffd966;">Unpack x384.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: 3 CDs [190:17] 978 MB in 12 parts</span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-26481408005307022012020-02-03T10:56:00.004+01:002020-02-03T10:56:54.914+01:00Ursula Mamlok: Werke für Soloinstrumente und kleine Kammerensembles<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEji15LSaiWmK94sWUyiB1oj8DYojdDeIUxI9udnjMHg7cVEQXSbiNbatN28QqOsUFTOSd-pvigR2VKARv3gyY291BWQ1kKmw7lIvKeE_fBAlaVhPnPYDCzhr5LC_mTG27F_ERwk7NE9sVM/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1418" data-original-width="1432" height="316" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEji15LSaiWmK94sWUyiB1oj8DYojdDeIUxI9udnjMHg7cVEQXSbiNbatN28QqOsUFTOSd-pvigR2VKARv3gyY291BWQ1kKmw7lIvKeE_fBAlaVhPnPYDCzhr5LC_mTG27F_ERwk7NE9sVM/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Ursula Mamlok hat schon als junge Schülerin in den dreißiger Jahren in Berlin mit dem Komponieren begonnen und über mehr als ein Dreivierteljahrhundert ihr Können immer weiter vervollkommnet. Diese CD, die dritte aus einer Serie mit Mamloks Musik, enthält Beispiele ihres Schaffens für Soloinstrumente und kleine Kammerensembles, entstanden über einen Zeitraum von beinahe fünfzig Jahren. Mamloks Stil hat viele Wandlungen durchgemacht, aber ihre sehr individuelle Musik war immer durch viele charakteristische Züge gekennzeichnet. Die stilistisch unterschiedlichen Stücke, die hier präsentiert werden, zeigen Mamloks Begabung für Dramatik und für die Pflege instrumentaler Virtuosität ebenso wie ihr genaues Gehör und ihre Neigung zu zarten, transparenten Klanggeweben.<br />
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Die CD wird eingerahmt von zwei Oboenwerken, beide gespielt von Heinz Holliger: <i>Five Capriccios</i> für Oboe und Klavier (1968) und <i>Kontraste</i> (2009/2010). Die <i>Five Capriccios</i> entstanden zu einer Zeit, in der Mamlok ein Idiom ausprobierte, das syntaktische Komplexität mit instrumentaler Virtuosität verband. Die großen Fähigkeiten des Oboisten Josef Marx, für den ihre Lehrer Stefan Wolpe und Ralph Shapey schon mehrere Werke geschrieben hatten, bedeuteten für Mamlok die erste Anregung, für Oboe zu komponieren.<br />
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<i>Five Capriccios</i> ist das zweite von vier Stücken, die Mamlok zwischen 1964 und 1976 für Oboe schrieb, wobei das <i>Konzert für Oboe und Kammerorchester</i> (1976/2003) den Höhepunkt dieser Gruppe darstellt. Die ersten zwei Sätze spiegeln einander. Große Aufwärtssprünge werden in der Melodielinie des ersten Satzes häufig verwendet, während Abwärtssprünge den zweiten Satz beherrschen. Ähnlich zieht sich im ersten Satz ein Cluster zu einem einzigen Ton zusammen, während im zweiten Satz eine einzelne Note zweimal zu einem Cluster anwächst, erst in der hohen Lage, später im Bass. Mamlok verwendete vergleichbare kompositorische Strategien im dritten und vierten Satz. Der dritte Satz ist frei kanonisch und palindromisch, mit einem polyrhythmischen Gegensatz zwischen den Stimmen. Der vierte Satz präsentiert ebenfalls einen polyrhythmischen Gegensatz zwischen den Stimmen, welche diesmal in Gegenbewegung ablaufen, wobei die beiden Instrumente häufig die Rollen wechseln. Der fünfte und längste Satz ist ein langsamer und emotional zurückhaltender Epilog, der die Ideen der vorangehenden Sätze aufgreift und zur Synthese bringt. Die <i>Five Capriccios</i> erlebten ihre New Yorker Uraufführung 1968 mit Judith Martin, Oboe, und Joan Tower, Klavier.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgR1cIwxzZeKZDruK7CcZgJbKoWImBRMT52uHi5lfJZpj3Ig9WXl6jDDJ_ZiTsjfy9oyZVhPyuXJ2Cjeg10Jg91TVkhRSZgzHF6epy4_lIvc26UmEgX0q7wh6kNe7h8F6h8DqXVo1sMTMI/s1600/1.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1065" data-original-width="1600" height="266" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgR1cIwxzZeKZDruK7CcZgJbKoWImBRMT52uHi5lfJZpj3Ig9WXl6jDDJ_ZiTsjfy9oyZVhPyuXJ2Cjeg10Jg91TVkhRSZgzHF6epy4_lIvc26UmEgX0q7wh6kNe7h8F6h8DqXVo1sMTMI/s400/1.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ursula Mamlok (1923-2016), im März 2009</td></tr>
</tbody></table>
<i>Stray Birds</i> für Sopran, Flöte/Piccolo/Altflöte und Cello (1963) gehört zu Mamloks ersten Werken, nachdem sie sich während ihrer Studien bei Stefan Wolpe und Ralph Shapey einem dezidiert modernen Stil zugewandt hatte. […] Der Text von <i>Stray Birds</i> besteht aus fünf Aphorismen, ausgewählt aus den 326 Aphorismen, die zum Gedicht <i>Stray Birds</i> des bengalischen Dichters Rabindranath Tagore (1861-1941) gehören:<br />
<br />
1. (In einer ununterbrochenen Stimmung) Verirrte Vögel des Sommers kommen an mein Fenster, um zu singen und fortzufliegen, und gelbe Herbstblätter, welche keine Lieder haben, flattern und fallen seufzend herunter. <br />
2. (Hoheitsvoll) Lass Deine Musik wie ein Schwert den Lärm des Marktes ins Herz treffen.<br />
3. (Sehr luftig) Niedriges Gras, Deine Schritte sind klein, aber Dir gehört die Erde unter Deinem Tritt.<br />
4. (In melancholischer Stimmung) Dieser Regenabend, der Wind ist ruhelos, ich blicke auf die schwankenden Zweige und denke über die Größe aller Dinge nach.<br />
5. (Ruhig, in größter Einfachheit) Mein Tagwerk ist getan und ich bin wie ein auf den Strand gezogenes Boot, das auf die Tanzmusik der abendlichen Gezeiten lauscht.<br />
<br />
Mamlok versuchte, in diesem emotional dichten und expressionisdschen Stück den „Charakter der Dichtung auszudrücken“, indem sie den nervösen, verschlungenen Linien der Anfangssätze die langsame, gehaltene Musik des ausgedehnten Schlusssatzes gegenüberstellte. Der Wechsel zwischen Flöte, Altflöte und Piccolo während des ganzen Stücks erzeugt dramatische Kontraste von Klangfarbe und Register. Das Cello spielt am Beginn von <i>Stray Birds</i> eine zentrale Rolle im musikalischen Diskurs, wird aber in den beiden letzten Sätzen der Stimme und Flöte untergeordnet. Seine palindromischen Soli umrahmen den zweiten Satz. Die Group for Contemporary Music brachte <i>Stray Birds</i> 1964 in New York zur Uraufführung.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEguHjhyphenhypheniJr9Abo4IVzLtgZRmn-Q3Cnka9ok17iAH190pSQGbz62sap_L2YXfDmJJUHx6C1nufgrfyztrZSp4aVacxvzKeKeaZNsaOKMfApZdskskgqxNWMILUJx1D9tlCuzNZhYmBtTGvg/s1600/2.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1054" data-original-width="1086" height="309" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEguHjhyphenhypheniJr9Abo4IVzLtgZRmn-Q3Cnka9ok17iAH190pSQGbz62sap_L2YXfDmJJUHx6C1nufgrfyztrZSp4aVacxvzKeKeaZNsaOKMfApZdskskgqxNWMILUJx1D9tlCuzNZhYmBtTGvg/s320/2.jpg" width="320" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ursula Mamlok mit Master-Abschluss</td></tr>
</tbody></table>
<i>Polyphony I</i> für Soloklarinette entstand 1968, im gleichen Jahr wie die <i>Five Capriccios</i> für Oboe und Klavier. Mamlok nannte 1982 ihre Bearbeitung des viersätzigen Werks für Cello solo <i>Fantasy-Variations</i>. Die Transposition des Stücks um eine Oktave nach unten verleiht der Musik einen neuen Aspekt, wobei eine musikalische Spannung zwischen den klar un-terschiedenen Diskant— und Bassregistern der weiträumigen Cellomelodie entsteht. Die Einbeziehung häufiger Wechsel der für Streichinstrumente typischen Artikulation schafft zusätzliche Dramatik. Zu Beginn des ersten Satzes erzeugen die Gegensätze von Register und Dynamik eine zweistimmige Polyphonie, die bald zu einer Passage rhythmisch irregulärer Musik mit auffälligen Tonwiederholungen führt. Der Satz endet mit gespenstischen Trillern und Tremoli. Der zweite Satz baut sich rund um kurze palindromische Figuren auf, die in eine größere palindromische Anlage eingehen. Die webenden, sich ständig beschleunigenden Linien des dritten Satzes führen zu einem abschließenden <br />
<pre>ffff</pre>
-Höhepunkt. Im langsamen, nachdenklichen Schlusssatz gehört die ständige Veränderung des Vibratos ebenso wesentich zum musikalischen Diskurs wie der Wechsel von lauter und leiser Dynamik. Die Cellistin Dawn Buckholz brachte die <i>Fantasy-Variations</i> 1983 in New York zur Uraufführung.<br />
<br />
Während der frühen achtziger Jahre begann Mamlok ihre musikalische Sprache zu vereinfachen, wobei sie die neoklassischen Verfahren ihrer frühen Werke mit ihrer zunehmenden Verwendung der Reihentechnik verschmolz. <i>Panta Rhei</i> (Zeit im Fluss), ein fünfsätziges Werk für Klaviertrio, entstand 1981, zu Beginn dieser Periode in Mamloks kompositorischer Laufbahn. Der Untertitel bezieht sich nicht auf eine spezifische Technik, welche die Komponistin verwendete, sondern wurzelt vielmehr in einer Anregung ihrer Mutter, einer begeisterten Musikliebhaberin. Im kurzen ersten Satz verwendet Mamlok Arpeggien und Akkorde, um die Reihe horizontal wie auch vertikal vorzustellen. Der zweite Satz beginnt mit einem spielerisch kontrapunktischen Gedankenaustausch zwischen den Mitgliedern des Ensembles, wobei die Musik zu großen Teilen aus Ketten von Terzen, Quarten und Quinten besteht. Der schnelle lineare Diskurs der ersten Hälfte des Satzes wird in der zweiten Hälfte unterbrochen durch einen Wechsel zum Walzerrhythmus, und die Intervallketten verwandeln sich manchmal zu dissonanten Akkorden. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiJy9aBIqNhCN0ZRqVVeHjriZlNKYeRC2prXugQSf6kA4mMX83efvB_68_HldTyEjDgvFajNFzjDOFzLcQA3sljsTK79F5rfzmsRZnDrREcw5VgYWYesaZeoE6Pid3O5uTqRtK7X3CjnZg/s1600/3.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1290" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiJy9aBIqNhCN0ZRqVVeHjriZlNKYeRC2prXugQSf6kA4mMX83efvB_68_HldTyEjDgvFajNFzjDOFzLcQA3sljsTK79F5rfzmsRZnDrREcw5VgYWYesaZeoE6Pid3O5uTqRtK7X3CjnZg/s400/3.jpg" width="322" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Hochzeitsphoto von Ursula und Dwight Mamlok, <br />
November 1947</td></tr>
</tbody></table>
Im dritten Satz wiederholen zwei Instrumente zeitweise einen einzelnen Ton, während das dritte die musikalische Erzählung weiterführt. Die Stimmen wechseln während des ganzen Satzes, der leise beginnt und einen <br />
<pre>ff</pre>
-Höhepunkt erreicht, wenn das Klavier eine Reihe von Cluster-Akkorden spielt. In den letzten Takten nimmt das Cello den Krebs der Anfangsmelodie wieder auf und überträgt ihn in das Bassregister. Der vierte Satz, ein Rondo, verwendet Ideen aus den ersten drei Sätzen, wobei es in einzelnen Episoden verschiedene Kombinationen von Tonwiederholungen, dissonanten Akkorden und geschmeidigen thematischen Figuren gibt, die von schnellen Lauffiguren begleitet werden. Gegen Ende des vierten Satzes greift Mamlok den Walzerrhythmus des zweiten Satzes auf. Sie schließt den Satz mit den gehämmerten D’s, mit denen er begann, jetzt aber ohne die Akkordbegleitung der Anfangstakte. Die Arpeggien und Akkorde des Kopfsatzes werden im fünften und Schlusssatz, der mit einer weiteren Anspielung auf die Musik des zweiten Satzes endet, in Umkehrung präsentiert. <i>Panta Rhei</i> entstand im Auftrag von Sigma Alpha Iota und wurde von Barbara Sorlien, Violine, Lloyd Smith, Cello, und Rheta Smith, Klavier, 1981 auf der Sigma Alpha Iota National Convention in Washington, D.C., uraufgeführt. […]<br />
<br />
Mamloks <i>Streichquartett Nr. 2</i>, vollendet 1998, ist ein kompaktes dreisätziges Werk, das sich von ihrem <i>Streichquartett Nr. 1</i>,, das mehr als dreißig Jahre früher entstand, erheblich unterscheidet. Während das erste Quartett die intensive Rhetorik zeigt, die typisch war für ihre Stilistik in den sechziger Jahren, ist das zweite Quartett grundsätzlich neoklassizistisch angelegt. Den ersten und dritten Satz verbindet ein verschlungenes, hüpfendes Thema, das in vielen Gestalten in Musik präsentiert wird, die abwechselnd spielerisch und lyrisch ist. Die Sätze verbindet auch eine formale Verwandtschaft: der erste Teil jedes Satzes wird in Umkehrung wiederholt. Im zweiten Satz wechseln lange Legato-Linien von einer fast an Fauré erinnernden Zartheit mit kurzen <i>agitato</i>-Zwischenspielen. Gegen Ende des Finales führt Mamlok wieder das Thema des zweiten Satzes ein, um eine dicht geschlossene Gesamtform zu schaffen. Das Quartett endet mit einem eindrücklichen Moment, wenn das Anfangsthema des ersten Satzes in seiner originalen Lage wiederkehrt, aber in flexibler Bewegung von hoch und tief, was an den Beginn von Bergs <i>Lyrischer Suite</i> erinnert. <i>Streichquartett Nr. 2</i> war ein Auftrag der Fromm Music Foundation der Harvard University für das Cassatt Quartett und wurde von diesem Ensemble 1998 an der Syracuse University (New York, USA) uraufgeführt. Es ist der Erinnerung an Anna Cholakian gewidmet, eines der Gründungsmitglieder des Quartetts.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgDzeW59ovFg5yOesp3xKFub8UxfvvZCMpfrE0iDYmriP7aYYw5z638BolsZu5FpKlpb83RnpIgracbCz0cNWqZbUNUgNWNm1Ouiaquwci9nM_Hapfr_VEAQ6Hqxzl-6GvTINtqUEX7p8o/s1600/4.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="792" data-original-width="768" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgDzeW59ovFg5yOesp3xKFub8UxfvvZCMpfrE0iDYmriP7aYYw5z638BolsZu5FpKlpb83RnpIgracbCz0cNWqZbUNUgNWNm1Ouiaquwci9nM_Hapfr_VEAQ6Hqxzl-6GvTINtqUEX7p8o/s400/4.jpg" width="387" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ursula Mamlok mit Chevrolet auf der „Route 66“</td></tr>
</tbody></table>
<i>Confluences</i> ist ein dreisätziges Werk für Klarinette, Violine, Cello und Klavier, welches im Jahr 2001 für das Continuum Ensemble New York komponiert wurde. Im kurzen ersten Satz wandert ein Zweitonmotiv durch die Streicher, während das Klavier zarte Figuren im Diskant spielt. Der zweite Satz, <i>Grazioso</i>, ist der kunstvollste der drei. Er beginnt mit einem bogenförmigen Thema, gespielt von der Klarinette, welches eine Ähnlichkeit aufweist zum Hauptthema des ersten Satzes des <i>Streichquartetts Nr. 2</i>. Aus diesem Thema gehen oszillierende Arpeggien hervor, die sich wiederholt in Drehmotive auflösen. Diese verengen den weiten Klangraum, der durch die arpeggierten Figuren umrissen wird. Der Satz wird unterbrochen durch mehrere langsame Zwischenspiele. In der ersten dieser Passagen dient eine alternierende Sekundschritt-Zweitonfolge, aufgeteilt zwischen Violine und Klavier, als Hintergrund für ein klagendes Thema, das vom Cello eingeführt wird. Die anderen langsamen Zwischenspiele bringen akkordische Figuren, gespielt von Klarinette und Streichern und vom Klavier mit Streicherbegleitung. Der Schlusssatz, betitelt „Ruhig, schwebend“, enthält einen transparenten Dialog zwischen allen Mitgliedern des Ensembles. <i>Confluences</i> wurde von Continuum im Jahre 2001 in der Knitting Factory in New York City uraufgeführt.<br />
<br />
Mamlok komponierte eine <i>Humoreske</i> für Oboe und Harfe 2009 anläßlich des siebzigsten Geburtstages von Heinz Holliger. Im Jahr 2010 ergänzte sie einen zweiten Satz und nannte das Werk <i>Kontraste</i>. Der erste Satz von <i>Kontraste</i> setzt zartes Filigran in den hellsten Registern beider Instrumente ein. Der zweite, überschrieben <i>Largo e mesto</i>, ist gewichtig und klagend. Mamlok vermeidet den höchsten Bereich der Tessitura der Oboe und verwendet dichte Harfenakkorde, welche die Resonanz der Bassnoten des Instruments hervorheben. Heinz und Ursula Holliger brachten <i>Kontraste</i> im Jahr 2011 für die vorliegende Aufnahme zur Uraufführung.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Barry Wiener, im Booklet (Übersetzung: Albrecht Dümling). [gekürzt]</i></span> <br />
<br />
<br />
<b>Link-Tipp</b><br />
<br />
<a href="https://www.mamlokstiftung.com/" target="_blank"><b>Webportal der Dwight und Ursula Mamlok-Stiftung</b></a><br />
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<br />
<pre>TRACKLIST
Ursula Mamlok
(1923-2016)
Music of Ursula Mamlok, Volume 3
Five Capriccios (1968) 7:10
01 I. #\ = 100 0:52
02 II. #\ = 112 0:45
03. III. #\ = 92 0:43
04 IV. # = 104 0:41
05 V. #\ = 54 4:05
Heinz Holliger, Oboe
Anton Kernjak, Piano
Stray Birds (1963) 14:29
06. I. In a Sustained Mood 3:31
07. II. Majestic 2:37
08. III. Very Airy 0:53
09. IV. In a Melancholy Mood 2:27
10. V. Still, with utmost simplicity 5:02
Phyllis Bryn-Julson, Soprano
Harvey Sollberger, Flute
Fred Sherry, Cello
Fantasy-Variations
for Solo Violoncello (1982) 8:17
11. I. Pensive 3:09
12. II. #\ = 60: Fast # = 132 1:10
13. III. Allways # = 30, but with
Increasing Excitement 0:47
14. IV. Dreamy 3:11
Jakob Spahn, Cello
Panta Rhei (Time in Flux) (1981) 9:06
15. I. Agitato 0:35
16. II. Vivace misterioso 1:02
17. III. Molto tranquillo 4:00
18. IV. Allegro energico 2:43
19. V. Distant 0:46
Susanne Zapf, Violin
Cosima Gerhardt, Cello
Heather O'Donnell, Piano
Five Bagatelles (1988) 8:39
20. Grazioso 0:48
21. Very Calm 1:36
22. Playful 1:34
23. Still, as if Suspended 3:24
24. Sprightly 1:17
Helge Harding, Clarinet
Kirsten Harms, Violin
Cosima Gerhardt, Cello
String Quartet No. 2 (1998) 12:45
25. I. With Fluctuating Tension 3:44
26. II. Larghetto 5:02
27. III. Joyful 3:59
Sonar String Quartet:
Kirsten Harms, Violin
Susanne Zapf, Violin
Nikolaus Schlierf, Viola
Cosima Gerhardt, Cello
Confluences (2001) 8:39
28. Introduction - Presto 0:11
29. I. Grazioso - Transition 2:28
30. II. Vivo 1:20
31. III. Still, as if Suspended 4:40
Helge Harding, Clarinet
Kirsten Harms, Violin
Cosima Gerhardt, Cello
Heather O'Donnell, Piano
Kontraste (2009/2010) 3:27
32. I. Humoresque 0:41
33. II. Largo e Mesto 2:46
Heinz Holliger, Oboe
Ursula Holliger, Harp
Total Time 72:45
Recorded November 25.-28, 2010, Deutschlandfunk Köln Kammermusiksaal (01.-31.),
February 12, 2011, Radiostudio Zürich (32.-33.)
Producer: Frank Kämpfer / Andreas Werner
Engineer: Hendrik Manook / Andreas Werner
Editors: Charlie Post / Doron Schächter
Executive Producers: Bettina Brand, Becky und David Starobin
(P)+(C) 2011
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: large;"><b><span style="color: red;">Sigmund Freud:</span></b></span><br />
<b><span style="color: red;"><br /></span></b>
<span style="font-size: x-large;"><b><span style="color: red;">Das Unbehagen in der Kultur</span></b></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi5Fo2_cahWqXIrh9VJAKLd_qtyyLzRadRNSCfaSKLHaqOmMaYhD34A7oiMi1RP5Sn_110gXxHAS3x4bTy_CPFtES65eYWNZaS3X_N1iwRm1W76vsSm2Npr83YCgQij4ATInsKPcYfa1mY/s1600/1Freud.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1169" data-original-width="800" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi5Fo2_cahWqXIrh9VJAKLd_qtyyLzRadRNSCfaSKLHaqOmMaYhD34A7oiMi1RP5Sn_110gXxHAS3x4bTy_CPFtES65eYWNZaS3X_N1iwRm1W76vsSm2Npr83YCgQij4ATInsKPcYfa1mY/s640/1Freud.jpg" width="435" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Sigmund Freud (1856-1939)</td></tr>
</tbody></table>
IV<br />
<br />
[…] Nachdem der Urmensch entdeckt hatte, daß es — wörtlich so verstanden — in seiner Hand lag, sein Los auf der Erde durch Arbeit zu verbessern, konnte es ihm nicht gleichgültig sein, ob ein anderer mit oder gegen ihn arbeitete. Der andere gewann für ihn den Wert des Mitarbeiters, mit dem zusammen zu leben nützlich war. Noch vorher, in seiner affenähnlichen Vorzeit, hatte er die Gewohnheit angenommen, Familien zu bilden; die Mitglieder der Familie waren wahrscheinlich seine ersten Helfer. <br />
<br />
[…] In dieser primitiven Familie vermissen wir noch einen wesentlichen Zug der Kultur; die Willkür des Oberhauptes und Vaters war unbeschränkt. In <i>Totem und Tabu</i> habe ich versucht, den Weg aufzuzeigen, der von dieser Familie zur nächsten Stufe des Zusammenlebens in Form der Brüderbünde führte. Bei der Überwältigung des Vaters hatten die Söhne die Erfahrung gemacht, daß eine Vereinigung stärker sein kann als der Einzelne. Die totemistische Kultur ruht auf den Einschränkungen, die sie zur Aufrechthaltung des neuen Zustandes einander auferlegen mußten. Die Tabuvorschriften waren das erste »Recht«.<br />
<br />
Das Zusammenleben der Menschen war also zweifach begründet durch den Zwang zur Arbeit, den die äußere Not schuf, und durch die Macht der Liebe, die von seiten des Mannes das Sexualobjekt im Weibe, von seiten des Weibes das von ihr abgelöste Teilstück des Kindes nicht entbehren wollte. Eros und Ananke sind auch die Eltern der menschlichen Kultur geworden. Der erste Kulturerfolg war, daß nun auch eine größere Anzahl von Menschen in Gemeinschaft bleiben konnten. Und da beide großen Mächte dabei zusammenwirkten, könnte man erwarten, daß sich die weitere Entwicklung glatt vollziehen würde, zu immer besserer Beherrschung der Außenwelt wie zur weiteren Ausdehnung der von der Gemeinschaft umfaßten Menschenzahl. Man versteht auch nicht leicht, wie diese Kultur auf ihre Teilnehmer anders als beglückend wirken kann. […]<br />
<br />
Jene Liebe, welche die Familie gründete, bleibt in ihrer ursprünglichen Ausprägung, in der sie auf direkte sexuelle Befriedigung nicht verzichtet, sowie in ihrer Modifikation als zielgehemmte Zärtlichkeit in der Kultur weiter wirksam. In beiden Formen setzt sie ihre Funktion fort, eine größere Anzahl von Menschen aneinander zu binden und in intensiverer Art, als es dem Interesse der Arbeitsgemeinschaft gelingt. Die Nachlässigkeit der Sprache in der Anwendung des Wortes »Liebe« findet eine genetische Rechtfertigung. Liebe nennt man die Beziehung zwischen Mann und Weib, die auf Grund ihrer genitalen Bedürfnisse eine Familie gegründet haben, Liebe aber auch die positiven Gefühle zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschwistern in der Familie, obwohl wir diese Beziehung als zielgehemmte Liebe, als Zärtlichkeit, beschreiben müssen. <br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjpeCXK8hyRUfuXqKjyWMbgvLeTGNhPaCicnYEvVSIROzZXK7a9bCcFeihCjArD5gMsbG0SZTBeHq9YzoqiO4sHO0vWegWmvAKo9UbiD-pcpZhuCvI0t60pKUZwTgTh3mJwEAEv2-JbNII/s1600/2.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="615" data-original-width="820" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjpeCXK8hyRUfuXqKjyWMbgvLeTGNhPaCicnYEvVSIROzZXK7a9bCcFeihCjArD5gMsbG0SZTBeHq9YzoqiO4sHO0vWegWmvAKo9UbiD-pcpZhuCvI0t60pKUZwTgTh3mJwEAEv2-JbNII/s400/2.jpg" width="400" /></a></div>
Die zielgehemmte Liebe war eben ursprünglich vollsinnliche Liebe und ist es im Unbewußten des Menschen noch immer. Beide, vollsinnliche und zielgehemmte Liebe, greifen über die Familie hinaus und stellen neue Bindungen an bisher Fremde her. Die genitale Liebe führt zu neuen Familienbildungen, die zielgehemmte zu »Freundschaften«‚ welche kulturell wichtig werden, weil sie manchen Beschränkungen der genitalen Liebe, z. B. deren Ausschließlichkeit, entgehen. Aber das Verhältnis der Liebe zur Kultur verliert im Verlaufe der Entwicklung seine Eindeutigkeit. Einerseits widersetzt sich die Liebe den Interessen der Kultur, anderseits bedroht die Kultur die Liebe mit empfindlichen Einschränkungen. <br />
<br />
Diese Entzweiung scheint unvermeidlich; ihr Grund ist nicht sofort zu erkennen. Sie äußert sich zunächst als ein Konflikt zwischen der Familie und der größeren Gemeinschaft, der der Einzelne angehört. Wir haben bereits erraten, daß es eine der Hauptbestrebungen der Kultur ist, die Menschen zu großen Einheiten zusammenzuballen. Die Familie will aber das Individuum nicht freigeben. Je inniger der Zusammenhalt der Familienmitglieder ist, desto mehr sind sie oft geneigt, sich von anderen abzuschließen, desto schwieriger wird ihnen der Eintritt in den größeren Lebenskreis. Die phylogenetisch ältere, in der Kindheit allein bestehende Weise des Zusammenlebens wehrt sich, von der später erworbenen, kulturellen abgelöst zu werden. Die Ablösung von der Familie wird für jeden Jugendlichen zu einer Aufgabe, bei deren Lösung ihn die Gesellschaft oft durch Pubertäts- und Aufnahmsriten unterstützt. Man gewinnt den Eindruck, dies seien Schwierigkeiten, die jeder psychischen, ja im Grunde auch jeder organischen Entwicklung anhängen. […]<br />
<br />
Von seiten der Kultur ist die Tendenz zur Einschränkung des Sexuallebens nicht minder deutlich als die andere zur Ausdehnung des Kulturkreises. Schon die erste Kulturphase, die des Totemismus, bringt das Verbot der inzestuösen Objektwahl mit sich, vielleicht die einschneidendste Verstümmelung, die das menschliche Liebesleben im Laufe der Zeiten erfahren hat. Durch Tabu, Gesetz und Sitte werden weitere Einschränkungen hergestellt, die sowohl die Männer als die Frauen betreffen. Nicht alle Kulturen gehen darin gleich weit; die wirtschaftliche Struktur der Gesellschaft beeinflußt auch das Maß der restlichen Sexualfreiheit. Wir wissen schon, daß die Kultur dabei dem Zwang der ökonomischen Notwendigkeit folgt, da sie der Sexualität einen großen Betrag der psychischen Energie entziehen muß, die sie selbst verbraucht. Dabei benimmt sich die Kultur gegen die Sexualität wie ein Volksstamm oder eine Schichte der Bevölkerung, die eine andere ihrer Ausbeutung unterworfen hat. Die Angst vor dem Aufstand der Unterdrückten treibt zu strengen Vorsichtsmaßregeln.<br />
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Einen Höhepunkt solcher Entwicklung zeigt unsere westeuropäische Kultur. Es ist psychologisch durchaus berechtigt, daß sie damit einsetzt, die Äußerungen des kindlichen Sexuallebens zu verpönen‚ denn die Eindämmung der sexuellen Gelüste der Erwachsenen hat keine Aussicht, wenn ihr nicht in der Kindheit vorgearbeitet wurde. Nur läßt es sich auf keine Art rechtfertigen, daß die Kulturgesellschaft so weit gegangen ist, diese leicht nachweisbaren, ja auffälligen Phänomene auch zu leugnen. Die Objektwahl des geschlechtsreifen Individuums wird auf das gegenteilige Geschlecht eingeengt, die meisten außergenitalen Befriedigungen als Perversionen untersagt. Die in diesen Verboten kundgegebene Forderung eines für alle gleichartigen Sexuallebens setzt sich über die Ungleichheiten in der angeborenen und erworbenen Sexualkonstitution der Menschen hinaus, schneidet eine ziemliche Anzahl von ihnen vom Sexualgenuß ab und wird so die Quelle schwerer Ungerechtigkeit. <br />
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Der Erfolg dieser einschränkenden Maßregeln könnte nun sein, daß bei denen, die normal, die nicht konstitutionell daran verhindert sind, alles Sexualinteresse ohne Einbuße in die offen gelassenen Kanäle einströmt. Aber was von der Ächtung frei bleibt, die heterosexuelle genitale Liebe, wird durch die Beschränkungen der Legitimität und der Einehe weiter beeinträchtigt. Die heutige Kultur gibt deutlich zu erkennen, daß sie sexuelle Beziehungen nur auf Grund einer einmaligen, unauflösbaren Bindung eines Mannes an ein Weib gestatten will, daß sie die Sexualität als selbständige Lustquelle nicht mag und sie nur als bisher unersetzte Quelle für die Vermehrung der Menschen zu dulden gesinnt ist.<br />
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Das ist natürlich ein Extrem. Es ist bekannt, daß es sich als undurchführbar, selbst für kürzere Zeiten, erwiesen hat. Nur die Schwächlinge haben sich einem so weitgehenden Einbruch in ihre Sexualfreiheit gefügt, stärkere Naturen nur unter einer kompensierenden Bedingung, von der später die Rede sein kann. Die Kulturgesellschaft hat sich genötigt gesehen, viele Überschreitungen stillschweigend zuzulassen, die sie nach ihren Satzungen hätte verfolgen müssen. Doch darf man nicht nach der anderen Seite irregehen und annehmen, eine solche kulturelle Einstellung sei überhaupt harmlos, weil sie nicht alle ihre Absichten erreiche. Das Sexualleben des Kulturmenschen ist doch schwer geschädigt, es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung befindlichen Funktion, wie unser Gebiß und unsere Kopfhaare als Organe zu sein scheinen. Man hat wahrscheinlich ein Recht anzunehmen, daß seine Bedeutung als Quelle von Glücksempfindungen, also in der Erfüllung unseres Lebenszweckes, empfindlich nachgelassen hat. […]<br />
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V<br />
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Die psychoanalytische Arbeit hat uns gelehrt, daß gerade diese Versagungen des Sexuallebens von den sogenannten Neurotikern nicht vertragen werden. Sie schaffen sich in ihren Symptomen Ersatzbefriedigungen, die aber entweder an sich Leiden schaffen oder Leidensquelle werden, indem sie ihnen Schwierigkeiten mit Umwelt und Gesellschaft bereiten. Das letztere ist leicht verständlich, das andere gibt uns ein neues Rätsel auf. Die Kultur verlangt aber noch andere Opfer als an Sexualbefriedigung.<br />
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Wir haben die Schwierigkeiten der Kulturentwicklung als eine allgemeine Entwicklungsschwierigkeit aufgefaßt, indem wir sie auf die Trägheit der Libido zurückführten, auf deren Abneigung, eine alte Position gegen eine neue zu verlassen. Wir sagen ungefähr dasselbe, wenn wir den Gegensatz zwischen Kultur und Sexualität davon ableiten, daß die sexuelle Liebe ein Verhältnis zwischen zwei Personen ist, bei dem ein Dritter nur überflüssig oder störend sein kann, während die Kultur auf Beziehungen unter einer größeren Menschenanzahl ruht. Auf der Höhe eines Liebesverhältnisses bleibt kein Interesse für die Umwelt übrig; das Liebespaar genügt sich selbst, braucht auch nicht das gemeinsame Kind, um glücklich zu sein. In keinem anderen Falle verrät der Eros so deutlich den Kern seines Wesens, die Absicht, aus mehreren eines zu machen, aber wenn er dies, wie es sprichwörtlich geworden ist, in der Verliebtheit zweier Menschen zueinander erreicht hat, will er darüber nicht hinausgehen.<br />
<br />
Wir können uns bisher sehr gut vorstellen, daß eine Kulturgemeinschaft aus solchen Doppelindividuen bestünde, die, in sich libidinös gesättigt, durch das Band der Arbeits- und Interessengemeinschaft miteinander verknüpft sind. In diesem Falle brauchte die Kultur der Sexualität keine Energie zu entziehen. Aber dieser wünschenswerte Zustand besteht nicht und hat niemals bestanden; die Wirklichkeit zeigt uns, daß die Kultur sich nicht mit den ihr bisher zugestandenen Bindungen begnügt, daß sie die Mitglieder der Gemeinschaft auch libidinös aneinander binden will, daß sie sich aller Mittel hiezu bedient, jeden Weg begünstigt, starke Identifizierungen unter ihnen herzustellen, im größten Ausmaße zielgehemmte Libido aufbietet, um die Gemeinschftsbande durch Freundschaftsbeziehungen zu kräftigen. Zur Erfüllung dieser Absichten wird die Einschränkung des Sexuallebens unvermeidlich. Uns fehlt aber die Einsicht in die Notwendigkeit, welche die Kultur auf diesen Weg drängt und ihre Gegnerschaft zur Sexualität begründet. Es muß sich um einen von uns noch nicht entdeckten störenden Faktor handeln.<br />
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Eine der sogenannten Idealforderungen der Kulturgesellschaft kann uns hier die Spur zeigen. Sie lautet: »Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst«; sie ist weltberühmt, gewiß älter als das Christentum, das sie als seinen stolzesten Anspruch vorweist, aber sicherlich nicht sehr alt; in historischen Zeiten war sie den Menschen noch fremd. Wir wollen uns naiv zu ihr einstellen, als hörten wir von ihr zum ersten Male. Dann können wir ein Gefühl von Überraschung und Befremden nicht unterdrücken. Warum sollen wir das? Was soll es uns helfen? Vor allem aber, wie bringen wir das zustande? Wie wird es uns möglich? Meine Liebe ist etwas mir Wertvolles, das ich nicht ohne Rechenschaft verwerfen darf. Sie legt mir Pflichten auf, die ich mit Opfern zu erfüllen bereit sein muß. Wenn ich einen anderen liebe, muß er es auf irgendeine Art verdienen. (Ich sehe von dem Nutzen, den er mir bringen kann, sowie von seiner möglichen Bedeutung als Sexualobjekt für mich ab; diese beiden Arten der Beziehung kommen für die Vorschrift der Nächstenliebe nicht in Betracht.) Er verdient es, wenn er mir in wichtigen Stücken so ähnlich ist, daß ich in ihm mich selbst lieben kann; er verdient es, wenn er so viel vollkommener ist als ich, daß ich mein Ideal von meiner eigenen Person in ihm lieben kann; ich muß ihn lieben, wenn er der Sohn meines Freundes ist, denn der Schmerz des Freundes, wenn ihm ein Leid zustößt, wäre auch mein Schmerz, ich müßte ihn teilen. Aber wenn er mir fremd ist und mich durch keinen eigenen Wert, keine bereits erworbene Bedeutung für mein Gefühlsleben anziehen kann, wird es mir schwer, ihn zu lieben. Ich tue sogar unrecht damit, denn meine Liebe wird von all den Meinen als Bevorzugung geschätzt; es ist ein Unrecht an ihnen, wenn ich den Fremden ihnen gleichstelle.<br />
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Wenn ich ihn aber lieben soll, mit jener Weltliebe, bloß weil er auch ein Wesen dieser Erde ist, wie das Insekt, der Regenwurm, die Ringelnatter, dann wird, fürchte ich, ein geringer Betrag Liebe auf ihn entfallen, unmöglich so viel, als ich nach dem Urteil der Vernunft berechtigt bin, für mich selbst zurückzubehalten. Wozu eine so feierlich auftretende Vorschrift, wenn ihre Erfüllung sich nicht als vernünftig empfehlen kann?<br />
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Wenn ich näher zusehe, finde ich noch mehr Schwierigkeiten. Dieser Fremde ist nicht nur im allgemeinen nicht liebenswert, ich muß ehrlich bekennen, er hat mehr Anspruch auf meine Feindseligkeit, sogar auf meinen Haß. Er scheint nicht die mindeste Liebe für mich zu haben, bezeigt mir nicht die geringste Rücksicht. Wenn es ihm einen Nutzen bringt, hat er kein Bedenken, mich zu schädigen, fragt sich dabei auch nicht, ob die Höhe seines Nutzens der Größe des Schadens, den er mir zufügt, entspricht. Ja, er braucht nicht einmal einen Nutzen davon zu haben; wenn er nur irgendeine Lust damit befriedigen kann, macht er sich nichts daraus, mich zu verspotten, zu beleidigen, zu verleumden, seine Macht an mir zu zeigen, und je sicherer er sich fühlt, je hilfloser ich bin, desto sicherer darf ich dies Benehmen gegen mich von ihm erwarten. Wenn er sich anders verhält, wenn er mir als Fremdem Rücksicht und Schonung erweist, bin ich ohnedies, ohne jene Vorschrift bereit, es ihm in ähnlicher Weise zu vergelten. Ja, wenn jenes großartige Gebot lauten würde: »Liebe deinen Nächsten, wie dein Nächster dich liebt«‚ dann würde ich nicht widersprechen. Es gibt ein zweites Gebot, das mir noch unfaßbarer scheint und ein noch heftigeres Sträuben in mir entfesselt. Es heißt: »Liebe deine Feinde.« Wenn ich’s recht überlege, habe ich unrecht, es als eine noch stärkere Zumutung abzuweisen. Es ist im Grunde dasselbe.<br />
<br />
Ich glaube nun von einer würdevollen Stimme die Mahnung zu hören: »Eben darum, weil der Nächste nicht liebenswert und eher dein Feind ist, sollst du ihn lieben wie dich selbst.« Ich verstehe dann, das ist ein ähnlicher Fall wie das <i>Credo quia absurdum</i>.<br />
<br />
Es ist nun sehr wahrscheinlich, daß der Nächste, wenn er aufgefordert wird, mich so zu lieben wie sich selbst, genauso antworten wird wie ich und mich mit den nämlichen Begründungen abweisen wird. Ich hoffe, nicht mit demselben objektiven Recht, aber dasselbe wird auch er meinen. Immerhin gibt es Unterschiede im Verhalten der Menschen, die die Ethik mit Hinwegsetzung über deren Bedingtheit als »gut« und »böse« klassifiziert. Solange diese unleugbaren Unterschiede nicht aufgehoben sind, bedeutet die Befolgung der hohen ethischen Forderungen eine Schädigung der Kulturabsichten, indem sie direkte Prämien für das Bösesein aufstellt. […]<br />
<br />
Das gern verleugnete Stück Wirklichkeit hinter alledem ist, daß der Mensch nicht ein sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern daß er zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen, ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. <i>Homo homini lupus</i>; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den Mut, diesen Satz zu bestreiten? Diese grausame Aggression wartet in der Regel eine Provokation ab oder stellt sich in den Dienst einer anderen Absicht, deren Ziel auch mit milderen Mitteln zu erreichen wäre. Unter ihr günstigen Umständen, wenn die seelischen Gegenkräfte, die sie sonst hemmen, weggefallen sind, äußert sie sich auch spontan, enthüllt den Menschen als wilde Bestie, der die Schonung der eigenen Art fremd ist. Wer die Greuel der Völkerwanderung, der Einbrüche der Hunnen, der sogenannten Mongolen unter Dschengis Khan und Timurlenk, der Eroberung Jerusalems durch die frommen Kreuzfahrer, ja selbst noch die Schrecken des letzten Weltkriegs in seine Erinnerung ruft, wird sich vor der Tatsächlichkeit dieser Auffassung demütig beugen müssen.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgHv5qtbgKhbTE8sCvTUKFmR4Dp9BGWmCn61xdXGPMbzRJmdPOPA1iJ-2rBlNL5knwva086ZykNdFQkytSMWtW3yHflR8BMA3QDmpCK4h8uuog3bCpgtRqtE7aQxzdNTcbBju_jLdINJpI/s1600/7.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="615" data-original-width="820" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgHv5qtbgKhbTE8sCvTUKFmR4Dp9BGWmCn61xdXGPMbzRJmdPOPA1iJ-2rBlNL5knwva086ZykNdFQkytSMWtW3yHflR8BMA3QDmpCK4h8uuog3bCpgtRqtE7aQxzdNTcbBju_jLdINJpI/s400/7.jpg" width="400" /></a></div>
Die Existenz dieser Aggressionsneigung, die wir bei uns selbst verspüren können, beim anderen mit Recht voraussetzen, ist das Moment, das unser Verhältnis zum Nächsten stört und die Kultur zu ihrem Aufwand [an Energie] nötigt. Infolge dieser primären Feindseligkeit der Menschen gegeneinander ist die Kulturgesellsdiaft beständig vom Zerfall bedroht. Das Interesse der Arbeitsgemeinschaft würde sie nicht zusammenhalten, triebhafte Leidenschaften sind stärker als vernünftige Interessen. Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben der Menschen Schranken zu setzen, ihre Äußerungen durch psychische Reaktionsbildungen niederzuhalten. Daher also das Aufgebot von Methoden, die die Menschen zu Identifizierungen und zielgehemmten Liebesbeziehungen antreiben sollen, daher die Einschränkung des Sexuallebens und daher auch das Idealgebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, das sich wirklich dadurch rechtfertigt, daß nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft. <br />
<br />
Durch alle ihre Mühen hat diese Kulturbestrebung bisher nicht sehr viel erreicht. Die gröbsten Ausschreitungen der brutalen Gewalt hofft sie zu verhüten, indem sie sich selbst das Recht beilegt, an den Verbrechern Gewalt zu üben, aber die vorsichtigeren und feineren Äußerungen der menschlichen Aggression vermag das Gesetz nicht zu erfassen. Jeder von uns kommt dahin, die Erwartungen, die er in der Jugend an seine Mitmenschen geknüpft, als Illusionen fallenzulassen, und kann erfahren, wie sehr ihm das Leben durch deren Übelwollen erschwert und schmerzhaft gemacht wird. Dabei wäre es ein Unrecht, der Kultur vorzuwerfen, daß sie Streit und Wettkampf aus den menschlichen Betätigungen ausschließen will. Diese sind sicherlich unentbehrlich, aber Gegnerschaft ist nicht notwendig Feindschaft, wird nur zum Anlaß für sie mißbraucht.<br />
<br />
Die Kommunisten glauben den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben. Der Mensch ist eindeutig gut, seinem Nächsten wohlgesinnt, aber die Einrichtung des privaten Eigentums hat seine Natur verdorben. Besitz an privaten Gütern gibt dem einen die Macht und damit die Versuchung, den Nächsten zu mißhandeln; der vom Besitz Ausgeschlossene muß sich in Feindseligkeit gegen den Unterdrücker auflehnen. Wenn man das Privateigentum aufhebt, alle Güter gemeinsam macht und alle Menschen an deren Genuß teilnehmen läßt, werden Übelwollen und Feindseligkeit unter den Menschen verschwinden. Da alle Bedürfnisse befriedigt sind, wird keiner Grund haben, in dem anderen seinen Feind zu sehen; der notwendigen Arbeit werden sich alle bereitwillig unterziehen. Ich habe nichts mit der wirtschaftlichen Kritik des kommunistischen Systems zu tun, ich kann nicht untersuchen, ob die Abschaffung des privaten Eigentums zweckdienlich und vorteilhaft ist.<br />
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Aber seine psychologische Voraussetzung vermag ich als haltlose Illusion zu erkennen. Mit der Aufhebung des Privateigentums entzieht man der menschlichen Aggressionslust eines ihrer Werkzeuge, gewiß ein starkes und gewiß nicht das stärkste. An den Unterschieden von Macht und Einfluß, welche die Aggression für ihre Absichten mißbraucht, daran hat man nichts geändert, auch an ihrem Wesen nicht. Sie ist nicht durch das Eigentum geschaffen worden, herrschte fast uneingeschränkt in Urzeiten, als das Eigentum noch sehr armselig war, zeigt sich bereits in der Kinderstube, kaum daß das Eigentum seine anale Urform aufgegeben hat, bildet den Bodensatz aller zärtlichen und Liebesbeziehungen unter den Menschen, vielleicht mit alleiniger Ausnahme der einer Mutter zu ihrem männlichen Kind. Räumt man das persönliche Anrecht auf dingliche Güter weg, so bleibt noch das Vorrecht aus sexuellen Beziehungen, das die Quelle der stärksten Mißgunst und der heftigsten Feindseligkeit unter den sonst gleichgestellten Menschen werden muß. Hebt man auch dieses auf durch die völlige Befreiung des Sexuallebens, beseitigt also die Familie, die Keimzelle der Kultur, so läßt sich zwar nicht vorhersehen, welche neuen Wege die Kulturentwicklung einschlagen kann, aber eines darf man erwarten, daß der unzerstörbare Zug der menschlichen Natur ihr auch dorthin folgen wird.<br />
<br />
Es wird den Menschen offenbar nicht leicht, auf die Befriedigung dieser ihrer Aggressionsneigung zu verzichten; sie fühlen sich nicht wohl dabei. Der Vorteil eines kleineren Kulturkreises, daß er dem Trieb einen Ausweg an der Befeindung der Außenstehenden gestattet, ist nicht geringzuschätzen. Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrigbleiben. Ich habe mich einmal mit dem Phänomen beschäftigt, daß gerade benachbarte und einander auch sonst nahestehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten, so Spanier und Portugiesen, Nord- und Süddeutsche, Engländer und Schotten usw. Ich gab ihm den Namen »Narzißmus der kleinen Differenzen«, der nicht viel zur Erklärung beiträgt. Man erkennt nun darin eine bequeme und relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung, durch die den Mitgliedern der Gemeinschaft das Zusammenhalten erleichtert wird. <br />
<br />
Das überallhin versprengte Volk der Juden hat sich in dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die Kulturen seiner Wirtsvölker erworben; leider haben alle Judengemetzel des Mittelalters nicht ausgereicht, dieses Zeitalter friedlicher und sicherer für seine christlichen Genossen zu gestalten. Nachdem der Apostel Paulus die allgemeine Menschenliebe zum Fundament seiner christlichen Gemeinde gemacht hatte, war die äußerste Intoleranz des Christentums gegen die draußen Verbliebenen eine unvermeidliche Folge geworden; den Römern, die ihr staatliches Gemeinwesen nicht auf die Liebe begründet hatten, war religiöse Unduldsamkeit fremd gewesen, obwohl die Religion bei ihnen Sache des Staates und der Staat von Religion durchtränkt war. Es war auch kein unverständlicher Zufall, daß der Traum einer germanischen Weltherrschaft zu seiner Ergänzung den Antisemitismus aufrief, und man erkennt es als begreiflich, daß der Versuch, eine neue kommunistische Kultur in Rußland aufzurichten, in der Verfolgung der Bourgeois seine psychologische Unterstützung findet. Man fragt sich nur besorgt, was die Sowjets anfangen werden, nachdem sie ihre Bourgeois ausgerottet haben.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjsFm92OBcwT94wuxhHz99hBGELMGU8wmT2yTaCkjlHODjdE274Azxaer2MKTo2MwI2NrkXeIzLpAj6f-74PjDVBa6j_AUy00TbAenKca255P-IwAAAf-WDwoLnosTtEsccwRswsHo9GWA/s1600/9.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="615" data-original-width="820" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjsFm92OBcwT94wuxhHz99hBGELMGU8wmT2yTaCkjlHODjdE274Azxaer2MKTo2MwI2NrkXeIzLpAj6f-74PjDVBa6j_AUy00TbAenKca255P-IwAAAf-WDwoLnosTtEsccwRswsHo9GWA/s400/9.jpg" width="400" /></a></div>
Wenn die Kultur nicht allein der Sexualität, sondern auch der Aggressionsneigung des Menschen so große Opfer auferlegt, so verstehen wir es besser, daß es dem Menschen schwer wird, sich in ihr beglückt zu finden. Der Urmensch hatte es in der Tat darin besser, da er keine Triebeinschränkungen kannte. Zum Ausgleich war seine Sicherheit, solches Glück lange zu genießen, eine sehr geringe. Der Kulturmensch hat für ein Stück Glücksmöglichkeit ein Stück Sicherheit eingetauscht. Wir wollen aber nicht vergessen, daß in der Urfamilie nur das Oberhaupt sich solcher Triebfreiheit erfreute; die anderen lebten in sklavischer Unterdrückung. Der Gegensatz zwischen einer die Vorteile der Kultur genießenden Minderheit und einer dieser Vorteile beraubten Mehrzahl war also in jener Urzeit der Kultur aufs Äußerste getrieben. Über den heute lebenden Primitiven haben wir durch sorgfältigere Erkundung erfahren, daß sein Triebleben keineswegs ob seiner Freiheit beneidet werden darf; es unterliegt Einschränkungen von anderer Art, aber vielleicht von größerer Strenge als das des modernen Kulturmenschen.<br />
<br />
Wenn wir gegen unseren jetzigen Kulturzustand mit Recht einwenden, wie unzureichend er unsere Forderungen an eine beglückende Lebensordnung erfüllt, wieviel Leid er gewähren läßt, das wahrscheinlich zu vermeiden wäre, wenn wir mit schonungsloser Kritik die Wurzeln seiner Unvollkommenheit aufzudecken streben, üben wir gewiß unser gutes Recht und zeigen uns nicht als Kulturfeinde. Wir dürfen erwarten, allmählich solche Abänderungen unserer Kultur durchzusetzen, die unsere Bedürfnisse besser befriedigen und jener Kritik entgehen. Aber vielleicht machen wir uns auch mit der Idee vertraut, daß es Schwierigkeiten gibt, die dem Wesen der Kultur anhaften und die keinem Reformversuch weichen werden. <br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. In: Sigmund Freud: Studienausgabe. Band IX. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 2000, ISBN 3 596 50360 4. Zitiert wurden die Seiten 229 bis 244 in Auszügen.</i></span><br />
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<i>Die Bilder vom <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Mondfinsternis_vom_27._Juli_2018" target="_blank">Blutmond im Juli 2018 </a>wurden aufgenommen von Christopher Blau mit einer Lumix G-81 und einem Panasonic Objektiv 100-400 mm und <a href="https://matrix169.wordpress.com/news-und-vermischtes/photos-2018/" target="_blank">veröffentlicht in seinem Blog "Matrix in Blau".</a></i><br />
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<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 17 MB </b><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-79811255456081277462020-01-27T11:17:00.003+01:002020-01-27T11:17:40.216+01:00Conlon Nancarrow (1912-1997): Orchester, Kammer- und Klaviermusik<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj93PXqZZVnv8-QWGewpB0Wrjv1IzDt8FtVs1ToVQvLPJZ7uudLt2xTpo-hSKaZwWbyFZndbBDhN-ZwJZzDTRmJdOiKF7xRB-26-AWYQnN0HrVElNF0HF6uAQY12f7ob8jgoE6Uj7UCHvE/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1414" data-original-width="1462" height="309" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj93PXqZZVnv8-QWGewpB0Wrjv1IzDt8FtVs1ToVQvLPJZ7uudLt2xTpo-hSKaZwWbyFZndbBDhN-ZwJZzDTRmJdOiKF7xRB-26-AWYQnN0HrVElNF0HF6uAQY12f7ob8jgoE6Uj7UCHvE/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Die Vereinigten Staaten haben zahlreiche Komponisten von besonderer Originalität hervorgebracht, die anfangs als Sonderlinge abgelehnt wurden. Zu den bekanntesten unter ihnen gehören Charles Ives, Henry Cowell, John Cage and Lou Harrison. Viele Jahre lang gingen auch Gerüchte über einen anderen Komponisten um: Conlon Nancarrow. Es hieß von ihm, dass er, der zurückgezogen in Mexiko lebte, mit die explosivste Musik des Jahrhunderts komponiere.<br />
<br />
1913 in Texarkana/Arkansas geboren, besuchte Nancarrow von 1929 bis 1932 das Cincinnati Conservatory und arbeitete privat bei drei führenden Meistern der amerikanischen neuen Musik: Nicolas Slonimsky, Walter Piston und Roger Sessions. Die Kontrapunkt-Studien bei Sessions betrachtete er als seinen einzigen wirklichen Kompositionsunterricht. Nach Abschluss der Studien schloss er sich 1937 den Internationalen Brigaden in Spanien an, um gegen General Franco zu kämpfen. 1939 kehne er in die Vereinigten Staaten zurück und ließ sich in New York nieder. Er musste allerdings feststellen, dass er wegen seiner früheren Sympathien für den Kommunismus von der amerikanischen Regierung als <i>Persona non grata</i> angesehen wurde. Als sein Antrag auf einen neuen Pass abgelehnt wurde, ging er 1940 nach Mexiko und wurde schließlich mexikanischer Staatsbürger.<br />
<br />
Nancarrows früheste reife Werke — wunderbare, energiegeladene Musik — sind von seinen beiden Vorlieben inspiriert: Bach und Jazz. Trotz seiner Erfahrungen als Jazztrompeter begann er früh einer Vision zu folgen, in der praktische Erwägungen zweitrangig waren. So sind zum Beispiel die wiederholten Noten im Klavierpart der wilden. neobarocken <i>Toccata für Violine und Klavier</i> von 1935 im gewünschten Tempo unspielbar. Nancarrow verwirklichte seine Vorstellung Jahre später dergestalt, dass er eine Player—Piano-Version für den Klavierpart schuf, die in dieser Aufnahme verwendet wird.<br />
<br />
<i>Prelude und Blues</i>, ein anderes Frühwerk von 1935, fusioniert Bachschen Kontrapunkt mit Jazz und Blues. Der Blues durchdringt die langsamen Sätze in Nancarrows gesamtem Werk — allerdings niemals in konventioneller Weise. Tonkluster, unerwartete Akzentsetzungen und Asymmetrien sind bezeichnend für seine schillernde Fantsie. Obgleich <i>Prelude und Blues</i> für Solopiano geschrieben sind, haben die Energiegeladenheit und die komplizierte Struktur des Preludes die Aufführung durch ein Klavierduo als effektiver erwiesen. Das gilt gleichermaßen für die <i>Sonatina</i> von 1941, mit welcher der 29-jahrige eine erstaunliche kompositorische Meisterschaft erreichte. Als Nachfolgerin der lebhaften Sonaten des 18. Jahrhunderts verbindet sie den Geist des Jazz mit der europäischen Tradition. Yvar Mikhashoff, der in Abstimmung mit dem Komponisten einige Transkriptionen von dessen Musik vornahm, erarbeitete eine vierhändige Version der Sonatina. Wegen ihrer kontrapunktischen „Hexerei“ und Wildheit sind die Musiker dafür sehr dankbar.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgEm4W0CsPrQswNfhq3nBSdtJO7i_QqY6qcVjaodaH0jQFF8bzb2GaOpto0i7nwI5O-SVxQfkrtZdKFTJ5OMhKYYrQRzG_MrK5pvh_hS6asEl8jkThCA60zHZQAySFJzKta0gHOHp-J2SM/s1600/Mexico.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1068" data-original-width="1600" height="266" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgEm4W0CsPrQswNfhq3nBSdtJO7i_QqY6qcVjaodaH0jQFF8bzb2GaOpto0i7nwI5O-SVxQfkrtZdKFTJ5OMhKYYrQRzG_MrK5pvh_hS6asEl8jkThCA60zHZQAySFJzKta0gHOHp-J2SM/s400/Mexico.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Nancarrow mit zwei Player-Pianos und einem "percussion orchestra",<br />
Mexico City, 1955</td></tr>
</tbody></table>
Weitere Werke der frühen 1940er Jahre - 1991 auf dieser Continuum-CD für die Musical Heritage Society veröffentlicht — sind ein <i>Triosatz</i> für Klarinette, Fagott und Klavier (1942), <i>Piece for Small Orchestra</i> (1943), ein größeres Werk in populärem Idiom, und das <i>Streichquartett</i> von 1945. Nach Fertigstellung dieser CD traten zwei weitere Satze des <i>Trios</i> zutage, die sehr frühe <i>Sarabande und Scherzo</i>, <i>Three Studies</i> für Klavier und ein <i>Septett</i>. Das frühe <i>Streichquartett</i>, Nancarrows letztes Konzertwerk für fast vier Jahrzehnte, weist bereits in die Richtung, die er bald einschlagen sollte und in der aufeinander gefügte rhythmische Schichten an Bedeutung gewannen.<br />
<br />
In den Vereinigten Staaten frustrierte Nancarrow die mangelnde Bereitschaft der Musiker, sich den Anforderungen seiner Werke zu stellen. ln Mexiko City, wo noch weniger Musiker gewillt waren, sich komplexer neuer Musik zuzuwenden, war die Situation schlimmer. Nachdem sich Nancarrow erfolglos um die Einrichtung eines mechanischen Schlagwerks zur Erforschung seiner rhythmischen Ideen bemüht hatte, fand er die Lösung für sein Problem: das Player-Piano, ein mechanisches, durch Lochkarten angetriebenes Klavier. Obwohl von seinen desillusionierenden Erfahrungen mit zeitgenössischen Musikern erzwungen, war sein Interesse am Player-Piano doch positiv begründet. Dessen einzigartiger Klang und die mit ihm verbundenen Möglichkeiten, die Komponisten wie Hindemith und Cowell beeindruckt hatten, eröffneten die Chance einer neuen Art von Musik. Als er die technischen Voraussetzungen geschaffen hatte, eigene Rollen zu lochen, konnte Nancarrow seinen kontrapunktischen und rhythmischen Interessen in idealer Weise nachgehen.<br />
<br />
Von den späten 1940er Jahren bis zu seinem Tod gab Nancarrow dem Klavier durch seine kompositorische Virtuosität ein neues Leben, von dem dessen Erfinder nicht zu träumen gewagt hätten. Dadurch, dass ausführende Musiker nun nicht mehr nötig waren, entzog er seinen Namen allerdings dem Konzertsaal, begrenzte die Möglichkeiten, Anerkennung zu finden, und verdeckte gleichsam die Existenz seiner früheren Werke. Aufnahmen und die Veröffentlichung von Teilen der Musik für Player-Piano sowie ein MacArthur Foundation-Stipendium im Jahr 1982 erweckten schließlich doch noch die Aufmerksamkeit des Publikums. Nun ermutigten ihn Musiker, wieder Konzertwerke zu schreiben. Auf bedeutende europäische Festivals eingeladen, gewann er eine internationale Anhängerschaft.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgu05mjHD8hWhJwPbpOShfiL__scVor7dfafzI2atsdDOofVPzZ6RflyVZz0oFtX1d419Db195a_MUDZJTvnc6olxukeHunKcPdKe38_fw8DNs1ycqzI7d-LBy3BcOUOCeOvsl15czgvRQ/s1600/Nancarrow-Player-Piano.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="600" data-original-width="891" height="268" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgu05mjHD8hWhJwPbpOShfiL__scVor7dfafzI2atsdDOofVPzZ6RflyVZz0oFtX1d419Db195a_MUDZJTvnc6olxukeHunKcPdKe38_fw8DNs1ycqzI7d-LBy3BcOUOCeOvsl15czgvRQ/s400/Nancarrow-Player-Piano.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Conlon Nancarrow (1912-1997)</td></tr>
</tbody></table>
Die Kompositionen für Player-Piano — alles in allem gut fünfzig — sind rhythmische Studien. Wie Etüden des l9. Jahrhunderts ist jede von ihnen einem bestimmten kompositorischen Problem gewidmet. Die faszinierenden Strukturen der Studien sind aber vor allem ein Mittel für Nancarrows außergewöhnliche Vitalität. Während Kaskaden von Tönen mit einer Geschwindigkeit um das spielerlose Tasteninstrument wirbeln, die unsere Ohren außerordentlich fordert, um wahrzunehmen, was geschieht, eignet diesen Stücken doch ein guter, humaner Geist. Die meisten Studien sind für konzertierende Musiker unspielbar; eine Ausnahme bildet <i>Studie Nr. 15</i>, von der es eine vierhändige Transkription von Yvar Mikhashoff gibt. Es handelt sich um einen Kanon, in dem die beiden Parts das gleiche Material in unterschiedlichem Tempo spielen, und zwar im Verhältnis 4:3. Der schnellere, höhere Part übernimmt allmählich die Führung; nachdem er die Melodie zuende gespielt hat, beginnt sie erneut, nun in langsamerem Tempo. Der zunächst langsamere, tiefere Part beginnt nach seiner gemächlichen Ausführung der Melodie schließlich in schnellerem Tempo von vorn und holt allmählich auf. Beide erreichen die Ziellinie gleichzeitig.<br />
<br />
In den frühen l980er Jahren ließ sich Nancarrow dazu überreden. den stilisierten Tanz mit Variationen <i>Tango?</i> (1983) für Mikhashoffs International Tango Collection zu schreiben. Sodann willigte er ein, für Continuums Nancarrow-Retrospektive l986 im Lincoln Center ein Stück zu schreiben — ein Kompositionsauftrag der Mäzenin Betty Freeman in Los Angeles. Bescheiden schränkte er ein, dass es ein kleines Stück werden könnte, doch was herauskam, war die erste groß angelegte Komposition seit den Studien für Player-Piano: <i>Piece No. 2 for Small Orchestra</i> (1986). Obgleich kompakt, ist es doch ein Hauptwerk, indem es die Essenz der Studies aufgreift und die Tür aufstößt zu neuen Möglichkeiten der Aufführung von Musik. Nancarrow vereint hier im Rahmen tempobestimmter Kanons eine unglaubliche Fülle an Stimmungen und Gesten und führt damit Techniken weiter, die er in seinen Studien entwickelt hatte. Das musikalische Geschehen fesselt das Ohr des Hörers augenblicklich: die komplexen Strukturen sind lediglich Mittel zum Zweck — ein Werk, dessen Teile allmählich zu einem großen und farbigen Ganzen zusammenfinden. Das Stück hat zwei miteinander verbundene Sätze; der zweite beginnt mit dem Oboensolo, das auf den Höhepunkt des Duos von Klavier und Kontrabass folgt.<br />
<br />
Der Kompositionsauftrag und die Premiere des <i>Piece No. 2</i> veranlassten Nancarrow, die Verbindung zu Konzertmusikern wieder aufzunehmen. Er schrieb in der Folge ein weiteres Streichquartett, ein Trio, kanonische Klavierstücke und ein Orchesterwerk mit Player-Piano. Dann setzte schwere Krankheit seiner Kreativität ein Ende. Conlon Nancarrow starb 1997 in Mexiko.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Continuum, im Booklet. [Deutsche Fassung: Thomas Theise]</i></span><br />
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<br />
<pre>TRACKLIST
Conlon Nancarrow (1912-1997):
A Continuum Portrait
(01) Piece No. 1 for Small Orchestra (1943) 7:01
Joel Sachs, conductor
(02) Toccata for Violin and Player Piano (1935) 1:38
Mia Wu, violin
(03) Prelude and Blues (1935) 3:22
Prelude - arranged and performed for piano four-hands
by Cheryl Seltzer and Joel Sachs
Blues - Cheryl Seltzer, piano
(04) Study No. 15 (l950s) 1:13
Transcribed for piano four-hands by Yvar Mikhashoff
Cheryl Seltzer, Joel Sachs. piano four-hands
(05) ?Tango? (1984) 2:49
Cheryl Seltzer, piano
Sonatina for Piano (1941) 4:49
Transcribed for piano four-hands by Yvar Mikhashoff
(06) Presto 1:29
(07) Moderato 1:47
(08) Allegro molto 1:33
Cheryl Seltzer, Joel Sachs, piano four-hands
(09) Trio Movement (1942) 2:4l
David Krakauer. clarinet
Celeste Marie Roy, bassoon
Joel Sachs, piano
String Quartet No. 1 (1945) 10:38
(10) Allegro molto 2:40
(11) Andante moderato 3:15
(12) Prestissimo 4:43
Mia Wu, Mark Steinberg. violins
Rachel Evans. viola
Maria Kitsopoulos, cello
(13) Piece No. 2 for Small Orchestra (1986) 10:31
Commissioned for Continuum by Betty Freeman
Joel Sachs, conductor
Total Time: 44:40
Continuum
Cheryl Seltzer and Joel Sachs, Directors
Chamber Orchestra:
Claudia Coonce, Oboe
David Krakauer, Clarinet
Celeste Marie Roy, Bassoon
Richard Kelley, Trumpet
Kaitilin Mahony, Alexandra Cook. French Horns
Benjamin Herrington, Trombone
Cheryl Seltzer, Marian Lee, Piano
Mia Wu, Mark Steinberg, Violins
Rachel Evans, Viola
Maria Kitsopoulos, Anna Cholakian. Cellos
Nico Abondolo. Double bass
Recorded in June 1989 at Merkin Concert Hall and in
October 1989 at the American Academy and Institute of Arts
and Letters, New York City
Produced by Cheryl Seltzer and Joel Sachs
Engineer and editor: Frederick J. Bashour
Second engineer: Jodi L. Johnson
(P) 1991 (C) 2005
</pre>
<br />
<br />
<br />
<span style="font-size: large;"><b><span style="color: red;">Baltasar Gracián</span></b></span><br />
<b><span style="color: red;"><br /></span></b>
<span style="font-size: x-large;"><b><span style="color: red;">Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit</span></b></span><br />
<b><span style="color: red;"><br /></span></b>
<b><span style="color: red;">Deutsch von Arthur Schopenhauer</span></b><br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhpJV1QVuNIs-GwzwZ69yGxiViKgBBNEKQybMNgwbULCi3-AkLt-KDyzATVahxgBY6tZf6c90898GzqoWxwiPhiI-QM3fq0fimInGcyBdy_TesYqj06HRTPJwrqbggSZEzhtlYJe45A3C0/s1600/1Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1029" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhpJV1QVuNIs-GwzwZ69yGxiViKgBBNEKQybMNgwbULCi3-AkLt-KDyzATVahxgBY6tZf6c90898GzqoWxwiPhiI-QM3fq0fimInGcyBdy_TesYqj06HRTPJwrqbggSZEzhtlYJe45A3C0/s640/1Cover.jpg" width="411" /></a></div>
29<br />
<br />
<b>Ein rechtschaffner Mann seyn:</b> stets steht dieser auf der Seite der Wahrheit, mit solcher Festigkeit des Vorsatzes, daß weder die Leidenschaft des großen Haufens, noch die Gewalt des Despoten ihn jemals dahin bringen, die Gränze des Rechts zu übertreten. Allein wer ist dieser Phönix der Gerechtigkeit? Wohl wenige ächte Anhänger hat die Rechtschaffenheit. Zwar rühmen sie Viele, jedoch nicht für ihr Haus. Andre folgen ihr bis zum Punkt der Gefahr: dann aber verleugnen sie die Falschen, verhehlen sie die Politischen. Denn sie kennt keine Rücksicht, sei es daß sie mit der Freundschaft, mit der Macht, oder sogar mit dem eigenen Interesse sich feindlich begegnete: hier nun liegt die Gefahr abtrünnig zu werden. Jetzt abstrahiren, mit scheinbarer Metaphysik, die Schlauen von ihr, um nicht der Absicht der Höheren, oder der Staatsräson in den Weg zu treten. Jedoch der beharrliche Mann hält jede Verstellung für eine Art Verrath: er setzt seinen Werth mehr in seine unerschütterliche Festigkeit, als in seine Klugheit. Stets ist er zu finden, wo die Wahrheit zu finden ist: und fällt er von einer Partei ab; so ist es nicht aus Wankelmuth von seiner, sondern von ihrer Seite, indem sie zuvor von der Sache der Wahrheit abgefallen war.<br />
<br />
30<br />
<br />
<b>Sich nicht zu Beschäftigungen bekennen, die in schlechtem Ansehn stehn,</b> noch weniger zu Schimären, wodurch man sich eher in Verachtung, als in Ansehn bringt. Es giebt mancherlei grillenhafte Sekten, von welchen allen der kluge Mann sich fern hält. Aber es giebt Leute von wunderlichem Geschmack, welche immer nach dem greifen, was die Weisen verworfen haben, und dann in diesen Seltsamkeiten sich gar sehr gefallen. Dadurch werden sie zwar allgemein bekannt, doch mehr als Gegenstand des Lachens, als des Ruhms. Sogar zur Weisheit wird der umsichtige Mann sich nicht auf eine hervorstechende Weise bekennen, viel weniger zu Dingen, welche ihre Anhänger lächerlich machen. Sie werden hier nicht aufgezählt, weil die allgemeine Verachtung sie genugsam bezeichnet hat.<br />
<br />
31<br />
<br />
<b>Die Glücklichen und Unglücklichen kennen,</b> um sich zu jenen zu halten, und diese zu fliehen. Das Unglück ist meistentheils Strafe der Thorheit, und für die Theilnehmer ist keine Krankheit ansteckender. Man darf nie dem kleinem Uebel die Thüre öffnen: denn hinter ihm werden sich stets viele andre und größere einschleichen. Die feinste Kunst beim Spiel besteht im richtigen Ekartiren: und die kleinste Karte der Farbe die jetzt Trumpf ist, ist wichtiger, als die größte derjenigen, die es vorher war. Ist man zweifelhaft; so ist das Gescheuteste, sich zu den Klugen und Vorsichtigen zu halten, da diese früh oder spät das Glück einholen.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgqwAXmPpp6jrRr5v4z5HfPEga0ussMsyzWh8Lyb3ahTEwR95v7le13CIa1ZZ9VlKYgB4C82bKaQP_NasITrQL-MPFi4WHRIKkuuGVd9a9CZMs8SNWtvS4Hk3WtWsz6cVVpjCq_c2OLuzg/s1600/2Oraculo+Manual.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="934" data-original-width="540" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgqwAXmPpp6jrRr5v4z5HfPEga0ussMsyzWh8Lyb3ahTEwR95v7le13CIa1ZZ9VlKYgB4C82bKaQP_NasITrQL-MPFi4WHRIKkuuGVd9a9CZMs8SNWtvS4Hk3WtWsz6cVVpjCq_c2OLuzg/s400/2Oraculo+Manual.jpg" width="231" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Baltasar Gracián: Oráculo manual y arte <br />
de prudencia..., Huesca, Juan Nogués, 1647.</td></tr>
</tbody></table>
32<br />
<br />
<b>Im Rufe der Gefälligkeit stehn.</b> Das Ansehn derer, die am Staatsruder stehn, gewinnt sehr dadurch, daß sie willfährig sind, und die Huld ist eine Eigenschaft der Herrscher, durch welche sie die allgemeine Gunst erlangen. Dies ist ja eben der einzige Vorzug, den die höchste Macht giebt, daß man mehr Gutes thun kann, als alle Andern. Freunde sind die, welche Freundschaft erweisen. Dagegen giebt es Andre, welche sich darauf legen, ungefällig zu seyn‚ nicht so sehr wegen des Beschwerlichen, als aus Tücke: sie sind ganz und gar das Gegentheil der göttlichen Milde.<br />
<br />
33<br />
<br />
<b>Sich zu entziehn wissen.</b> Wenn eine große Lebensregel die ist, daß man zu verweigern verstehe; so folgt, daß es eine noch wichtigere ist, daß man sich selbst, sowohl den Geschäften als den Personen, zu verweigern wisse. Es giebt fremdartige Beschäftigungen, welche die Motten der kostbaren Zeit sind. Sich mit etwas Ungehörigem beschäftigen, ist schlimmer als Nichtsthun. Für den Umsichtigen ist es nicht hinreichend, daß er nicht zudringlich sei, sondern er muß auch dafür sorgen, daß Andre sich ihm nicht aufdringen. So sehr darf man nicht Allen angehören, daß man nicht mehr sich selber angehörte. Eben so darf man auch seinerseits nicht seine Freunde mißbrauchen, und nicht mehr von ihnen verlangen, als sie eingeräumt haben. Jedes Uebermaaß ist fehlerhaft, aber am meisten im Umgang. Mit dieser klugen Mäßigung wird man sich am besten die Gunst und Werthschätzung Aller erhalten, weil alsdann der so kostbare Anstand nicht allmälig bei Seite gesetzt wird. Man erhalte sich also die Freiheit seiner Sinnesart, liebe innig das Auserlesene jeder Gattung, und thue nie der Aufrichtigkeit seines guten Geschmackes Gewalt an.<br />
<br />
34<br />
<br />
<b>Seine vorherrschende Fähigkeit kennen,</b> sein hervorstechendes Talent; sodann dieses ausbilden und den übrigen nachhelfen. Jeder wäre in irgend etwas ausgezeichnet geworden, hätte er seinen Vorzug gekannt. Man beobachte also seine überwiegende Eigenschaft und verwende auf diese allen Fleiß. Bei Einigen ist der Verstand, bei Andern die Tapferkeit vorherrschend. Die Meisten thun aber ihren Naturgaben Gewalt an, und bringen es deshalb in nichts zur Ueberlegenheit. Das, was Anfangs der Leidenschaft schmeichelte, wird von der Zeit zu spät als Irrthum aufgedeckt.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgSorPBvgjMfHMIfzq8N-jA5UTYpPGwElFyQmxCQEbH2y-XbMw9_RRhtDsYErOOqIx-SiYMmTesHq2ZFP1vkaphDnc_ZJlM2CBCuoBYOTcniaGMBd9XGZ3VgIW8kUX6N6dD6V06SVn5w8s/s1600/3gracian.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="565" data-original-width="400" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgSorPBvgjMfHMIfzq8N-jA5UTYpPGwElFyQmxCQEbH2y-XbMw9_RRhtDsYErOOqIx-SiYMmTesHq2ZFP1vkaphDnc_ZJlM2CBCuoBYOTcniaGMBd9XGZ3VgIW8kUX6N6dD6V06SVn5w8s/s400/3gracian.jpg" width="282" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Baltasar Gracián y Morales S.J. (1601-1658).<br />
Porträt-Variante 1:<br />
Zeichnung von Vicente Carderera (1796-1880) </td></tr>
</tbody></table>
35<br />
<br />
<b>Nachdenken, und am meisten über das, woran am meisten gelegen.</b> Weil sie nicht denken, gehn alle Dummköpfe zu Grunde: sie sehn in den Dingen nie auch nur die Hälfte von dem, was da ist; und da sie sich so wenig anstrengen, daß sie nicht einmal ihren eigenen Schaden oder Vortheil begreifen, legen sie großen Werth auf das, woran wenig, und geringen auf das, woran viel gelegen, stets verkehrt abwägend. Viele verlieren den Verstand deshalb nicht, weil sie keinen haben. Es giebt Sachen, die man mit der ganzen Anstrengung seines Geistes untersuchen und nachher in der Tiefe desselben aufbewahren soll. Der Kluge denkt über Alles nach, wiewohl mit Unterschied: er vertieft sich da, wo er Grund und Widerstand findet, und denkt bisweilen, daß er noch mehr da ist, als er denkt: dergestalt reicht sein Nachdenken eben so weit als seine Besorgniß.<br />
<br />
36<br />
<br />
<b>Sein Glück erwogen haben;</b> um zu handeln, um sich einzulassen. Daran ist mehr gelegen, als an der Beobachtung seines Temperaments. Ist aber der ein Thor, welcher im vierzigsten Jahre sich an den Hippokrates, seiner Gesundheit halber, wendet, so ist es der noch mehr, welcher dann erst an den Seneka, der Weisheit wegen. Es ist eine große Kunst, sein Glück zu leiten zu wissen, indem man bald es abwartet, denn auch mit Warten ist bei ihm etwas auszurichten, bald es zur rechten Zeit benutzt, da es Perioden hält und Gelegenheiten darbietet; obwohl man ihm seinen Gang nicht ablernen kann, so regellos sind seine Schritte. Wer es günstig befunden hat, schreite keck vorwärts; denn es liebt die Kühnen leidenschaftlich, und, als schönes Weib, auch die Jünglinge. Wer aber Unglück hat, thue nichts mehr; sondern ziehe sich zurück, damit er nicht zu dem Unstern, der schon über ihm steht, einen zweiten heranrufe.<br />
<br />
37<br />
<br />
<b>Stichelreden kennen und anzuwenden verstehn.</b> Dies ist der Punkt der größten Feinheit im menschlichen Umgang. Solche Stichelreden werden oft hingeworfen, um die Gemüther zu prüfen, und mittelst ihrer stellt man die versteckteste und zugleich eindringlichste Untersuchung des Herzens an. Eine andre Art derselben sind die boshaften, verwegenen, vom Gift des Neides angesteckten‚ oder mit dem Geifer der Leidenschaft getränkten: diese sind oft unvorhergesehene Blitze, durch welche man aus aller Gunst und Hochachtung mit Einem Male herabgeschleudert wird: von einem leichten Wörtchen dieser Art getroffen, sind manche aus dem engsten Vertrauen der höchsten oder geringerer Personen herabgestürzt, denen doch auch nur den mindesten Schreck zu erregen, eine vollständige Verschwörung zwischen der Unzufriedenheit der Menge und der Bosheit der Einzelnen, unvermögend gewesen war. Wieder einer andre Art von Stichelreden wirkt im entgegengesetzten Sinne, indem sie unser Ansehn stützt und befestigt. Allein mit derselben Geschicklichkeit, mit welcher die Absichtlichkeit sie schleudert, muß die Vorkehr sie empfangen, ja die Umsicht sie schon zum voraus erwarten. Denn hier beruht die Abwehr auf der Kenntniß des Uebels, und der vorhergesehene Schuß verfehlt jedesmal sein Ziel.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiWBHr6AYXF-29TULcraUja90vzWGPUitLjsVWEeoyKgSgAuNT51mWkdhaaXglTAuJKIUUgHuiVkN1DWIniSfLYjfLLz5yP4KifhHwhYaIZiwsfa4TZMGbqrtVtopr09PmP341Ds3YxDkE/s1600/4gracian.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="640" data-original-width="510" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiWBHr6AYXF-29TULcraUja90vzWGPUitLjsVWEeoyKgSgAuNT51mWkdhaaXglTAuJKIUUgHuiVkN1DWIniSfLYjfLLz5yP4KifhHwhYaIZiwsfa4TZMGbqrtVtopr09PmP341Ds3YxDkE/s400/4gracian.jpg" width="318" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Baltasar Gracián y Morales S.J. (1601-1658). Porträt-Variante 2.</td></tr>
</tbody></table>
38<br />
<br />
<b>Vom Glücke beim Gewinnen scheiden:</b> so machen es alle Spieler von Ruf. Ein schöner Rückzug ist eben so viel Werth, als ein kühner Angriff. Man bringe seine Thaten, wann ihrer genug, wann ihrer viele sind, in Sicherheit. Ein lange anhaltendes Glück ist allemal verdächtig: das unterbrochene ist sicherer und das Süßsaure desselben sogar dem Geschmack angenehmer. Je mehr sich Glück auf Glück häuft, desto mehr Gefahr laufen sie auszugleiten und alle miteinander niederzustürzen. Die Höhe der Gunst des Glücks wird oft durch die Kürze ihrer Dauer aufgewogen: denn das Glück wird es müde, Einen so lange auf den Schultern zu tragen.<br />
<br />
39<br />
<br />
<b>Den Punkt der Reife an den Dingen kennen,</b> um sie dann zu genießen. Die Werke der Natur gelangen alle zu einem Gipfel ihrer Vollkommenheit: bis dahin nahmen sie zu, von dem an ab: unter denen der Kunst hingegen sind nur wenige, die dahin gebracht wären, daß sie keiner Verbesserung mehr fähig sind. Es ist ein Vorzug des guten Geschmacks, daß er jede Sache auf dem Punkte ihrer Vollendung genießt: Alle können dies nicht, und die es könnten, verstehn es nicht. Sogar für die Früchte des Geistes giebt es einen solchen Punkt der Reife: es ist wichtig ihn zu kennen, hinsichtlich der Schätzung sowohl als der Ausübung.<br />
<br />
40<br />
<br />
<b>Gunst bei den Leuten.</b> Die allgemeine Bewundrung zu erlangen ist viel; mehr jedoch, die allgemeine Liebe. In etwas hängt es von der Gunst der Natur, aber mehr von der Bemühung ab: jene legt den, Grund; diese führt es aus. Ausgezeichnete Fähigkeiten reichen nicht hin, obwohl sie vorausgesetzt werden: denn hat man einmal die Meinung gewonnen, so ist es leicht auch die Zuneigung zu gewinnen. Sodann erwirbt man Wohlwollen nicht ohne Wohlthun: Gutes gethan‚ mit beiden Händen, schöne Worte, noch bessere Thaten, lieben, um geliebt zu werden. Die Höflichkeit ist die größte politische Zauberei der Großen. Erst strecke man seine Hand zu Thaten aus, und sodann nach den Federn; vom Stichblatt nach dem Geschichtsblatt: denn es giebt auch eine Gunst der Schriftsteller, und sie ist unsterblich.<br />
<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg_xox7pkx5Wd5E5yfkUxZZPcHBSdiQVC8-DmZbGkwes0TmPlU12so32zh_3SUQhRXheOHoFAesnEXzT4FXn-xy4-IOc5ivanpg_0BlUVwz9KfZytOPmb5zAx5aSPjih5-rJuP9gJdTEcY/s1600/5gracian.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1132" data-original-width="900" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg_xox7pkx5Wd5E5yfkUxZZPcHBSdiQVC8-DmZbGkwes0TmPlU12so32zh_3SUQhRXheOHoFAesnEXzT4FXn-xy4-IOc5ivanpg_0BlUVwz9KfZytOPmb5zAx5aSPjih5-rJuP9gJdTEcY/s400/5gracian.jpg" width="317" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Baltasar Gracián y Morales S.J. (1601-1658). Porträt-Variante 3:<br />
<a href="https://es.m.wikipedia.org/wiki/Archivo:El_poeta_Baltasar_Graci%C3%A1n.jpg" target="_blank"> Anonym, 17. Jahrhundert, Museu de Belles Arts de València</a></td></tr>
</tbody></table>
41<br />
<br />
<b>Nie übertreiben.</b> Es sei ein wichtiger Gegenstand unsrer Aufmerksamkeit, nicht in Superlativen zu reden; theils um nicht der Wahrheit zu nahe zu treten, theils um nicht unsern Verstand herabzusetzen. Die Uebertreibungen sind Verschwendungen der Hochschätzung, und zeugen von der Beschränktheit unsrer Kenntnisse und unsers Geschmacks. Das Lob erweckt lebhafte Neugierde, reizt das Begehren, und wann nun nachher, wie es sich gemeiniglich trifft, der Werth dem Preise nicht entspricht; so wendet die getäuschte Erwartung sich gegen den Betrug, und rächt sich durch Geringschätzung des Gerühmten und des Rühmers. Daher gehe der Kluge zurückhaltend zu Werke und fehle lieber durch das zu wenig, als durch das zu viel. Die ganz außerordentlichen Dinge jeder Art sind selten; also mäßige man seine Werthschätzung. Die Uebertreibung ist der Lüge verwandt, und durch dieselbe kommt man um den Ruf des guten Geschmacks, welches viel, und um den der Verständigkeit‚ welches mehr ist.<br />
<br />
42<br />
<br />
<b>Von angeborner Herrschaft.</b> Sie ist die geheim wirkende Kraft der Ueberlegenheit. Nicht aus einer widerlichen Künstelei darf sie hervorgehn; sondern aus einer gebietenden Natur. Alle unterwerfen sich ihr, ohne zu wissen wie, indem sie die verborgene Macht natürlicher Autorität anerkennen. Diese gebietenden Geister sind Könige durch ihren Werth, und Löwen, kraft angeborenen Vorrechts. Durch die Hochachtung, die sie einflößen, nehmen sie Herz und Verstand der Uebrigen gefangen. Sind solchen nun auch die andern Fähigkeiten günstig; so sind sie geboren, die ersten Hebel der Staatsmasdiine zu seyn: denn sie wirken mehr durch eine Miene, als Andre durch eine lange Rede.<br />
<br />
43<br />
<br />
<b>Denken wie die Wenigsten und reden wie die Meisten.</b> Gegen den Strohm schwimmen wollen vermag keineswegs den Irrthum zu zerstören, sehr wohl aber, in Gefahr zu bringen. Nur ein Sokrates konnte es unternehmen. Von Andrer Meinung abweichen, wird für Beleidigung gehalten; denn es ist ein Verdammen des fremden Urtheils. Bald mehren sich die darob Verdrießlichen, theils des getadelten Gegenstandes, theils wegen dessen, der ihn gelobt hatte. Die Wahrheit ist für Wenige, der Trug so allgemein wie gemein. Den Weisen wird man nicht an dem erkennen, was er auf dem Marktplatz redet: denn dort spricht er nicht mit <i>seiner</i> Stimme, sondern mit der der allgemeinen Thorheit, so sehr auch sein Inneres sie verleugnen mag. Der Kluge vermeidet eben so sehr, daß man ihm, als daß er Andern widerspreche: so bereit er zum Tadel ist, so zurückhaltend in der Aeußerung desselben. Das Denken ist frei, ihm kann und darf keine Gewalt geschehn. Daher zieht der Kluge sich zurück in das Heiligthum seines Schweigens: und läßt er ja sich bisweilen aus; so ist es im engen Kreise Weniger und Verständiger.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjsLDH2vq3j0ufr9Roal85NvpdYt_VDP8TN4_-zP5B5FbBjYdtGhKT713RbFNz2cIkD__lXgWd8HT-p9ldEFFbmL9VN2XxG1D3y8Dv31UVrxLoBCZ9DMKU8Adrk3ysKXPL5EL0GrFY5XLs/s1600/6gracian.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="489" data-original-width="450" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjsLDH2vq3j0ufr9Roal85NvpdYt_VDP8TN4_-zP5B5FbBjYdtGhKT713RbFNz2cIkD__lXgWd8HT-p9ldEFFbmL9VN2XxG1D3y8Dv31UVrxLoBCZ9DMKU8Adrk3ysKXPL5EL0GrFY5XLs/s400/6gracian.jpg" width="368" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Baltasar Gracián y Morales S.J. (1601-1658). Porträt-Variante 4..</td></tr>
</tbody></table>
44<br />
<br />
<b>Mit großen Männern sympathisiren.</b> Es ist eine Eigenschaft der Heroen, mit Heroen übereinzustimmen. Hierin liegt ein Wunder der Natur, sowohl wegen des Geheimnißvollen darin, als auch wegen des Nützlichen. Es giebt eine Verwandschaft der Herzen und Gemüthsarten: ihre Wirkungen sind solche, wie die Unwissenheit des großen Haufens sie Zaubertränken zuschreibt. Sie bleibt nicht bei der Hochachtung stehn, sondern geht bis zum Wohlwollen, ja bis zur Zuneigung. Sie überredet ohne Worte und erlangt ohne Verdienst. Es giebt eine aktive und eine passive: beide sind heilbringend, und um so mehr, in je erhabenerer Gattung. Es ist eine große Geschicklichkeit, sie zu erkennen, zu unterscheiden und sie zu nutzen zu verstehn. Denn kein Eigensinn kann ohne diese geheime Gunst zum Zwecke führen.<br />
<br />
45<br />
<br />
<b>Von der Schlauheit Gebrauch, nicht Mißbrauch machen.</b> Man soll sich nicht in ihr gefallen, noch weniger sie zu verstehn geben. Alles Künstliche muß verdeckt bleiben, weil es verdächtig ist, besonders aber, wenn es Vorsichtsmaaßregeln betrifft; denn da ist es verhaßt. Der Betrug ist stark im Gebrauch; daher verdoppele sich der Verdacht, ohne jedoch sich zu erkennen zu geben; weil er sonst Mißtrauen erregt, sehr kränkt, zur Rache auffordert und Schlechtigkeiten erweckt, an welche vorher Keiner gedacht hatte. Mit Ueberlegung zu Werke gehn, ist ein mächtiger Vortheil beim Handeln, und es giebt keinen sichern Beweis von Vernunft. Die größte Vollkommenheit der Handlungen stützt sich auf die sichere Meisterschaft, mit der man sie ausführt.<br />
<br />
46<br />
<br />
<b>Seine Antipathie bemeistern.</b> Oft verabscheuen wir aus freien Stücken, und sogar ehe wir die Eigenschaften der betreffenden Person kennen gelernt haben: bisweilen wagt dieser angeborene, pöbelhafte Widerwille sich selbst gegen die ausgezeichnetesten Männer zu regen. Die Klugheit werde Herr über ihn: denn nichts kann eine schlechtere Meinung von uns erregen, als daß wir die verabscheuen, welche mehr werth sind als wir. So sehr als die Sympathie mit großen Männern zu unserm Vortheil spricht, setzt die Antipathie gegen dieselben uns herab.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjfKiQg8wNMq6K9Et1Ay91Iy8CrAf8J9iOQVIwUPDihhHlN8w17xYnFz_ny_7MvvRnsAe-kpsq1GXaZmBMPqeUy3kkpAiTRLnyjOn_VkzLEFooDdIh1oB6CQWDwTAUvR-4emzfI1VMYhww/s1600/7Tizian.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="916" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjfKiQg8wNMq6K9Et1Ay91Iy8CrAf8J9iOQVIwUPDihhHlN8w17xYnFz_ny_7MvvRnsAe-kpsq1GXaZmBMPqeUy3kkpAiTRLnyjOn_VkzLEFooDdIh1oB6CQWDwTAUvR-4emzfI1VMYhww/s400/7Tizian.jpg" width="357" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Titian_-_Allegorie_der_Zeit.jpg" target="_blank">Tizian: Allegorie der von der Klugheit beherrschten Zeit.</a> <br />
Circa 1550 bis 1565, Öl auf Leinwand, 75,5 x 68,4 cm, <br />
National Gallery, London</td></tr>
</tbody></table>
47<br />
<br />
<b>Ehrensachen meiden.</b> Einer der wichtigsten Gegenstände der Vorsicht. In Leuten von umfassendem Geiste liegen stets die Extreme sehr weit von einander entfernt, so daß ein langer Weg vom einen zum andern ist: sie selbst aber halten sich immer im Mittelpunkt ihrer Klugheit, daher sie es nicht leicht zum Bruche kommen lassen. Denn es ist viel leichter einer Gelegenheit dieser Art auszuweichen, als mit Glück aus derselben heraus zu kommen. Dergleichen sind Versuchungen unsrer Klugheit, und es ist sicherer sie zu fliehen, als in ihnen zu siegen. Eine Ehrensache führt eine andre und schlimmere herbei, und dabei kann die Ehre leicht sehr zu Schaden kommen. Es giebt Leute, die, vermöge ihres eigenthümlichen, oder ihres National-Karakters, leicht Gelegenheit nehmen und geben, und geneigt sind Verpflichtungen dieser Art einzugehn. Hingegen bei dem, der am Lichte der Vernunft wandelt, bedarf die Sache längerer Ueberlegung. Er sieht mehr Muth darin, sich nicht einzulassen, als zu siegen: und wenn auch etwa ein allezeit bereitwilliger Narr da ist; so bittet er zu entschuldigen, daß er nicht Lust hat, der andre zu seyn.<br />
<br />
48<br />
<br />
<b>Gründlichkeit und Tiefe:</b> nur so weit man diese hat, kann man mit Ehren eine Rolle spielen. Stets muß das Innere noch einmal soviel seyn, als das Aeußere. Dagegen giebt es Leute von bloßer Fassade, wie Häuser, die, weil die Mittel fehlten, nicht ausgebaut sind und den Eingang eines Pallasts‚ den Wohnraum einer Hütte haben. An solchen ist gar nichts, wobei man lange weilen könnte, obwohl sie langweilig genug sind; denn, sind die ersten Begrüßungen zu Ende, so ist es auch die Unterhaltung. Mit den vorläufigen Höflichkeitsbezeugungen treten sie wohlgemuth auf, wie Sicilianische Pferde, aber gleich darauf versinken sie in Stillschweigen: denn die Worte versiegen bald, wo keine Quelle von Gedanken fließt. Andre, die selbst einen oberflächlichen Blick haben, werden leicht von diesen getäuscht; aber nicht so die Schlauen: diese gehn aufs Innere und finden es leer, bloß zum Spotte gescheuter Leute tauglich.<br />
<br />
49<br />
<br />
<b>Scharfblick und Urtheil.</b> Wer hiemit begabt ist bemeistert sich der Dinge, nicht sie seiner: die größte Tiefe weiß er zu ergründen und die Fähigkeiten eines Kopfs auf das vollkommenste anatomisch zu zerlegen. Indem er einen Menschen sieht, versteht er ihn und beurtheilt sein innerstes Wesen. Er macht feine Beobachtungen und versteht meisterhaft das verborgenste Innere zu entziffern. Er bemerkt scharf, begreift gründlich und urtheilt richtig: Alles entdeckt, sieht, faßt und versteht er.<br />
<br />
50<br />
<br />
<b>Nie setze man die Achtung gegen sich selbst aus den Augen,</b> und mache sich nicht mit sich selbst gemein. Unsre eigene Makellosigkeit muß die Richtschnur für unsern untadelhaften Wandel seyn, und die Strenge unsers eigenen Urtheils muß mehr über uns vermögen, als alle äußeren Vorschriften. Das Ungeziemende unterlasse man mehr aus Scheu vor seiner eigenen Einsicht, als aus der vor der strengsten fremden Autorität. Man gelange dahin, sich selbst zu fürchten; so wird man nicht Seneka’s imaginären Hofmeister nöthig haben.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh3jQHh_LGN6c8U6AlXopg3wwKybS9XrdIGEadNvCbRN_2sA_4Wjv9-qkTU8oCm9AlZ2tgxlb6hR5-f3rBhw9Q16FsJX16MvCxRPyT-kLR0KPBsLBzVzTHVmTBaHTJle9RvJOFaCHE1jVQ/s1600/8bc.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1263" data-original-width="1600" height="315" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh3jQHh_LGN6c8U6AlXopg3wwKybS9XrdIGEadNvCbRN_2sA_4Wjv9-qkTU8oCm9AlZ2tgxlb6hR5-f3rBhw9Q16FsJX16MvCxRPyT-kLR0KPBsLBzVzTHVmTBaHTJle9RvJOFaCHE1jVQ/s400/8bc.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Einstiegsbild zum Blog <a href="https://breadorcircuses.wordpress.com/" target="_blank">»Bread or Circuses«.</a> Leider ist mehr nicht erschienen.</td></tr>
</tbody></table>
51<br />
<br />
<b>Zu wählen wissen.</b> Das Meiste im Leben hängt davon ab. Es erfordert guten Geschmack und richtiges Urtheil: denn weder Gelehrsamkeit noch Verstand reichen aus. Ohne Wahl ist keine Vollkommenheit: jene schließt in sich, daß man wählen könne, und das Beste. Viele, von fruchtbarem und gewandtem Geist, scharfem Verstande, Gelehrsamkeit und Umsicht, wenn sie zum Wählen kommen, gehn dennoch zu Grunde: sie ergreifen allemal das Schlechtste, als ob sie es darauf anlegten, irre zu gehn. Also ist dieses eine der größten Gaben von Oben.<br />
<br />
52<br />
<br />
<b>Nie aus der Fassung gerathen.</b> Ein großer Punkt der Klugheit, nie sich zu entrüsten. Es zeigt einen ganzen Mann, von großem Herzen an: denn alles Große ist schwer zu bewegen. Die Affekten sind die krankhaften Säfte der Seele, und an jedem Uebermaaße derselben erkrankt die Klugheit: steigt gar das Uebel bis zum Munde hinaus; so läuft die Ehre Gefahr. Man sei daher so ganz Herr über sich und so groß, daß weder im größten Glück, noch im größten Unglück, man die Blöße einer Entrüstung gebe, vielmehr, als über jene erhaben, Bewundrung gebiete.<br />
<br />
53<br />
<br />
<b>Thätigkeit und Verstand.</b> Was dieser ausführlich durchdacht hat, führt jene rasch aus. Eilfertigkeit ist eine Eigenschaft der Dummköpfe: weil sie den Punkt des Anstoßes nicht gewahr werden, gehn sie ohne Vorkehr zu Werke. Dagegen pflegen die Weisen eher durch Zurückhaltung zu fehlen: denn das Vorhersehn gebiert Vorkehrungen: und so vereitelt Mangel an Thatkraft bisweilen die Früchte des richtigen Urtheils. Schnelligkeit ist die Mutter des Glücks. Wer nichts auf Morgen ließ, hat viel gethan. Eile mit Weile, war ein recht Kaiserlicher Wahlspruch.<br />
<br />
54<br />
<br />
<b>Haare auf den Zähnen haben.</b> Den todten Löwen zupfen sogar die Haasen an der Mähne. Mit der Tapferkeit läßt sich nicht Scherz treiben. Giebst du dem Ersten nach; so mußt du es auch dem Andern und so bis zum Letzten, und spät zu siegen, hast du die selbe Mühe, die dir gleich Anfangs viel mehr genutzt hätte. Der geistige Muth übertrifft die körperliche Kraft: er sei ein Schwerdt, das stets in der Scheide der Klugheit ruht, für die Gelegenheit bereit. Er ist der Schirm der Person: die geistige Schwäche setzt mehr herab als die körperliche. Viele hatten außerordentliche Fähigkeiten, aber weil es ihnen an Herz fehlte, lebten sie wie Todte und endigten begraben in ihrer Unthätigkeit. Nicht ohne Absicht hat die sorgsame Natur, in der Biene, die Süße des Honigs mit der Schärfe des Stachels verbunden. Sehnen und Knochen hat der Leib; so sei der Geist auch nicht lauter Sanftmuth.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiuWWlJw7_QsLoA_SKaBH-pYeN1jXLwda7-wtaQDH8Q9NIJYnOFxmRExTTBsanUBs0sBHnJVGBe7CvhLhz0DzR-SZpvcmIr96qlQ2wx-q19_brWKBE3VoAsaH8I_gSwObDOOpJPdBf-kso/s1600/9.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1340" data-original-width="1024" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiuWWlJw7_QsLoA_SKaBH-pYeN1jXLwda7-wtaQDH8Q9NIJYnOFxmRExTTBsanUBs0sBHnJVGBe7CvhLhz0DzR-SZpvcmIr96qlQ2wx-q19_brWKBE3VoAsaH8I_gSwObDOOpJPdBf-kso/s400/9.jpg" width="305" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Arthur Schopenhauer. <br />
<a href="https://incels.wiki/w/File:1024px-Arthur_Schopenhauer_by_J_Sch%C3%A4fer,_1859.jpg" target="_blank">Porträtfotografie von J. Schäfer, März 1859</a></td></tr>
</tbody></table>
55<br />
<br />
<b>Warten können.</b> Es beweist ein großes Herz mit Reichthum an Geduld, wenn man nie in eiliger Hitze, nie leidenschaftlich ist. Erst sei man Herr über sich; so wird man es nachher über Andre seyn. Nur durch die weiten Räume der Zeit gelangt man zum Mittelpunkte der Gelegenheit. Weise Zurückhaltung bringt die richtigen, lange geheim zu haltenden Beschlüsse zur Reife. Die Krücke der Zeit richtet mehr aus als die eiserne Keule des Herkules. Gott selbst züchtigt nicht mit dem Knittel, sondern mit der Zeit. Es war ein großes Wort: „die Zeit und ich nehmen es mit zwei Andern auf." (Dies soll Philipp der Zweite gesagt haben.) Das Glück selbst krönt das Warten durch die Größe des Lohns.<br />
<br />
56<br />
<br />
<b>Geistesgegenwart haben.</b> Sie entspringt aus einer glücklichen Schnelligkeit des Geistes. Für sie giebt es keine Gefahren noch Unfälle, Kraft ihrer Lebendigkeit und Aufgewecktheit. Manche denken viel nach, um nachher Alles zu verfehlen: Andre treffen Alles, ohne es vorher überlegt zu haben. Es giebt antiparastatische Genies, die erst in der Klemme am besten wirken: sie sind eine Art Ungeheuer, denen aus dem Stegreif Alles, mit Ueberlegung nichts gelingt: was ihnen nicht gleich einfällt, finden sie nie: in ihrem Kopfe ist kein Ap[p]ellationshof. Die Raschen also erlangen Beifall, weil sie den Beweis einer gewaltigen Fähigkeit, Feinheit im Denken und Klugheit im Thun ablegen.<br />
<br />
57<br />
<br />
<b>Sichrer sind die Ueberlegten:</b> schnell genug geschieht was gut geschieht. Was sich auf der Stelle macht, kann auch auf der Stelle wieder zu nichte werden: aber was eine Ewigkeit dauern soll, braucht auch eine, um zu Stande zu kommen. Nur die Vollkommenheit gilt, und nur das Gelungene hat Dauer. Verstand und Gründlichkeit schaffen unsterbliche Werke. Was viel werth ist, kostet viel. Ist doch das edelste Metall das schwerste.<br />
<br />
58<br />
<br />
<b>Sich anzupassen verstehn.</b> Nicht Allen soll man auf gleiche Weise seinen Verstand zeigen, und nie mehr Kraft verwenden, als grade nöthig ist. Nichts werde verschleudert‚ weder vom Wissen, noch vom Leisten. Der gescheute Falkonier läßt nicht mehr Vögel steigen, als die Jagd erfordert. Man lege nicht immer Alles zur Schau: sonst wird es Morgen Keiner mehr bewundern. Immer habe man etwas Neues, damit zu glänzen: denn wer jeden Tag mehr aufdeckt, unterhält die Erwartung, und nie werden die Gränzen seiner großen Fähigkeiten aufgefunden.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Baltasar Gracián: Hand-Orakel und Kunst der Weltklugheit. Deutsch von Arthur Schopenhauer. Herausgegeben von Arthur Hübscher. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1985, dtv 2167, ISBN 3 423 02167 5, Seiten 16 bis 27</i></span><br />
<br />
<br />
<b>Link-Tipps</b><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/07/mendelssohn-lieder-ohne-worte-daniel.html" target="_blank">Werner Krauss: Gracián und die Psychologen</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/07/gabriel-faure-die-klaviermusik.html" target="_blank">Arthur Schopenhauer: Über die Freiheit des Willens</a><br />
<br />
<br />
<b>Mehr Neue Musik aus der Kammermusikkammer:</b> <br />
<br />
<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/12/giacinto-scelsi-beim-musikprotokoll.html" target="_blank">Giacinto Scelsi beim Musikprotokoll 1989 (Steirischer Herbst, ORF) | Fanny von Galgenberg - die älteste Frauenstatuette der Welt.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/12/lennox-und-michael-berkeley-kammermusik.html" target="_blank">Lennox und Michael Berkeley: Kammermusik für Streicher | Raymond Aron: Die Intellektuellen und ihr Vaterland.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/09/hanns-eisler-arnold-schonberg-quintette.html" target="_blank">Hanns Eisler / Arnold Schönberg: Quintette für Bläser | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über den <i>Sohn</i>.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/09/henry-cowell-1897-1965-klavier-kammer.html" target="_blank">Henry Cowell (1897-1965): Klavier-, Kammer- und Vokalmusik | Hugo Friedrich: Petrarcas Laura.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/04/zoltan-kodaly-cellosonaten-mit-und-ohne.html" target="_blank">Zoltán Kodály: Cellosonaten mit und ohne Klavier | Schillers köstliche Reste.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/08/susie-ibarra-trio-songbird-suite-2002.html" target="_blank">Susie Ibarra Trio: Songbird Suite (2002) | Manlio Brusatin: Geschichte der Bilder: Bild und Ähnlichkeit</a></b><br />
<br />
<br />
<a href="https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Conlon-Nancarrow-1912-1997-Pieces-Nr-1-2-f%FCr-kleines-Orchester/hnum/2016184" target="_blank"><b>CD bestellen bei JPC.de</b></a> <br />
<br />
<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 8 MB <br />
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<span style="background-color: #93c47d;">Unpack x382.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: [44:40] 2 parts 169 MB</span><br />
<br />
<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-59313097076205415012020-01-20T12:34:00.004+01:002020-01-20T12:52:01.854+01:00Wolfgang Fortner: Klavierlieder<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgosK1yIDZ_I6mQZCocP3w0BP8ti_EXCS4J3CCp51hj4HM3hDPSricWCtlcYpnTbAY8-PtvwdGpLQ6GBufEZdghNGuJUovgYt7RB7NouQ_2q1SW-_d-KaK7lvhsGKgRGjJo6BSq5zPXy90/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1405" data-original-width="1417" height="317" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgosK1yIDZ_I6mQZCocP3w0BP8ti_EXCS4J3CCp51hj4HM3hDPSricWCtlcYpnTbAY8-PtvwdGpLQ6GBufEZdghNGuJUovgYt7RB7NouQ_2q1SW-_d-KaK7lvhsGKgRGjJo6BSq5zPXy90/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Wolfgang Fortner wird man zunächst kaum unter den Komponisten für das Lied vermuten. Er trat hervor mit Opern wie <i>Bluthochzeit</i> und <i>In seinem Garten liebt Don Perlimplín Belisa</i>, mit Orchesterwerken wie <i>Triplum</i>, auch mit Kammermusiken in verschiedensten Besetzungen. Vertonte Fortner Texte für den Konzertsaal, so brauchte er meistens umlänglichere Instrumentalapparate, wie in <i>The Creation</i> oder <i>Die Pfingstgeschichte</i>.<br />
<br />
Und gleichwohl: Immer wieder hat sich Fortner während seiner langen Sehaffenszeit mit dem Klavierlied beschäftigt. So sind ungefähr dreißig Lieder überliefert — Werke einer „Kleinkunst“, der Intimität, auch der Introspektion. Als „Nebenprodukte“ sollte man diese Lieder insgesamt nicht einstufen. Dazu sind sie zu eigenständig, ist die Handschrift des Komponisten allzu deutlich spürbar — und sind Vergleiche mit umfänglicheren Werken der entsprechenden Perioden fast ausnahmslos möglich. Fortners Sensibilität für literarische Qualitäten zeigt sich in der Wahl der Texte — von Shakespeare, Eichendorff, Hölderlin über Hugo von Hofmannsthal bis Dylan Thomas und Pablo Neruda. Einflüsse von Richard Strauss, Hans Pfitzner, Hermann Reutter sucht man in diesen Werken vergebens — ganz entfernt wäre vielleicht Hindemith in den frühen Liedern auszumachen.<br />
<br />
In den 1933 komponierten <i>Vier Gesängen nach Hölderlin</i> kostet Fortner die Qualitäten der tiefen Stimmlage aus und wagt sich an so heikle und oft vertonte Gedichte wie <i>An die Parzen</i> und <i>Hyperions Schicksalslied</i>. Schon der junge Fortner zeigt hier Strenge, Klarheit, gebändigtes Espressivo in der Balance zwischen Akkordik und Linearität. Die Kraft des Deklamatorischen ist voll entwickelt: Vertonung als An-Sprache. Doch die hohe Rede bleibt ohne Gestelztheit. Wie Fortner die Zeilen<br />
<br />
<i>Es schwinden, es fallen<br />
Die leidenden Menschen<br />
Blindlings von einer<br />
Stunde zur andern<br />
Wie Wasser von Klippe<br />
Zu Klippe geworfen<br />
Jahr lang ins Ungewisse hinab</i><br />
<br />
im Gesang als Bogenform wölbt und schließlich zur klanglichen Ökonomie im Klaviersatz findet, muß als meisterlich gewertet werden.<br />
<br />
Diese Art der Verknappung, der Konzentration auf einfache Chiffren wird in den 1947 publizierten <i>Shakespeare-Songs</i> weitergetrieben. Mit zehn Liedern, einem einleitenden Motto und dem Epilog sind sie Fortners umfangreichster Liedzyklus. Alle Texte sind aus Dramen bezogen. Die Attitüde des Dramatischen, der Rede an der Bühnenrampe ist klar: Da wird deklamiert, wortdeutlich bis zur letzten Silbe. Die Verpflichtung auf das Wort führt so weit, daß Stimme und Klavier oftmals selbständig nebeneinander geführt sind bis zur Rücksichtslosigkeit: Dem Sänger sind kaum hilfreiche Stütztöne zugespielt, er steht manchmal in scharfem Intervallkontrast zur Begleitung. Lapidarität der Garstigkeit? Sie ist auch spürbar in <i>Der Totengräber</i>; einem der langsamen Lieder: Die Kargheit der Ostinatoformeln — teilweise auch in der Singstimme — trägt eine geradezu bedrückende Sinnfälligkeit.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhTHmHtT0egKkbxc8UOUWLgmT6TWp-yF6XgE_OuPyHIFqUGInzUiPO4ENGm5HgOVWEjTPSNlZ-V4FVaYplR03Bs5_jzjb8VP5RiTKwktRHe6ZpY1x2Iih9hd2mgGX-qb8pYSTyLjHYZ3FI/s1600/1.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="995" data-original-width="1354" height="293" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhTHmHtT0egKkbxc8UOUWLgmT6TWp-yF6XgE_OuPyHIFqUGInzUiPO4ENGm5HgOVWEjTPSNlZ-V4FVaYplR03Bs5_jzjb8VP5RiTKwktRHe6ZpY1x2Iih9hd2mgGX-qb8pYSTyLjHYZ3FI/s400/1.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Wolfgang Fortner (links) und sein Schüler Hans-Werner Hense. 1948.<a href="https://www.rnz.de/kultur-tipps/kultur-regional_artikel,-70-jahre-musica-viva-in-heidelberg-diese-werke-bedeuten-eine-geschichtliche-wende-_arid,397405.html" target="_blank"> [Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
<i>Farewell</i> nimmt zweifach Rücksicht auf den Text, da es sowohl in Nerudas spanischem Original als auch in Erich Arendts schneidender Übertragung ins Deutsche gesungen werden kann. Hier zeigt sich in der kleinen None und großen Septime Fortners verdichtete Klanglichkeit. Schärfe, Härte, gar Brutalität der Tonsprache herrschen vor. Die fast holzschnittartige Klanggestik erinnert an <i>Perlimplín</i>. Ein arpeggierendes Atemholen erlaubt sich Fortnet in der Klavierstimme im fünften Abschnitt bei <i>Fu tuyo, fuiste mia. Qué mais?</i> Darum herum drängt die Gehetztheit des Suchenden, Treibenden. Die Knappheit der fünf Lieder von nicht einmal zehn Minuten Aufführungsdauer übertrug der Komponist auch in eine Fassung mit zwei Flöten, Violoncello und Klavier.<br />
<br />
Der Zyklus <i>Terzinen</i> ist Dietrich Fischer-Dieskau und Aribert Reimann gewidmet, die das Werk des Musikerfreundes auch zur Uraufführung brachten. Bariton und Klavier sind gleichwertig und auch gleichermaßen anspruchsvoll. Mit den aleatorischen Freiheiten im Instrumentalpart lag Fortner ganz im Zug der Zeit — und die beiden Zwischenspiele sind mindestens so ausdrucksstark und tatsächlich raumfüllend wie die Lineaturen der Vokallinie.<br />
<br />
<i>Widmungen</i> (1981) auf vier Sonette von Shakespeare hat Fortner für den Sänger und Freund Lutz Rainer zum Geburtstag komponiert. Die Begeisterung dieser Liebesverse ist klanglich übertragen in die Kühle einer gläsernen Schärfe. Selten hat man den Eindruck, daß hier bloß Reihenformen ablaufen — wie etwa zu Beginn des Sonetts 22 <i>My glass shall not persuade me I am old.</i> Meistens ist Konstruktivität erfüllt von MitteiIungsbedürfnis und Ausdruckskraft. Es wirkt hier eine Sinnlichkeit kalkulierter Intensität. Bei <i>Bearing thy heart, which I will keep so chary</i> erlaubt sich Fortner mit der hin- und herpendelnden Sekundfigur in Quintolen und Triolen eine prall ausdeutbare Tonmalerei. <br />
<br />
Verknappung, Sparsamkeit bis zur Kargheit prägt fünf nachgelassene Lieder aus den siebziger Jahren. Die Textdichter sind für Fortner so ungewohnt wie für jene Zeit: Dazu gehören auch Lenau und Eichendorff. Nochmals verdichtet erscheint die Klangwelt der <i>Terzinen</i>. Tontupfen stehen gegen Tonpunkte; mal ein ausgehaltener Akkord, mal eine flüchtige Bewegung. Doch darüber dehnt sich wortmächtig das Melos der Männerstimme. Fortners Umsetzung ist asketisch bis zur Selbstverleugnung, gemahnt stellenweise fast an religiöse Versenkung. Es sind Freundesgaben allesamt. Keines der fünf Lieder dauert viel länger als eine Minute. Soll man von Gelegenheitsstückchen sprechen? Ja, wenn der Ausdruck hier nicht etwas Zufälliges, Minderwertiges meint, sondern das persönliche Geschenk für den besonderen Anlaß.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Rolf Urs Ringger, im Booklet</i></span><br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEji3e4GJjGCDfAe_GwDTQ-eoHe5MT0naWmJr3_mkDGRUznwmDUi0b6xHUnrQ4EhQlXJhYrO1iaIYEDXQTXdfPp2Bmhmqawz7p0qErJEFBp_gwLKxJjgTAz5ISyn3QdGl8tEvGAq9Q55msI/s1600/2.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="862" data-original-width="1221" height="282" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEji3e4GJjGCDfAe_GwDTQ-eoHe5MT0naWmJr3_mkDGRUznwmDUi0b6xHUnrQ4EhQlXJhYrO1iaIYEDXQTXdfPp2Bmhmqawz7p0qErJEFBp_gwLKxJjgTAz5ISyn3QdGl8tEvGAq9Q55msI/s400/2.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Wolfgang Fortner. Portraitphotographie mit eigener Unterschrift<a href="https://www.kotte-autographs.com/cn/autograph/fortner-wolfgang/" target="_blank"> [Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
<pre>TRACKLIST
WOLFGANG FORTNER
(1907 - 1987)
Lieder
Shakespeare-Songs (1946) [25:39]
Ralf Lukas: Bassbariton, Axel Bauni: Piano
01. 1. Motto (What you will) [01:40]
02. 2. O mistress mine (What you will) [01:30]
03. 3. When daisies pied (Love's labour's lost) [01:38]
04. 4. When icicles hang (Love's labour's lost) [01:21]
05. 5. Willow, willow (Othello) [03:41]
06. 6. Blow, thou winterwind (As you like it) [01:24]
07. 7. Take, o take (Measure for measure) [00:56]
08. 8. Death, come away (What you will) [02:28]
09. 9. Fear no more (Cymbeline) [04:33]
10. 10. Fool's song (King Lear) [00:45]
11. 11. The gravedigger (Hamlet) [02:08]
12. 12. Epilogue (Macbeth) [03:38]
Widmungen [08:15]
aus den Sonetten von William Shakespeare (1981)
Christopher Lincoln: Tenor, Axel Bauni: Piano
13. 1. Sonnet 20 - A woman's face [01:56]
14. 2. Sonnet 91 - Some glory in their birth [01:25]
15. 3. Sonnet 22 - My glass shall not persuade me [03:02]
16. 4. Sonnet 18 - Shall I compare thee [01:52]
Farewell (1981) [09:17]
Pablo Neruda
Stella Doufexis: Mezzosopran, Axel Bauni: Piano
17. 1. Desde el fondo de ti [02:33]
18. 2. Yo no lo quiero, Amada [00:53]
19. 3. Amo el amor de los marineros [01:04]
20. 4. Amo el amor que se reparte [00:56]
21. 5. Ya no se encantarán mis ojos en tus ojos [03:52]
Vier Gesänge [10:56]
nach Worten von Hölderlin (1933)
Ralf Lukas: Bassbariton, Axel Bauni: Piano
22. 1. An die Parzen [03:02]
23. 2. Hyperions Schicksalslied [02:46]
24. 3. Abbitte [02:18]
25. 4. Geh unter, schöne Sonne ... [02:43]
Nachgelassene Lieder [06:57]
26. 1. Neujahrsgruß (1979) (Eduard Mörike) [00:54]
Stella Doufexis: Mezzosopran, Axel Bauni: Piano
27. 2. Reiselied (1970) (Hugo von Hofmannsthal) [02:14]
Ralf Lukas: Bassbariton, Axel Bauni: Piano
28. 3. Eine kleine Bitte (1979) (Nikolaus Lenau) [01:21]
29. 4. Andenken (1974) (Josef Freiherr von Eichendorff) [01:16]
30. 5. Wünschelrute (Josef Freiherr von Eichendorff) [01:21]
Christopher Lincoln: Tenor, Axel Bauni: Piano
Terzinen [14:08]
von Hugo von Hofmannsthal (1963)
Dietrich Fischer-Dieskau: Bariton, Aribert Reimann: Piano
31. 1. Über Vergänglichkeit: Noch spür ich ihren Atem [03:47]
32. 2. Zwischenspiel [01:26]
33. 3. Die Stunden! wo wir auf das helle Blauen [02:17]
34. 4. Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träume n [02:39]
35. 5. Zwischenspiel [01:01]
36. 6. Zuweilen kommen niegeliebte Frauen [02:46]
Total: [75:26]
Aufnahme / Reeording / Enregistrement: 23.-25. Oktober 1986 (Terzinen),
2./3. April 1996 (Shakespeare-Songs), 13./14. Juni 1996 (Vier Gesänge).
23. Juli 1996 (Farewell. Neujahrsgruß). 19./20. November (Widmungen.
Eine kleine Bitte. Andenken. Wünschelrute).
2. Mai 1997 (Reiselied), Sender Freies Berlin. Saal III
Aufnahmeleitung / Recording Supervision / Direction de l'enregistrement:
Harry Tressel (Shakespeare-Songs, Farewell, Neujahrsgruß. Vier Gesänge, Terzinen), Wolfgang Hoff
Toningenieur / Recording Engineer / Ingenieur du son: Manfred Hock (Shakespeare-Songs,.
Widmungen, Eine kleine Bitte, Andenken, Wünschelrute).
Ekkehard Stoffregen (Farewell, Neujahrsgruß, Vier Gesänge),
Wolfgang Zülch (Reiselied), Axel Müller (Terzinen)
Schnitt / Editing / Montage sonore: Ricarda Molder, Antje Maibom
edition zeitgenössisches lied, herausgegeben von Aribert Reimann und Axel Bauni
(P)(C) 1997
</pre>
<br />
<br />
<br />
<span style="font-size: x-large;"><b><span style="color: red;">«Aber warum sind Sie so ernst?»</span></b></span><br />
<b><span style="color: red;"><br /></span></b>
<span style="font-size: large;"><b><span style="color: red;">Mascha Kaléko (1907–1975)</span></b></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj3T7G9a4IU8YDTRN_UWQCQxiTihMuxoVGdpyAGU26PrqQILTGz8As7AKZTv-SCxj0QOl7Z8r6mwSW7VWLiv-gpbYiMGG-uZecAXU254o4jjcpWANq8m166PkeO096CKkBhrkXV-3SRrWM/s1600/A.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="904" data-original-width="643" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj3T7G9a4IU8YDTRN_UWQCQxiTihMuxoVGdpyAGU26PrqQILTGz8As7AKZTv-SCxj0QOl7Z8r6mwSW7VWLiv-gpbYiMGG-uZecAXU254o4jjcpWANq8m166PkeO096CKkBhrkXV-3SRrWM/s640/A.jpg" width="454" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">«Aufgeräumt melancholisch» war Mascha Kaléko (hier um 1936) für Thomas Mann.<br />
(Bild: Deutsches Literaturarchiv Marbach)</td></tr>
</tbody></table>
Zwei Seelen wohnten in der Dichterin «zur Miete»: eine lyrische und eine satirische. Mascha Kaléko, deren erster Gedichtband mit dem bezeichnenden Titel «Das lyrische Stenogrammheft» im Unheilsjahr 1933 erschien, gehörte neben Erich Kästner, Kurt Tucholsky oder Franz Mehring zu den Poeten der Neuen Sachlichkeit. Als Neutönerin verstand sie sich nicht, im Gegenteil: «Ich singe, wie der Vogel singt», dichtete sie poetologisch-programmatisch und gestand – augenzwinkernd – ein: «Weiss Gott, ich bin ganz unmodern. / Ich schäme mich zuschanden: / Zwar liest man meine Verse gern, / doch werden sie – verstanden!»<br />
<br />
Als diese Verse 1968 im «Himmelgrauen Poesie-Album» erschienen, betrachtete sich Kaléko aber bereits als «letzten Mohikaner, was die ironisch-romantische Grossstadtlyrik angeht». Denn wenn auch die kunstvolle «Natürlichkeit» ihrer Lyrik, die ihr «Unwesen vorzugsweise in den sagen-wir-mal ‹Niederungen› der täglichen Umgangssprache» trieb, sowohl dem «gefühlsbetonten Volksliede» als auch dem «satirischen Bänkelsänger näher» stand «als etwa dem pompösen Ideal klassischer Formenkunst», war sie in ihrem Beginn doch alles andere als unmodern. Mit den bald «aufgeräumt melancholischen» (Thomas Mann über Mascha Kaléko), bald nüchternen, wortwitzigen bis spritzigen, unsentimental-sentimentalischen Chansons und lyrischen Gesängen bewegte sie sich durchaus auf der Höhe der Zeit und war die Autorin einer «Gebrauchs- und Zeitlyrik», die in der Tradition Heinrich Heines stand.<br />
<br />
<b>Aus dem (weiblichen) Herzen</b><br />
<br />
Karl Kraus, der sprachgewaltige Verächter des Feuilletons, das er als Glatze betrachtete, auf der man keine Locken drehen könne, hatte dem Antiromantiker Heine vorgeworfen, die Poesie zur Feuilletonkunst erniedrigt zu haben, und formulierte mit deutschnationaler Gehässigkeit: «Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat.» Mittlerweile überbiete jeder «Itzig Witzig», spitzte er antijüdisch zu, den Dichter Heine «in der Fertigkeit, ‹ästhetisch› auf ‹Teetisch› zu passen und eine kandierte Gedankenhülse durch Reim und Rhythmus zum Knallbonbon zu machen».<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgDYtkQEvJxqbv1kuiJQhD80Ucs9VegE1-FsQdCERmddo3Z9IY9NUJS__MdWsSkK4BhAwL32DrPgFPpwjS6vcg_l3-qnGFgqtEp0xwq5AcO_GAmfpEqtYPO9EEidTpWrNuMdLAzeIfgJ6c/s1600/B.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="840" data-original-width="840" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgDYtkQEvJxqbv1kuiJQhD80Ucs9VegE1-FsQdCERmddo3Z9IY9NUJS__MdWsSkK4BhAwL32DrPgFPpwjS6vcg_l3-qnGFgqtEp0xwq5AcO_GAmfpEqtYPO9EEidTpWrNuMdLAzeIfgJ6c/s400/B.jpg" width="400" /></a></div>
Walter Benjamin wiederum sah im Fall des von ihm so scharf wie scharfsinnig als Routinier der Schwermut verrissenen Mascha-Kaléko-Kollegen Erich Kästner «einige Ähnlichkeit mit dem Fall Heine». Seine Besprechung des Kästner-Gedichtbands «Ein Mann gibt Auskunft» von 1930 wiederholte den Feuilleton-Vorwurf des Karl Kraus: Der «Charakter dieser Strophen» entspreche «ihrer ursprünglichen Erscheinungsform», denn «durch Tageszeitungen . . . flitzen sie wie ein Fisch im Wasser. Wenn dieses Wasser nicht immer das sauberste ist und mancherlei Abfall darin schwimmt, desto besser für den Verfasser, dessen poetische Fischlein daran dick und fett werden konnten.»<br />
<br />
Benjamins revolutionärer Überschwang endete bald, tragisch, als linke Illusion, während die an Kästner beanstandete «linke Melancholie» den «Puls der Zeit» ersichtlich besser fühlte, im Guten wie im Schlechten. Trotzdem ging Benjamins Vorwurf, die Gedichte der Neuen Sachlichkeit dienten im Wesentlichen der Zerstreuung und dem Konsum, nicht völlig in die Irre.<br />
<br />
Und Mascha Kaléko? Auch ihre Gedichte erschienen zunächst in der «Vossischen Zeitung» oder dem «Berliner Tageblatt», ehe sie zwischen zwei Buchdeckel fanden. Auch ihre Verse waren und sind eingängig, verweigern sich nicht immer dem oberflächlichen Lesekonsum, finden gelegentlich zu leichthändig und widerstandslos ihren Reim auf Alltagserscheinungen und Gefühle. Doch «gequälte Stupidität» oder die «Traurigkeit des Saturierten», die Benjamin an Kästner geisselte, liegen ihnen wahrlich fern.<br />
<br />
Denn diese Gedichte sprachen ihrer Verfasserin aus dem (weiblichen) Herzen und wie ihr der (poetische) Schnabel gewachsen war: berlinerisch kess-salopp und jiddisch wehmütig menschen- und- weltklug. Die Dichterin mit den slawisch-jüdischen Wurzeln kommt 1907 in Westgalizien zur Welt – und sollte sich später gerne um ein paar Jahre jünger machen, so viel Eitelkeit erlaubte sie sich. Nach Ende des Ersten Weltkrieges erreicht sie, wie so viele Ostjuden jener Jahre, das Berliner Scheunenviertel. Mit siebzehn wiederum betritt sie die Welt der Büros, arbeitet in der jüdischen Gemeinde, wird in Berlin heimisch. Entdeckt durch den Schriftsteller und Rowohlt-Lektor Franz Hessel, veröffentlicht Kaléko ihren ersten Gedichtband, als Erich Kästners Werke bereits von Goebbels «den Flammen übergeben werden», ein Jahr später das «Kleine Lesebuch für Grosse». Als ihr Werk 1937 von der Reichsschrifttumskammer verboten wird, wird sie mit ihrer – Gott sei Dank schon früh vorbereiteten – Flucht ab 1938 endgültig zur Heimatlosen. In Zukunft wird sie nirgends mehr richtig zu Hause sein, nicht in New York, aber auch nicht in Israel.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg-zVU4kKi36n80B0aDj2TxijXxMDJipOQPxeXtWPor4jAY9Bp13o1c8mxKUmKQIc6MIaFXp9KSo4Uz8jgY86jwS-NNSmee6noyUoJO_Ti6W1Aq47u-j80E7G4X04N5PDZeE5Ex04kwFYU/s1600/C.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="960" data-original-width="960" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg-zVU4kKi36n80B0aDj2TxijXxMDJipOQPxeXtWPor4jAY9Bp13o1c8mxKUmKQIc6MIaFXp9KSo4Uz8jgY86jwS-NNSmee6noyUoJO_Ti6W1Aq47u-j80E7G4X04N5PDZeE5Ex04kwFYU/s400/C.jpg" width="400" /></a></div>
<b>«So was von Elektrizität»</b><br />
<br />
Wer Mascha Kalékos schmales Lyrik- und Prosawerk schon kannte, wird sich vor allem an den beiden sorgfältig edierten und von einem Kommentarband begleiteten Briefbänden festlesen, die nicht nur über die Dichterin selbst Aufschluss geben – und darüber, warum ihr Werk so schmal bleiben musste. Noch im Alter war sie eine «zauberhafte Erscheinung» mit «mädchenhafter Silhouette», wie sich der Lyriker Christoph Meckel später erinnerte. Dessen Lesung in Jerusalem kommentierte sie mit den Worten: «Sehr gut! Sehr gut! Aber warum so ernst? Sie sind so wahnsinnig ernst.» Das sagte ausgerechnet sie, die durch Vertreibung, Exil, Erfolglosigkeit, ewige Krankheiten und den Tod ihres knapp dreissigjährigen Sohnes aufgerieben, ja «mittenentzweigebrochen» war.<br />
<br />
Mascha Kaléko wollte, trotz allem, munter sein und mit der Sprache spielen. Wenn sie sich nur ein wenig besser fühlte, was ihr ab Ende der fünfziger Jahre kaum noch gegönnt war, sprang sie in den Briefen vom Deutschen ins Jiddische, vom Jiddischen ins Berlinerische, Hebräische oder Englische, das sie wiederum deutsch flektierte, und erlaubte sich das geistreichste Kauderwelsch. In diesen Jahren eroberte sie sich, nach den «charmanten Grossstadtversen» des Anfangs und der «eindrucksvollen Emigrationslyrik» – wie die Herausgeberin Jutta Rosenkranz schreibt, der man für diese Werkausgabe nicht dankbar genug sein kann –, das Gebiet der Kinderlyrik und des in der Ringelnatz- und Morgenstern-Tradition stehenden Unsinn-Gedichts, denn die Dichterin wusste: «Wie oft enthüllt im Unsinn sich der Sinn!» – Zu den aufregendsten Briefzeugnissen gehören sicherlich die umfangreichen Episteln, die Mascha Kaléko ihrem Mann, dem Musiker Chemjo Vinaver, 1956 aus Deutschland schickte. Erst in diesem Jahr wagt Mascha Kaléko es, in die einstige Heimat zurückzukehren. Jahrelang hatte sie dem Werben deutscher Verlage um die Wiederveröffentlichung ihrer Gedichte widerstanden, doch nun ist sie bereit, mit dem bei Rowohlt neu aufgelegten «Lyrischen Stenogrammheft» ihr Comeback zu feiern und die «ziemliche terra incognita» Nachkriegsdeutschlands zu betreten.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgx2eagrtjMrtBWYJfcoNrwIJTWafh4UChr7anuAV3vr0iw6MzXlmSCMvbIM2v4R_KGarOn53X1mQaO6zeboCdzVE2tzs31sKbeee0YaIvDpxdA7le-nJm-zqOWCrTCXwa1Us6w0w15SsM/s1600/D.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="1137" data-original-width="930" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgx2eagrtjMrtBWYJfcoNrwIJTWafh4UChr7anuAV3vr0iw6MzXlmSCMvbIM2v4R_KGarOn53X1mQaO6zeboCdzVE2tzs31sKbeee0YaIvDpxdA7le-nJm-zqOWCrTCXwa1Us6w0w15SsM/s400/D.jpg" width="326" /></a></div>
Allerdings kann sie die «düsteren Geister» nicht loswerden, «die ich nun überall auf diesem Boden sehe». Innerlich erschrickt sie vor langen schwarzen Ledermänteln oder Uniformen, «die unliebsame Erinnerungen wecken». Bald muss sie feststellen, dass die gerade von der Fresswelle erfassten Deutschen («. . . die Cafés schwimmen in Sahne, soviel Torten sah ich kaum in Wien oder Ischl vor Hitler . . . man isst unerhört») so «grob wie Speck mit Erbsen und Bier» sind. Aufmerksam registriert sie beklemmende Veränderungen der Alltagssprache: «. . . immerfort ist die Rede von ‹Raum Hamburg› oder ‹Raum Berlin› – das Wort Umkreis oder Bezirk scheint nicht deutsch genug zu sein, oder nicht zackig genug». Vom zerstörten Berlin, diesem «Pompeji ohne Pomp», wo sie ihre totgeglaubte Schwester Lea wiederfindet – eine romanhafte, auch den Leser ergreifende Schicksalswendung –, ist Mascha geradezu erschüttert.<br />
<br />
Und sie muss kämpfen – vor allem um die Anerkennung des beruflichen und gesundheitlichen Schadens, der ihrem Mann und ihr selbst durch die Emigration widerfahren ist. Anwaltsgespräche, Behördengänge, zahlreiche Schreiben ans Entschädigungsamt. «Ich mache kein Hehl daraus», schreibt sie, «. . . dass ich das Schreckliche nicht vergessen kann, und dass wenn die Deutschen es wollen, dass man es vergesse, sie in allem zeigen müssen, dass sie es nicht vergessen haben.» Doch von deutscher Erinnerungsbereitschaft kann keine Rede sein. Zwar erlebt Mascha Kaléko grosse Erfolge, die sie – wie könnte es anders sein, schliesslich musste die Emigrantin lange genug auf Publikum verzichten – glücklich machen. Dass sich sogar ein ehemaliger hoher SS-Offizier von ihrer Lesung in Kassel begeistert zeigt, scheint sie noch nicht mit Widerwillen zu erfüllen. Mit kindlicher Freude notiert sie: «. . . alle sagen so was von Elektrizität, die von mir ausgeht. Ich sei so vital . . .»<br />
<br />
An ihrem steten Unbehagen lässt sich freilich ablesen, dass sie es geahnt haben muss. Gewiss rettet ihre Lyrik etwas von jener Urbanität, die der Nazibarbarei zum Opfer fiel, aus den frühen dreissiger Jahren in die fünfziger Jahre hinüber – die bis heute auffällige Frische dieser Verse macht es möglich. Aber Kalékos Erfolg dient der Nachkriegsgesellschaft auch als Alibi. Als sie jedoch nicht bereit ist, sich vor den Karren des kollektiven Verdrängens spannen zu lassen, und die Nominierung zum Fontane-Preis ablehnt, weil eines der Jurymitglieder, der Schriftsteller Hans Egon Holthusen, von 1933 bis 1943 Mitglied einer SS-Standarte war, schwadroniert Herbert von Buttlar, Generalsekretär der Westberliner Akademie der Künste, von «böswilligen Gerüchten» und «Jugendtorheiten», die man Holthusen doch nicht «in alle Ewigkeit ankreiden» könne, schliesslich «wurde (er) ja nur SS-Mann, weil er so gross gewachsen war und die SS so grosse Leute brauchte». Zuletzt fährt er ihr herrisch über den Mund: «Wenn den Emigranten nicht gefällt, wie wir die Dinge hier handhaben, dann sollen sie doch fortbleiben . . .»<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi1oM_mvLEhgIqskk3qf2LyBoBgvXZT2eMFeOHPvIHJy2Gi1Ydi8Jvso6KbN4Jmo-hHtKH5w9K-JY60_DtfGWzUWYGMVpY0GawNl_yu-BJN7yFQUw_fwYMugmFVf-5hY-0g_ivOOAdIJ5c/s1600/E.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="512" data-original-width="768" height="266" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi1oM_mvLEhgIqskk3qf2LyBoBgvXZT2eMFeOHPvIHJy2Gi1Ydi8Jvso6KbN4Jmo-hHtKH5w9K-JY60_DtfGWzUWYGMVpY0GawNl_yu-BJN7yFQUw_fwYMugmFVf-5hY-0g_ivOOAdIJ5c/s400/E.jpg" width="400" /></a></div>
<b>Schicksalsschläge</b><br />
<br />
Die Weigerung, zu vergessen, vergass man Mascha Kaléko nicht. Ihre Dichtung hingegen geriet umso schneller wieder in Vergessenheit, und literarische Preise verlieh man in Zukunft strikt an ihr vorbei. Um ihres an schwerem Asthma leidenden Mannes willen zieht sie 1959 nach Jerusalem, verzweifelt, bei aller Solidarität mit dem jungen jüdischen Staat, am «orientalischen» Charakter der israelischen Gesellschaft, scheuert sich am Alltag wund – ihr, der Frau, fehlt, wie sie bereits im Gedicht «Die Frau in der Kultur» wusste, «‹des Künstlers Frau›». Sie überzieht ihr «bankrottes Energie-Konto», bis sie selber, ausser ständig Krankenpflegerin zu sein, zur «gelernten Kranken» wird und nicht einmal mehr ohne Schmerzen Maschinetippen kann. Und dann stirbt ihr über alles geliebter, hochbegabter und zum Kummer der Eltern nur höchst selten mit einem Brief deren berechtigte Sorgen zerstreuender Sohn, dessen Homosexualität die Mutter nie akzeptierte und zeit ihres Lebens verdrängte, 1968, an einer Bauchspeicheldrüsenentzündung. Als habe sie es geahnt, schrieb sie, bereits in den fünfziger Jahren, in ihrem anrührenden Gedicht «Memento»: «Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang, / Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. / Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?»<br />
<br />
Nein, es interessiert Mascha Kaléko nicht mehr besonders, als nach langer Zeit endlich wieder eine neue Gedichtsammlung von ihr in Deutschland erscheint. Bald verliert sie auch ihren Mann, ein weiterer Schmerz, der sie zerreisst. Sie selbst stirbt, erst 67-jährig, am 21. Januar 1975, bei einem Zwischenhalt in Zürich an Magenkrebs.<br />
<br />
Zwei Jahre vorher war ihr Vierzeiler erschienen: «Mein schönstes Gedicht . . .? / Ich schrieb es nicht. / Aus tiefsten Tiefen stieg es. / Ich schwieg es.»<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: <a href="http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/literatur-und-kunst/aber-warum-sind-sie-so-ernst-1.18047526#" target="_blank">Jan Koneffke, NZZ vom 16.03.2013</a></i></span><br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh8jx1sbpQBr6j3my-N1bIQQKvdqlKQu6xhgiPT3i1mdoB4C5UKhqrCGJrkiwgJpPNpr0_3npPnYbiWQX6MhisCyN7r0HRh_Eyv6wMLXHnKH7FlvDrdftHLdWwtaWOwMUj_8z7C0wAvp9g/s1600/F.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="365" data-original-width="620" height="235" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh8jx1sbpQBr6j3my-N1bIQQKvdqlKQu6xhgiPT3i1mdoB4C5UKhqrCGJrkiwgJpPNpr0_3npPnYbiWQX6MhisCyN7r0HRh_Eyv6wMLXHnKH7FlvDrdftHLdWwtaWOwMUj_8z7C0wAvp9g/s400/F.jpg" width="400" /></a></div>
<b>Interview mit mir selbst</b><br />
<br />
Ich bin vor nicht zu langer Zeit geboren<br />
In einer kleinen, klatschbeflissenen Stadt,<br />
Die eine Kirche, zwei bis drei Doktoren<br />
Und eine große Irrenanstalt hat.<br />
<br />
Mein meistgesprochenes Wort als Kind war ‹nein›.<br />
Ich war kein einwandfreies Mutterglück.<br />
Und denke ich an jene Zeit zurück:<br />
Ich möchte nicht mein Kind gewesen sein.<br />
<br />
Im letzten Weltkrieg kam ich in die achte<br />
Gemeindeschule zu Herrn Rektor May.<br />
— Ich war schon zwölf, als ich noch immer dachte,<br />
Daß, wenn die Kriege aus sind, Frieden sei.<br />
<br />
Zwei Oberlehrer fanden mich begabt,<br />
Weshalb sie mich — zwecks Bildung — bald entfernten;<br />
Doch was wir auf der hohen Schule lernten,<br />
Ein Wort wie ‹Abbau› haben wir nicht gehabt.<br />
<br />
Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten<br />
Der Jugend und vom ethischen Niveau —<br />
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.<br />
Ich aber leider trat nur ins Büro.<br />
<br />
Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt<br />
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.<br />
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.<br />
(Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.)<br />
<br />
Bei schönem Wetter reise ich ein Stück<br />
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.<br />
— An stillen Regentagen aber warte<br />
Ich manchmal auf das sogenannte Glück . . .<br />
<br />
<br />
<br />
<b>Abschied</b><br />
<br />
Jetzt bist du fort. Dein Zug ging neun Uhr sieben.<br />
Ich hielt dich nicht zurück. Nun tut's mir leid.<br />
— Von dir ist weiter nichts zurückgeblieben<br />
Als ein paar Fotos und die Einsamkeit.<br />
<br />
Noch hör ich leis von fern den D-Zug pfeifen.<br />
In ein paar Stunden hält er in Polzin.<br />
Mich ließest du allein in Groß-Berlin,<br />
Nun werde ich durch laute Straßen streifen<br />
<br />
Und mißvergnügt in mein Möbliertes gehen,<br />
Das mir für dreißig Mark Zuhause ist,<br />
Und warten, daß ein Brief von dir mich grüßt,<br />
Und abends manchmal nach der Türe sehen.<br />
<br />
. . . Ich kenn das schon. Und weiß, es wird mir fehlen,<br />
Daß du um sechs nicht vor dem Bahnhof bist.<br />
— Wem soll ich, was am Tag geschehen ist,<br />
Und von dem Ärger im Büro erzählen?<br />
<br />
Jetzt, da du fort bist, scheint mir alles trübe.<br />
Hätt ichs geahnt, ich ließe dich nicht gehn.<br />
Was wir vermissen, scheint uns immer schön.<br />
Woran das liegen mag . . . Ist das nun Liebe?<br />
<br />
Das regnet heut! Man glaubt beinah zu spüren,<br />
Wies Thermometer mit der Stimmung fällt.<br />
Frau Meilich hat die Heizung abgestellt,<br />
Und irgendwo im Hause klappern Türen.<br />
<br />
Jetzt sitz ich ohne dich in meinem Zimmer<br />
Und trink den dünnen Kaffee ganz allein.<br />
— Ich weiß, das wird jetzt manches Mal so sein.<br />
Sehr oft vielleicht . . . Beziehungsweise: immer.<br />
<br />
<br />
<br />
<b>Spät nachts</b><br />
<br />
Jetzt ruhn auch schon die letzten Großstadthäuser.<br />
Im Tanzpalast ist die Musik verstummt<br />
Bis auf den Boy, der einen Schlager summt.<br />
Und hinter Schenkentüren wird es leiser.<br />
<br />
Es schläft der Lärm der Autos und Maschinen,<br />
Und blasse Kinder träumen still vom Glück.<br />
Ein Ehepaar kehrt stumm vom Fest zurück,<br />
Die dürren Schatten zittern auf Gardinen.<br />
<br />
Ein Omnibus durchrattert tote Straßen.<br />
Auf kalter Parkbank schnarcht ein Vagabund.<br />
Durch dunkle Tore irrt ein fremder Hund<br />
Und weint um Menschen, die ihn blind vergaßen.<br />
<br />
In schwarzen Fetzen hängt die Nacht zerrissen,<br />
Und wer ein Bett hat, ging schon längst zur Ruh.<br />
Jetzt fallen selbst dem Mond die Augen zu . . .<br />
Nur Kranke stöhnen wach in ihren Kissen.<br />
<br />
Es ist so still, als könnte nichts geschehen.<br />
Jetzt schweigt des Tages Lied vom Kampf ums Brot.<br />
— Nur irgendwo geht einer in den Tod.<br />
Und morgen wird es in der Zeitung stehen . . .<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhcT-kMndfzu2sF7D1qi_tpndoq0b-W8h9MMHq-YZ-8oxesXwlGDDcKnEDs7oJ1PTR7weVvK_gUmoD0KraL5rIWPNF3aS0NogMjejySbbOnYGO0jct6v5xNeipakjoQcRd8msYy46KmROo/s1600/H.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1414" data-original-width="1000" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhcT-kMndfzu2sF7D1qi_tpndoq0b-W8h9MMHq-YZ-8oxesXwlGDDcKnEDs7oJ1PTR7weVvK_gUmoD0KraL5rIWPNF3aS0NogMjejySbbOnYGO0jct6v5xNeipakjoQcRd8msYy46KmROo/s400/H.jpg" width="282" /></a></div>
<b>Angebrochener Abend</b><br />
<br />
Ich sitz in meinem Stammcafä<br />
Es ist schon spät. Ich gähne . . .<br />
Ich habe Sehnsucht nach René<br />
Und außerdem Migräne.<br />
<br />
Der große Blonde an der Bar<br />
Schickt einen Brief. — Beim Lesen<br />
Denk ich: Zu spät. Vor einem Jahr<br />
Wär der mein Typ gewesen.<br />
<br />
Die Drehtür surrt und importiert<br />
Ein Dutzend Literaten.<br />
— Ein Lyriker ruft ungeniert:<br />
‹. . . Das Schnitzel scharf gebraten!›<br />
<br />
Der Ober blickt impertinent,<br />
Kassiert zwei Weingedecke.<br />
Hierauf verschwindet sehr dezent<br />
Ein Pärchen aus der Ecke.<br />
<br />
Der Talmi-Herr sprach sehr gewählt.<br />
Die Talmi-Dame nippte.<br />
. . . Die beiden geben — knapp gezählt —<br />
Zwei Folio-Manuskripte.<br />
<br />
Vom Ping-Pong-Tisch grüßt ein Tenor.<br />
Ich kann den Kerl nicht sehen!<br />
Und nehme mir wie immer vor,<br />
Nie wieder herzugehen.<br />
<br />
Ein Sportgirl zwitschert von Davos.<br />
Ich seufze mit Begründung:<br />
Ich habe nur ein Achtellos<br />
Und eine Halsentzündung.<br />
<br />
Jetzt macht die Jazzkapeile Schluß.<br />
Der Asphalt glänzt vom Regen.<br />
— Ich nehme einen Omnibus<br />
Und fahr dem Schlaf entgegen . . .<br />
<br />
<br />
<br />
<b>Der nächste Morgen</b><br /><br />Wir wachten auf. Die Sonne schien nur spärlich<br />Durch schmale Ritzen grauer Jalousien.<br />Du gähntest tief. Und ich gestehe ehrlich:<br />Es klang nicht schön. — Mir schien es jetzt erklärlich,<br />Daß Eheleute nicht in Liebe glühn.<br /><br />Ich lag im Bett. Du blicktest in den Spiegel,<br />Vertieftest ins Rasieren dich diskret.<br />Du griffst nach Bürste und Pomadentiegel.<br />Ich sah dich schweigend an. Du trugst das Siegel<br />Des Ehemanns, wie er im Buche steht.<br /><br />Wie plötzlich mich so viele Dinge störten!<br />— Das Zimmer, du, der halbverwelkte Strauß,<br />Die Gläser, die wir gestern abend leerten,<br />Die Reste des Kompotts, das wir verzehrten.<br />. . . Das alles sieht am Morgen anders aus.<br /><br />Beim Frühstück schwiegst du. (Widmend dich den Schrippen.)<br />— Das ist hygienisch, aber nicht sehr schön.<br />Ich sah das Fruchtgelée auf deinen Lippen<br />Und sah dich Butterbrot in Kaffee stippen —<br />Und sowas kann ich auf den Tod nicht sehn!<br /><br />Ich zog mich an. Du prüftest meine Beine.<br />Es roch nach längst getrunkenem Kaffee.<br />Ich ging zur Tür. Mein Dienst begann um neune.<br />Mir ahnte viel —. Doch sagt ich nur das Eine:<br />‹Nun ist es aber höchste Zeit! Ich geh . . .›<br /><br />
<br />
<br />
<b>Sonntagmorgen</b><br />
<br />
Die Straßen gähnen müde und verschlafen.<br />
Wie ein Museum stumm ruht die Fabrik.<br />
Ein Schupo träumt von einem Paragraphen,<br />
Und irgendwo macht irgendwer Musik.<br />
<br />
Die Stadtbahn fährt, als tat sie's zum Vergnügen,<br />
Und man fliegt aus, durch Wanderkluft verschönt.<br />
Man tut, als müßte man den Zug noch kriegen.<br />
Heut muß man nicht. — Doch man ist's so gewöhnt.<br />
<br />
Die Fenster der Geschäfte sind verriegelt<br />
Und schlafen sich wie Menschenaugen aus. —<br />
Die Sonntagskleider riechen frisch gebügelt.<br />
Ein Duft von Rosenkohl durchzieht das Haus.<br />
<br />
Man liest die wohlbeleibte Morgenzeitung<br />
Und was der Ausverkauf ab morgen bringt.<br />
Die Uhr tickt leis. - Es rauscht die Wasserleitung,<br />
Wozu ein Mädchen schrill von Liebe singt.<br />
<br />
Auf dem Balkon sitzt man, von Licht umflossen.<br />
Ein Grammophon kräht einen Tango fern . . .<br />
Man holt sich seine ersten Sommersprossen<br />
Und fühlt sich wohl. — Das ist der Tag des Herrn!<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhZNACQo_nI_XLF2W8oSxkNAEUpVnA7myXmxFQR5oo7ly6o1aoI1U5Ry8n5JlXSNm6ChqCoa61vi8dAPNbLiFK1mkmgbVdjnw3uvtxMEdtPx3abrzTLfI8A3jCgiwS9wIV4sI1alDjETbI/s1600/I.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="960" data-original-width="720" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhZNACQo_nI_XLF2W8oSxkNAEUpVnA7myXmxFQR5oo7ly6o1aoI1U5Ry8n5JlXSNm6ChqCoa61vi8dAPNbLiFK1mkmgbVdjnw3uvtxMEdtPx3abrzTLfI8A3jCgiwS9wIV4sI1alDjETbI/s400/I.jpg" width="300" /></a></div>
<b>Kurzer Reisebericht</b><br />
<br />
In diesem Dorfe gibt es einen Bürgermeister,<br />
Eine so gut wie freiwillige Feuerwehr,<br />
Und hinterm Moor — als einzge — böse Geister,<br />
Dazu ein Kurhaus. Und — ach, ja: das Meer.<br />
<br />
Die Fischer haben Haut wie Pergament‚<br />
Ein hartes Los und keinen Hang zur Scholle.<br />
Nebst einem nördlich-kühlen Temperament.<br />
(— Was man im Kur-Prospekt vergleichen wolle.)<br />
<br />
Die Großstadtgäste kommen wegen der gesundern<br />
Luft. — In ihrer Freizeit lieben sie Natur<br />
Und machen mit der kärglichen Figur Figur,<br />
Daß sich die immerhin rundern Flundern<br />
Wundern.<br />
<br />
Die Kleidung ist angeblich ‹ungezwungen›.<br />
Weil jedes Girl die Seemannskluft kopiert.<br />
. . . In Crêpe de Chine. — So ‹echt› wie Gassenjungen,<br />
Mit denen man das Sonntagsblatt garniert.<br />
<br />
Dann gibt's noch ein Café der Prominenten.<br />
Die haben es egalweg mit Kultur.<br />
Provinzskribenten tun, als ob sie könnten.<br />
Und was sie reden, ist Makulatur.<br />
<br />
In Vollpension logiert ein Vegetarier,<br />
Der ißt aus Überzeugung nur Spinat.<br />
Ferner ein notleidender Großagrarier<br />
Mit dem Refrain: ‹— Und sowas nennt sich Staat!›<br />
<br />
. . . Die Verteilung der Güter wirkt ja oft grotesk.<br />
Hier z. B. findet am Strand nur Erholung für Kurgäste statt.<br />
Die Eingeborenen nehmen nur höchst selten ein Bad.<br />
Die Dame aus Chemnitz findet dies pittoresk.<br />
<br />
<br />
<br />
<b>Das letzte Mal</b><br />
<br />
. . . Den Abend werde ich wohl nie vergessen,<br />
Denn mein Gedächtnis ist oft sehr brutal.<br />
Du riefst: ‹Auf Wiedersehn›. Ich nickte stumm. — Indessen<br />
Ich wußte: dieses war das letzte Mal.<br />
<br />
Als ich hinaustrat, hingen ein paar Sterne<br />
Wie tot am Himmel. Glanzlos kalt wie Blech.<br />
Und eine unscheinbare Gaslaterne<br />
Stach in die Augen unbekümmert frech.<br />
<br />
Ich fühlte deinen Blick durch Fensterscheiben.<br />
Er ging noch manche Straße mit mir mit.<br />
— Jetzt gab es keine Möglichkeit zu bleiben.<br />
Die Zahl ging auf. Wir waren beide quitt.<br />
<br />
Da lebt man nun zu zweien so daneben . . .<br />
Was bleibt zurück? — Ein aufgewärmter Traum<br />
Und außerdem ein unbewohnter Raum<br />
In unserm sogenannten Innenleben.<br />
<br />
Das ist ein neuer Abschnitt nach drei Jahren,<br />
— Hab ich erst kühl und sachlich überlegt.<br />
Dann bin ich mit der Zwölf nach Haus gefahren<br />
Und hab mich schweigend in mein Bett gelegt . . .<br />
<br />
lch weiß, mir ging am 4. Januar<br />
Ein ziemlich guterhaltnes Herz verloren.<br />
— Und dennoch: Würd ich noch einmal geboren,<br />
Es käme alles wieder, wie es war . . .<br />
<br />
<br />
<br />
<b>Liebe, da capo . . .</b><br />
<br />
Auf einmal also bist du wieder da,<br />
Und jeder brave Vorsatz ist verloren.<br />
Ich hatte es mir diesmal zugeschworen;<br />
. . . Und kämst du selbst aus Innerafrika:<br />
<br />
Aus und vorbei! — Doch schon ist es zu spät.<br />
Nun sitz ich, wie das heißt, in deinen ‹Netzen›<br />
Man sollte meine Seele strafversetzen<br />
In ein Revier, das dir nicht untersteht.<br />
<br />
Wußt ich denn nicht, daß es sehr ratsam ist,<br />
Dich mit gut eingeübter Kühle fortzutreiben?<br />
Wie aber soll ich denn vernünftig bleiben,<br />
Wenn du mir leider so sympathisch bist?!<br />
<br />
Als wäre nichts geschehn, tauchst du nun auf,<br />
Mein kleines bißchen Ruhe zu zerstören.<br />
Es ist so schwer, das Böse abzuwehren.<br />
— Ich geb es auf<br />
<br />
Und weiß: ein Herz, das man schon mal verlor,<br />
Reist nur noch in getragenen Gefühlen.<br />
Und, während wir noch einmal ‹Liebe› spielen,<br />
Bereit ich mich zum nächsten Abschied vor.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgoQwJbgBrStoso83kqig33Jnb5gCodJArQML6HJxSE0oCVjOgSRDGHE26hZQBxv4557VRWK5_xmNfV40zZAAFa_-HDXioHMFQz-q-DdUrn3K2jwR_2O241qSC6Rr5eDpORZLGhmVh8W4o/s1600/J.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="960" data-original-width="1024" height="375" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgoQwJbgBrStoso83kqig33Jnb5gCodJArQML6HJxSE0oCVjOgSRDGHE26hZQBxv4557VRWK5_xmNfV40zZAAFa_-HDXioHMFQz-q-DdUrn3K2jwR_2O241qSC6Rr5eDpORZLGhmVh8W4o/s400/J.jpg" width="400" /></a></div>
<b>Für Einen</b><br />
<br />
Die Andern sind das weite Meer.<br />
Du aber bist der Hafen.<br />
So glaube mir: kannst ruhig schlafen,<br />
Ich steure immer wieder her.<br />
<br />
Denn all die Stürme, die mich trafen,<br />
Sie ließen meine Segel leer.<br />
Die Andern sind das bunte Meer,<br />
Du aber bist der Hafen.<br />
<br />
Du bist der Leuchtturm. Letztes Ziel.<br />
Kannst, Liebster, ruhig schlafen.<br />
Die Andern . . . das ist Wellen-Spiel,<br />
<br />
Du aber bist der Hafen.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Die Gedichte sind entnommen aus: Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft — Kleines Lesebuch für Große. Rowohl Taschenbuch 11784, Hamburg 1956, 36. Auflage 2012, ISBN 978 3 499 11784 8</i></span><br />
<br />
<br />
<b>Noch mehr Klaverlieder neuerer Zeit - immer frisch aus der Kammermusikkammer:</b> <br />
<br />
<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/09/hanns-eisler-lieder-dietrich-fischer.html" target="_blank">- von Hanns Eisler (Dietrich Fischer-Diskau, Aribert Reimann) | Edmund Wilson über Paul Valéry.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/07/lili-boulanger-clairieres-dans-le-ciel.html" target="_blank">- von Lili Boulanger (Martyn Hill, Andrew Ball) | Jean de La Bruyère über den Menschen</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/06/joseph-marx-1882-1964-lieder.html" target="_blank">- von Joseph Marx (Angelika Kirchschlager, Anthony Spiri) | Ludwig Wittgenstein über Gewißheit</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/04/der-dirigent-bruno-walter-als.html" target="_blank">- von Bruno Walter (Susanne Winter / Christian Hilz, Katia Bouscarrut) | Friedrich Torbergs über die Geschichte der Lyrik</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/03/charles-ives-klavierlieder.html" target="_blank">- von Charles Ives (VA) | Lucien Febvre über das Hören-Sagen</a></b><br />
<b><br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/11/ferruccio-busoni-klavierlieder.html" target="_blank">- von Ferruccio Busoni (Martin Bruns, Ulrich Eisenlohr) | Leo Spitzer über Werbung als populäre Kunst</a></b><br />
<br />
<br />
<a href="https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Wolfgang-Fortner-1907-1987-Lieder/hnum/8290016" target="_blank"><b>CD bestellen bei JPC.de</b></a> <br />
<br />
<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 23 MB <br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-55301743449028023872020-01-07T12:40:00.000+01:002020-01-07T12:40:01.783+01:00Johannes Ciconia: Opera Omnia (Diabolus in Musica, La Morra)<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjZI-BbWhlZIERV5KC0mv2R0lBFTuQNUwUCZYOFHynybqIaIa-FYEyiYbCC8wMtIhq3BaAbDixF10Pp8PnNnB9tQnUZjSOrMI1Vqb_JoJISgr8snQg1jKI9r24OLKfdZBlJKnQ2iw61Uxc/s1600/Box+Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1539" data-original-width="1545" height="318" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjZI-BbWhlZIERV5KC0mv2R0lBFTuQNUwUCZYOFHynybqIaIa-FYEyiYbCC8wMtIhq3BaAbDixF10Pp8PnNnB9tQnUZjSOrMI1Vqb_JoJISgr8snQg1jKI9r24OLKfdZBlJKnQ2iw61Uxc/s320/Box+Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Die Karriere eines Musikers zu schildern, der seine Kunst an der Grenze des 14. zum 15. Jh. ausübte, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, da es so sehr an Dokumentation fehlt: sehr seltene briefliche Aussagen, verstreute Zeugnisse, fast nie ein Porträt. Oft erhalten die Namen, die über den Musikstücken in einigen Handschriften oder Fragmenten stehen, nur durch das Sterbedatum Leben. Die Unterschrift, die auch zur Verwirrung beiträgt, wenn die Zuordnung des Werks anfechtbar ist, verrät aber mehr als einen Namen. Das war bei jenem „Magister Ciconia de Leodio" der Fall, der auf einigen Folioblättern eines berühmten, heute in Oxford aufbewahrten (Canonici 213) Kodex aufscheint und auch auf einigen Kopien einer <i>Ars Nova</i> betitelten Abhandlung zu finden ist, die in Italien im ersten Teil des Quattrocento im Umlauf war. Es gab demnach um 1400 einen Musiker aus Lüttich namens Ciconia, der einen „Magister“-Titel trug und berühmt genug war, um in mehreren Quellen vertreten zu sein, die für das, was damals im Bereich der Musik zum Besten zählte, repräsentativ sind. Dass ein Mann aus Lüttich am Ende des Mittelalters durch die Musikzentren Europas reiste, ist nicht erstaunlich. Viele Sänger „de leodio“ verstärkten die Vokalensembles, die zum Kunstgenuss der Fürsten und Prälaten beitrugen, und widmeten einen Teil ihrer Laufbahn der Ausbildung der Chorknaben in einer (Stifts—)kirche oder Kathedrale, um am Ende ihrer Karriere eine mehr oder weniger gut dotierte Pfründe zu genießen.<br />
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Die Musikwissenschaftler konnten dem Reiz der Werke dieses Johannes Ciconia aus Lüttich ebenso wenig widerstehen wie vor ihnen die Kopisten der Handschriften, die selbstverständlich sehr feinfühlige Musikkenner waren. Die Werke dieses Meisters Johannes sind gegenüber dem üblichen Durchschnitt relativ zahlreich und bieten sich sofort als Fundgrube an, in der Messteile und Motetten neben Madrigalen und Liedern, Gelegenheitswerken und unglaublichen Kanons zu finden sind. Dabei hat und wird man sich nie die Frage stellen, ob Ciconia Talent hatte: Seine Begabung äußert sich nämlich auf jeder Seite. Dagegen war es immer schwierig zu sagen, wer Ciconia war.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg6aNCsJm1LK6sKg_LshNS1H73yya6xhtu4MsmW6tGShGsAMxSz5WGCKomJZgoQRjrMVdPJ3xyhgzPzNWldSoo0PvKxdNEcEzqiK-ELgEQK76ngftzLiJm5MQqunozrV_FR2DMHJuRR7co/s1600/1Basilica_di_Sant%25C2%25B4_Antonio.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="967" data-original-width="1279" height="301" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg6aNCsJm1LK6sKg_LshNS1H73yya6xhtu4MsmW6tGShGsAMxSz5WGCKomJZgoQRjrMVdPJ3xyhgzPzNWldSoo0PvKxdNEcEzqiK-ELgEQK76ngftzLiJm5MQqunozrV_FR2DMHJuRR7co/s400/1Basilica_di_Sant%25C2%25B4_Antonio.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Basilica di Sant´ Antonio di Padova, errichtet zwischen 1232 und 1310,<br />
als Grab des Heiligen Antonius.</td></tr>
</tbody></table>
Von Ciconias Leben ist sein Sterbedatum das Ereignis, über das uns die Quellen die genauesten Auskünfte geben. Am 10. Juni 1412 unterzeichnete Johannes Ciconia ein notariell beglaubigtes Dokument. Einen guten Monat später, am 13. Juli, wird ein neuer Kaplan — ein „Custos“ — „per mortem Johannes Ciconia“ ernannt. Leider erfahren wir weder aus diesen Dokumenten noch aus anderen das Alter des Komponisten. Und diese fehlende Information stiftet nachträglich Verwirrung in Hinblick auf alle biographischen Angaben, die in anderen Archiven als in denen Paduas zu finden sind. Die Dokumente aus Padua verraten keine weiteren Einzelheiten über die Lütticher Herkunft des Johannes Ciconia, abgesehen davon, dass sein Vater 1405 starb. Seit wann hielt sich der Komponist Ciconia in Italien auf? Wo erhielt er seine Ausbildung? Kam er direkt nach Padua, um relativ bedeutende Funktionen in der Stadt zu übernehmen, in der er mit berühmten Persönlichkeiten der politischen und kirchlichen Szene verkehrte, während Europa vom großen Schisma zerrissen wurde? Denn den Hintergrund zu Ciconias Karriere bildet selbstverständlich diese schwere, tiefe und dauerhafte Krise der Kirche.<br />
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Um auf diese Fragen Antworten zu finden, die es erlauben würden, die Marksteine einer Karriere zu setzen, verfügt der Historiker über nur wenige Elemente, in erster Linie über Musikhandschriften. Sie sind nicht unbedingt zeitgleich mit der Uraufführung der Werke, die sie enthalten, und kommen möglicherweise aus Orten, die nicht auf den Wegen der in den Handschriften vertretenen Komponisten liegen. Sie können aber auch aus einer interessanten Lokalität stammen, die vielleicht eine klug gewählte Etappe für einen ehrgeizigen Musiker war, ohne dass die Archive dieser Stadt diese Hypothese untermauern. Außerdem verfügt der Historiker über Dokumente aus Archiven. Was Ciconia betrifft, so handelt es sich selbstverständlich um die in Padua aufbewahrten Dokumente, doch auch um die aus Lüttich. Allerdings ist der Familienname Ciconia (oder Chywogne, Cichonia, Chuwagne, Cyconia) haufig, Ja man stößt dabei sogar auf einen Johannes, der dort in den Jahren 1390-1410 einer kirchlichen Laufbahn nachging. Ein andermal taucht der Name eines Johannes Ciconia in einem 1391 geschriebenen Brief von Bonifatius IX. aus Rom auf. Diese Spuren zu verbinden, um daraus eine Karriere zu rekonstruieren, ist nicht leicht. Und Ciconias Werk selbst macht diesen Versuch noch komplizierter.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj2KfeuvntWFXRXJWciN4u02nVpdW3EDSPiL-okxzzmWK_m0H1Aluigd73aiog6vk0_BIZP0zgqM_fSHL-bwaVVRlzR_jQqhQTey0dmKbYkEtgtEBNvnjyK1Hi9ZsZ3Z-fZdw787QMN-bk/s1600/2Gattamelata.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="850" data-original-width="628" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj2KfeuvntWFXRXJWciN4u02nVpdW3EDSPiL-okxzzmWK_m0H1Aluigd73aiog6vk0_BIZP0zgqM_fSHL-bwaVVRlzR_jQqhQTey0dmKbYkEtgtEBNvnjyK1Hi9ZsZ3Z-fZdw787QMN-bk/s400/2Gattamelata.jpg" width="295" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Reiterstatue des Gattamelata (Erasmo da Narni), <br />
1447, Bronzeplastik von Donnadello.</td></tr>
</tbody></table>
Zum Beispiel verraten die Archive der Stiftskirche Saint-Jean-l‘Évangeliste, dass in der Kantorei 1385 ein Chorknabe namens Johannes Ciconia sang. Es handelt sich um die einzige „musikalische“ Spur Ciconias in Lüttich. Und sie könnte mit den Dokumenten aus Padua vollkommen übereinstimmen. War Johannes 1385 Chorknabe, ist er zwischen dem Ende der 1360er Jahre und der Mitte der 70er Jahre geboren, kam mit rund dreißig Jahren nach Padua und konnte sich auf eine bereits reiche Erfahrung verlassen, wovon die Motetten zeugen, die er, kaum hatte er sich in dieser Universitätsstadt niedergelassen, einigen Würdenträgern zu bestimmten Anlässen widmete. Wenn er also 1385 Chorknabe war, so könnten seine ersten Kompositionen möglicherweise am Ende der 1380er Jahre und noch wahrscheinlicher zu Beginn der 1390er Jahre geschrieben worden sein.<br />
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Ein Dokument erweckt den Eindruck, sichere Fakten zu vermitteln. Es handelt sich um ein Schreiben, das Bonifatius IX. 1391 verfasste, um einem jungen Geistlichen aus Lüttich zu erlauben, aufgrund seiner Geburt keine Nachteile zu erleiden: Er sei der uneheliche Sohn eines Domherrn. Ja mehr noch: dieses Schreiben ermöglicht es dem jungen Johannes Ciconia, eine Pfründe in der Kirche seines Vaters zu erhalten und aus einer weiteren Pfründe an der Kirche Sainte-Croix in Lüttich — und sei es nur in Zukunft — Nutzen zu ziehen. Tatsächlich lebte Johannes Ciconia Vater, Domherr der Kirche Saint—Jean‚ mit einem Mädchen „von schlechtem Ruf“‚ ohne dadurch die Vorteile seiner Stellung zu verlieren. Welches Gewicht hatte aber das vom Papst unterzeichnete Dokument wirklich? Die Päpste verteilten in diesen Jahren des Schismas frisch-fröhlich Pfründen, wodurch sie innerhalb der Städte Widerstände anfachten. Lüttich entging dieser Tendenz nicht. Eine künftige Domherrnstelle verpflichtete den Papst im übrigen nicht wirklich. Und in den Archiven der Kirche Sainte—Croix scheint kein Ciconia auf. Dagegen gab es einen in der Kirche Saint-Jean:<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh2Ji1MbUzVsBEA9x7q9YdNzmHAoOJwHOSW-LtlNpoWMsuDRxL1In3ahDCG3ysz9yRvyRiYoqkiIfVlVzkLsf-ap6xtYla_Abw6W2XlGYm844lhWJ29AyfBYZdmdCe8428tmh04V2ck5iM/s1600/3Cappella+degli+Scrovegni.JPG" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="950" data-original-width="1280" height="296" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh2Ji1MbUzVsBEA9x7q9YdNzmHAoOJwHOSW-LtlNpoWMsuDRxL1In3ahDCG3ysz9yRvyRiYoqkiIfVlVzkLsf-ap6xtYla_Abw6W2XlGYm844lhWJ29AyfBYZdmdCe8428tmh04V2ck5iM/s400/3Cappella+degli+Scrovegni.JPG" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Das unscheinbare Äußere der Cappella degli Scrovegni, <br />
errichtet 1302 bis 1305</td></tr>
</tbody></table>
Tatsächlich einen Johannes, der aber nicht der Vater war, dessen Sitten im Widerspruch zu seiner Stellung standen. Und dieser Johannes Ciconia genoss seine Pfründe bis 1408, als der Fürstbischof von Lüttich beschloss, sie ihm wegzunehmen, um ihn mit anderen, die sein Schicksal teilten, zu bestrafen, weil er Sympathien zur „Clique von Avignon“ gezeigt hatte. Dieser Fürstbischof wollte nämlich seinen Treueeid zu Rom beteuern. Jedenfalls scheint der vom Fürstbischof Geschädigte nicht der Komponist gewesen zu sein: Der hat sich in Padua niedergelassen und genießt die Protektion Zabarellas, eines immensen Gelehrten, der Rom nahesteht und zur Versöhnung der katholischen Kirche aktiv beiträgt. Dem Schützling eines der einflussreichsten Männer der Kirche die Pfründe wegzunehmen, wäre für den Fürstbischof Johannes III. von Bayern eine widersinnige Geste. Und hätte er es dennoch getan, warum hätte er diesem Johannes Ciconia nicht auch die Nutzung einer klösterlichen Unterkunft in der Kirche Saint—Jean verboten? Das Nutzungsrecht ging erst 1412 in andere Hände über. Ganz einfach: weil es zwei Johannes Ciconia gibt. Der eine lebt in Lüttich und ist zweifellos der Sohn von Johannes, dem Domherren, wird ebenfalls Domherr und Opfer des fürstbischöflichen Zorns. Der andere lebt in Italien, ist offenbar ebenfalls ein Sohn von Johannes und genießt die ererbten Vorteile der beneidenswerten Stellung seines Vaters. Doch kann er keinesfalls verdächtigt werden, Sympathien für die „Avignoner Clique“ zu hegen, da er in prorömischen Milieus verkehrt.<br />
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All das genügt aber nicht, sich die Karriere von Johannes Ciconia vorzustellen. Einige Elemente weisen darauf hin, dass Johannes um 1370 geboren ist und möglicherweise Chorknabe in der Kirche Saint—Jean war. Er wird als „Magister“ bezeichnet: dass er etwa zehn Jahre in Padua gearbeitet und zwei Abhandlungen geschrieben hat, verschaffte ihm die Aura eines Gelehrten. Doch vielleicht hat er auch an einer Universität studiert, bevor er sich in Padua niederließ. Und warum nicht in Paris, wohin viele Lütticher zogen, um ein Universitätsdiplom zu erhalten und damit die Möglichkeit einer Pfründe (ein solches Diplom war an der Kirche Sainte—Croix für Nichtadelige obligatorisch). In den Jahren zwischen 1370 und 1380 widmeten sich Dichter und Musiker in Paris leidenschaftlich dem Spielen mit Zitaten, was Giangaleazzo Visconti während seines Studiums dort hören konnte und worin sich Ciconia mit <i>Sus un‘ fontayne</i> auszeichnete.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXWT5HUxLPR2jJJudIuEUA6qX6bPDf1Y53ofEZ7Z5baVwMMduWm3VeG2rFWndag0mtM7zNc1dVczZvlH4yNfqw-sTek8OZ9kcVWEsVoihpIn9-EMGxu1w9SfAQCW8SJZC8qVoCXFNcIqg/s1600/4S%25C3%25BCdwand.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1023" data-original-width="683" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXWT5HUxLPR2jJJudIuEUA6qX6bPDf1Y53ofEZ7Z5baVwMMduWm3VeG2rFWndag0mtM7zNc1dVczZvlH4yNfqw-sTek8OZ9kcVWEsVoihpIn9-EMGxu1w9SfAQCW8SJZC8qVoCXFNcIqg/s400/4S%25C3%25BCdwand.jpg" width="266" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Cappella degli Scrovegni, Südwand,<br />
mit den Fresken von Giotto di Bondone</td></tr>
</tbody></table>
Johannes Ciconia soll also in Lüttich geboren sein (was schwer anfechtbar ist), u. zw. im dritten Drittel des l4. Jh. Der Chorknabe fährt nach dem Stimmbruch zweifellos nach Paris, um ein Universitätsstudium zu beginnen. Wie viele andere talentierte Musiker reizen ihn die italienischen Höfe, wo viele Landsleute schönen Karrieren nachgehen. Einige Jahre — wie viele kann man unmöglich sagen — lebt Johannes Ciconia in verschiedenen Städten, vielleicht in Rom, wofür der Brief von Bonifatius aber auch Dokumente aus der Umgebung des Kardinals Philippe d'Alençon sprechen.<br />
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Leider stirbt Philippe d'Alençon, der Gönner des jungen Musikers, im Jahre 1397. Ob Ciconia zwischen 139l (dem Datum des einzigen Dokuments, das erlaubt, den Komponisten mit dem Kardinal in Verbindung zu bringen) und 1397 in Rom lebte, weiß man nicht. Ein längerer Aufenthalt würde die Vorstellung erlauben, dass der junge Musiker aus dem Norden dort zwar sicher seine Landsleute traf, die ihr Talent in der päpstlichen Kapelle oder in der Umgebung eines Kardinals und Kunstmäzens zur Geltung brachten, aber vor allem mit einer der markantesten Persönlichkeiten der italienischen Musik im letzten Jahrzehnt des l4.Jh. in Kontakt kam: Antonio Zacara da Teramo. Der Versuch, das Netz der musikalischen Beziehungen Ciconias zu rekonstruieren, ist zwar kühn, bietet jedoch eine nicht unwesentliche Piste, die ausgenutzt wurde, um richtig einzuschätzen, inwieweit sich ein auf der anderen Seite der Alpen ausgebildeter Komponist die italienische Kultur des Trecento aneignete.<br />
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Auch wenn man gelten lässt, dass Ciconia in Rom in der Umgebung des Kardinals d'Alençon lebte, erwähnt kein Dokument seinen Aufenthalt in dieser Stadt nach 1397, so dass man ihn sich unweigerlich reisend vorstellt. Diese Reisen führten ihn mit großer Sicherheit nach Padua, wo sein Name zum ersten Mal im Juli 1401 auftaucht. Demnach hätte er vier Jahre herumreisend aber offensichtlich nicht untätig verbracht.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiHJCtIF8xE8kpfa0wnm3cOhWIvo8L1ISQhdwtahOZvaUXPxyDwdVqpzKKSZbWuO90_Bl6TgL3mf2-vpA5SrRXz9694zVq3Mf-Mtqao4lJMLxTClyiIGCUKBVViY5a6Kt952T6qnSkqRE8/s1600/5Palazzo+della+Ragione.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="656" data-original-width="1280" height="205" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiHJCtIF8xE8kpfa0wnm3cOhWIvo8L1ISQhdwtahOZvaUXPxyDwdVqpzKKSZbWuO90_Bl6TgL3mf2-vpA5SrRXz9694zVq3Mf-Mtqao4lJMLxTClyiIGCUKBVViY5a6Kt952T6qnSkqRE8/s400/5Palazzo+della+Ragione.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Palazzo della Ragione, Fassade, von der Piazza della Frutta gesehen.</td></tr>
</tbody></table>
Der Kodex Mancini (oder Kodex Lucca) bewahrt neun Werke von Ciconia auf, von denen sieben ausschließlich dort zu finden sind. Unter diesen Stücken ließ das Madrigal <i>Una panthera in compagnia di Marte</i> darauf schließen, dass sich Ciconia in Lucca niedergelassen hatte. Bei aufmerksamerer Betrachtung des Textes und einer sorgfältigen kodikologischen Analyse des Kodex Mancini erwies sich diese Hypothese jedoch als überholt. Das Manuskript liefert angeblich unwiderlegbare Beweise dafür, dass es im Umkreis des Hofes von Giangaleazzo Visconti in Pavia zusammengestellt wurde, also an jenem Hof, an dem „es sehr schön zu verweilen“ war, um Eustache Deschamps zu zitieren. Der Anlass, für den Ciconia <i>Una panthera</i> komponierte, könnte von seiner Aktivität in Pavia zeugen. Lazzaro Guinigi, ein legitimer Vertreter der Familie, die mit eiserner Hand über Lucca herrschte, besuchte Giangaleazzo im Mai und Juni 1399, um ein Abkommen für ein Militärbündnis zu schließen. Der Text von <i>Una panthera</i> bekommt Sinn, wenn man ihn mit diesem politischen Ereignis in Beziehung setzt. Ciconia hätte demnach nicht in Lucca gelebt. Dagegen war Pavia eventuell eine Etappe auf seinem Weg nach Padua.<br />
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Und Padua hätte mehr sein können als eine Etappe. In Ciconias weltlichem Schaffen weisen mehrere Werke darauf hin, dass der Komponist eng an einen Hof gebunden war, an dem die damals von den Vertretern der Ars subtilior geschätzten Kompositionstechniken bekannt waren und verwendet wurden. Es ist unwahrscheinlich, das Ciconia <i>Le ray au soleyl</i> in seinen ersten Jahren in Lüttich komponiert hat und kaum anzunehmen, die Idee dafür sei ihm während seines Romaufenthalts gekommen. Das sind aber nur sehr hypothetische Datierungsvorschläge, da die Versuche, die Werke auf der Grundlage stilistischer Kriterien einzustufen noch sehr unsicher sind. Aus der gleichen Ader stammt ein Stück wie <i>Sus un’ fontayne</i>; es verrät einen Musiker, der die Kompositionstechniken eines Milieus beherrscht, in dem die französische Kultur mit der italienischen enge Kontakte hatte.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjl0qWcxxVeLe0Fhh54kfWzBWDHfCotI4yARXKiG5RdfSqY_MudxKot5EKxXH4FxjByaMBMJYkYb18ttYUm6Pz5cbUJ6LsZqv87Uo5v2UUihQ5k5VHrJZpqFzmI0OfYsyyNmsOAC_vH8uQ/s1600/6Palazzo_della_Ragione+Salone.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="600" data-original-width="966" height="247" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjl0qWcxxVeLe0Fhh54kfWzBWDHfCotI4yARXKiG5RdfSqY_MudxKot5EKxXH4FxjByaMBMJYkYb18ttYUm6Pz5cbUJ6LsZqv87Uo5v2UUihQ5k5VHrJZpqFzmI0OfYsyyNmsOAC_vH8uQ/s400/6Palazzo_della_Ragione+Salone.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Der Salone im Obergeschoß des Palazzo della Ragione</td></tr>
</tbody></table>
Ein Dokument, das Ciconias Anwesenheit in Padua erwähnt, ist auf 140l datiert. Der Erzpriester Francesco Zabarella gewährte ihm eine Pfründe in San Biagio de Roncagli in der Umgebung von Padua. Es handelt sich um die erste konkrete Spur einer Beziehung zwischen den beiden Persönlichkeiten, die erst mit der Abreise Zabarellas nach Florenz endete. Diese Pfründe erlaubte Ciconia sicher, ab 1402 in das Kapitel der Kathedrale von Padua einzutreten. Tatsächlich wird der Komponist dort 1403 als „Custos“ und „Cantor“ genannt. Hat er die Funktion des „Custos“ bestimmt nur symbolisch ausgeübt, so war die des „Cantor" konkret. Dennoch konnte Ciconia nie einen hohen Rang in der Hierarchie des Kapitels einnehmen: Die aus Padua oder nach 1405 aus Venedig stammenden Aristokraten hatten hier absoluten Vorrang. Dennoch war Ciconia der erste ausländische Musiker, der in der Kathedrale Mitglied des Kapitels wurde.<br />
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Obwohl Ciconia Zabarella nahe stand, rühmte er nichtsdestoweniger auch die Familie Carrara, anscheinend aber ohne eine offizielle Stellung am Hof innezuhaben. Da Ciconia 1396 ein Werk zum Andenken an den Tod von Francesco Carrara il Vecchio komponierte, könnte man annehmen, dass der Musiker ab diesem Zeitpunkt in irgendeiner Weise mit Padua in Verbindung stand. Und sicher hatte es der Musiker den Beziehungen zwischen Philippe d'Alençon und der Familie Carrara zu verdanken, dass Zabarella ihn protegierte. Doch all das sind nur Vermutungen. Die Archive von Padua haben offensichtlich nicht viele Spuren von Ciconias Aktivität bewahrt, und keine ist älter als 140l.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhccdrm_rhdg16klI1qkbXdlv9iLVa1gjRvh9OUoPdJrjdO1I81DBrmS7yAgmNkQSquuTLs4450vzuIY_qsaYIGgHFRGyhJsDN23QyUDlLLHruERiIdiJf8uBehGJ2jen58J2N_zz-_jHM/s1600/7Baptisterium+Giusto_de%2527_menabuoi%252C_paradiso.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="714" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhccdrm_rhdg16klI1qkbXdlv9iLVa1gjRvh9OUoPdJrjdO1I81DBrmS7yAgmNkQSquuTLs4450vzuIY_qsaYIGgHFRGyhJsDN23QyUDlLLHruERiIdiJf8uBehGJ2jen58J2N_zz-_jHM/s400/7Baptisterium+Giusto_de%2527_menabuoi%252C_paradiso.jpg" width="278" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Kuppelfresko von Giusto de' Menabuoi im <br />
Baptisterium des Doms von Padova, um 1378</td></tr>
</tbody></table>
Ciconia kannte Padua nicht unter den besten Umständen. Die Universitätsstadt erlitt eine Krise nach der anderen. Im Sommer 1405 herrscht dort sogar eine besonders tödliche Epidemie. In den selben Jahren nimmt die Anzahl der Studierenden an der juristischen Fakultät radikal ab. Kurz, es ist nicht wirklich angenehm, in Padua zu leben. Erst um 1409 erlangt Padua die Merkmale einer belebten Universitätsstadt wieder. Trotz dieses wenig günstigen Klimas gibt es Spuren der musikalischen Tätigkeiten Ciconias, u.zw. ausreichend, um die Mitwirkung des Komponisten an bedeutenden Ereignissen in Padua oder Venedig zu bestätigen und seine Beziehungen zu einigen hervorragenden Persönlichkeiten zu beweisen. Ist es einerseits vernünftig anzunehmen, dass die Werke mit französischen Texten aus den Jahren 1390 stammen, gehören die Stücke mit italienischen Texten eher — doch nicht ausschließlich — in das erste Jahrzehnt des 14.Jh. So konnte Ciconia mit Leonardo Guistinian Freundschaft schließen, als dieser sein Studium gegen 1406 an der Universität Padua fortsetzt. Während seines Lebens in Padua widmet sich Ciconia nicht nur der Komposition, sondern auch einer neuen Beschäftigung: Er verfasst zwei theoretische Abhandlungen. Die erste, <i>Nova Musica</i>, soll aus dem Jahre 1408 stammen, während die zweite, <i>De proportionibus</i>, angeblich 1411 geschrieben wurde. Die Texte zeugen von einem weiterem Paradox, denn Ciconia erweist sich darin sowohl als ein kompetenter Denker der Musik, als auch als ein neuen Einflüssen gegenüber merkwürdig widerstrebender Geist: Er kritisiert die Verwendung der Solmisationssilben (ut‚ re‚ mi, fa, sol, la), um die Rückkehr zu den Buchstaben zu empfehlen, die vor Guido d'Arezzos schöner Erfindung im Gebrauch waren. Dieses Paradox stand allerdings der Verbreitung dieser Abhandlungen im Italien des 15.Jh. nicht im Wege, so dass das Andenken an diese außergewöhnliche Persönlichkeit wach blieb.<br />
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Auch wenn noch große Bereiche von Ciconias Biographie im Dunkeln bleiben, so zeichnet sich doch unbestreitbar die Persönlichkeit eines Mannes aus Lüttich ab, der schon jung nach Italien aufbrach, um sich dort durch sein ungeheures Talent auszuzeichnen, und unter den Komponisten zur Schlüsselfigur dieser zwiespältigen Jahre der europäischen Geschichte wurde.<br />
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<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Philippe Ventrix (Übersetzung: Silvia Berutti-Ronelt), im Booklet</i></span><br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgYtHlKIrGCt8VARD8EhqOERwCRmM2LIzbpLJN9yM_WAMDGpcgBFS8X9cy45HykGP8auakCTMrMsN64NZcMmhc7FlmcocemjBztH07l_2eYjVyfaLekKID1EEeFz3ylMRk0OT7Z4shCB08/s1600/8Th%25C3%25A9%25C3%25A2tre-anatomique-Padoue.JPG" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="768" data-original-width="1024" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgYtHlKIrGCt8VARD8EhqOERwCRmM2LIzbpLJN9yM_WAMDGpcgBFS8X9cy45HykGP8auakCTMrMsN64NZcMmhc7FlmcocemjBztH07l_2eYjVyfaLekKID1EEeFz3ylMRk0OT7Z4shCB08/s400/8Th%25C3%25A9%25C3%25A2tre-anatomique-Padoue.JPG" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Das anatomische Theater der Universität Padova</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<pre>TRACKLIST
Johannes Ciconia
(c. 1370-1412)
Opera Omnia
CD 1 Musique profane [77:50]
01. Una panthera in compagnia di marte (à 3, flûte, luth, vielle) [05:30]
02. Sus un' fontayne (voix, luth, vielle) [07:47]
03. Chi nel servir (voix, luth, vielle) [03:10]
04. Le ray au soleyl (à 3, flûte, guiterne, vielle) [01:32]
05. Caçando un giorno (clavecin) [02:42]
06. Per quella strada (à 2, flûte, vielle) [04:44]
07. Con lagreme (à 2) [05:13]
08. Chi vole amar (lute) [02:29]
09. Dolçe Fortuna (à 2) [03:27]
10. Gli atti col dançar (voix, clavecin) [02:08]
11. La fiamma del to amor (à 2) [03:12]
12. Poy che morir (voix, vielle) [05:19]
13. Aler m'en veus (voix, flûte) [04:45]
14. I cani sono fuora (clavecin) [02:46]
15. Ligiadra donna (à 2, clavecin, guiterne) [04:16]
16. Merçe o morte (à 2, lute) [03:42]
17. O rosa bella (à 2, vielle) [05:52]
18. Contrafacta - canon / Regina gloriosa (organetto) [01:54]
19. Contrafacta - canon / O Petre, Christi discipule (à 2) [03:15]
20. Contrafacta - canon / O beatum incendium (à 2) [02:23]
21. Contrafacta - canon / Quod jactatur (à 3) [01:33]
La Morra:
Eve Kopli: soprano
Hanna Järveläinen: soprano
Els Janssens: mezzo-soprano
Javier Robledano Cabrera: contre-ténor
Corina Marti: flûtes à bec, clavicembulum
Michal Gondko: luth, guiterne
Elizabeth Rumsey: vièle
direction: Corina Marti & Michal Gondko
Enregistrement: Boswill, Alte Kirche (Künstlerhaus), janvier 2010
Prise de son et direction artistique: Jéróme Lejeune
CD 2 Motets et mouvements de messe [73:42]
01. Petrum Marcello Venetum / O Petre antistes inclite (à 2, organetto) [03:12]
02. O virum omnimoda / O lux et decus / O beate Nicholae (à 4) [02:25]
03. Ut per te omnes / Ingens alumnus Padue (à 2, 2 sacqueboutes) [02:56]
04. Gloria n° 3 (à 4) [03:17]
05. Credo n° 4 (à 4) [04:05]
06. Gloria spiritus et alme n° 6 (à 2, organetto) [04:51]
07. Venecie, mundi splendor / Michael qui Stena domus (à 3, organetto) [03:09]
08. Gloria suscipe trinitas (à 3, organetto) [06:43]
09. O beatum incendium (organetto) [02:33]
10. O felix templum jubila (à 2, 2 sacqueboutes) [03:33]
11. Gloria n° 9 (à 3) [04:32]
12. Doctorum principem / Melodia suavissima / Vir mitis (à 4) [02:57]
13. Gloria n° 1 (à 3) [03:48]
14. Gloria n° 2 (à 3) [05:51]
15. Albane, misse celitus / Albane doctor maxime (2 voices, organetto) [03:11]
16. Gloria spiritus et alme n° 5 (à 3) [04:39]
17. Credo n° 10 (à 4) [05:59]
18. Gloria n° 8 (voix, organetto) [02:41]
19. O Padua sidus preclarum (à 3) [03:14]
Diabolus in Musica:
Aino Lund-Lavoipierre: soprano
Estelle Nadau: soprano
Frédéric Betous: alto
Andés Rojas-Urrego:alto
Raphael Boulay: ténor
Emmanuel Vistorky: baryton-basse
Philippe Roche: basse
Guillermo Perez: organetto
Franck Poitrineau: saqueboute
Fabien Dornic: saqueboute
direction: Antoine Guerber
Enregistrement: Collégiale de Champeaux, septembre 2010
Prise de son et direction artistique: Jean-Marc Laisné
Temps total: 02h 38
(P) 2010 (C) 2011
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: x-large;"><b><span style="color: red;">Die Schönste im ganzen Land</span></b></span><br />
<b><span style="color: red;"><br /></span></b>
<span style="font-size: large;"><b><span style="color: red;">Die Berliner Büste der Nofretete</span></b></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjDXe2cHBGhw_FLG8H-slopldnW8I6Jy0WRRTiJZ1c0_G1hpzfevTKfV8V4GZZ1CKzIx37SwRA9oKI-T5kooojdewM0K752msD33l3Y8xVg4SaaQtT_OgUz-8Q_3Ve1y66FVHbepfkkTXU/s1600/01Nofretete_Neues_Museum.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1093" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjDXe2cHBGhw_FLG8H-slopldnW8I6Jy0WRRTiJZ1c0_G1hpzfevTKfV8V4GZZ1CKzIx37SwRA9oKI-T5kooojdewM0K752msD33l3Y8xVg4SaaQtT_OgUz-8Q_3Ve1y66FVHbepfkkTXU/s640/01Nofretete_Neues_Museum.jpg" width="437" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Nofretete, Bemalte Kalksteinbüste, um 1350 v.Chr, <br />
Ägyptisches Museum Berlin/Altes Museum</td></tr>
</tbody></table>
Schneewittchen war «weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz [-haarig] wie Ebenholz». Heute hingegen haben «als schön geltende Frauen ... eine braunere Haut, ein schmales Gesicht und vollere Lippen, einen weiteren Augenabstand‚ dünnere Augenlider, lange dunkle Wimpern und schmale dunkle Augenbrauen, höhere Wangenknochen und eine schmale Nase», befand die <i>Süddeutsche Zeitung</i> am 14. November 2001.<br />
<br />
Die Aufzählung liest sich wie eine Beschreibung der Büste der ägyptischen Pharaonin Nofretete, faßt aber in Wirklichkeit die statistischen Erkenntnisse von Regensburger Psychologiestudenten zusammen. Sie hatten zahlreiche Frauengesichter, darunter auch die einiger berühmter Models, fotografiert, die Fotos anschließend manipuliert (gemorpht) und dann mit einer Fragebogenaktion nach deren Attraktivität gefragt.<br />
<br />
Als «Schönste im Land» wurde keine Blondine vom Typ einer Claudia Schiffer gewählt, sondern — wie bereits erwähnt — eine eher brünette Schönheit, die sich durchaus historischen Schönheiten wie Kleopatra an die Seite stellen läßt oder eben einer noch älteren Ägypterin, die gleichfalls zu den schönsten Frauen der Welt gezählt wird: Nofretete. Eine Kalksteinbüste hat uns ihr Bild überliefert.<br />
<br />
Die berühmte Büste der Nofretete, die sich heute in Berlin befindet, entstand vor etwa 3350 Jahren. Ihr Gesicht ähnelt in vielen Details jenem, das am Computer aus vielen Gesichtern komponiert worden war und bei der Regensburger Fragebogenaktion als das schönste ausgesucht wurde. Mit einem Unterschied: Der Künstler der Nofretete-Büste besaß die Fähigkeit, das Gesicht lebendig und gleichzeitig geheimnisvoll wirken zu lassen. Man will die Frau kennenlernen, die sich hinter einem Lächeln verbirgt, das ihre Lippen umspielt. Das Computerbild hingegen ist klar, eindeutig und — langweilig. Vielleicht auch deshalb wird die Computer-Dame nie den Erfolg der Nofretete haben — als eine der berühmtesten Frauen der Weltgeschichte zu gelten, dazu noch als eine der schönsten und geheimnisvollsten.<br />
<br />
Die Büste der ägyptischen Königin aus bemaltem Kalkstein besitzt einen hellbraunen Teint und ebenmäßige Gesichtszüge. Unter der hohen Stirn wölben sich elegant geschwungene Brauen. Die Augen wirken durch den feinen, schwarzen Lidstrich mandelförmig‚ obwohl sie es gar nicht sind. Die Iris des Auges ist genauso schwarz wie die Pupille. Die gerade, schmale Nase wird von hohen Wangenknochen gerahmt, die vollen Lippen umspielt ein leichtes Lächeln. Das markante Kinn springt nur wenig vor. Der schlanke, lange Hals sitzt auf schmalen Schultern. Der eben noch sichtbare Halsansatz ist mit (gemalten) goldenen Ketten geschmückt, die mit (ebenfalls gemalten) Edelsteinen besetzt sind. Nofretete trägt eine im Verhältnis zu Kopf und Hals riesige blaue Krone, die ebenfalls mit Gold und Edelsteinen verziert ist, darunter ein goldenes Stirnband. Einziger Makel dieses wohlproportionierten Gesichts ist das fehlende Auge. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjbcY3mtJgRsMpodBnk9jvyNXBAtQMIxubi0RVCMQ4y9-issxpGzEGjt8t3YGIIVmP7iOS8apBkV99TSug3qCkCJ8EBwSYZ9iy9yR3zxuwaaJzYcDsHjjKq6IF8-1CB7tWGwIRY1TJckM4/s1600/02Noftretete+vor+Strahlenaton.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="960" data-original-width="1280" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjbcY3mtJgRsMpodBnk9jvyNXBAtQMIxubi0RVCMQ4y9-issxpGzEGjt8t3YGIIVmP7iOS8apBkV99TSug3qCkCJ8EBwSYZ9iy9yR3zxuwaaJzYcDsHjjKq6IF8-1CB7tWGwIRY1TJckM4/s400/02Noftretete+vor+Strahlenaton.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Relieffragment: Noftretete vor Strahlenaton; Neues Reich, 18. Dynastie,<br />
um 1350 v. Chr.; Aton-Tempel in Karnak; Sandstein;<br />
Inv-Nr. 312843 - Ägyptisches Museum Berlin/Altes Museum</td></tr>
</tbody></table>
Jeder kennt diese Büste, die sich seit knapp einem Jahrhundert im Ägyptischen Museum in Berlin befindet. Mehrere tausend Jahre hatte sie wohl kopfüber im Sand gesteckt, bis sie am 6. Dezember 1912 gefunden wurde. Dieser Fund war eine Sternstunde der Archäologie und der Kunstgeschichte — und im Leben des deutschen Archäologen Ludwig Borchardt.<br />
<br />
Im Auftrag der Deutschen Orient-Gesellschaft hatte am 25. November 1912 eine neue Grabungskampagne im östlichen Niltal in der Nähe des heutigen Tell el-Amarna begonnen, dort, wo der ägyptische König Echnaton (und Gemahl der Nofretete) im vierten Jahr seiner Regierung (um 1350 v. Chr.) die neue Hauptstadt des Reiches — Achetaton — gegründet hatte. Gleich zu Beginn der Grabungen fand Borchardt eine unvollendete Figurengruppe aus Kalkstein, die den Titel <i>Küssender König</i> erhielt. Unter den Ägyptologen bestand nie Zweifel daran, daß es sich bei der Figur des küssenden Königs um Echnaton handeln müsse. Doch wen küßt er?<br />
<br />
Die naheliegende, von heutigen Vorstellungen ausgehende Vermutung, bei der Skulpturengruppe handele es sich um Vater und Tochter, wird inzwischen abgelehnt. Sowohl die Größe der weiblichen Figur als auch ihre Haartracht sprechen dafür, daß es sich um eine Königin handelt, also entweder um Nofretete oder Echnatons Zweitfrau Kaja. Die Gruppe folgt dem altehrwürdigen ägyptischen Darstellungsschema einer Göttin, die den König auf ihrem Schoß hält. Und so geht man heute davon aus, daß statt der Göttin Echnaton dargestellt ist, der wahrscheinlich seine auf dem Schoß sitzende Zweitfrau Kaja küßt.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj5GeO4-_47aL04uZVkZ2nJ5NBTxyxGef38-ixGr_ESfqwoBZxhIlEMaiTsetmSE4ivKKBQV1lyst7LALhvgcBpqpY-VvO5wcDjR_tCDl1_evgVymcq6K_0-V4edikztT4inKF01r6tLSU/s1600/03Echnaton%252C+Nofretete+und+drei+ihrer+T%25C3%25B6chter.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="960" data-original-width="1280" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj5GeO4-_47aL04uZVkZ2nJ5NBTxyxGef38-ixGr_ESfqwoBZxhIlEMaiTsetmSE4ivKKBQV1lyst7LALhvgcBpqpY-VvO5wcDjR_tCDl1_evgVymcq6K_0-V4edikztT4inKF01r6tLSU/s400/03Echnaton%252C+Nofretete+und+drei+ihrer+T%25C3%25B6chter.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Hausaltar: Echnaton, Nofretete und drei ihrer Töchter, 18. Dynastie, <br />
um 1340 v. Chr.; Kalkstein; Ägyptisches Museum Berlin/Altes Museum</td></tr>
</tbody></table>
Borchardt und seine Mitarbeiter aber hielten sich damals nicht lange mit Interpretationen auf. Sie hofften auf weitere Funde. Und da die Statue unvollendet war, vermuteten sie, auf eine Bildhauereiwerkstatt gestoßen zu sein, und gruben weiter. Sie sollten recht behalten. Der spektakulärste Fund war die Berliner Büste der Nofretete. Doch damit nicht genug. Zahlreiche unvollendete Skulpturen kamen ans Licht. Einige stellen Nofretete dar, andere Echnaton. Mehrere gipserne Masken hatten wohl ebenso Modellcharakter wie die Büste der Nofretete. Außerdem fand sich noch ein kleines Stückchen Elfenbein, das sich als die Hälfte eines Deckels interpretieren ließ. Dieses Elfenbeinfragment verdient deshalb erwähnt zu werden, weil auf ihm eine wenn auch nur zum Teil erhaltene Inschrift erscheint. Sie lautet: «Gelobter des Vollendeten Gottes, Aufseher der Arbeit, Bildhauer Thutmose ...»<br />
<br />
Damit kennt man den Namen des Werkstattleiters: Thutmose (oder Thoutmosis). Ob er allerdings der Schöpfer der Nofretete-Büste war, wird sich kaum mehr klären lassen. Doch aufgrund von Indizien gelang es, einiges über Thutmose selbst herauszufinden.<br />
<br />
Der für ihn in der Inschrift verwendete Titel weist darauf hin, daß diese vor dem 12. Regierungsjahr Echnatons entstanden sein muß, dessen gebräuchlicher Ehrentitel seitdem «Gelobter des Herrn der beiden Länder» lautete. Außerdem muß der Bildhauer relativ wohlhabend gewesen sein. Darauf lassen die Größe der Werkstatt schließen und die Tatsache, daß Thutmose mindestens ein Pferd besessen haben muß. Denn das elfenbeinerne Fragment ist nicht Teil eines Deckels, sondern die Hälfte einer Scheuklappe.<br />
<br />
Der «Aufseher der Arbeit» hat wohl in dem Haupthaus des Anwesens gewohnt, dessen Grundmauern bei der Grabung zutage kamen. Das Areal hat eine Größe von 75 Metern Länge und 45 Metern Breite und bestand aus jenem Haupthaus sowie zahlreichen Werkstätten und Gesellenunterkünften, die wohl in mehreren Etappen gebaut worden waren. Zum Haupthaus gehörte ein Stall, in dem zwei Pferde gut Platz hatten. Die brauchte Thutmose auch, denn beritten waren in Ägypten nur Kundschafter und Boten. Wer es sich leisten konnte, fuhr im Zweispänner.<br />
<br />
Ob Thutmose nach Echnatons Tod mit dessen Nachfolger Tutanchamun nach Theben zurückkehrte, ob er in Achetaton blieb, ob er in der Zeit nach dem Thronwechsel überhaupt noch lebte, all dies wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß er in Achetaton eine große Werkstatt geführt hat, in der einige Porträtköpfe der Nofretete und des Echnaton gefunden wurden, und daß die Büste, der unsere heutige Bewunderung gilt, wohl lediglich ein Werkstattmuster war. Deshalb hatte man auch nur ein Auge ausgeführt.<br />
<br />
Die Gestalt der Nofretete ist durch die Büste, von der wir noch nicht einmal mit Sicherheit sagen können, ob sie von Thutmose selbst stammt, berühmt geworden. Aber war die Königin wirklich so schön? Und was wissen wir tatsächlich über sie?<br />
<br />
Kurzgefaßt kann man sagen, daß Nofretete die «Große Königliche Gemahlin» Echnatons war und in seinem vierten Regierungsjahr zum erstenmal erwähnt wird. Ihr Name bedeutet «Die Schöne ist gekommen». Über den Zeitpunkt ihres Todes besteht Uneinigkeit.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgj1wU7lWMvfDKPu14yX49yOFehxJy-4nW5pRpPtopDP3ToBd_UL1K-9FdWryrVXwNYhL5FNlr382zrzceru6WZT2xuaIEyK1D_INpHjbRiOiTZERyOwibNoDUJxwW9NM1NUhrHxTqH6zI/s1600/04Nofretete+bei+einer+Opfergabe.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="683" data-original-width="1024" height="266" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgj1wU7lWMvfDKPu14yX49yOFehxJy-4nW5pRpPtopDP3ToBd_UL1K-9FdWryrVXwNYhL5FNlr382zrzceru6WZT2xuaIEyK1D_INpHjbRiOiTZERyOwibNoDUJxwW9NM1NUhrHxTqH6zI/s400/04Nofretete+bei+einer+Opfergabe.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Nofretete bei einer Opfergabe, um 1352-1336 v.Chr.; Bemalter Kalkstein,<br />
23,5 x 38,5 cm. Brooklyn Musesum, New York</td></tr>
</tbody></table>
Man kann allerdings auch ausführlicher über sie berichten, Fakten, Indizien und Vermutungen kriminalistisch zu einer Lebensbeschreibung zusammenfügen, in der dann auch Echnaton nicht fehlt. Genaue Lebensdaten gibt es jedoch nicht, denn die Ägypter kannten keine allgemeine Zeitrechnung. Ihre Historiographen zählten zwar die Herrscherjahre der Pharaonen, begannen aber bei jedem Thronwechsel immer wieder bei Jahr eins. So wissen wir zwar, daß Echnaton 17 Jahre lang regierte, aber wir wissen weder, welches das erste Regierungsjahr war, noch, ob er als Mitregent des Vaters amtierte.<br />
<br />
Und so werden uns von den Forschern für Echnatons Amtszeit Daten angeboten, die von 1377 bis 1336 v. Chr. reichen, also eine Spanne von vierzig Jahren umfassen, in welche die 17 Jahre seiner Regierungszeit fallen könnten. Es ist einfacher, von dem Ansatz um 1350 auszugehen und — ebenso wie die alten Ägypter — die Regierungsjahre des Pharaos zu zählen.<br />
<br />
Echnaton übernahm die Regierung noch unter dem Namen Amenophis (oder Amenhotep), das heißt soviel wie «Amun ist zufrieden». Amun, der «schöpferische Gott», war der wichtigste Gott im ägyptischen Pantheon. Amenophis IV. hat sich an diese Ordnung nicht gehalten. Sein größtes Ziel war es, die Sonnenscheibe Aton als neuen, obersten Gott verehren zu lassen. Er ließ diesem Gott vier neue Tempel in Karnak errichten, an ebendem Ort, an dem der große Amun-Tempel stand. Dann benannte er sich in Echnaton um und gründete nilabwärts die Stadt Achetaton als neue Hauptstadt seines Reiches.<br />
<br />
Zu dieser Zeit war er mit Nofretete bereits verheiratet. Sie wird im vierten Regierungsjahr Echnatons zum ersten Mal als seine «Große Königliche Gemahlin» erwähnt. Doch ihre Abstammung bleibt im dunklen. Ihr Name «Die Schöne ist gekommen» hat viele Forscher dazu "verführt", in ihr eine fremdländische Prinzessin zu sehen. Und ihre Beweisführungen schienen gar nicht so abwegig, entsprächen sie nicht abendländischen Vorstellungen.<br />
<br />
Echnatons Vater, Amenophis III., war bestrebt, die Verbindungen zwischen dem Königreich der Mitanni (im heutigen Nordsyrien) und den Ägyptern zu festigen. Deshalb hielt er bei dem Mitanni-König Tuschratta um die Hand einer seiner Töchter an. Die erwählte Prinzessin Taduchepa kam dann zwar auch wohlbehalten in Ägypten an, doch fortan schweigen die Quellen. Ob sie einen ägyptischen Namen erhielt, ob sie Amenophis III. oder Echnaton heiratete, ist nicht überliefert. Der Schluß, in ihr Nofretete zu sehen, die Schöne, die endlich gekommen ist, liegt nahe, ist aber ebenso hypothetisch wie die Behauptung, der von Echnaton eingeführte Aton-Kult stamme aus Asien und es sei eigentlich Nofretete, die Mitanni-Prinzessin, gewesen, mit der sich der Aton-Kult in Ägypten verbreitete.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEifSosZvLWvxlxwWP1v_mkVS0FS6nXkNl3N59Ye220b8AAQB41T4fo2YcwdFvw0bvJ6nmx0u0JZyu2ZJDS9gtIpFi43fEjn_R-5C9BJofNLsw3le1QdH5jfCZEywVdPq7NuugXOUji4_hU/s1600/05Nofretete+mit+nubischer+Per%25C3%25BCcke+im+sp%25C3%25A4teren+Stil.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="683" data-original-width="1024" height="266" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEifSosZvLWvxlxwWP1v_mkVS0FS6nXkNl3N59Ye220b8AAQB41T4fo2YcwdFvw0bvJ6nmx0u0JZyu2ZJDS9gtIpFi43fEjn_R-5C9BJofNLsw3le1QdH5jfCZEywVdPq7NuugXOUji4_hU/s400/05Nofretete+mit+nubischer+Per%25C3%25BCcke+im+sp%25C3%25A4teren+Stil.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Nofretete mit nubischer Perücke im späteren Stil. um 1352-1336 v.Chr.;<br />
Sandstein. Brooklyn Musesum, New York</td></tr>
</tbody></table>
Dagegen läßt sich anführen: Ansätze, die Sonnenscheibe Aton zu verehren (und nicht nur den Sonnengott Re) und sie zu einem eigenständigen Gott zu erheben, hatte es schon unter Amenophis III. gegeben. Und der Name Nofretete — «Die Schöne ist gekommen» — hat eine klare theologische Bedeutung.<br />
<br />
«Die Schöne» war Hathor, die Göttin des Himmels und der Sterne, Herrscherin über Liebe und Frohsinn. Sie suchte wohl immer wieder in fernen Regionen Zuflucht und mußte zur Rückkehr bewogen werden, damit in Ägypten erneut Liebe und Harmonie herrschten. Diese Rückkehr ereignete sich auch beim Sedfest, das Echnaton am Übergang vom Jahr 3 zum Jahr 4 seiner Herrschaft feierte und das der magischen Regeneration des Königsprinzips diente. Zu diesem Fest wurde die Gemeinschaft der Götter nach Theben geladen, um dem Pharao neue oder mehr Lebenskraft zu verleihen. Ein solches Sedfest wurde meistens dann gefeiert, wenn ein Pharao schon besonders alt war oder bereits viele Jahre regiert hatte. Beides traf auf Amenophis IV/Echnaton nicht zu. Er benutzte das Sedfest, um den Aton-Kult durchzusetzen.<br />
<br />
Bei diesem Sedfest trat Nofretete erstmals in Erscheinung. Wie ihr Name zeigt, wurde in ihr die Wiederkehr Hathors greifbar. Vermutlich war dieses Sedfest gleichzeitig auch ihr Hochzeitsfest, denn von jetzt an war Nofretete bei allen offiziellen Anlässen an der Seite Echnatons. Das war ebenso ungewöhnlich für die Frau eines Pharaos wie ihre Rolle im Rahmen des Aton-Kults. In einem seiner Tempel diente sie sogar als Hohepriesterin.<br />
<br />
Das Sedfest am Ende des vierten Regierungsjahrs hatte in dem Tempel «Aton ist gefunden» im Osten von Karnak stattgefunden, den Amenophis IV/Echnaton in den ersten Jahren seiner Regierung hatte errichten lassen. Dieser Tempel wurde später abgerissen, seine maßgerecht zerlegten Steinblöcke (die sogenannten Talatat-Steine) als Füllmaterial für die Pylonen, die Torbauten‚ eines neuen Tempels benutzt. Durch diese Blöcke, von denen bislang 45000 gefunden, aber noch nicht vollständig ausgewertet worden sind, weiß man, daß Nofretete selbst Opferriten vollzogen hat. Sie zeigen auch Szenen des Sedfestes, und eine Inschrift preist Nofretete:<br />
<br />
«Die mit den reinen Händen, die große Gemahlin des Königs, die ihn liebt, Herrin des Doppelten Landes, Nofretete, sie lebe! Geliebt von der großen und lebendigen Sonnenscheibe, die in Freude ist, sie, die im Tempel der Sonnenscheibe im Heliopolis des Südens wohnt.»<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh0HSAfd3xezNEfKc6wOO7WVg78xWP6AfPoq4PUQr9DDNb_s90xv2qMqnUTUWot6dCvXG78P5bYBYzvt74DP5nGqBYWOT-eMg8-n2hW0mLpkjfnVcop0QSMqK9JoBekZwbTt4uImS6h6uk/s1600/06G%25C3%25A4rtner.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="938" data-original-width="1280" height="292" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh0HSAfd3xezNEfKc6wOO7WVg78xWP6AfPoq4PUQr9DDNb_s90xv2qMqnUTUWot6dCvXG78P5bYBYzvt74DP5nGqBYWOT-eMg8-n2hW0mLpkjfnVcop0QSMqK9JoBekZwbTt4uImS6h6uk/s400/06G%25C3%25A4rtner.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Berlin, Neues Museum: Aegyptischer Hof, 1862. <br />
Lithografie nach einem Aquarell von Eduard Gaertner (1801-1877).</td></tr>
</tbody></table>
Doch die Herkunft der Pharaonin ist damit noch immer nicht geklärt. Vermutlich war sie die Tochter eines Vertrauten des Pharaos. In Betracht kommt Aja (Eje), später selbst Pharao, der häufig als «Gottvater» bezeichnet wird. Seine Frau Tuju wird wiederholt die Erzieherin (Amme) Nofretetes genannt, nie aber ihre Mutter. Möglich auch, daß Nofretete die Tochter einer ersten Frau Ajas, die im Kindbett starb, gewesen ist.<br />
<br />
All das sind Spekulationen, zu denen die Lebensnähe der Büste verleitet. Sicher ist, daß Nofretete mit Echnaton sechs Töchter (und vielleicht den Sohn Tutanchaton‚ den späteren Tutanchamun) hatte. Als sich der Pharao in seinem sechsten Regierungsjahr Echnaton (das heißt «Wirkender Geist des Aton») benannte und sie um das Jahr 7 gemeinsam nach Achetaton («Lichtort des Aton»), der neuen Hauptstadt, zogen, hatten sie bereits drei Töchter, die mit ihrem Namen alle dem Gott Aton huldigten: Meritaton («Geliebte des Aton»), Maketaton («Schützling des Aton») und Anchesenpaaton («Die durch Aton Lebende»). In Achetaton wurden drei weitere Töchter geboren.<br />
<br />
Viele Geschichten um diese Stadt sind durch jene vierzehn beschrifteten Grenzstelen überliefert, mit denen Echnaton bei der Gründung die Abmessungen Achetatons abstecken ließ. Dennoch bleiben grundsätzliche Fragen unbeantwortet. War Echnaton der Begründer der ersten monotheistischen Religion? Und wollte er, daß Achetaton nur während seiner eigenen Regierungszeit bewohnt und dann wieder verlassen würde, wie Christian Jacq behauptet? Wir wissen es nicht, genauso wie es nach wie vor schwerfällt, die Bildwerke der als Amarna-Zeit bezeichneten Epoche zu deuten.<br />
<br />
Viele Darstellungen dieser Periode faszinieren uns, weil sie uns lebensnah erscheinen. So neigt man dazu, der Schönheit der Nofretete entsprechend die Häßlichkeit, mit der Echnaton häufig dargestellt ist, als real gegeben anzusehen. Das geht so weit, darin bestimmte Krankheiten zu erkennen (und damit den «Größenwahn» des Pharaos zu erklären). Doch mit dieser «Häßlichkeit» wurden sehr wahrscheinlich bestimmte Vorstellungen ins Bild umgesetzt wie zum Beispiel der Gedanke, daß der Pharao das weibliche und das männliche Prinzip gleichermaßen verkörpere. Ebenso sind die Lebendigkeit, mit der das Herrscherpaar und seine Töchter auf Reliefs erscheinen, der liebevolle Umgang miteinander und mit ihren Kindern Symbole, die Allgemeingültigkeit besitzen. Diese Bilder erlauben es nicht, auf das Verhältnis der dargestellten Personen untereinander zu schließen.<br />
<br />
Heutige Lebensvorstellungen haben auch bei der Theorie Pate gestanden, Nofretete habe sich von Echnaton getrennt, als sie in einen eigenen Palast zog. Dort soll sie sich vom Aton-Kult losgesagt und Tutanchaton/Tutanchamun aufgezogen haben, den Echnaton nachfolgenden Pharao, der vor allem deshalb noch heute so berühmt ist, weil sein Grab und seine in goldene Särge gebettete Mumie völlig unberührt aufgefunden wurden, und der vielleicht der Sohn von Echnaton und Nofretete gewesen ist.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiLTkanZxr7-I3ms41DUtgdaBckzAUcdScsVHFR2Bh_BDIKB7SR9qEgTvHfQpS2f6YeTIEfqknMHbkMUeH0jlJtyAU6LJgrFY1L6ju-reOAdQF0YaKyoZiH4JgnB8UOGUttedayy-Y5VvE/s1600/07.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="537" data-original-width="800" height="267" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiLTkanZxr7-I3ms41DUtgdaBckzAUcdScsVHFR2Bh_BDIKB7SR9qEgTvHfQpS2f6YeTIEfqknMHbkMUeH0jlJtyAU6LJgrFY1L6ju-reOAdQF0YaKyoZiH4JgnB8UOGUttedayy-Y5VvE/s400/07.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Die Prinzessin zeigt sich von ihrer besten Seite</td></tr>
</tbody></table>
Durch die angebliche Trennung erklärt man auch, warum die Quellen über Nofretete plötzlich verstummen, kurz nachdem ihre Tochter Maketaton im 14. Regierungsjahr gestorben war. Maketatons Grab hat man wohl in Achetaton gefunden und dort auch das Relief, das die Trauer von Echnaton und Nofretete zeigt. Dann aber brechen die Nachrichten über Nofretete ab. Wahrscheinlich ist sie allen Spekulationen zum Trotz kurz nach ihrer Tochter, vielleicht aber auch erst im letzten Regierungsjahr Echnatons gestorben. Ihr Grab wurde bislang weder in Tell el-Amarna noch im Tal der Könige von Theben gefunden. Es gibt jedoch ein Uschebti, einen «Antwortstein», den jeder Tote dringend benötigt, mit ihrem Namen, auf dem man lesen kann, daß sie als «Große Königliche Gemahlin» starb und damit vor Echnaton.<br />
<br />
Nofretete, die Schöne, spätestens seit Auffindung ihrer Büste eine der berühmtesten Frauen der Weltgeschichte, bot zu unendlich vielen Spekulationen Anlaß. Auch wenn die heutige Forschung darum bemüht ist, den Spekulationen soweit wie möglich Tatsachen entgegenzusetzen, bleibt sie «die Schönste im ganzen Land», wie schon auf einer der Grenzstelen von Achetaton zu lesen ist:<br />
<br />
<blockquote>
«Das Antlitz klar,<br />
Fröhlich geziert durch die Doppelfeder,<br />
Gebieterin des Glücks,<br />
Eignerin aller Tugenden,<br />
Mit einer Stimme, an der man sich erfreut,<br />
Herrin der Anmut, reich an Liebe,<br />
Deren Gefühle den Gebieter der Zwei Länder beglücken ...<br />
Die Erbprinzessin,<br />
Groß an Gunst,<br />
Herrin des Glücks,<br />
Strahlend mit ihren zwei Federn,<br />
Die mit ihrer Stimme alle erfreut, die sie hören,<br />
Die das Herz des Königs bezaubert,<br />
Zufrieden mit allem, was man sagt,<br />
Die Große und vielgeliebte Gemahlin des Königs,<br />
Herrin der Zwei Länder,<br />
"Schön-sind-die-Schönheiten-des-Aton"‚<br />
"Die Schöne ist gekommen".<br />
Sie lebe ewiglich.»</blockquote>
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Susanna Partsch: Sternstunden der Kunst. Von Nofretete bis Andy Warhol, C.H. Beck, München 2003, ISBN 3 406 49412 9. Zitiert wurde Seite 13 bis 22</i></span><br />
<br />
<br />
<b>Alte Musik, jüngst gepostet in der Kammermusik-Kammer:</b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/08/weltliche-musik-im-christlichen-und.html" target="_blank">Weltliche Musik im christlichen und jüdischen Spanien 1490-1650 | Ein Mensch ist kein Stilleben: Oskar Kokoschka portraitiert Karl Kraus</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/06/la-frottola-eine-fast-vergessene.html" target="_blank">La Frottola - eine fast vergessene Kunstgattung des 15. und 16. Jh | Das Fest des Fleisches: Rubens und Helene Fourment</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/03/das-gansebuch-nurnberg-1510.html" target="_blank">Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Dürers Hiob</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/01/das-lochamer-liederbuch.html" target="_blank">Das Lochamer Liederbuch | Das Antlitz der Muse: Françoise Gilot im Portrait </a></b><br />
<b><br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/12/sumer-is-icumen-in-hilliard-ensemble.html" target="_blank">Sumer is icumen in (England, 13./14. Jh.) | »Unruh im Gemäl«: Zur deutschen Bildauffassung der Spätgotik und Renaissance</a></b><br />
<br />
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<a href="https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Johannes-Ciconia-1370-1411-S%E4mtliche-Werke/hnum/4919628" target="_blank"><b>CD bestellen bei JPC.de</b></a> <br />
<br />
<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 10 MB <br />
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<span style="background-color: #ffe599;">Unpack x380.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: 2 CDs 643 MB in 8 parts</span><br />
<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-48962081741078530902019-12-27T15:46:00.000+01:002019-12-27T15:46:14.553+01:00Giacinto Scelsi beim Musikprotokoll 1989 (Steirischer Herbst, ORF)<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgdlzYRE6Jgk34omhQmF8bCAii5G5KNDL6WV16ujYsdMlbVG2zWjBotbSB_7htcaip9HH7lRpj_9o3i4XJxyKT4GnTgjUSRQJ76USpOXAUlh0eH4YyTH5lbAatrwZ5tWhJStAMVO0-MnnQ/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1399" data-original-width="1401" height="319" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgdlzYRE6Jgk34omhQmF8bCAii5G5KNDL6WV16ujYsdMlbVG2zWjBotbSB_7htcaip9HH7lRpj_9o3i4XJxyKT4GnTgjUSRQJ76USpOXAUlh0eH4YyTH5lbAatrwZ5tWhJStAMVO0-MnnQ/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
<b>Der Magische Klang</b><br />
<br />
"Ein Fest für Giacinto Scelsi": So lautete eine der zentralen Veranstaltungen des Musikprotokolls '89. Das Festival hatte unter dem thematischen Profil "revolutionäre Prozesse" gestanden. Welche Rolle aber sollte der römische Aristokrat Scelsi in diesem Zusammenhang spielen? Einige Jahre zuvor war er hierzulande noch ein vollkommen Unbekannter. In den letzten Jahren war einer wachsenden Öffentlichkeit immer bewußter geworden, daß die Art und Weise, wie sich Scelsi in den 50iger Jahren von der abendländischen Tradition des Komponierens verabschiedet hatte‚ zweifellos revolutionäre Züge aufweist. Und so sollte diese Scelsi-Nacht das bisher größte Panorama dieses ungewöhnlichen Komponisten, dessen künstlerische Biographie stets abseits der Hauptströme der Musikgeschichte verlaufen war, in Österreich entwerfen. 1200 Menschen waren gekommen. Sämtliche Kapazitäten im ehrwürdigen Stefaniensaal waren ausgelastet. Sogar der Stehplatz, der sich sonst den Aktivitäten der Neuen Musik stets beharrlich verschlossen gezeigt hatte, mußte seine Pforten öffen. Um sieben Uhr abends war es dann soweit, als die Cellistin Frances-Marie Uitti mit geheimnisvollem Ton diese Nacht eröffnete. Ihr war es auch vorbehalten, nach einer achtstündigen Reise durch sieben Klanginseln um drei Uhr morgens die letzten 300 Besucher mit einem letzten Pianissimo-Hauch zu elektrisieren. Viele weitere exzellente Interpreten waren gekommen, um in dieser langen Nacht eine abwechslungsreiche Entdeckungsreise ins Innere des Klangs des ein Jahr zuvor verstorbenen Meisters zu präsentieren.<br />
<br />
Der Pianist Bernhard Wambach, die Schlagzeuger Robyn Schulkowsky‚ Isao Nakamura und Johannes Beer, das Berner Streichquartett, das Radio-Symphonie-Orchester Krakau (Dirigent: Jürg Wyttenbach), die unvergleichliche Sängerin Michiko Hirayama, das Klangforum Wien (Dirigent: Beat Furrer), der Flötist Dieter Flury sowie der Oboist Marian Vasile. Daß diese Scelsi-Nacht im Theatercafe bis in die frühen Morgenstunden ihre Fortsetzung gefunden haben soll, wird mittlerweile als unwiderlegbare Tatsache angesehen. Hier allerdings verlieren sich die Aufnahmen im spurlosen Dunkel der Nacht. Ganz sicher nicht verloren haben sich die Spuren des "magischen Klangs".<br />
<br />
<b>Zu den Kompositionen dieser CD</b><br />
<br />
Schon am Vorabend der Scelsi-Nacht sorgte Hans Zender mit dem ORF-Symphonieorchester für einen kraftvollen Auftakt. Zender lernte Scelsi schon 1963 kennen und beschrieb dem Komponisten und Dirigenten schon damals seine Arbeitsweise, auf Spezialinstrumenten improvisierend seine Konzepte festzuhalten, um sie dann - von anderen - schriftlich fixieren zu lassen. Zender fühlt sich bei dieser Notationsweise an die blitzartige Malweise bestimmter Tachisten bzw. Maler des Informell erinnert.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjH1eCp8VcFPEWIL8ms6yUvUjKoh894Q4qzP5JDBVkHOEQ0mx24KzpkoBGVT5ucjQmhZzgDJARQ5fD9ClSdW0N5raEORLrkK2MJ1LVf1qAmCjLPRPx3IP34yVVNrj_CVw5E7MUk0Orx7R0/s1600/D.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="904" data-original-width="1245" height="232" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjH1eCp8VcFPEWIL8ms6yUvUjKoh894Q4qzP5JDBVkHOEQ0mx24KzpkoBGVT5ucjQmhZzgDJARQ5fD9ClSdW0N5raEORLrkK2MJ1LVf1qAmCjLPRPx3IP34yVVNrj_CVw5E7MUk0Orx7R0/s320/D.jpg" width="320" /></a></div>
<b>"Hymnos"</b>, 1963 für Orgel und Orchester geschrieben, verlangt von allen für Orchester geschriebenen Werken Scelsis neben "Konx-om-pax" (1968/69) die größte Besetzung. Bei "Hymnos" handelt es sich um einen großdimensionierten Prozess für zwei Orchestergruppen, die beinahe gleich aufgebaut und um die Symmetrieachse aus Pauken, Schlagzeug und Orgel angeordnet sind. "Wenn wir die bildhafte Deutung zugrundelegen, wonach jeder Formabschnitt einen ins Überdimensionale ausgehörten Schwingungsvorgang einfängt, haben wir uns "Hymnos" als eine Antiphonie vorzustellen" (Wolfgang Becker). Die Verlaufskurve von "Hymnos" wird nun wesentlich durch die Pulsationen bestimmt, mit denen sich der Klangstrom von seinem Ausgangston entfernt. Die beinahe durchgehende Verunklarung von Taktschwerpunkten sowie die ständigen Veränderungen der Intervallamplituden der einzelnen Klänge tragen wesentlich zu jenem vibrierenden Eindruck eines organisch-flutenden und alle Grenzen beseitigenden Strömens bei.<br />
<br />
Giacinto Scelsi hat 1962 zwei Kompositionen mit dem Titel <b>"Riti"</b> geschrieben: Eine für vier Schlagzeuger (Ritueller Marsch: Das Begräbnis des Achilles) sowie ein Werk für Tuba, Kontrabaß, Kontrafagott‚ elektronische Orgel und Schlagzeug (Ritueller Marsch: Das Begräbnis Alexanders). Obwohl die Version für vier Schlagzeuger den Untertitel "Ritueller Marsch" trägt, ist das Werk von marschartigen Elementen frei. Allenfalls könnten noch einige periodisch wiederkehrende Klänge als ferne Evokation des genannten Untertitels verstanden werden. Werke wie "Riti" und "Ko-Tha" stehen paradigmatisch für Scelsis Aufbruch ins Innere des Klanges: als Beschreibung eines Raums, der Prozesse und damit Zeit ausblendet; ein Raum, der in die Tiefe führt. Scelsis "Versenkung in die zeitliche Strukturierung von Resonanzen" (Christian Scheib) könnte man, wie schon in "Okanagon", als "Herzschlag der Erde" (Scelsi) auffassen; in der Reduktion des Materials als faszinierende Erkundung unserer Tiefenschichten, als perspektivisches Eindringen in entlegenste und gleichzeitig nächste Räume.<br />
<br />
Über den langen Zeitraum von zehn Jahren (1962/72) erstreckt sich Scelsis Arbeit am Liederzyklus <b>"Canti del capricorno"</b> (Gesänge des Steinbocks) für Sopran solo. Größtenteils in Zusammenarbeit mit der japanischen, in Rom lebenden Sängerin Michiko Hirayama entstanden, ist in diesen Soli "die für den Ton prinzipielle Differenz zwischen Kern und Hülle, Innen- und Außenseite, aufgehoben" (Martin Zenck). Vorschlagsnoten und Flatterzunge, verschiedene Vokalansätze und die als Text fungierenden Phoneme, extremes Vibrato und schlagartiges Verändern der Stimmcharakteristik erscheinen nicht mehr als die einen Ton zusätzlich bestimmenden Merkmale. Es geht also letztlich "um das Beschwören eines Klanges, das Eintauchen in die Intensität seiner Wirkung" (Christian Scheib). Aus den über zwanzig "Canti del capricorno" hatte Michiko Hirayama für die Scelsi-Nacht beim Musikprotokoll zehn Gesänge ausgesucht.<br />
<br />
<b>"Rucke di Guck"</b> für Piccoloflöte und Oboe steht an der Schwelle in Scelsis Schaffensprozess. Wie auch "Riti" und die "Canti del capricorno" löst dieses wunderbare Duo Zenders Formulierung ein, wonach Scelsis Musik "einer archaischen Konzeption von Kunst, die noch vor der Differenzierung in Einzelkünste angesiedelt ist", entspringt.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Peter Oswald, im Booklet</i></span><br />
<br />
<br />
<pre>TRACKLIST
steirischer herbst
MUSIKPROTOKOLL 89
Giacinto Scelsi
(1905-1988)
[1] HYMNOS (Nomos) 13:02
für Orgel und Orchester (1963) ’
ORF-Symphonieorchester, Dirigent: Hans Zender
Aufnahmeleiter: Gerhard Lang
Ton: Kurt Kindl
[2] RITI. I Funerali d 'Achille 7:20
für 3 Schlagzeuger (1962)
Uraufführung einer neuen Version
Robyn Schulkowsky, Isao Nakamura, Johannes Beer
Aufnahmeleiter: Heinz Dieter Sibitz
Ton: Edgar Gruber
[3] Aus "CANTI DEL CAPRICORNO" 23:40
für Frauenstimme (1962/72)
I Lentamente
II Andante
III Sostenuto ma violento
lV Allegro non molto
V Non veloce, ma kitmatissimo e aspro
VI Il tutto molto secco, aspro e sforzato
VII Moderato I
VIII Molto lentamente
IX Moderato
X Moderato
Michiko Hirayama - Sopran .
Aufnahmeleiter: Franz Josef Kerstinger
Ton: Andreas Sattler
[4] RUCKE DI GUCK 9:42
für Piccoloflöte und Oboe (1957)
Dieter Flury - Piccoloflöte, Vasile Marian - Oboe
Aufnahmeleiter: Heinz Dieter Sibitz
Ton: Edgar Gruber
Gesamtzeit: 54:12
(P) 1989
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Fanny von Galgenberg - die älteste Frauenstatuette der Welt</b></span></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjGIlW_XwM4VYiVXApvKPMiCM2YxjnYdq6kNKyOaMUd6Escs6MF93ZBtBxdkt8uPHcCatJ1a2TT9pXkKnpKME2G98wpE71KA9VTmCwZwboVY67X4yHplDo2cvnAjERYGi43ZqPzvfaEc-I/s1600/a03.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1112" data-original-width="780" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjGIlW_XwM4VYiVXApvKPMiCM2YxjnYdq6kNKyOaMUd6Escs6MF93ZBtBxdkt8uPHcCatJ1a2TT9pXkKnpKME2G98wpE71KA9VTmCwZwboVY67X4yHplDo2cvnAjERYGi43ZqPzvfaEc-I/s640/a03.jpeg" width="448" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Weibliche Statuette vom Galgenberg, 30000 vor Christus; Rückseite mit Vorritzungen </td></tr>
</tbody></table>
Am Morgen des 23. September 1988 herrschte trotz des zu erwartenden schönen Weinlesetages schon herbstlicher Nebel. Die bereits vierte Grabungskampagne am Galgenberg zwischen Krems-Rehberg und Stratzing neigte sich ihrem Ende zu. Wenn nicht anläßlich des Jubiläums »90 Jahre Wasserwerk Krems« im Pumpenhaus des nahegelegenen Hochbehälters (dessen Bau drei Jahre davor die archäologischen Rettungsgrabungsserie in dieser Zone ausgelöst hatte) eine kleine Sonderausstellung für einen »Tag der offenen Tür« eingerichtet worden wäre, dann würden von den Grabungsteilnehmern in den nächsten Tagen nur noch einige Routinearbeiten durchgeführt werden. Unter anderem war noch im Nordbereich der Ausgrabungsfläche in ein Meter Tiefe ein zwei Meter breiter Streifen der 30 cm mächtigen Kulturschicht aus der Altsteinzeit abzutragen.<br />
<br />
Vor 30 000 Jahren — als in Europa die Eiszeit herrschte — bildete dieser humose Horizont jene Oberfläche, auf der sich das Leben der Jäger und Sammler abspielte: Hier wurden an Feuerstellen Fleischstücke verzehrt und auch Steingeräte und -waffen erzeugt. Vieles davon kann heute von den Archäologen mit minutiösen Methoden freigelegt, dokumentiert und geborgen werden. Dadurch bekommt der Prähistoriker bei der späteren wissenschaftlichen Auswertung sogar in diesen ältesten Abschnitt der schriftlosen Menschheitsgeschichte Einblick. Die in kleine Flächen unterteilte Schicht muß mit feinen Werkzeugen abgeschabt werden, wobei Holzkohlenreste der Lagerfeuer vorerst ebenso an Ort und Stelle verbleiben wie größere Steinobjekte oder tierische Knochen. Sie werden vor ihrer Bergung fotografiert, in Detailpläne eingezeichnet und protokolliert. Das entfernte Erdmaterial wird durchgesehen, gesiebt und wenn notwendig auch mit Hilfe von Wasser ausgeschlemmt. So entgehen den wachsamen Augen der Forscher auch nicht die kleinsten Überreste aus der Altsteinzeit. Rauchen ist bei diesen Arbeiten verboten, denn die ebenfalls anfallenden Holzkohlenreste müssen rein und unverfälscht bleiben. Nur dann stimmen die späteren Radiokohlenstoffdatierungen, bei denen mit Hilfe des radioaktiven Kohlenstoffisotops C 14, das in der Holzkohle enthalten ist, ein einigermaßen gesichertes Alter ermittelt werden kann.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIG1-2pcaFJIAzpUaX9jS9UzyN6-9GB38RYoFpYB0R2eiDaPgmVRG1wtqfWMn2FJvgkbeq4Ooa2oNQxV2km66B0iv6gpEZJ2gXxsuQjebew94q7PWDhbXAwJPrgB7zMwcXGKQ0f8DbkUg/s1600/b01.jpeg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1038" data-original-width="1461" height="283" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIG1-2pcaFJIAzpUaX9jS9UzyN6-9GB38RYoFpYB0R2eiDaPgmVRG1wtqfWMn2FJvgkbeq4Ooa2oNQxV2km66B0iv6gpEZJ2gXxsuQjebew94q7PWDhbXAwJPrgB7zMwcXGKQ0f8DbkUg/s400/b01.jpeg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Zeichnung der aus Bruchstücken zusammengesetzten Frauenstatuette</td></tr>
</tbody></table>
Doch wie gesagt: An diesem Tag besichtigte eine kleine Besucherschar die vorbereiteten Fotos und Fundstücke im Wasserwerk und auch die Grabung. Allerdings sorgte nicht sie für Aufregung unter den Grabungsteilnehmern, sondern die Entdeckung eines kleinen grünlichen Serpentinschieferbruchstücks mit Schnitzspuren. Die Grabungsleiterin, Christine Neugebauer-Maresch, identifizierte es als ein Fragment eines extrem seltenen, 30 000 Jahre alten Kleinkunstwerkes. Aber was stellte es einstmals dar? Gab es weitere Teile davon? Ein erster Zuordnungsversuch ließ das Bruchstück als Kopf einer Tierplastik erscheinen, denn dafür gab es in Deutschland und Frankreich einige vergleichbare Parallelen. Oder sollte es sich sogar um den Teil einer menschlichen Statuette handeln? Die Unwahrscheinlichkeit dieses Gedankens ließ die Ausgräber in fieberhafte Aktivitäten fallen. Das bereits durchgesehene Erdmaterial wurde geschlemmt, die aussortierten Objekte eingehend durchgesehen und die nächste Umgebung des Auffindungsortes weiter untersucht.<br />
<br />
Am Vormittag des nächsten Tages lagen dank dieser Detektivarbeit vier Bruchstücke vor, die zusammengesetzt tatsächlich eine 7,2 cm hohe Frauenplastik ergaben. Die bislang älteste Frauenstatuette der Welt war gefunden! Ein Kunstwerk, um mehrere Jahrtausende älter als die berühmte Venus von Willendorf, die gerade in diesem Jahr im Mittelpunkt von Jubiläumsfeiern stand. Denn sie war am 7. August 1908 vom Prähistoriker Josef Bayer in Willendorf in der Wachau entdeckt worden. Seither gilt sie als Prunkstück der prähistorischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien.<br />
<br />
Die am Kremser Galgenberg entdeckte Frauenstatuette wurde wegen des zur Seite gedrehten Oberkörpers und wegen der bewegten, tänzerischen Haltung bei einem spontanen Grabungsfest liebevoll »Fanny« getauft — nach der berühmten Wiener Tänzerin Fanny Elßler (1810-1884).<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhLHYOYUDJRMQW6SciOGBf2npZD2x0cgGdpO6VNQs1Gt7qdEsgfQgJVwisIb7zbS22bfxnltYt0pCa_-gTn45zS64ylKcb5t8K0Gou5b91-CmCrPFP7HhO82sAzGqILpMvncV9NKsNCcRg/s1600/c04.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1112" data-original-width="780" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhLHYOYUDJRMQW6SciOGBf2npZD2x0cgGdpO6VNQs1Gt7qdEsgfQgJVwisIb7zbS22bfxnltYt0pCa_-gTn45zS64ylKcb5t8K0Gou5b91-CmCrPFP7HhO82sAzGqILpMvncV9NKsNCcRg/s400/c04.jpeg" width="280" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Steingeräte des Aurignacien vom Galgenberg</td></tr>
</tbody></table>
<b>JAGDSTATION DER EISZEITMENSCHEN</b><br />
<br />
Wenngleich die Entdeckung der Venus vom Galgenberg eine archäologische Sensation darstellt, so passen die Rettungsgrabungen von Stratzing und Krems-Rehberg nur allzugut in den Alltag der österreichischen Urgeschichtsforschung.<br />
<br />
Ende August 1985 wurde der Autor über seine Dienststelle im Bundesdenkmalamt von einer Fundmeldung des Kulturamtes des Magistrats der Stadt Krems unterrichtet, daß bei Bauarbeiten im Zuge der Verlängerung der Kremser Schnellstraße S 33 bei Gneixendorf prähistorische Funde gemacht worden wären. Bei einer Besichtigung Anfang September konnten jedoch trotz gewaltiger Einschnitte in die Lößwände keine altsteinzeitlichen Kulturschichten festgestellt werden. Klärende Grabungen waren wegen der Steilheit der Straßenböschungen, wo zum Teil schon verheerende Rutschungen niedergegangen waren, keinesfalls möglich.<br />
<br />
Im Gespräch mit einem Raupenfahrer erfuhren die Archäologen jedoch, daß ihm auf dem nahegelegenen Galgenberg (374 m Seehöhe) bei Stratzing bei einem größeren Aushub für einen neuen Hochbehälter der Kremser Wasserwerke dunkle Bänder im hellen Löß, Feuerstellen und auch Steinbrocken aufgefallen waren. Zum Beweis seiner Worte holte er aus der Werkzeugkiste der tonnenschweren Schubraupe mehrere grobe, jedoch eindeutig von Menschenhand zugerichtete Feuersteinknollen hervor. Unter eilig gesprochenen Dankesworten verabschiedeten sich die Archäologen und machten sich schnellstens auf die Suche. Man durfte keine Zeit verlieren! Bereits nach wenigen Erkundigungen bei Einheimischen war die Stelle gefunden. Und tatsächlich konnte man in der 30 mal 30 Meter großen Baugrube zwei parallel verlaufende dunklere Bänderungen im anstehenden hellen Löß als die gesuchten altsteinzeitlichen Kulturschichten erkennen.<br />
<br />
Nach Abklärung aller rechtlichen Fragen mit den Stadtwerken Krems als Grundeigentümer und Bauherr konnte im Laufe des Septembers und Oktobers 1985 noch eine Fläche von 100 m2 untersucht werden. Glücklicherweise war der Baubeginn des Hochbehälters erst mit Ende Oktober 1985 festgesetzt worden! Die bei dieser zweimonatigen Grabung entdeckten Feuersteingeräte ließen darauf schließen, daß es sich um einen Rastplatz von Jägern und Sammlern am Anfang der Spätphase der Altsteinzeit (Jungpaläolithikum) handelte. Genauer gesagt geht es um den nach einem französischen Fundort benannten Zeitabschnitt Aurignacien (35 000-28 000 v. Chr.). Bei der Durchsicht der Fachliteratur wurde für diese Zuordnung eine weitere Bestätigung gefunden. Der Sammler Emil Weinfurter hatte bereits 1941 in einem nahegelegenen Hohlweg einige Steinwerkzeuge geborgen. In der 1950 von ihm veröffentlichten Notiz darüber ordnete er seine Fundstücke ebenfalls dem Aurignacien zu.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhp83YngiT9_Slsx352Zx10TvnBxhFyQZEdTA_sNiNQrdvNG9YJWMF6Di8sLj_Bl2OXLAAVojdGexKg30pTKnQwbAFOMOIWvXmZnUVvwT7FLSWsMy8SrJC-9fwSLOVe_23h8DPITwBZPdc/s1600/d02.jpeg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1090" data-original-width="1600" height="272" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhp83YngiT9_Slsx352Zx10TvnBxhFyQZEdTA_sNiNQrdvNG9YJWMF6Di8sLj_Bl2OXLAAVojdGexKg30pTKnQwbAFOMOIWvXmZnUVvwT7FLSWsMy8SrJC-9fwSLOVe_23h8DPITwBZPdc/s400/d02.jpeg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Der Galgenberg von Stratzing. Niederösterreich, von Nordwesten</td></tr>
</tbody></table>
Der Bericht Weinfurters ließ zudem zusätzlich vermuten, daß sich die Kulturschichten relativ großflächig über die lößbedeckten Hänge der Osthälfte des Galgenberges erstrecken. Da auch am bis dahin unzerstörten westlichen Vorplatz des Wasserwerkes Bauvorhaben geplant waren, wie etwa die Errichtung eines Pumpenhauses und diverse Baggerarbeiten für verschiedene Zu- und Ableitungen, wurde von der Abteilung für Bodendenkmale des Bundesdenkmalamtes eine weitere Rettungsgrabungskampagne angesetzt. Mit der Leitung beauftragt wurde die Gattin und Fachkollegin des Autors, Christine Neugebauer-Maresch. Im Juni 1986 begann man eine 70 m2 große Fläche zu untersuchen, die zahlreiche Fundstücke beherbergte.<br />
<br />
Im Jahre 1987 mußten neben einigen Sondagen auf einer größeren Ackerfläche am Galgenberg, die dem Stift Kremsmünster gehörte, erneut Rettungsgrabungen durchgeführt werden. Geplante Tiefpflügungen als Vorbereitung für das Neuaussetzen von Weinreben ließen nämlich Zerstörungen der in diesem Bereich relativ seicht liegenden fundführenden Schichten befürchten. Die im September 1988 vorgenommenen Untersuchungen der letzten noch nicht als Weingarten genutzten Parzelle auf der Rehberger Seite des Galgenberges südwestlich des Hochbehälters von Stratzing war in der Folge ein dringendes denkmalpflegerisches Gebot.<br />
<br />
Die archäologischen Forschungen von 1985 bis 1988 in Krems-Rehberg und Stratzing gaben einen ausgezeichneten Einblick in das Leben der Eiszeitjäger des Aurignacien. So stellte man fest, daß die Menschen die benötigten Geräte und Waffen aus an Ort und Stelle aufgelesenen Steinknollen herstellten. Sie fanden diese nicht nur im Schotter des Donaugeschiebes‚ sondern vor allem am West- und Südhang des Galgenberges, wo tertiäre Schotterschichten an die Oberfläche treten. Da dieses Rohmaterial nur von mäßiger Qualität ist, dominieren unter den ausgegrabenen Fundstücken grobe Geräte und derbe Abfallstücke. Für anspruchsvollere Werkzeuge mußten hochwertigere Feuersteine aus weit entfernten Gebieten, so aus dem mährischen Raum, herbeigeschafft werden. Dazu zählen verschiedenartige Schaberformen zum Zerlegen und Abhäuten des erlegten Wildes, zum Geschmeidigmachen der Tierhäute und zur Knochen- bzw. Holzbearbeitung sowie Klingen für alle Schneidetätigkeiten und Stichel zum Gravieren und Schnitzen. Übrigens entdeckte man bei den Grabungen auch aus fossilen Schnecken gearbeitete Schmuckröllchen.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg7uZvnf-4SPxlbGo5bjtMLpI7hmXwGgErLiFXV-CLv7keBtlsBKtzfvyj-jbJCfjtBXXJ2sCs0yGLHvCisPtQ9DKQ7gS7VoZb0b3vxUKDN4WEoqVCszBjWt5sdu9gTDQ81hC5T2Wvg104/s1600/e05.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1083" data-original-width="1600" height="271" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg7uZvnf-4SPxlbGo5bjtMLpI7hmXwGgErLiFXV-CLv7keBtlsBKtzfvyj-jbJCfjtBXXJ2sCs0yGLHvCisPtQ9DKQ7gS7VoZb0b3vxUKDN4WEoqVCszBjWt5sdu9gTDQ81hC5T2Wvg104/s400/e05.jpeg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Überblick über die Grabungskampagne 1988 am Galgenberg<br />
bei Stratzing mit der Fundstelle der Frauenstattuette</td><td class="tr-caption" style="text-align: center;"></td></tr>
</tbody></table>
Obwohl die Erhaltung der Tierknochen zumeist sehr schlecht ist, konnten Teile von Rentiergeweihen, aber auch Knochen von Pferden bestimmt werden. Überreste einer guten Jagdbeute stellten auch die Beckenknochen eines Wollnashornes dar. In allen Grabungsjahren konnten von den ehemaligen Feuerstellen ausreichende Holzkohlenproben für Radiokohlenstoff-Datierungen gewonnen werden. Sechs in Labors in Groningen (Holland) und Köln (BRD) angefertigte Daten streuen um einen Durchschnitt von 30 000 Jahre vor heute. Der höchste Wert stammt von der Schicht in unmittelbarer Umgebung des Statuettenfundplatzes: 31790 +- 280 Jahre vor heute. Die tanzende Venus vom Galgenberg zählt damit unzweifelhaft zu den ganz wenigen frühen Aurignacien-Menschendarstellungen. Da sie die einzige ist, die bisher gefunden wurde, stellt sie die älteste Frauenplastik der Welt dar.<br />
<br />
Obwohl bislang in Österreich noch keine menschlichen Skelette aus dem Aurignacien ausgegraben werden konnten, wissen wir durch Funde aus den Nachbarländern, daß sich dieser »Homo sapiens fossilis« nicht mehr wesentlich vom Jetztmenschen »Homo sapiens recens« unterschied. Auch seine Intelligenz darf nicht unterschätzt werden. So sind sämtliche Geräte, die er verwendete, wie Messer, Bohrer, Pfrieme usw. Erfindungen dieses Spätsteinzeitmenschen. Und er war auch zu ungewöhnlicher Kunstäußerung fähig, wie die tanzende Venus bewies, die übrigens zur Gänze komplettiert werden konnte:<br />
<br />
Bei der Durchsicht aller gesiebten und ausgeschlemmten Steinsplitter entdeckte man weitere drei Fragmente, sodaß der bis dahin fehlende rechte Arm angefügt werden konnte. Das Material, aus dem sie hergestellt ist — ein grünlicher, stark glänzender Schiefer (chloritisierter Amphibolit) — beweist, daß auch dieses Kleinkunstwerk an Ort und Stelle geschaffen wurde. Denn das entsprechende Gestein kommt in einer Entfernung von nur 500 Metern vor. Zudem fanden sich in der Nähe der Fundstelle noch einige Schnitzabfälle.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiwAHc_RxtHp7q4gcLC7BSpK9CiCDeM6jwetTIZnhytajqwXzVPIVLlmQBZhJ_Nq8RkR8NQ7DKPmiZo3vAuuO1TS80JViS8IXfmsXGaJI1lLXhLWAxaACC-0DpLmp3r-EJNwOLNC-iS50A/s1600/f06.jpeg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1083" data-original-width="1600" height="271" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiwAHc_RxtHp7q4gcLC7BSpK9CiCDeM6jwetTIZnhytajqwXzVPIVLlmQBZhJ_Nq8RkR8NQ7DKPmiZo3vAuuO1TS80JViS8IXfmsXGaJI1lLXhLWAxaACC-0DpLmp3r-EJNwOLNC-iS50A/s400/f06.jpeg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Mit Steinen befestigte Feuerstelle der Jagdstation des Aurignacien<br />
am Galgenberg, Grabung 1989 </td></tr>
</tbody></table>
Während die flachere Rückseite der Statuette lediglich einige Gravierungsspuren (Vorzeichnungen?) erkennen läßt — möglicherweise wurde die Figur auf der Steinplattenoberfläche vorgezeichnet —, ist die Vorderseite vollplastisch gestaltet. Die Darstellung zeigt eine sich bewegende Person, das Gewicht ruht auf dem durchgestreckten linken Standbein, das rechte Bein ist in Kniehöhe schwach abgebogen. Der Oberkörper ist von den Hüften aufwärts leicht nach links gedreht. Die keilförmig geschnitzte linke Brust, der Kopf und der erhobene linke Arm sind in Seitenansicht dargestellt. Der Kopf ist leicht ins Genick gelegt, sodaß das Gesicht, das durch Kerben angedeutet wird, zum erhobenen Arm gerichtet ist. Der rechte Arm führt zum rechten Oberschenkel — hier neben dem rechten Bein ist möglicherweise ein länglicher Gegenstand, etwa ein Stab, angedeutet.<br />
<br />
Während die jüngeren Venusstatuetten des ebenfalls nach einem französischen Fundort benannten Gravettien (28 000-20000 v, Chr.) massive, fettleibige Damen in ruhenden Positionen wiedergeben — ein ausgezeichnetes Beispiel dafür ist die Venus von Willendorf —, so ist hier eine sich bewegende Frau ohne überbetonte Körperpartien dargestellt. Trotz der dünnen Steinplatte von nur 0,7 cm wurde versucht, perspektivisch eine Drehung des Körpers mit einem Gestus nach oben anzudeuten. Einer Abwendung von dieser Welt hin zu einer höheren, jenseitigen Vorstellungswelt?<br />
<br />
Allgemein werden viele Kunstäußerungen der Urzeit nicht als Kunst um der Kunst willen gesehen, sondern kultisch-religiöse Inhalte dahinter vermutet. Von den wohlbeleibten weiblichen Statuetten wie z.B. der Venus von Willendorf nimmt man an, daß sie die Fruchtbarkeit in einer sehr weiten Bandbreite symbolisieren. Diese reicht vom Hüten des Feuers über die Förderung des Jagdglücks und der Sicherstellung einer ausreichenden Nahrungsversorgung bis hin zur Gewährleistung einer möglichst zahlreichen Nachkommenschaft, die das Überleben der Population sichert. Von kleinen Tierplastiken weiß man aus völkerkundlichen Parallelen, daß sie bei der Pirsch mitgeführt oder auf das Gewand aufgenäht wurden, um das Jagdglück zu fördern. Schematische Darstellungen tanzender Mädchen werden als Einweihungsriten interpretiert. Gegen den Himmel erhobene Arme werden je nach der Handstellung als bittende oder betende Haltung erklärt.<br />
<br />
Die Zuordnung der Venus vom Galgenberg zum kultisch-religiösen Bereich ist also kaum anzuzweifeln. Diese frühe Vorläuferin der fettleibigen‚ statisch dargestellten Damen zeigt in ihrer Haltung eine aktive Lebensäußerung. Der Gestus könnte eine vermittelnde Rolle zwischen Mensch und »Höherem« andeuten. Aus der Beinstellung könnte sogar auf eine Tanzhaltung geschlossen werden. Somit ist die »Fanny« vom Galgenberg jedoch nicht nur archäologische Tagessensation, nicht nur die bisher älteste Frauendarstellung der Welt, sondern ein ungemein wertvoller Schlüssel zu der verlorengegangenen Vorstellungs- und Geisteswelt der Eiszeitjäger vor 30 000 Jahren.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Johannes-Wolfgang Neugebauer: Österreichs Urzeit. Bärenjäger - Bauern - Bergleute. Amalthea Wien/München 1990, ISBN 3-85002-281-1, Seiten 9 bis 14</i></span><br />
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<b>Neue Musik, frisch aus der (Kammermusik)-Kammer:</b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/12/lennox-und-michael-berkeley-kammermusik.html" target="_blank">Lennox und Michael Berkeley: Kammermusik für Streicher. | Raymond Aron: Die Intellektuellen und ihr Vaterland.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/09/hanns-eisler-arnold-schonberg-quintette.html" target="_blank">Hanns Eisler / Arnold Schönberg: Quintette für Bläser. | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über den Sohn.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/09/henry-cowell-1897-1965-klavier-kammer.html" target="_blank">Henry Cowell: Klavier-, Kammer- und Vokalmusik. | Hugo Friedrich: "Wer Laura war, können wir allein von Petrarca selber erfahren."</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2013/12/post-nummer-200-aribert-reimann-lear.html" target="_blank">Aribert Reimann: Lear (Live, Oper Frankfurt, 2008) = Mein Post Nr. 200, mit einer sentimentalen Rückschau und Grüßen zum Jahreswechsel.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2013/11/heinz-holliger-streichquartett-die.html" target="_blank">Heinz Holliger: Streichquartett - Die Jahreszeiten - Chaconne. | Gedichte von Hölderlin - Bilder für Erzherzog Leopold Wilhelm. </a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2013/11/krzysztof-penderecki-sextett-2000.html" target="_blank">Krzysztof Penderecki: Sextett - Klarinettenquartett. | Philip Larkin; The (not complete) Poems. </a>»Larkins Lyrik ist keine Lyrik der großen Worte, sie vermeidet jede Sentimentalität, seine Sprache ist schlicht, der Ton unterkühlt.«<a href="https://loomings-jay.blogspot.com/2010/12/philip-larkin.html" target="_blank"> (Jay, in seinen Silvae)</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2013/04/viktor-ullmann-1898-1944-goethe-und.html" target="_blank">Viktor Ullmann: Streichquartett - Klaviersonaten. | Theodor Adorno über Oswald Spengler: Nach einem populären Anfangserfolg hat sich die öffentliche Meinung in Deutschland sehr rasch gegen den »Untergang des Abendlandes« gekehrt.</a></b><br />
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<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 8 MB </b><br />
<b><a href="https://mega.nz/#!3thVQQwR!kH7sPwBc3VuP5v7iX_Lr_KoSgJA5cgAv1SG-JkB6boI" rel="nofollow" target="_blank">MEGA</a> --- <a href="http://depositfiles.com/files/y8whovvjy" rel="nofollow" target="_blank">Depositfile</a> </b><br />
<span style="background-color: #cfe2f3;">Unpack x379.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: [54:12] 3 parts 193 MB</span><br />
<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-58313531990572225712019-12-16T10:18:00.000+01:002019-12-16T10:18:00.552+01:00Karl Amadeus Hartmann: Die Klavierwerke<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgT80ey86WXxxrLo8ck8Qmt0WS6IM8B3UTqGG_xO2g4nEbjfNrjSvLuz2N-NKQY6iFHavAP0PY-D-nH2z9TzU5EyKa93qFCXMR-ERxNikBtmDz-kq06pz0-6ZyvK4HK71l8qF_E4WEzY6E/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1466" data-original-width="1600" height="293" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgT80ey86WXxxrLo8ck8Qmt0WS6IM8B3UTqGG_xO2g4nEbjfNrjSvLuz2N-NKQY6iFHavAP0PY-D-nH2z9TzU5EyKa93qFCXMR-ERxNikBtmDz-kq06pz0-6ZyvK4HK71l8qF_E4WEzY6E/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Die sechs erhaltenen Kompositionen für Klavier solo, die neben einer Reihe von Solowerken für Violine sowie einigen Ensemblewerken und dem satirischen Wachsfigurenkabinett zum Frühwerk Karl Amadeus Hartmanns gehören, sind in einem von ihm eigenhändig zusammengestellten Werkkatalog aus dem Jahr 1950 nicht enthalten. Der Komponist bezeichnete die frühen Solowerke wie auch die übrigen in der Zeit von 1927 bis 1932 entstandenen Kammermusikwerke als nicht „wesentlich“, sondern erwähnte lediglich seine beiden Streichquartette als gültige Arbeiten. Obwohl Hartmann stets mit Behauptungen wie „Alle meine damaligen Kompositionen vernichtete ich später“ sein Frühwerk zu verschweigen versuchte und sogar die radikale Vernichtung früher Werke glaubhaft machen wollte, indem er erklärte: „Ich habe meine beiden Klaviersonaten verbrannt, da ich nicht mehr zu ihnen stehen konnte“, sind einige frühe Arbeiten erhalten oder wieder aufgefunden. Während Hartmanns Frau Elisabeth von einem „Stapel von Kammermusiknoten“ berichtete, der unberührt — aber auch unvernichtet — „jahrelang in der Wohnung lag“, dokumentierte Hans Moldenhauer, dass Hartmann „die Archive als geeigneten Aufbewahrungsort gerade für seine Frühwerke, die er erst nach seinem Tod veröffentlicht wissen wollte, erachtete.“<br />
<br />
Der Grund für diese Negierung des Frühwerks zu Lebzeiten ist neben der selbstkritischen Haltung des Komponisten und dem reifenden künstlerischen Urteilsvermögen sein wachsendes Selbstverständnis als Symphoniker. Dazu kommt, dass sich Hartmann sowohl der Gefahr einer einseitigen Bewertung anhand früher und teils provozierend gestalteter Werke als auch der Einordnung als politischer Komponist und „Bekenntnismusiker“ entziehen wollte, indem er jeden möglichen Hinweis auf politische Bezugnahmen oder die Subsumierung seines künstlerischen Schaffens unter entsprechender Kategorisierung zu vermeiden versuchte. Hartmann war daran gelegen, seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer liberalen und humanen Welt ohne Einschränkungen oder gar politische Positionsbestimmung künstlerisch umzusetzen und im Werk zu verdichten.<br />
<br />
Einzig die Sonate „27. April 1945“ als in mehrfacher Hinsicht exponiertes Werk galt zu Hartmanns Lebzeiten als unvernichtet; jedoch bemühte sich der Komponist, Aufführungen selbst dieser Klaviersonate zu verhindern, wie er 1957 in einem Brief an Fritz Büchtger deutlich machte: „Nun ist dieses Stück ein Jugendwerk von mir, zu dem ich überhaupt nicht mehr stehe und deshalb möchte ich die Klaviersonate auf gar keinen Fall in München aufgeführt wissen.“<br />
<br />
Die frühen Arbeiten für Klavier solo stellen keine geschlossene Einheit dar, sondern sind in drei Gruppen zu unterteilen:<br />
<br />
Die in den Jahren 1927 während des Musikstudiums an der Akademie für Tonkunst in München entstandenen frühesten erhaltenen Werke Suite I und II für Klavier solo, daneben die Jazz-Toccata und —Fuge aus dem Jahr 1928, die Sonatine aus dem Jahr 1931 und die 1. Sonate (1932), die hinsichtlich ihres Umfangs wie ihrer Bezeichnung als eigenständig konzipierte Klavierwerke zu betrachten und dennoch der frühen kammermusikalischen Arbeit mit ihrer Erprobung stilistischer Elemente und formaler Mittel zuzurechnen sind und schließlich die mit ihrer besonderen Entstehungsgeschichte als einzelnes Werk existierende Sonate 27. April 1945, die weit nach der Hinwendung Hartmanns an die symphonische Besetzung entstanden ist.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgYoEgYdElceoUoEmP-omfqzazaIBLXrPL5dKBSGhlGZqgmQaz1dr1WRO1q9RkjkjkbfJbiq1wcTw6g77GDDixggKyYTO1HZWec3xG4Nthiqbygthab8tnyHz0DghyphenhyphenI3nNXnu5FoYwPfC4/s1600/1.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="980" data-original-width="744" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgYoEgYdElceoUoEmP-omfqzazaIBLXrPL5dKBSGhlGZqgmQaz1dr1WRO1q9RkjkjkbfJbiq1wcTw6g77GDDixggKyYTO1HZWec3xG4Nthiqbygthab8tnyHz0DghyphenhyphenI3nNXnu5FoYwPfC4/s400/1.jpg" width="302" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Karl Amadeus Hartmann (1905-1963)</td></tr>
</tbody></table>
<b>Suite I und II für Klavier solo</b><br />
<br />
In den frühen Suiten für Klavier solo setzte sich Hartmann mit traditionellen Kompositionsmitteln auseinander; die Erprobung individueller Motive im historischen Kontext dokumentiert noch den Studiencharakter der während der Kompositionsausbildung verfassten Werke, verweist jedoch gleichzeitig auf die früh erarbeiteten stilistischen Ziele, die Hartmann innerhalb der konzis gefassten Einzelsätze der Suiten bereits formuliert: Er wollte „ein Stück absoluten Lebens darstellen — Wahrheit, die Freude bereitet und mit Trauer verbunden ist". Dieser Wunsch findet mit der reliefartigen Kontrastierung kontemplativer Momente und eruptiver Ausbrüche - etwa mit „Sehr langsam“ im 1. und dem „Sehr lebhaft (sehr roh)“ des folgenden 2. Satzes der Suite I - Eingang schon in das frühe Werk. In Anlehnung an die Klavierkompositionen der Zeitgenossen - zu nennen ist Hindemith mit einer Vielzahl kurzer Klavierwerke‚ aber auch Bartók mit ähnlich kompakten Stücken im Mikrokosmos — erarbeitete sich Hartmann nicht nur traditionelle Satzformen und erforschte die dramatische Architektur innerhalb der oft nur wenig über 20 Takte langen Einzelsätze mit expressiven, oft zentral angelegten Höhepunkten in A-B-A-Form‚ sondern er experimentierte mit bitonalen Strukturen und ungeraden metrischen und synkopierten Motiven.<br />
<br />
Hartmann schrieb die Suite I „Zur Erinnerung an einen Mittwoch in der Ludwigstraße“, in der sich im Odeon sein damaliger Ausbildungsort befand. Weitere Auskünfte hinsichtlich dieser Widmung sind unbekannt — jedoch sprechen sie für die lebensfrohe Haltung Hartmanns und seine Fähigkeit der Kontemplation‚ die sich bereits hier in hochsensiblen Strukturen und Formen zeigt. Bemerkenswert dabei ist der frühe Ansatz eines expressiven Stils, der sich im späteren symphonischen Schaffen in den groß angelegten Adagio-Sätzen wiederfindet, aber bereits im 1. Satz der Suite I zu erkennen ist: Das in der Unterstimme (T. 9 und 10 des 1. Satzes) verwendete Motiv der fallenden großen Sexte mit sich anschließender kleiner Sekunde gerät bei der Wiederverwendung in der 1. Symphonie und in Friede Anno 48 mit entsprechender Textierung zum Symbol von Trauer und Betroffenheit.<br />
<br />
Die Tendenz, traditionelle Stilmittel zu entdecken, zu verarbeiten, zu transformieren und mit innovativen Elementen zu konfrontieren, wechselte sich ab mit einer herausfordernden „enfant terrible“-Haltung, die mit der Faszination an den motorischen Impulsen der neuen Sachlichkeit in Ostinatofiguren deutlich wird, sich in ungeraden Metren und Angaben wie „sehr roh“ manifestiert und sich bis zum swinging „Jazz“ des Finalsatzes der Suite II mit seinem locked hand-Stil entwickelte.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiNixg5xkb_AMWXxd_gudAmJKmoN9dLhyq2pQzB3WMegY98uXVbY4jyG8aY7SLsubIxoCs3VNIsdgcxDxp6zDqV3dCjzJQZAVsXGtNLa5p9lREV1fTcspOEzpPV4TpTkMJlkz2CRL4r_8g/s1600/2.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="900" data-original-width="900" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiNixg5xkb_AMWXxd_gudAmJKmoN9dLhyq2pQzB3WMegY98uXVbY4jyG8aY7SLsubIxoCs3VNIsdgcxDxp6zDqV3dCjzJQZAVsXGtNLa5p9lREV1fTcspOEzpPV4TpTkMJlkz2CRL4r_8g/s400/2.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Karl Amadeus Hartmann (1905-1963)</td></tr>
</tbody></table>
<b>Jazz-Toccata und -Fuge</b><br />
<br />
Dieses dissonante und provozierende Werk, eine bereits im Titel postulierte Verbindung zwischen barocker Fonn und neuen Klängen, könnte zum Zerwürfnls zwischen Hartmann und seinen Lehrern geführt haben: Der konservative Kompositionslehrer Joseph Haas, der später auch mit Hartmanns besorgter Schwiegermutter über das fragliche Talent seines Schülers gesprochen hat (und dies nie abstritt), war offensichtlich einer Unzahl von Entwürfen des jungen Hartmann ausgesetzt und vertrat die zutreffende Ansicht, dass sich sein Schüler zu sehr an Hindemith und Strawinsky orientiere. Offensichtlich äußerte Haas seine Bedenken auch im Unterricht deutlich und verärgerte seinen Studenten mit abfälligen Bemerkungen über neue Musik, was dazu führte, dass Hartmann ihm voller Zorn einen Schlüsselbund vor die Füße warf; später hat er dies wie folgt beschrieben: „Als ich jedoch der Akademie eigene Arbeiten vorlegen mußte, sah ich voraus, daß diese keinen Anklang finden würden, behelligte die Professoren erst gar nicht damit und ließ die Tür getrost hinter mit zufallen.“<br />
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Die „polternde“ Toccata, die zunächst das Solo eines Jazzbasses nachahmt, um dann nach einigen fast perkussiven Einwürfen eine Melodiestimme vorzubereiten, enthält im weiteren Verlauf eine Vielzahl von Ideen zur Gestaltung: kontrastreiche dynamische Wechselm verspielte Spiegelfiguren, kanonische Führungen, „trompetenhafte“ Quartparallelen und Cakewalk-Rhythmen ergeben einen dichten Satz mit zahlreichen thematischen Episoden, die den Satz fast überladen und daher folgerichtig als plötzliche Auflösung in einem ironischen A-Dur-Akkord enden, nicht ohne zuvor mit einem ‚BACH-Zitat’ dem Großmeister der gewählten Formenstruktur spöttisch-liebevolle Reverenz zu erweisen. Die Fuge ist „Markant: im schnellen Jazztempo“ zu spielen und enthält mit Dux und Comes zunächst alle traditionellen Merkmale, gewinnt jedoch im weiteren Verlauf durch rhythmisch komplexe und dynamisch ausgreifende Passagen individuelle Gestalt, die in einem „Charleston“ gipfelt, der „Mit aller Macht!" zu spielen ist und sogar die perkussive Behandlung des Instrumentes mit dem Hinweis „Pedal hörbar aufheben“ einschließt. Auch dieser Satz endet mit einem Dur-Akkord, der das vorangegangene Geflecht abrupt und gleichzeitig augenzwinkernd löst. Die damals gewagte Art der Gestaltung, die in Anlehnung an Hindemiths Aufforderung nach der Behandlung des Klaviers „wie ein Schlagzeug“ entstanden ist, steht für einen unbedingten Wunsch nach Befreiung von Konventionen, spiegelt die ‚roaring twenties‘ in den Großstädten mit ihren Jazzbezügen - und ist als vertonte Provokation gleichzeitig ein Dokument des Zeitgeists, das die Mixtur traditioneller Formen mit neuen Klängen in virtuoser Weise behandelt.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhu6G9TWCTio2XIlvgQvT35hxvcaSJwjAkfCwmxBVKQhBknSpaMFrdQJpGinOwaT38BD_Cvel9x5Od0itM6-7PGXic-LK72sER4cZgjOfU2QSa_Mwdu92Re4NCLX9F7HwnCSF65TYiM2Nw/s1600/3.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="473" data-original-width="530" height="356" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhu6G9TWCTio2XIlvgQvT35hxvcaSJwjAkfCwmxBVKQhBknSpaMFrdQJpGinOwaT38BD_Cvel9x5Od0itM6-7PGXic-LK72sER4cZgjOfU2QSa_Mwdu92Re4NCLX9F7HwnCSF65TYiM2Nw/s400/3.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Karl Amadeus Hartmann (1905-1963)</td></tr>
</tbody></table>
<b>Sonatine</b><br />
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Die im Ttel Sonatine verwendete Diminutivform der dreisätzigen Arbeit nimmt Bezug auf die zeittypische kurze Faktur, die bei vielen Zeitgenossen Hartmanns vorbildhaft geprägt und in der Reduzierung als ‚Befreiung‘ von langen und ausgreifenden spätromantischen Sätzen zu verstehen ist. Dennoch ist das Werk durch die Verwendung verschiedener thematischer Bereiche in Relation zur Form ‚überladen‘; es enthält überdies einen wesentlichen ‚stilistischen Bruch‘, der durch zwei im Ausdruck völlig unterschiedliche Teile entsteht und den für Hartmann charakteristischen Kontrast zwischen sachlich—dissonantem und expressiv-kontemplativem Charakter exponiert. Mit der direkten Gegenüberstellung der beiden Eigenarten und im Hinblick auf die Motivik nimmt das Werk eine Schlüsselrolle im Werkkatalog Hartmanns ein: Die Mittel der in einem schroffen Stil gefassten Sachlichkeit im ersten Teil weichen in der zweiten Hälfte des Werks einer Tonsprache, die in expressiver und lamentohafter Gestik einen deutlichen Kontrast bildet und die vorangegangene Passage fast persönlich reflektiert. Zentrales Motiv des ersten Teils ist eine Fünfachtelgruppe, die durch die Sekundkombination stark dissonant wird und — von vielfachen Taktwechseln und differierenden metrischen Einheiten unterstützt — einen ,zerrissen-impulsiven’ Eindruck erzeugt. Mit dem neuen Teilabschnitt „sehr breit, ausdrucksvoll“ beginnt der Expressiv-Charakter, der einen stilistischen Bruch innerhalb der kurzen Sonatine herbeiführt. Die Expressivität wird verstärkt durch Anklänge an das von Hartmann auch in weiteren Werken — etwa im 1. Streichquartett oder in der Oper Simplicius — verwendete Lied Elijahu ha-navi. Hinzu kommen melismenartige Figuren und der für Hartmanns Gesamtwerk charakteristische Sekundfall; damit werden die Spezifika jüdischer Musik noch bekräftigt und gleichzeitig Hartmanns Faszination an der Vielfalt der Möglichkeiten des Einsatzes jüdischer Melodieelemente dokumentiert. Die Verwendung jüdischer Motive kann noch nicht als unmittelbare Bezugnahme auf die drohende Verfolgung und systematische Ermordung des jüdischen Volks gewertet werden, sondern ist zunächst die unmittelbare Folge der vielfachen Besuche Hartmanns bei der im Jahr 1928 in München gastierenden Theatergruppe „Habimah“, deren ausdrucksstarke Vorstellungen ihn so tief beeindruckt haben, dass er zeitlebens begeistert von den Auftritten der Schauspieler berichtete. Insbesondere die quasi improvisierten kleinschrittigen Intervalle und Melismen der Theatermusik wirkten auf den Komponisten so nachhaltig, dass sie fester Bestandteil seines späteren Werks wurden. Die Sonatine ist das künstlerische ‚Ergebnis‘ der vorangegangenen kompositorischen Arbeit mit jazzähnlichen Elementen, ‚sachlichen‘ Merkmalen und ‚bewährter‘ Motivik, angereichert mit neuen Eindrücken aus der jüdischen Theaterwelt; das Werk dokumentiert mit seinem Espressivogehalt eine deutlich gereifte Stilsicherheit des Komponisten und zugleich die Tendenz zur raumgreifenden Ausweitung mit symphonischen Zügen: extreme Lagen, perkussive Elemente, rhythmische Figuren und melodische Linien lassen die Charakteristik eines Klavierauszugs erkennen, der nur der Instrumentierung für großes Orchester harrt.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEirqpFhZh-xR_bcy8FkOVIWNYYnHQ9beRmzzgeI8Xy5wN9nv8eKoVRQKDD612RPhXBSgPyr7PHmrwemLHAKlBB9WrSag1Ge2VAXkbRphMr8ld9erIxlOsxyOwyfaaNgFEs5eog897lwpp8/s1600/4.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="845" data-original-width="1200" height="281" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEirqpFhZh-xR_bcy8FkOVIWNYYnHQ9beRmzzgeI8Xy5wN9nv8eKoVRQKDD612RPhXBSgPyr7PHmrwemLHAKlBB9WrSag1Ge2VAXkbRphMr8ld9erIxlOsxyOwyfaaNgFEs5eog897lwpp8/s400/4.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Karl Amadeus Hartmann (1905-1963)</td></tr>
</tbody></table>
<b>Sonate I</b><br />
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Hartmanns Sonate I für Klavier solo ist das Ergebnis der Erprobungszeit eigener Mittel; das Streben nach direkter Gestaltung eines (‚subjektiven‘) Ausdrucks geht mit den aktuellen konstruktiv-sachlichen Kompositionstechniken der Zeitgenossen eine charakteristische Verbindung ein.<br />
<br />
Die Eingangsmotivik des 1. Satzes wird auch im 1936 entstandenen Friede Anno 48 (und dementsprechend in der verkürzten Neufassung Lamento von 1955) wieder verwendet. Somit ist nicht nur die bewusste Vernichtung des gesamten Frühwerks widerlegt, sondern die Bedeutung der frühesten Kompositionen im Hinblick auf den Einsatz expressiver Elemente im späten Schaffen dokumentiert. Besonders deutlich setzt Hartmann im weiteren Verlauf des 1. Satzes als konstruktives Element noch einmal bitonale Strukturen ein, die aus der Kombination zweier tonaler Stimmen entstehen. Mit einer zunächst annähernd ‚volkstümlichen‘ Anlage der Oberstimme bei vergleichsweise einfacher Rhythmisierung und der Ergänzung tonaler Ostinatofiguren als Begleitung erzielt Hartmann eine Art Sprachduktus, mit Hilfe dessen er seine Vorstellung eines „Kunstwerke mit einer Aussage“ auf individuelle Weise realisiert.<br />
<br />
Bemerkenswert ist im kontrastierenden langsamen 2. Satz, dem eine einfache A-B-A-Form zugrunde liegt, dass im Beginn des B-Teils der Tritonus als Außenintervall die Motivik dominiert; die Tritonusmotivik dient der Spannungssteigerung und findet sich im Gesamtwerk Hartmanns immer wieder an exponierter Stelle. Auch die konsequent eingesetzten großen Septimen, die hintereinander gereiht als Einschübe den Verlauf unterbrechen, jedoch nicht entspannen, dienen der zusätzlichen espressivo-Dichte des Satzes. Mit der „attacca subito“-Anweisung folgt der Finalsalz, der in der Gestaltung des Eingangsmotivs deutliche Parallelen zum Allegro barbaro von Bartók aufweist. Hier greift Hartmann noch einmal auf die Motorik der 1920er Jahre zurück, verlangt gar „maschinell ausspielen“ im dreifachen Fortissimo und „sehr hart“ im angedeuteten Marsch, der wie Tonfolgen im 2. Salz der Sonatine an seine Tanzsuite für Bläserquintett aus 1931 erinnert.<br />
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Die vorläufig letzte Arbeit für Klavier solo enthält vlele Merkmale zeitgenössischer Kompositionsästhetik mit ihren provozierenden Elementen der „Neuen Sachlichkeit“ und ihrer Definition, die den „linken ,veristischen‘ Flügel“ entgegen der klassizistischen Bewegung konservativer Kräfte als Bewegung versteht und „durch eine ,Verneinung der Kunst‘ das ‚wahre Gesicht unserer Zeit‘ zeigt“, verweist aber — zusammen mit den etwa zeitgleich entstandenen Werken für Ensemble und Orchester — auf die fortgeschrittene Reife Hartmanns bei der Motivgestaltung und die folgende Abkehr vom provokativen Stil.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjR7JpgvYu4yqVfhwx_-sDYS5kk7cOTM_VGwX-aCCpFR9o6JzwkKnfWdCs5Oj8lc4rGN3esiipguPIiV3oS48l9vw5rxD8Ir5AMOWundpjXKelozbfKe4PkRpronHCR13BkDR8skzaE1D4/s1600/5.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="944" data-original-width="1200" height="313" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjR7JpgvYu4yqVfhwx_-sDYS5kk7cOTM_VGwX-aCCpFR9o6JzwkKnfWdCs5Oj8lc4rGN3esiipguPIiV3oS48l9vw5rxD8Ir5AMOWundpjXKelozbfKe4PkRpronHCR13BkDR8skzaE1D4/s400/5.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Karl Amadeus Hartmann, Gabrielle Dumaine und Olivier Messiaen<br />
beim 4. Konzert im Rahmen der Konzertreihe „musica viva“ am 31. Januar 1952 </td></tr>
</tbody></table>
<b>Sonate für Klavier solo „27. April 1945“</b> <br />
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Hartmanns letztes Werk für Klavier ist eng mit seiner Biografie verbunden und nimmt direkten Bezug auf die Umstände der letzten Kriegstage. Die Sonate wird damit zu einem beispiellosen Dokument der Betroffenheit und der Verzweiflung: Im Haus der Schwiegereltern in Kempfenhausen am Starnberger See, in das sich Hartmann mit seiner Frau Elisabeth und seinem damals zehnjährigen Sohn Richard zum Schutz vor Bombenangriffen zurückgezogen hatte, wurde der Komponist Zeuge eines der letzten grausamen Ereignisse des nationalsozialistischen Regimes. Um die Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau der Befreiung durch die Alliierten zu entziehen, wurden sie in nächtlichen Märschen zum Weg in die Alpen gezwungen. Die durch Folter und Grausamkeit gequälten und völlig ausgezehrten Menschen — diejenigen unter ihnen, die aus Erschöpfung zusammenbrachen, wurden von den brutalen Aufsehern sofort erschossen — zogen am Wohnhaus der Familie Hartmann vorbei; die Schüsse waren deutlich zu hören.<br />
<br />
Ein verzweifelter kam an das Haus, um Nahrungsmittel zu erbitten. Der Schock dieses Anblicks und der endgültigen Gewähr, dass nicht nur Kriegsereignisse, sondern vor allem ideologische Verirrungen und Wahnsinn zu Greueltaten und Mord führten, veranlasste Hartmann dazu, seiner tief empfundenen Betroffenheit in Tönen Ausdruck zu geben: „Am 27. und 28. April 1945 schleppte sich ein Menschenstrom von Dachauer ‚Schutzhäftlingen‘ an uns vorüber — unendlich war der Strom — unendlich war das Elend — unendlich war das Leid -“.<br />
<br />
Er berichtete dann auch seinem Bruder Adolf, mit dem er sich in fortdauernder Korrespondenz über alle Ereignisse austauschte, in einem Brief vom 4. Juni 1945: „In den 12 Jahren der Nazi habe ich nichts schrecklicheres gesehen wie dies. (…) Dies Bild des Schreckens, dies Bild des Grauens ist nicht zu schildern".<br />
<br />
Die Sonate, von deren 4. Satz zwei verschiedene Fassungen existieren, enthält einige Zitate, motivische Merkmale und Reminiszenzen, die mit der Entstehungsgeschichte eng zusammenhängen: Im 1. Satz ist nach der melismatischen Ausgestaltung der ersten Takte, die hier eindeutig als Solidaritätserklärung an das verfolgte jüdische Volk, aber auch mit dem Trauerton als Ausdruck des fast unerträglichen Zustands zu deuten ist, immer wieder ein tonales Motiv (aus sog. Hornquinten) zu hören, das der Interpret Benedikt Koehlen selbst als Anspielung auf die Sonate op. 81a Das Lebewohl (Les Adieux) von Beethoven versteht. In Hartmanns Sonate erzeugt dieses Motiv eine sehr eigene Stimmung, ein Abschied — vielleicht von der Unterdrückung und der Grausamkeit, ein „Lebewohl“ für die Überlebenden, aber auch die tragische Gewissheit, den Getöteten ein letztes „Les Adieux“ zu vermitteln. Das verdeckte Zitat des Liedrefrains aus der „Internationalen“, „Völker hört die Signale“ im mit „Scherzo“ überschriebenen 2. Satz, ist Ausdruck der Hoffnung, im dreifachen Forte, „con fuoco e con passione" wird es zum Aufschrei und appelliert an den in der Situation nur imaginären Hörer und dennoch an die gesamte Menschheit wie eine Beschwörung, die Zukunft besser und menschlicher zu gestalten. Hartmanns unerschütterlicher Glaube an eine bessere Zukunft, die zumindest in nachfolgenden Generationen möglich sein sollte, vermischt sich mit der lange bereits bestehenden Sympathie für die sozialistische Idee, für die die „Internationale“ das Erkennungszeichen ist. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgyyQMzCTFLvTxTHGSSYww1jHiYb4yLaIAH7KiF4kumtGyTCtOPP2OuQDT2ojlDMvXIJB8Q9PtLL-t9Ctwp27Sd55SBtXb-GBtfDVmdoV5lctVRD2Tt7txNT2c1KFmjjDERMgDcb_wYpo8/s1600/6.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="353" data-original-width="476" height="296" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgyyQMzCTFLvTxTHGSSYww1jHiYb4yLaIAH7KiF4kumtGyTCtOPP2OuQDT2ojlDMvXIJB8Q9PtLL-t9Ctwp27Sd55SBtXb-GBtfDVmdoV5lctVRD2Tt7txNT2c1KFmjjDERMgDcb_wYpo8/s400/6.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Karl Amadeus und Elisabeth Hartmann, 1948.</td></tr>
</tbody></table>
Der 3. Satz, „Marcia funebre“, enthält das leicht verfremdete Liedzitat „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“. Dieses Lied‚ auch ein wesentliches Symbol der sozialistischen Bewegung, kann im Zusammenhang mit dem Häftlingszug nicht als politischer Kampfappell, sondern muss als Zeichen spontanen Mitgefühls verstanden werden. Den gefolterten Insassen des Konzentrationslagers Dachau wollte der zeitlebens hochsensible Hartmann keine politischen Richtlinien mitgeben, sondern den Überlebenden einen wörtlich zu verstehenden Wunsch übermitteln und gleichzeitig seine Solidarität zeigen: „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, Brüder, zum Lichte empor“ kann nur als inniger Wunsch ausgelegt werden, nicht jedoch als Dokument politischer Positionsbestimmung - in dieser leidvollen Situation. Auch im 4. Satz greift Hartmann auf präexistentes Liedgut zurück und paraphrasiert das Lied „Partisanen vom Amur“ als Zeichen seiner Verbundenheit mit den Häftlingen; der Zug der Partisanen‚ der in der von Ernst Busch geschaffenen deutschen Fassung des Lieds auf eine russische volkstümliche Melodie beschrieben wird, greift die Bewegung des Häftlingsstromes auf.<br />
<br />
Hartmann unterbricht jedoch mit der Spielanweisung „herunter stürzen!“ und darauf folgenden entrückten „dolce“-Passagen die marschmäßige Kampfstimmung bewusst und leitet damit erneut einen Reflexionsprozess ein, den er selbst durchlebt hat und auf diese Weise dem imaginären Hörer mitteilen wollte. Reflexion als ständiges Hinterfragen wendete Hartmann in zweifacher Hinsicht an: Als Künstler unterzog er sich und seine Kompositionen einer fortwährenden kritischen Betrachtung, die dazu führte, dass er bereits im Frühwerk einen eigenen ästhetischen Stil erarbeitete und im Schaffen nach 1945 viele seiner Orchesterwerke einer Revision unterzogen hat, um sie hinsichtlich der Wirkung und des Gehalts zu optimieren, während er als Mensch zeitlebens von sozialistischen Idealen im Sinne einer allumfassenden Humanität und Freiheit geprägt war, die jedoch in ihrer parteilich organisierten und zur Staatsform ernannten Umsetzung nach 1945 seinen Überzeugungen nicht mehr standhielten.<br />
<br />
Karl Amadeus Hartmann hat seine gelebte Überzeugung von Freiheit und Humanität niemals geopfert, sondern in seinem gesamten Schaffen künstlerisch verdichtet und erlebbar gemacht. Die Stationen dieses konsequenten künstlerischen Weges sind von der ersten Suite für Klavier solo bis zum letzten unvollendeten Werk, der Gesangsszene, in aller Eindeutigkeit zu erkennen.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Christoph Brehler, im Booklet</i></span><br />
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<pre>TRACKLIST
Karl Amadeus Hartmann
(1905-1963)
Das Klavierwerk
Kleine Suite I (c. 1924-26) [06:39]
01. I. Sehr langsam [02:26]
02. II. Sehr lebhaft (sehr roh) [01:00]
03. III. Fließend [00:58]
04. IV. Breit und zart [01:29]
05. V. Äußerst lebhaft [00:45]
Kleine Suite II (c. 1924-26) [08:19]
06. I. Lebhaft [00:59]
07. II. Sehr langsam, zart [03:25]
08. III. Fließend [02:22]
09. IV. Jazz [01:32]
Jazz-Toccata und -Fuge (1927-8) [08:05]
10. Toccata [04:43]
11. Fuge [03:22]
12. Sonatine (1931) [07:03]
Erste Sonate (1932) [10:38]
13. I. Toccata [03:14]
14. II. Langsamer Tanz [04:39]
15. III. Finale [03:47]
Sonate '27 April 1945' (1945) [30:01]
16. I. Bewegt [03:52]
17. II. Presto assai [04:05]
18. III. Marcia funebre [09:28]
19. IV. (2. Version) Allegro risoluto [06:47]
20. V. (1. Version) Allegro furioso [05:45]
Total Time: [70:43]
Benedikt Koehlen, Piano
Aufnahmeort / recorded at: Tonstudio Mechernich-Floisdorf
Aufnahmedaten / recording dates: 02.-03.08.2004 / 25.-26.02.2005
Toningenieur / recording engineer: Manfred Dahlhaus
Aufnahmeleitung / recording director. Joachim Krist
(C)+(P) 2006
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: x-large;"><b><span style="color: red;">Götz Aly: </span></b></span><br />
<span style="font-size: x-large;"><b><span style="color: red;"><br /></span></b></span>
<span style="font-size: x-large;"><b><span style="color: red;">Linker Antisemitismus</span></b></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjBs4THYRK3aVb-YMM2cdL2WI9qwNiy4g-Wt1AhgivMwTEBPdpQbx_IdPphNiFZhMdJZ4QNZgF8PBBic3VZtwXYHuuMfewD3Vb84EBjlxVXpFf8Yq6anzE-3CbYmennQHBIBztq2FoU60Q/s1600/1Bombe.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="612" data-original-width="1280" height="306" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjBs4THYRK3aVb-YMM2cdL2WI9qwNiy4g-Wt1AhgivMwTEBPdpQbx_IdPphNiFZhMdJZ4QNZgF8PBBic3VZtwXYHuuMfewD3Vb84EBjlxVXpFf8Yq6anzE-3CbYmennQHBIBztq2FoU60Q/s640/1Bombe.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">November 1969: Bombe im Jüdischen Gemeindehaus Berlin <a href="https://www.juedische-allgemeine.de/politik/1969-antisemitischer-terror-von-links/" target="_blank">[Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Da sich die Neue Linke auf diese Weise von den nationalsozialistischen Verbrechen abwandte, hatte sie es nicht weit, um aus denselben Gründen der Schuldabwehr die Distanz zu Israel und zu den jüdischen Deutschen zu suchen. Auch das geschah nicht ohne Übergänge, konnte sich als Desinteresse äußern oder militante Formen annehmen. Wie die Umfragen im Sommer 1967 zeigen, waren die Studenten noch mehrheitlich proisraelisch eingestellt. Seit 1959 gab die Deutsch-Israelische Studiengruppe an der Freien Universität die Zeitschrift <i>DIS-kussion</i> heraus, getragen von vielen SDS-Mitgliedern.<br />
<br />
Am Abend des 6. Juni, unmittelbar nach dem Beginn des Sechstagekriegs und mitten in der Erregung um den Tod Ohnesorgs, demonstrierten 1000 Berliner Schüler und Studenten auf dem Berliner Kurfürstendamm unter der Parole »Unser Herz schlägt für Israel«; an die 300 meldeten sich bei der Jüdischen Gemeinde spontan für den zivilen Einsatz in Israel. Ähnliches geschah in Frankfurt. Am selben Tag sprach Professor Weischedel verständnisvoll zu den Studenten. Er klagte die Staatsgewalt an und beklagte die Leisetreterei seiner Kollegen. Mitten in der Rede kam er auf den Krieg im Nahen Osten zu sprechen. Sicherlich, so führte er aus, sei es schwierig, Recht und Unrecht in diesem Konflikt genau zu unterscheiden, doch ergreife er dennoch Partei; er umriss einen noch bestehenden Konsens: »Ich habe es selber erlebt, wie schon einmal eine Vernichtungsaktion gegen die Juden unternommen wurde. Viele meiner Freunde sind damals umgekommen. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass nun ein weiteres Mal an diesem Volk das Verbrechen des Völkermordes verübt werden soll. [...] Ich kann nicht anders, als meine volle Sympathie diesem kleinen Volk in seinem Kampf um seine Existenz zuzuwenden.«<br />
<br />
In demselben Ton kommentierte Ulrike Meinhof in <i>konkret</i>: »Vorbehaltlos« beschwor sie die Sympathie der europäischen Linken für Israel, »die nicht vergessen wird, dass ihre jüdischen Mitbürger verfolgt wurden«, gerade die Linke müsse den Arabern »den Verzicht auf Israel, die Bereitschaft zur Koexistenz mit Israel abverlangen«. Meinhof mahnte ihre Gesinnungsfreunde, nicht dem »pro- und antiisraelischen Freund-Feind-Denken« zu erliegen und ähnlich wie im Hinblick auf Polen alles für die Aussöhnung mit Israel zu tun.<br />
<br />
Diese gemeinsame Überzeugung der Linken zerfiel in den folgenden Wochen und Monaten zusehends. Anfang Juli 1967 veranstaltete der Frankfurter SDS ein Wochenendseminar zum Thema »Israel«. Noch differenzierten die Beteiligten in ihrer Resolution »zwischen unseren Gefühlen zu Israel« und der »rationalen Analyse der Position des Staates Israel«. Allerdings verwandten die Autoren den Begriff »Philosemitismus« bereits in diffamierender Weise und begannen unter tätiger Beihilfe von Wolfgang Abendroth Ägypten als »im Wesentlichen progressive republikanische Militärdiktatur« anzusehen.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiVl2EmE9tRi4kbc4SZ35TYnqE9N-ONd7m516EJ9BcJK7hMgMz8VeR76_IZHq6jswTBtmpvuFurcC2Y3ghyphenhyphenNq3C86MQT3h-PoZ-C1aLMC426yk0qBYIbDmPLlUYbT-78lIi_Ao5BP0NMvo/s1600/2Gemeindehaus.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="516" data-original-width="780" height="262" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiVl2EmE9tRi4kbc4SZ35TYnqE9N-ONd7m516EJ9BcJK7hMgMz8VeR76_IZHq6jswTBtmpvuFurcC2Y3ghyphenhyphenNq3C86MQT3h-PoZ-C1aLMC426yk0qBYIbDmPLlUYbT-78lIi_Ao5BP0NMvo/s400/2Gemeindehaus.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Das <a href="https://www.welt.de/geschichte/article203226338/Linker-Terror-1969-Eine-Bombe-gegen-den-Judenknax-der-Deutschen.html" target="_blank">Jüdische Gemeindehaus</a> in der West-Berliner Fasanenstraße</td></tr>
</tbody></table>
Die Vordenker des revolutionären SDS wussten schon 1967 eines genau: Israel verdankte seine Existenz angeblich dem »amerikanischen Imperialismus und jüdischen Kapitalisten«; der Sechstagekrieg im Juni 1967 »beseitigte« für sie »den letzten Zweifel« am »reaktionären Charakter« seiner führenden Politiker. Anerkennung verdiente demnach das »Existenzrecht der in Palästina lebenden Juden«‚ nicht jedoch das »zionistische Staatsgebilde«. Zur deutschen Judenfeindschaft, Gewalt- und Vernichtungspolitik fiel den SDS-Strategen 1967 ein, die Juden seien nicht von Deutschen, sondern »durch den Faschismus aus Europa vertrieben und von vielen westlichen Ländern abgewiesen« worden und dann in Palästina »eingedrungen«. Der Frankfurter Literaturwissenschaftler Martin Stern sah sich im Sommersemester 1968 »als ›Fachidiot‹‚ als Schweizer Staatsbürger und Träger eines jüdischen Namens [...] systematisch diffamiert«. Die Studenten sprengten sein Seminar zur expressionistischen Dichtung mit der Begründung, Stern betreibe »metaphysische Literaturmauschelei« und sei »von keinem Furz sozialer Wirklichkeit je erreicht« worden.<br />
<br />
Am 9. November 1969 tickte im Westberliner Jüdischen Gemeindehaus eine Brandbombe mit erheblicher Sprengkraft. Sie versagte, weil die Drahtverbindung zwischen Wecker, Batterie und Zünder nicht funktionierte. Eingestellt war der Wecker genau auf den Zeitpunkt der Gedenkveranstaltung zum Judenpogrom von 1938. Am folgenden Morgen fand eine Putzfrau die Höllenmaschine. Lange blieb unklar, wer den Anschlag ausgeheckt hatte. 35 Jahre später klärte Wolfgang Kraushaar den Fall auf. Er sichtete die Urkunden der Ermittlungsbehörden, die zeitgenössischen linken Flugschriften und die einschlägigen Erkenntnisse des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Vor allem aber gelang es ihm, wichtige Beteiligte zum Sprechen zu bewegen, insbesondere den Bombenleger selbst: den 1947 geborenen Albert Fichter. Er stammt aus einer schwäbischen Arztfamilie und schloss sich 1968/69 der Gruppe um Dieter Kunzelmann in Berlin an, die sich bald Tupamaros West-Berlin nannte. Fichter gehörte also zu einer derjenigen hyperradikalen Frontorganisationen, die sich nach dem Attentat auf Rudi Dutschke in immer rascherer Folge aus der Mitte der Achtundsechziger-Bewegung bildeten. Fichter blieb lange verschwunden; dank Kraushaars Energie bat er im Sommer 2004 die »Berliner Jüdische Gemeinde für diese üble Tat um Vergebung«.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjuTWNkXjm3rxWcRVt2hrFcC0iv_Zmey9a2fsq7NcaE9OZZnO5d07fDSO6xmUJvymA6E85MmkpOt5Oxx4m687grg2yNaRAlJ8a-LTNPHNWrWnn5zftNpB7gHwOWXWf_sdWBs_tERHvQU5M/s1600/3Wolfgang+Abendroth.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1115" data-original-width="802" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjuTWNkXjm3rxWcRVt2hrFcC0iv_Zmey9a2fsq7NcaE9OZZnO5d07fDSO6xmUJvymA6E85MmkpOt5Oxx4m687grg2yNaRAlJ8a-LTNPHNWrWnn5zftNpB7gHwOWXWf_sdWBs_tERHvQU5M/s400/3Wolfgang+Abendroth.jpg" width="286" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Wolfgang_Abendroth" target="_blank">Wolfgang Abendroth (1906-1985)</a></td></tr>
</tbody></table>
Er beging sie unter der geistigen Anleitung von Kunzelmann, von dem er sagt, er habe schon damals immer »auf die ›Scheißjuden‹ geflucht«. Kunzelmann hatte im Oktober 1969 ein Ausbildungslager palästinensischer Terroristen besucht, dort nach eigenem Bekunden »genau gelernt, wie man Zeitbomben herstellt«‚ und war Anfang November nach Berlin zurückgekehrt. Der misslungene Anschlag fügte sich in die unter den Achtundsechziger-Aktivisten und -Mitläufern rasch verfestigte Logik vom »antiimperialistischen Befreiungskampf der Völker«.<br />
<br />
Wohin diese Logik schon geführt hatte, zeigte sich genau sechs Monate vor dem Anschlagsversuch‚ als der erste, gerade eben akkreditierte israelische Botschafter in der Bundesrepublik, Asher Ben-Natan, am 9. Juni 1969 an der Universität Frankfurt zum Thema »Frieden in Nahost« sprechen sollte. Eingeladen hatte ihn der Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland. Der phonstarke, linksradikale Teil der Zuhörer begrüßte den Botschafter mit der Parole »Ha, ha, ha — Al Fatah ist da«. Als Ben-Natan begann, den Staat Israel und dessen Politik zu verteidigen, wurde das Mikrophonkabel durchschnitten, und es ertönte der Ruf »Zionisten raus aus Deutschland«.<br />
<br />
Zwei Tage nach dem Frankfurter Krawall sollte Ben-Natan in Hamburg sprechen. Dort kündigte der AStA an: »Der Herrenmensch Asher Ben-Natan wird in Hamburg nicht reden.« Der anonyme Verfasser des Aufrufs zeigte sich als einer jener autoritär-antiautoritären Rechthaber, die sich für damalige Verhältnisse gründlich mit der NS-Zeit beschäftigten und die so gewonnenen Erkenntnisse dann mit einem kleinen Trick ins Antisemitische verkehrten: Demnach verstand es Ben-Natan »virtuos«, den »ins ›Positive‹ verbogenen Antisemitismus« der Bonner Politiker »für die herrschende Klasse Israels auszunutzen«. <br />
<br />
Als Begründung führte der Hamburger Großinterpret an: »Die Blitzsieger von 1940 können sich ohne Schwierigkeiten mit den Blitzsiegern von 1967 identifizieren; die Herrenmenschen des Dritten Reiches betrachten mit Genugtuung die rassistische Politik der Dayan-Meir-Clique gegen arabische ›Untermenschen‹.« In seiner Presseerklärung nahm der SDS-Bundesvorstand am 18. Juni zu den Vorfällen Stellung. Er bezeichnete die Al Fatah als »berechtigte sozial-revolutionäre Organisation« und den »Zionisten Ben-Natan« als Vertreter einer »rassistischen« und »autoritären« Ideologie. Von dieser »weichen« Linie grenzte sich die SDS-Gruppe Heidelberg scharf ab: Nach Meinung der dortigen Revolutionäre galt es, statt der kompromisslerischen Fatah die Demokratische Volksfront zur Befreiung Palästinas zu unterstützen, weil nur sie eine wirklich »revolutionäre Politik zur Organisation des Volkskrieges in Palästina« betreibe. Zum linken Ressentiment gegen Israel fügte sich die Schwärmerei für die militante Black-Power-Bewegung in den USA. Stokely Charmichael vertrat im Hinblick auf Israel die Auffassung: »Wir müssen auf der Seite der Araber stehen. Punkt. Punkt. Punkt.«<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgJNfFNMEg8HSveNoDbrObYPy42WgGPtJG5fA4MVUDabOTObHHqrQgJyhJLeEX3GCVv3CcwsCtxr2Sao2bsJy_bAxxw_twpuH-Zr9Hb1vBHDxagzLmo6SV8dK2pt1MM864GhXF0y78gA1A/s1600/4Dieter+Kunzelmann.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="373" data-original-width="780" height="305" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgJNfFNMEg8HSveNoDbrObYPy42WgGPtJG5fA4MVUDabOTObHHqrQgJyhJLeEX3GCVv3CcwsCtxr2Sao2bsJy_bAxxw_twpuH-Zr9Hb1vBHDxagzLmo6SV8dK2pt1MM864GhXF0y78gA1A/s640/4Dieter+Kunzelmann.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Kunzelmann" target="_blank">Dieter Kunzelmann (1939-2018)</a> auf dem Fahndungsplakat von 1970</td></tr>
</tbody></table>
Für das bemerkenswert abweisende Selbstverständnis der Neuen Linken gegenüber Israel spricht ein Detail: Der Republikanische Club in Westberlin‚ dem vorzugsweise ältere Intellektuelle unterschiedlicher Couleur angehörten‚ hatte den 9. November 1969 als Tag für die Podiumsdiskussion zum Thema »Palästina — ein neues Vietnam?« ausgesucht. Selbst wer diese Frage mit Ja beantwortete oder nur für berechtigt hielt, musste sie nicht ausgerechnet am Jahrestag der Pogromnacht von 1938 als die einzige diskutable Frage aufwerfen. Erklärbar wird das nur, wenn man den linken Antisemitismus in Deutschland, und in diesem Fall kann die DDR einbezogen werden, als Form der Schuldübertragung auf die Opfer der deutschen Rassen- und Vernichtungspolitik interpretiert.<br />
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Während dieser Veranstaltung verteilte eine Angehörige der linken Szene im Republikanischen Club das Bekenner-Flugblatt zu dem misslungenen, aber noch nicht bekannten Anschlag auf das Jüdische Gemeindehaus. Die Überschrift lautete »Shalom — Napalm«. Auch darin zeigte sich die auf Schuldabwehr und Schuldübertragung gerichtete Tendenz des linken Antisemitismus. Der Begriff Napalm stand für das Verbrennen wehrloser Frauen, Kinder und Greise.<br />
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<b>Alles für die palästinensische Revolution</b><br />
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Nach dem fehlgeschlagenen Attentat vom 9. November 1969 veröffentlichte das Palästina-Komitee des Frankfurter SDS eine Erklärung. Sie analysierte den zionistischen Staatsgedanken so: »Die endgültige Etablierung dieses Staates konnte allerdings erst auf dem Hintergrund der Erfahrung des Faschismus (der Erhöhung der Zahl der Einwanderer und der politischen Scheinlegitimierung eines Judenstaates) erfolgen.« Israel sei »selber ein rassistischer Staat«, und die Zionisten dort würden »die durch die Barbarei des Faschismus erzeugten Schuldgefühle, die in der BRD in einen positiven Rassismus in Gestalt des Philosemitismus umgeschlagen« seien, für ihre Zwecke nutzen. Im Übrigen verurteilten die Verfasser den Anschlag, weil ihn die in Deutschland lebenden Juden nur »vor dem Hintergrund ihrer Verfolgung und Vernichtung als Juden« begreifen könnten. Der Koordinierungsrat der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit beobachtete »eine zunehmende Aggressivität einzelner rechts- und linksradikaler Gruppen gegenüber den in der Bundesrepublik lebenden jüdischen Mitbürgern und Israelis«.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhPMCYhw85-CtA7-cgg0FGvc6Rh3SrhisZCo_FUOR14gqQZuiXW0ZBieGGLihyfkvp5T0KVUeXrdq_drf2qirJhPCD556QaiVyjMajd9UK9fjFATvCJAbeNPXByPT4sEoM5B2wZDbKrhKo/s1600/5BriefAmman.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="867" data-original-width="1024" height="540" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhPMCYhw85-CtA7-cgg0FGvc6Rh3SrhisZCo_FUOR14gqQZuiXW0ZBieGGLihyfkvp5T0KVUeXrdq_drf2qirJhPCD556QaiVyjMajd9UK9fjFATvCJAbeNPXByPT4sEoM5B2wZDbKrhKo/s640/5BriefAmman.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Dieter Kunzelmanns "Brief aus Amman", veröffentlicht in agit 883 am 27.11.1969<a href="http://helmut-loeven.de/2018/05/dieter-kunzelmann-lebte-20-jahre-laenger/" target="_blank"> [Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Am 27./28. Dezember 1969 tagte der »Erste Internationale Solidaritätskongress mit dem palästinensischen Volk« in Algier. Der SDS schickte eine fünfköpfige Delegation, darunter Udo Knapp, Wolfgang Schwiedrzik, Inge Presser und offenbar nur zufällig Joschka Fischer. 34 Jahre später, 2001, machte die Reise dem damaligen Außenminister Fischer zu schaffen. Knapp und Schwiedrzik meldeten sich öffentlich zu Wort, und Knapp behauptete, sie hätten sich seinerzeit von den martialischen Auftritten und dem »blanken Hass auf alle Israelis« angewidert gefühlt und »die Konferenz so oft wie möglich verlassen«. Der zeitgenössische Bericht des Verfassungsschutzes lautet anders. Demzufolge kritisierten die SDS-Delegierten in Algier die offizielle propalästinensische Resolution des Kongresses als »revisionistisch«. Alternativ dazu brachten sie eine Gegenresolution ein. Nachdem diese abgelehnt worden war, verließen sie die Versammlung »unter Protest«.<br />
<br />
Offensichtlich basierte der Verfassungsschutzbericht auf einer Darstellung des Mitreisenden Schwiedrzik, veröffentlicht in der <i>Roten Presse Korrespondenz</i>. Seinen Artikel versah Schwierdrzik mit der Überschrift »Zwei Beispiele revisionistischer Praxis. Der Palästina-Kongress in Algier«. Demnach hatte die Generalunion Palästinensischer Studenten den Bundesvorstand des SDS im Namen der Al Fatah eingeladen, aber keine genauen Auskünfte über den geplanten Verlauf gegeben. Schwiedrzik beklagte sich über den hermetischen Charakter der »Kongresszeremonien« und teilte mit: »Der Versuch der westdeutschen und der Westberliner Delegation, mit einer Gegenresolution gegen die zur Akklamation vorgelegten Resolutionen die politische Diskussion im Plenum zu erzwingen, wurde vom Tagungspräsidium ohne Diskussion souverän hinwegmanipuliert.« Deshalb »zog die westdeutsche Delegation aus dem Plenum aus« und verließ das »prinzipienlose Spektakel«. <br />
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Solange die Alternativresolution der SDS-Delegierten nicht vorliegt oder von den Algier-Reisenden herausgegeben wird, gibt es keinen Grund, den Beteuerungen zum Schutz Fischers zu glauben. Nach dem Schwiedrzik-Bericht hatten sich die deutschen Delegierten gegen »revisionistische Phrasen« gewandt, weil sie befürchteten, die benachbarten arabischen Staaten Israels könnten »durch Umarmungstaktiken […] die palästinensische Revolution unter Kontrolle bringen«.<br />
<br />
In einem in der Berliner Untergrundzeitschrift <i>Agit 883</i> im April 1970 veröffentlichten »Brief aus Amman« kommentierte Kunzelmann den am 12. Februar 1970 gescheiterten palästinensischen Versuch zur Entführung einer El-Al-Maschine auf dem Flughafen München-Riem. Dabei war der Holocaust-Überlebende Arie Katzenstein aus Lübeck tödlich und die Schauspielerin Hanna Maron lebensgefährlich verletzt worden. Kunzelmann schrieb dazu: Solche »verzweifelten Todeskommandos« seien »durch besser organisierte, zielgerichtetere Kommandos zu ersetzen, die von uns selbst durchgeführt werden und damit besser vermittelt werden können«. Was immer Kunzelmann damit meinte. Jedenfalls hatte sich einen Tag nach der gescheiterten Flugzeugentführung ein Brandanschlag auf das jüdische Alters- und Fremdenheim in München ereignet. Sieben Menschen erstickten und verbrannten in den Flammen. Aufgeklärt wurde das schwere Verbrechen bis heute nicht.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgRSJ9KfbbgpoUQ8qGdP7gZtJ2ls39pfmgpmpcINqsAavIiJKiCmkbVWuVTi_NMswdu-cWJF71_y9sjh2XwoZBD0Q7_A4Shzy0M55zsRPweof4Xy-IM2tqcE1Xslp9MrTyAIs9LqYC31xA/s1600/6Asher+Ben-Natan.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="800" data-original-width="1200" height="265" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgRSJ9KfbbgpoUQ8qGdP7gZtJ2ls39pfmgpmpcINqsAavIiJKiCmkbVWuVTi_NMswdu-cWJF71_y9sjh2XwoZBD0Q7_A4Shzy0M55zsRPweof4Xy-IM2tqcE1Xslp9MrTyAIs9LqYC31xA/s400/6Asher+Ben-Natan.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Als »Faschist« beschimpft. Israels Botschafter Asher Ben-Natan am<br />
<a href="https://jungle.world/artikel/2017/24/entfreundet" target="_blank"> 9. Juni 1969 bei einer Veranstaltung in Frankfurt a. M.</a></td></tr>
</tbody></table>
In diesem Zusammenhang erscheint eine Presseerklärung, die der SDS in Frankfurt drei Tage nach der Münchner Mordtat herausgab, von Interesse. Darin werden der Brandanschlag »und alle ähnlichen terroristischen Anschläge auf die jüdische Gemeinde und ihre Institutionen« verurteilt. Entsetzt über die Folgen der eigenen Agitation und offenbar von der Vorstellung geleitet, dass Angehörige der Neuen Linken in das Verbrechen verwickelt sein könnten, stellte der SDS klar: »Derartige antisemitische Aktionen sind kein Mittel im Kampf gegen den Zionismus.« Der SDS kämpfe gegen den Zionismus »und seinen politischen Ausdruck Israel, nicht gegen die Juden«. Die geplante Demonstration zum Besuch des israelischen Außenministers Abba Eban sagte der SDS ab.<br />
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Auch wer damals, wie zum Beispiel ich, niemals ein Fatah-Tuch trug oder an einer anti-israelischen Demonstration teilgenommen hat, las die Untergrundzeitung <i>Agit 883</i> doch sehr gern und verdrängte wesentliche Teile des Gelesenen später. Bis zur Lektüre des aufklärenden Buchs von Wolfgang Kraushaar über die Bombe im Jüdischen Gemeindehaus im Jahr 2005 hatte ich alle Details vergessen, selbst die Tatsache, dass es überhaupt einen solchen Bombenanschlag gegeben hatte. Der Spiritus Rector der Aktion, Dieter Kunzelmann, galt innerhalb der Berliner Linken, dann auch als Abgeordneter der Alternativen Liste im Berliner Abgeordnetenhaus, lange Zeit als ein zwar übergeschnappter Subversiver, aber in seiner Authentizität akzeptabler, in seiner entschlossenen Antibürgerlichkeit bewundernswerter Kampfgenosse. Seine Texte las ich 1969 bestimmt, hatte aber aus meinem Gedächtnis getilgt, wie er damals zum »Kampf gegen die heilige Kuh Israel« aufrief, wie er die erste Nachkriegsgeneration immer wieder dazu aufforderte, zugunsten propalästinensischer Solidarität endlich den »Judenknacks« zu überwinden.<br />
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Im Juni 1969 berichtete Theodor W Adorno in »äußerster Depression« seinem Freund Herbert Marcuse, wie »man in Frankfurt den israelischen Botschafter niedergebrüllt hat«‚ und fügte für den Protestmentor Marcuse an: »Du müsstest nur einmal in die manisch erstarrten Augen derer sehen, die, womöglich unter Berufung auf uns selbst, ihre Wut gegen uns kehren.« Ernst Fraenkel bemerkte zur Judengegnerschaft in der Bundesrepublik, auf der rechten politischen Seite trete sie nicht in Erscheinung, wohl aber auf der linken, und es sei erschüttemd, »mit welcher Inbrunst die ahnungslosen Jünglinge und Jungfrauen [...] ihre proarabischen Sprüche herunterleiern«.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiGp0C1e2wV1mVBYJBTbOQsQf9waZurensJNbnnlwxg81ZRi-3RDscGF1vumxMaHmkDUfjvX85FtVruXtMJY9f8zKU04U9a2Omg6j9Su4L0rZzbThzQJCMskAubdBqcUj7rIuXXExcT-ZA/s1600/7Adorno.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="607" data-original-width="340" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiGp0C1e2wV1mVBYJBTbOQsQf9waZurensJNbnnlwxg81ZRi-3RDscGF1vumxMaHmkDUfjvX85FtVruXtMJY9f8zKU04U9a2Omg6j9Su4L0rZzbThzQJCMskAubdBqcUj7rIuXXExcT-ZA/s640/7Adorno.jpg" width="356" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Eine Attacke auf Thedor W. Adorno im Hörsaal VI <br />
der Frankfurter Universität.<a href="https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45589810.html" target="_blank"> [Der Spiegel. Heft 18 / 1969]</a></td></tr>
</tbody></table>
Am 7. Dezember 1970 kniete Willy Brandt vor dem Warschauer Ghettodenkmal; 1973 reiste er als erster deutscher Bundeskanzler nach Israel. Das markierte entscheidende Veränderungen in der deutschen Außenpolitik. Die neuen Linken interessierten sich dafür nicht. Die beiden in Berlin damals bestehenden linksradikalen Blätter, die <i>Rote Presse Korrespondenz</i> und <i>Agit 883</i> erwähnten den Kniefall Brandts nicht. Einerseits prognostizierten sie in den Ausgaben jener Tage für die nahe Zukunft »eine faschistische Diktatur« in den USA, andererseits gaben sie die für die unmittelbare Gegenwart nützliche Parole aus, »Lernt vom Nikolaus, räumt das Kaufhaus aus«.<br />
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Noch in den Achtzigerjahren war die <i>taz</i>-Redaktion im Hinblick auf Israel tief gespalten. 1991, während des ersten Irakkriegs, hielt der grüne Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele die irakischen Raketenangriffe auf Israel für »die logische, fast zwingende Konsequenz der Politik Israels«. 1995 rechnete die Grüne Antje Vollmer mit Marcel Reich-Ranicki ab — nicht mit dessen Urteil über einzelne Bücher, sondern mit dessen Art, wie er »seine Ansicht hinaustrompetet«. Sie bezeichnete den Literaturkritiker als »eine der sieben Plagen‚ die wir vermutlich verdient haben«, warf ihm »medialen Kannibalismus« vor, kennzeichnete ihn als »Enthemmten« und »Hysteriker«. Wo man vor 1945 vom Zersetzer gesprochen hätte, sprach Vollmer 1992 vom »neuen Barbaren«‚ der »dunkle Kräfte« mobilisiere, statt diese zu bannen. Sie empfahl, »den Großmogul« Reich-Ranicki endlich der Lächerlichkeit preiszugeben: »Dann kann und wird er keine Bücher mehr zerreißen, dann macht er es wahrscheinlich wie Rumpelstilzchen und zerreißt am Ende vor Wut sich selber.« Die Überschrift lautete »Das Ende der Unschuld«. Die Ausdrucksformen des Schuldabwehr-Antisemitismus sind vielfältig.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück. S. Fischer, Frankfurt/Main, 2008, ISBN 978-3-10-000421-5. Ausgezogen wurde das Kapitel »Vergangenheitsfurcht und ›Judenknacks‹«, Seiten 159 bis 168</i></span><br />
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<b>Klavier Solo in der Kammermusikkammer</b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/11/francis-poulenc-klavierwerke.html" target="_blank">Francis Poulenc: Klavierwerke | Lukian: Das Gastmahl oder die Lapithen.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/07/gabriel-faure-die-klaviermusik.html" target="_blank">Gabriel Fauré: Die Klaviermusik (4 CDs) | Arthur Schopenhauer: Über die Freiheit des Willens.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/07/aribert-reimanns-klavierwerke.html" target="_blank">Aribert Reimanns Klavierwerke | "Was soll man zu der Eisenbahn von Herrn Manet sagen? Es ist nicht möglich, mit größerem Talent schlechter zu malen." </a><br />
´<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/01/franz-lisztfranz-schubert.html" target="_blank">Franz Liszt/Franz Schubert: Klaviertranskriptionen: Winterreise, Erlkönig, Ave Maria, | Weltalter und Lebenstage - Beda erfindet die mittelalterliche Komputistik.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/11/schumann-humoreske-op-20-novelletten-op.html" target="_blank">Schumann: Humoreske op. 20 – Novelletten op. 21 – Klaviersonate f-Moll op. 14 – Nachtstück Nr. 4 | Die grotesken Köpfe des Franz Xaver Messerschmidt.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/10/chopin-klaviersonaten-nr-2-3-fantasie.html" target="_blank">Chopin: Klaviersonaten Nr. 2 & 3, Fantasie, Barcarolle | Philippe Ariès: Der gezähmte Tod. (Aus den "Studien zur Geschichte des Todes im Abendland").</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/06/erik-satie-klavierwerke-michel-legrand.html" target="_blank">Erik Satie: Klavierwerke | Mark Rothko: Die Seagram Murals (inzwischen im Kawamura Memorial Museum of Art, Chiba-Ken, Japan).</a></b><br />
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<a href="https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Karl-Amadeus-Hartmann-1905-1963-Klavierwerke/hnum/8518736" target="_blank"><b>CD bestellen bei JPC.de</b></a> <br />
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<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 22 MB </b><br />
<b><a href="https://mega.nz/#!6lh1xKhS!bkWTy6NqfQxCr1Lzq8qndcNeqXfzSImrsJwj9Q9eM0U" rel="nofollow" target="_blank">MEGA</a> ---<a href="http://depositfiles.com/files/ah98s84h7" rel="nofollow" target="_blank"> Depositfile </a></b><br />
<span style="background-color: #93c47d;">Unpack x378.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: [70:43] 3 parts 208 MB</span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-76371839516242281852019-12-09T10:54:00.004+01:002019-12-09T10:54:41.799+01:00Lennox und Michael Berkeley: Kammermusik für Streicher<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi6vA_9oXgygEmmiBt91pMkaxZeabKkKBUisC8BnQ78L3GkrDIbGzwYPNyRtyt1XJMv-mQsuz4BtLLxOXr0sJP0y3WBgTpmJh4D06wnJ9e4X15rclYGFYT2uhK5rqClgbN0Q9IfG00IUXM/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1432" data-original-width="1445" height="317" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi6vA_9oXgygEmmiBt91pMkaxZeabKkKBUisC8BnQ78L3GkrDIbGzwYPNyRtyt1XJMv-mQsuz4BtLLxOXr0sJP0y3WBgTpmJh4D06wnJ9e4X15rclYGFYT2uhK5rqClgbN0Q9IfG00IUXM/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Sir Lennox Berkeley entwickelte eine Sprache des gepflegten und sinnvollen musikalischen Dialogs, die sich naturgemäß für die Kammermusik anbot und von ihm auch vielfach in diesem Genre eingesetzt wurde, unter anderem zu drei Streichquartetten. Das <b>Streichquartett Nr. 2</b> war eine Kriegskomposition, die im Juni 1941 vom Stratton Quartet im Cambridge Theatre London uraufgeführt wurde. Entstanden war es bereits im vorausgegangenen Frühjahr, als Berkeley bei dem Schriftsteller John Davenport und seiner amerikanischen Ehefrau Clement in Marshfield, einem Dorf in den Cotswolds-Ausläufern nördlich von Bath, zu Gast weilte. Deren Anwesen, Malting House, bildete einige Monate lang das Zentrum einer kleinen künstlerischen Gemeinschaft, der auch der Dichter Dylan Thomas und seine Frau Caitlin, der Pianist und Kritiker William Glock und die Romanschriftstellerin Antonia White angehörten. Obwohl dort eine emotionale Treibhausatmosphäre herrschte, war es für Berkeley auch eine ländliche Zuflucht von den zunehmenden Entbehrungen und Gefahren der Kriegszeit, und wie Tony Scotland in einer noch unveröffentlichten Biographie des Komponisten feststellt: "Lennox war in Marshfield zufrieden wie sonst nirgendwo." Seiner schöpferischen Arbeit war das Ambiente jedenfalls zuträglich: Kurz nach Vollendung des zweiten Quartetts befand er in einem Brief an seinen Freund und Kollegen Benjamin Britten‚ es sei "bei weitem besser als alles, was ich bisher gemacht habe". <br />
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Rückblickend bekannte der Komponist über ein Vierteljahrhundert später vor einer BBC-Sendung im August 1968 (protokolliert in Peter Dickinsons <i>The Music of Lennox Berkeley</i>), die Klarheit, Ordnung und subtile Gefühlsstimmung des Werkes seien Einflüssen der französischen Musik des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu verdanken, "einer gewissen Art von Harmonie … wie man sie später insbesondere in der Musik von Poulenc antrifft". Sollte er ein weiteres Quartett schreiben (was er dann 1970 tatsächlich tat), so werde er sich wohl "genötigt fühlen, diesem eine flüssigere Form zu geben, die Ideen wachsen und Gestalt annehmen zu lassen und derart viele Wiederholungen zu vermeiden". Der im Dreiertakt gehaltene Kopfsatz mit seiner recht konventionellen Sonatenform kann zwar einige Wiederholungen nicht leugnen, doch schlägt die Reprise nach erneuter Darstellung des schwungvollen ersten und flüssigeren zweiten Themas einen anderen Kurs ein als die Exposition und zieht deren energischem Höhepunkt einen stillen, unklaren Ausklang vor. Indes ist der mittlere langsame Satz durchaus flüssig gestaltet. Sein unschlüssiges Eröffnungsthema wird von einer beständig sich entfaltenden lyrischen Melodie abgelöst und nur noch nur in rudimentärer Form wiederaufgegriffen. Das Finale bedient sich der Wiederholung auf eher unkonventionelle Weise, indem es von dem eindrucksvollen Eröffnungsthema in muskulösen Oktaven organisch einem ruhenden Zentrum in Gestalt eines unbehaglichen Chorals zuschreitet und dann seinen Weg zurückverfolgt, frei hin zu einer Wiederholung des Eröffnungsthemas und einem überzeugenden Abschluss in G-Dur. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjaiTddHU6AK3SSmeEhhmkWDaEepu5unNMirFnZcS0vi6iNRJkPaHrCvJBsDLGOc32FXhWlIFPvlT-g1vf1W4Sp1JTkYh8DAwk60FXy_q0FEFzFXbRbjSHk8TPVvbL8jW3Bu8xW2PGDZLY/s1600/LM.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="943" data-original-width="685" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjaiTddHU6AK3SSmeEhhmkWDaEepu5unNMirFnZcS0vi6iNRJkPaHrCvJBsDLGOc32FXhWlIFPvlT-g1vf1W4Sp1JTkYh8DAwk60FXy_q0FEFzFXbRbjSHk8TPVvbL8jW3Bu8xW2PGDZLY/s400/LM.jpg" width="290" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Lennox und Michael Berkeley</td></tr>
</tbody></table>
Obwohl die musikalische Sprache Michael Berkeleys in mancher Beziehung sehr stark von der seines Vaters abweicht, man denke etwa an seine Vorliebe für markante dramatische Gesten und scharfe Kontraste, hat auch er in der Kammermusik ein genehmes Medium gefunden. Sein Werkverzeichnis umfasst fünf Werke für Streichquartett: zwei mit Nummern, gefolgt von dem Wettbewerbsbeitrag <i>Quartet Study</i> sowie <i>Magnetic Field</i> und <i>Torque and Velocity</i> — alle in der von ihm bevorzugten einsätzigen Form. <b>Magnetic Field</b> entstand 1995 als Auftragsarbeit für das Vanbrugh Quartet, das damit aus Anlass seines zehnjährigen Bestehens auf eine Hauptstadttournee durch Europa gehen wollte, und kam im Oktober jenes Jahres in der Wigmore Hall London zur Uraufführung. 1995 war das Jahr des 300. Todestages von Henry Purcell, und Berkeley zufolge ging sein Werk von der Streichermusik Purcells aus, insbesondere der <i>Fantasia upon One Note</i>, in der ein Instrument durchweg nur die eine Note spielt. Berkeley hingegen verstand seine Einzelnote als "eine Art magnetische Kraft, um die sich alles andere dreht". Der Anfang erinnert an die mikroskopisch fokussierte Klangwelt des italienischen Avantgardisten Giacinto Scelsi (1905—1988): Alle vier Instrumente spielen ein F in verschiedenen Farben und rhythmischen Mustern, das sie dann um Vierteltöne modulieren, bevor die Tonlage weiter ausgedehnt und wieder eingeengt wird. Ein Kontrastgedanke — glasklare, weit gespreizte Akkorde — ist Berkeley zufolge aus einem anderen Purcell-Stück abgeleitet, dem Lament "When I am laid in earth" aus <i>Dido and Aeneas</i>. Der melodische Akzent auf F wird in einer an Moment und Dichte gewinnenden Episode, die in wiederholten Sechzehntelakkorden gipfelt, allmählich abgebaut; nach einem langsameren Zwischenspiel führt die wiederaufgenommene Vorwärtsbewegung zunächst in eine Folge von 9 motorischen, rhythmisch gleichgeschalteten Sechzehntelnoten und schließlich eiligen Tonleiterfiguren. Die Spannung löst sich auf in einer Lutoslawski-ähnlichen Passage aus unkoordiniertem Accelerando und Crescendo auf, die sich in wiederholten hohen F-Oktaven verdichtet. Und nachdem sich das Zentrum des Magnetfeldes wieder gefestigt hat, dominiert es einen Schlussabschnitt, der frühere Motive und Strukturen, wie die Dido-Akkorde, wieder aufgreift, bis das Werk mit den subtilen Modulationen aus der Eröffnung und einem letzten, gehaltenen F ausklingt.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjdfTpuxYwi0HGPL9YakXJp3_lmZY41nppGxhyphenhyphenuRNStFQ-4VKWUWg08EgQqKjeQO6AmcSRr5G88SugYpuiInQ1hVWCcI2mZ3JIJNgV6Ri1bJvDvcEcIuGSeUHdRAjxxuIUqNaSmkWX3JGg/s1600/ML1980.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1127" data-original-width="962" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjdfTpuxYwi0HGPL9YakXJp3_lmZY41nppGxhyphenhyphenuRNStFQ-4VKWUWg08EgQqKjeQO6AmcSRr5G88SugYpuiInQ1hVWCcI2mZ3JIJNgV6Ri1bJvDvcEcIuGSeUHdRAjxxuIUqNaSmkWX3JGg/s400/ML1980.jpg" width="341" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Michael und Lennox Berkely in den 1980ern</td></tr>
</tbody></table>
Michael Berkeley komponierte das Streichquintett <b>Abstract Mirror</b> im Jahre 2002 im gemeinsamen Auftrag der City Music Society (unter finanzieller Beteiligung einzelner Mitglieder) und des Chilingirian Quartet; es erlebte seine Uraufführung mit dem Quartett und Stephen Orton im Rahmen der berühmten Mittagskonzerte der Society am Bishopsgate Institute in Ost-London im Februar 2003. Der Komponist realisierte seinen lang gehegten Wunsch, ein Streichquintett mit zwei Cellos zu schreiben, nach dem Vorbild des späten Meisterwerks von Schubert; während in dessen Quintett das zweite Cello "mühelos in der Struktur aufgeht", war Berkeley mehr daran gelegen, "dem Bassregister mehr Sonorität zu verleihen", und häufig setzt er die Bratsche als eine Art Angelpunkt zwischen dem Violin- und dem Cellopaar ein. Der Titel bezieht sich sowohl auf den Spiegeleffekt dieses Modells als auch den allgemeineren Rückgriff auf "Fragmentierung, Brechung und Verzerrung" bei der Behandlung des Stoffes. Das Werk ist wiederum in einen einzigen Satz gefasst, ohne kantige Unterteilung, jedoch mit zahlreichen Tempovariationen. Die Eröffnung stellt einige bestimmende Ideen vor: einen einzelnen symmetrischen Akkord, der ruhig wiederholt wird; eine Reihe von Explosionen auf den Cellos, die später zu regelmäßigeren Strukturen geordnet werden; einen mit Doppelgriffen gespielten Bratschengesang‚ mit deutlichen Verzierungsnoten; und eine weit gespannte Phrase, in der eine aufsteigende verminderte Quinte mit einem abfallenden Gegenstück gepaart wird. Auch die für das Werk charakteristische Schwingung zwischen einer integrierten Struktur und einer Trennung zu kontrastierenden Schichten wird etabliert. Diese Schwingung enthüllt sich allmählich in einer langen Durchführungsepisode mit ständig wechselndem Stimmengeflecht, die in einen scherzo—ähnlichen Abschnitt mündet, der am Ende wiederum (ähnlich wie bei <i>Magnetic Field</i>) zu einem einzelnen F verschmilzt, zunächst im Einklang und dann in Vierteltönen moduliert. Die Rückkehr des Eröffnungsakkords — hier genau auf halbem Weg durch das Werk — markiert den Beginn einer zweiten Durchführungswelle, in der scharf aggressive Episoden ruhigen Passagen gegenübergestellt und schließlich voneinander überlagert werden. Diese Überlagerung hält sich bis auf die letzten Seiten (für die der zweite Cellist seine tiefe C-Saite auf H umstimmt), so dass die letzten ruhigen Wiederholungen des Doppelgriffthemas und des Eröffnungsakkords fast bis zum Ende durch wilde Ausbrüche von Zweiunddreißigstelnoten attackiert werden.<br />
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<i> <span style="font-size: x-small;">Quelle: Anthony Burton, im Booklet [Übersetzung: Andreas Klatt]</span></i><br />
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<pre>TRACKLIST
Lennox and Michael Berkeley
Chamber Works for Strings
Michael Berkeley (b. 1948)
premiere recording
[1] Abstract Mirror (2002)* 22:41
for String Quintet
Sir Lennox Berkeley (1903-1989)
premiere recording
String Quartet No. 2, Op. 15 (1940) 17:36
[2] I, Allegro moderato 6:45
[3] II, Lento 4:58
[4] III. Allegro 5:52
Michael Berkeley
premiere recording
[5] Magnetic Field (1995) 14:29
for String Quartet
TT 54:56
Thomas Carroll cello*
Chilingirian Quartet:
Levon Chilingirian violin
Charles Sewart violin
Susie Mészáros viola
Philip de Groote cello
Recording venue: Potton Hall, Dunwich, Suffolk: 13-15 March 2005
Recording producer: Rachel Smith - Sound engineer: Jonathan Coopcr
Assistant engineer: Michael Common - Editor: Rachel Smith
A & R administrator: Charissa Debnam
(P) + (C) 2006
</pre>
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<span style="color: red;"><b><span style="font-size: x-large;">Raymond Aron: </span></b></span><br />
<span style="color: red;"><b><span style="font-size: x-large;"><br /></span></b></span>
<span style="color: red;"><b><span style="font-size: x-large;">Die Intellektuellen und ihr Vaterland</span></b></span><br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgt8xtW6nEheDWHRS2HSU3jZBBjd49QCAOiHfr21jms-ZFEF4CX416hx4aFMDhZJJJupJEh5-WD1rjAhd5g94YukvZ3JUkfkJel3goF_HI_NgWHtZirPNGfGVYDEDqcmnj8qXvNFHJQtFM/s1600/01Rousseau.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1080" data-original-width="884" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgt8xtW6nEheDWHRS2HSU3jZBBjd49QCAOiHfr21jms-ZFEF4CX416hx4aFMDhZJJJupJEh5-WD1rjAhd5g94YukvZ3JUkfkJel3goF_HI_NgWHtZirPNGfGVYDEDqcmnj8qXvNFHJQtFM/s640/01Rousseau.jpg" width="521" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Intellektueller</td></tr>
</tbody></table>
Alle Gesellschaften haben ihre <i>Schreiber</i> gehabt, die in den öffentlichen und privaten Verwaltungen saßen, ihre <i>Literaten</i> oder <i>Künstler</i>, die das Kulturerbe umformten oder bereicherten‚ und ihre Fachleute: Rechtsgelehrte, die den Fürsten oder Reichen die Kenntnis der Texte und die Kunst des Disputes vermittelten, oder Wissenschaftler, die die Geheimnisse der Natur enträtselten, die Menschen lehrten, Krankheiten zu heilen oder auf dem Schlachtfeld zu siegen. Keiner dieser drei Typen gehört im eigentlichen Sinn der modernen Zivilisation an. Diese zeigt nichtsdestoweniger eigentümliche Züge, die die Zahl und den Stand der Intellektuellen beeinflussen.<br />
<br />
Die Verteilung der Arbeitskraft innerhalb der einzelnen Beschäftigungsarten verändert sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung: der Prozentsatz der in der Industrie beschäftigten Arbeitskräfte steigt, der Prozentsatz der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft nimmt ab, während der Umfang des sogenannten tertiären Sektors anschwillt‚ der verschiedenste Berufe von unterschiedlichem Ansehen umfaßt, von dem des „Papierkratzers“ in einem Büro bis zu dem des Forschers in seinem Laboratorium. Die Industriegesellschaften beschäftigen Nichthandarbeiter in einer größeren Zahl — und zwar absolut wie relativ — als alle früheren Gesellschaften. Organisation, Technik und Verwaltung werden immer komplizierter, als ob sie das Ziel hätten, die Handgriffe der eigentlichen Arbeiter möglichst stark zu vereinfachen.<br />
<br />
In der modernen Wirtschaft werden auch Proletarier gebraucht, die lesen und schreiben können. Mit zunehmendem Wohlstand stellt die Allgemeinheit wachsende Summen für die Erziehung der Jugend zur Verfügung: die Ausbildung in der höheren Schule dauert länger und wird mit jeder Generation einem größeren Teil der Jugend vermittelt.<br />
<br />
Die Zahl der drei Typen von Nichthandarbeitern, <i>Schreiber</i>, <i>Fachleute</i> und <i>Künstler</i>‚ nimmt gleichmäßig zu, wenn auch nicht im gleichen Rhythmus. Die Bürokratien eröffnen <i>Schreibern</i> von geringerer Qualifikation Arbeitsmöglichkeiten, die Einteilung der Arbeiter und die Organisation der Industrie verlangen zahlreiche <i>Fachleute</i> mit immer wachsenden Spezialkenntnissen, die Schulen, die Universitäten, die der Zerstreuung und Mitteilung dienenden Einrichtungen (Kino und Radio) beschäftigen Literaten, Künstler, Techniker des Wortes und der Schrift, Fabrikanten des Massengeschmacks. Gelegentlich degradiert die Einbeziehung in solche Unternehmen den Literaten zu einem durchschnittlichen Fachmann: der Schriftsteller wird zum Nachschreiber (<i>rewriter</i>). Die Vervielfachung der Beschäftigungsmöglichkeiten bleibt ein sehr kompliziertes Problem, das keiner verkennt, dessen Bedeutung aber nicht immer richtig eingeschätzt wird.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjC-TG1sjPbbAmqw5hlFSv_vCg_KeNxkDBO_Nhwl7VBljoE_yx0TzlLv5U2GzoWPjz_7G68XRNz2bwL86bBZzYKxNGh_5cNCDEwj_8FKbpA6HR0TJw2CMif8jfiuYwo0oYSAwfC-q-AqTc/s1600/02Chamfort.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="900" data-original-width="724" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjC-TG1sjPbbAmqw5hlFSv_vCg_KeNxkDBO_Nhwl7VBljoE_yx0TzlLv5U2GzoWPjz_7G68XRNz2bwL86bBZzYKxNGh_5cNCDEwj_8FKbpA6HR0TJw2CMif8jfiuYwo0oYSAwfC-q-AqTc/s400/02Chamfort.jpg" width="321" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Nicolas Chamfort (1741-1794), Intellektueller</td></tr>
</tbody></table>
Fachleute oder Literaten bildeten nicht immer eine Art Gelehrten-Republik, die über ihre Unabhängigkeit eifersüchtig gewacht hätte. Jahrhundertelang blieben Denker und Künstler innerlich den geistlichen und weltlichen Würdenträgern eng verbunden, denen also, die die Aufgabe hatten, die Glaubenslehre der Kirche oder des Gemeinwesens zu bewahren oder auszulegen. Sozial gesehen, hingen sie von denen ab, die ihnen den Lebensunterhalt sicherten, also von der Kirche, von den Mächtigen und Reichen oder vom Staat. Die Art der Kunst, nicht allein die Lage des Künstlers, änderte sich mit der Herkunft des Auftrags oder dem Charakter der gebildeten Klasse. Man könnte die Kunst <i>von</i> Gläubigen und <i>für</i> Gläubige der zum Gebrauch für Krieger oder Handelsleute gegenüberstellen.<br />
<br />
Die Gelehrten besitzen in unserer Zeit eine Geltung und ein Ansehen, die sie den Einflüssen der Kirche entziehen (Ausnahmen sind selten und im Rahmen der Gesamtheit ohne Bedeutung). Das Recht der freien Forschung, selbst auf Gebieten, die die Dogmatik berühren — Ursprung des Menschen, Entstehung des Christentums —, wird kaum angefochten. In dem Maß, wie das Publikum an Zahl zunimmt und die Mäzene verschwinden, gewinnen Schriftsteller und Künstler an Freiheit; dabei verdienen viele sich ihren Lebensunterhalt durch irgendeinen Beruf, der mit ihrer schöpferischen Tätigkeit wenig zu tun hat. Weder die Privatunternehmer noch der Staat bezahlen etwas, ohne Gegenleistungen zu verlangen. Aber sowohl Filmgesellschaften wie Universitäten erwarten außerhalb der Studios oder der Hörsäle kaum eine orthodoxe Haltung.<br />
<br />
Schließlich bieten alle politischen Regimes denen Chancen, die das Talent besitzen, mit Worten und Ideen umzugehen. Nicht mehr der Feldherr besteigt dank seinem Mute oder seinem glücklichen Geschick den Thron, sondern der Redner, dem es gelungen ist, die Massen, die Wähler oder die Kongresse zu überzeugen, und der Doktrinär, der ein Gedankensystem ausgearbeitet hat. Geistliche, Gelehrte und Künstler haben es niemals abgelehnt, die Macht zu rechtfertigen, aber in unserer Zeit braucht diese Macht Fachleute der Kunst des Wortes. Theoretiker und Propagandist werden ist eins: der Generalsekretär der Partei arbeitet die Doktrin aus und führt zu gleicher Zeit die Revolution an.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhqSdOjr2O4rIkD2mq1xs0mYMaqVa1b6uQbMlR-2RE2hQqsapayHgikjs9U5tgy0IjySkpak58vL3ZzG8uJPkO-0y-66w4zPRFKR7tl3W_kYlYuUBOEAUfeJr_aytH_oibeCCBbNj3jJaw/s1600/03Robespierre.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1303" data-original-width="1298" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhqSdOjr2O4rIkD2mq1xs0mYMaqVa1b6uQbMlR-2RE2hQqsapayHgikjs9U5tgy0IjySkpak58vL3ZzG8uJPkO-0y-66w4zPRFKR7tl3W_kYlYuUBOEAUfeJr_aytH_oibeCCBbNj3jJaw/s400/03Robespierre.jpg" width="398" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Maximilien de Robespierre (1758-1794), Intellektueller</td></tr>
</tbody></table>
<b>VON DER „INTELLIGENTSIA“</b><br />
<br />
Nicht nur zahlreicher, sondern auch im Besitze von mehr Freiheit und Ansehen, selbst von Macht erscheint uns in unserem Jahrhundert eine soziale Kategorie, die wir sehr unbestimmt mit dem Begriff „berufsmäßige Intelligenz“ bezeichnen. Die Definitionen dieses Begriffs sind in gewisser Hinsicht aufschlußreich und verhelfen dazu, die verschiedenen Züge dieser Kategorie zu analysieren. <br />
<br />
Die umfassendste Bezeichnung ist die der Nichthandarbeiter. In Frankreich wird aber niemand einen Büroangestellten als Intellektuellen bezeichnen, selbst wenn dieser eine Universität besucht und einen akademischen Grad erworben hat. Der Akademiker, der in ein Kollektivunternehmen aufgenommen und auf eine ausführende Tätigkeit beschränkt ist, bleibt doch nur ein Handlanger, dem die Schreibmaschine als Arbeitsinstrument dient. Die Qualifikation, die erforderlich ist, um den Titel eines Intellektuellen zu verdienen, nimmt mit der Zahl der Nichthandarbeiter zu, d. h. mit der wirtschaftlichen Entwicklung. In jedem unterentwickelten Land gilt jeder Akademiker als Intellektueller: ein nicht ganz falscher Brauch. Ein junger Mann, der aus irgendeinem arabischen Land gekommen ist und in Frankreich studiert hat, nimmt tatsächlich gegenüber seinem Vaterland die typische Haltung eines Wissenschaftlers an. Der „bäuerliche“ Akademiker entspricht in diesen Ländern einem Schriftsteller der westlichen Welt.<br />
<br />
Eine zweite, weniger umfassende Bezeichnung unterscheidet <i>Fachleute</i> und <i>Literaten</i>. Die Grenze zwischen den Schreibern und den Fachleuten ist verschwommen: allmählich geht eine Kategorie in die andere über. Gewisse Fachleute, wie z. B. die Ärzte, bleiben selbständig und Angehörige der sogenannten freien Berufe. Die Unterscheidung zwischen „Selbständigen“ und „Gehaltsempfängern“, die manchmal die Denkmethoden beeinflußt, ist nichtsdestoweniger sekundär. Die Kassenärzte der Sozialversicherung hören nicht deshalb auf, Intellektuelle zu sein (soweit sie es jemals gewesen sind), weil sie ein Gehalt bekommen. Bezieht sich der entscheidende Gegensatz überhaupt auf das Wesen der Nichthandarbeit? Der Ingenieur oder der Arzt beschäftigen sich mit der anorganischen Natur oder mit den Lebensphänomenen, der Schriftsteller oder Künstler mit den Worten, mit einem Gegenstand, den er nach der Idee formt. In diesem Falle würden die Juristen oder die Organisatoren, die mit Worten oder Menschen umzugehen wissen, zur gleichen Gattung gehören wie die Schriftsteller oder Künstler, während sie sich tatsächlich mehr den Fachleuten, den Ingenieuren oder den Ärzten annähern.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiGuqOFx9sZKUCDGJAp0TjPUsox2vYfXlwXdctT4kEjYGRBrcGIFIhM4VblALR6a4GO7TK_A4wc7qCxqg4grybpsQbg_c_cJ9pCQyFYIjJgXRcjx2yYIva0lAfHJunNt_e07UFttEAMAFk/s1600/04Chamberlain.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1408" data-original-width="1024" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiGuqOFx9sZKUCDGJAp0TjPUsox2vYfXlwXdctT4kEjYGRBrcGIFIhM4VblALR6a4GO7TK_A4wc7qCxqg4grybpsQbg_c_cJ9pCQyFYIjJgXRcjx2yYIva0lAfHJunNt_e07UFttEAMAFk/s400/04Chamberlain.jpg" width="290" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), Intellektueller</td></tr>
</tbody></table>
Diese Doppeldeutigkeiten führen bei den Intellektuellen oft zu einer Verbindung mehrerer Wesenseigentümlichkeiten, die nicht immer gleichzeitig gegeben sind. Um den Begriff zu klären, ist es am zweckmäßigsten, von den klaren Fällen auszugehen, bevor man sich mit den zweifelhaften beschäftigt.<br />
<br />
Die Romanschreiber, Maler, Bildhauer und Philosophen stellen den inneren Kreis dar, sie leben für und durch die Ausübung der Intelligenz. Wenn der Wert der Tätigkeit als Kriterium genommen wird, würde man nach und nach von Balzac zu Eugène Sue, von Proust zu den Autoren von Schundromanen oder zu den Redakteuren der Spalte „Überfahrene Hunde“ in den Tageszeitungen hinabsteigen. Die Künstler, die nur Herkömmliches schaffen, ohne neue Ideen oder Formen hervorzubringen, bilden mit den Professoren auf ihren Lehrstühlen und den Forschern in ihren Laboratorien die Gemeinschaft des Wissens und der Kultur. Darunter würden die Mitarbeiter von Presse und Radio ihren Platz finden, die die auf den höheren Stufen erreichten Resultate verbreiten und die Verbindung zwischen der Elite und der großen Masse aufrechterhalten. So betrachtet, bildeten in dieser Kategorie die Schöpfer die Mitte, und ihre Grenze wäre die schlecht zu umschreibende Zone, wo die Vereinfacher nicht mehr bloß abwandeln, sondern bereits Verrat üben: auf Erfolg oder auf Geld aus, als Sklaven eines Geschmacks, wie er dem Publikum unterstellt wird, werden sie den Werten gegenüber gleichgültig, denen sie angeblich dienen.<br />
<br />
Eine solche Analyse hat den Nachteil, zwei Betrachtungen zu vernachlässigen, einerseits die soziale Lage und die Quelle der Einkünfte, andererseits das theoretische oder praktische Ziel der beruflichen Tätigkeit. Es ist gestattet, nachträglich Pascal oder Descartes — der eine war Großbürger und entstammte einer Parlamentarierfamilie, der andere Ritter — Intellektuelle zu nennen. Man hätte nicht daran gedacht, sie im 17. Jahrhundert in diese Kategorie einzubeziehen, weil sie damals als Amateure galten. Diese sind jedoch nicht weniger Intellektuelle als die Professionellen, wenn man die geistige Qualität oder die Natur der Tätigkeit berücksichtigt. Aber in sozialer Hinsicht werden sie durch diese Tätigkeit nicht eingeordnet. In den modernen Gesellschaften nimmt die Zahl der Professionellen zu, die der Amateure ab.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEghXGmJ9YU0lvmCyv_Z1LCAvllj18XeE0AsFMfT5Z6cY7eHcd-wt_JCqLyleey9r7ossRD4YrnR0GrYPbXSwQ7K45SMwM1KatVylPMzCHfdomJpRfy094NyIxuRmsTV6ivKYKmdmVkPQH4/s1600/05Heidegger.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1450" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEghXGmJ9YU0lvmCyv_Z1LCAvllj18XeE0AsFMfT5Z6cY7eHcd-wt_JCqLyleey9r7ossRD4YrnR0GrYPbXSwQ7K45SMwM1KatVylPMzCHfdomJpRfy094NyIxuRmsTV6ivKYKmdmVkPQH4/s400/05Heidegger.jpg" width="362" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Martin Heidegger (1889-1976), Intellektueller</td></tr>
</tbody></table>
Andererseits scheint uns der Professor der Rechtswissenschaften die Qualifikation eines Intellektuellen eher zu verdienen als der Rechtsanwalt, der Professor der Nationalökonomie eher als der Journalist, der Kommentare über die Konjunkturbewegung schreibt. Ist nun der Grund hierfür, daß dieser normalerweise ein Gehaltsempfänger im Dienste kapitalistischer Unternehmen ist, jener dagegen ein Beamter? Offenbar nicht, denn im ersten Beispiel ist der Rechtsanwalt Angehöriger eines freien Berufes, während der Professor Beamter ist. Dieser scheint uns darum mehr als Intellektueller, weil er kein anderes Ziel hat, als die Bewahrung, die Vermittlung oder die Erweiterung des Wissens selbst.<br />
<br />
Diese Analysen erlauben es nicht, sich dogmatisch für eine Definition zu entscheiden, sie zeigen nur die verschiedenen möglichen Definitionen. Entweder man hält die Zahl der Fachleute für ein Charakteristikum der Industriegesellschaften und nennt <i>„Intelligentsia“</i> die Kategorie der Personen, die auf den Universitäten oder den technischen Schulen ausreichend vorgebildet wurden, um solche scharf abgegrenzten Berufe auszuüben, oder man stellt die Schriftsteller, die Gelehrten und die schöpferischen Künstler in die erste Reihe, die Professoren oder Kritiker in die zweite, die Vereinfacher und Journalisten in die dritte. Aus dieser fallen wiederum die Praktiker, wie Juristen oder Ingenieure, in dem Maße heraus, wie sie sich dem Wunsch nach Leistung allein hingeben und sich um die Kultur nicht mehr kümmern. In der Sowjetunion neigt man zu der ersten Definition: die technische <i>„Intelligentsia“</i> gilt als Maßstab, und sogar die Schriftsteller sind Ingenieure der Seele. Im Westen würde man eher der zweiten Definition zuneigen und sie sogar noch einschränken, indem man sie nur für diejenigen gelten läßt, „deren Hauptberuf es ist, zu schreiben, zu unterrichten, zu predigen, auf der Bühne aufzutreten oder Künste und Wissenschaften auszuüben“ (Crane Brinton).<br />
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Der Begriff <i>„Intelligentsia“</i> ist anscheinend zum erstenmal in Rußland im Verlauf des 19. Jahrhunderts geprägt worden: diejenigen, die durch die Universitäten gegangen waren und eine Kultur in sich aufgenommen hatten, die im wesentlichen westlichen Ursprungs war, bildeten eine wenig zahlreiche Gruppe außerhalb der traditionellen Schichten. Sie rekrutierten sich aus den jüngeren Söhnen aristokratischer Familien, aus den Söhnen des Kleinbürgertums oder selbst der wohlhabenden Bauern; losgelöst von der früheren Gesellschaft fühlten sie sich untereinander durch die erworbenen Kenntnisse und durch die Haltung, die sie gegenüber der bestehenden Ordnung einnahmen, verbunden. Der wissenschaftliche Geist und die liberalen Ideen trugen in gleichem Maße dazu bei, daß sich die <i>Intelligentsia</i>, die sich isoliert fühlte, den nationalen Traditionen feindlich gesinnt war und sich zur Gewaltanwendung angetrieben fühlte, der Revolution zuneigte.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjHcEQUpgfJ0W2tBmUaJnC0N1R-JBQ90zWJqy3fdhlg78y0Dbte3l7EO0aCjORqJxGUttfLkuYIitcoEcKSw7ueS8doeDMZKhDcmCIvJaGUvtUoo77z0CmZamHdR0svFW795OMq0sowGAs/s1600/06Goebbels.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1200" data-original-width="1200" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjHcEQUpgfJ0W2tBmUaJnC0N1R-JBQ90zWJqy3fdhlg78y0Dbte3l7EO0aCjORqJxGUttfLkuYIitcoEcKSw7ueS8doeDMZKhDcmCIvJaGUvtUoo77z0CmZamHdR0svFW795OMq0sowGAs/s400/06Goebbels.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Joseph Goebbels (1897-1945), Intellektueller</td></tr>
</tbody></table>
In den Gesellschaften, in denen die moderne Kultur von selbst und Schritt für Schritt aus dem historischen Boden hervorwuchs, vollzog sich der Bruch mit der Vergangenheit nicht so plötzlich. Die Akademiker unterschieden sich nicht so eindeutig von anderen sozialen Gruppen; sie lehnten die Struktur des in Jahrhunderten gewachsenen Zusammenlebens nicht unbedingt ab. Man hat sie deswegen nicht weniger beschuldigt und beschuldigt sie noch, die Revolutionen genährt zu haben, eine Beschuldigung, die der Intellektuelle der Linken als Ehre empfinden wird: ohne die Revolutionäre, die entschlossen waren, über die Gegenwart hinauszugelangen, würden die alten Mißbräuche noch bestehen.<br />
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In mancher Beziehung ist die Beschuldigung gar nicht begründet. Es ist nicht wahr, daß die Intellektuellen als solche allen Gesellschaftsordnungen feind wären. Die chinesischen Wissenschaftler haben eine mehr moralische als religiöse Doktrin, die ihnen den ersten Rang einräumte und die Hierarchie sicherte, verteidigt und gepriesen. Die Könige oder die Fürsten, die gekrönten Helden oder die zu Reichtum gekommenen Kaufleute haben immer Dichter gefunden (die nicht notwendig schlechte Dichter waren), um ihren Ruhm zu verkünden. Weder in Athen noch in Paris, weder im 5. Jahrhundert vor unserem Zeitalter noch im 19. Jahrhundert nach Christi Geburt neigte der Schriftsteller oder der Philosoph spontan zur Partei des Volkes, zur Freiheit oder zum Fortschritt. Die Bewunderer Spartas fanden sich in großer Zahl innerhalb der Mauern von Athen, wie die Bewunderer des „Dritten Reiches“ oder der Sowjetunion in den Salons oder Cafés am linken Seineufer. (Es ist klar, daß das Sparta oder Hitler gespendete Lob für den Intellektuellen in Athen oder Paris ein Ausdruck oppositioneller Haltung war.)<br />
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Alle Doktrinen, alle Parteien — Traditionalismus, Liberalismus, Demokratie, Nationalismus, Faschismus, Kommunismus — hatten und haben ihre Sänger und ihre Denker. Sind es aber in jedem Lager die Intellektuellen, die Meinungen und Interessen in eine Theorie umwandeln? Man kann es so definieren, daß sie sich nicht damit begnügen zu leben, sondern daß sie ihre Existenz auch gedanklich zum Ausdruck bringen wollen. <br />
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Nichtsdestoweniger schließt die übliche Vorstellung, die die Soziologen (J. Schumpeter) in einer verfeinerten Form wieder aufgenommen haben, eine gewisse Wahrheit ein: daß nämlich die Intellektuellen infolge beruflicher Bestimmung revolutionär seien. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEguZDWnsy5U-DwKQ7Q57kunAtkwFeFAPeVqnmM5fQOrcTldlIaSlRezCnZGK1wJUyAmscgTYjRgmKsV9guCAngxkIgRVMwmk4ePnrGZcjuzUO7OOWJNvzhfW8pMWv6V5XbTgGvJBklS1qE/s1600/07Lukasc.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1088" data-original-width="794" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEguZDWnsy5U-DwKQ7Q57kunAtkwFeFAPeVqnmM5fQOrcTldlIaSlRezCnZGK1wJUyAmscgTYjRgmKsV9guCAngxkIgRVMwmk4ePnrGZcjuzUO7OOWJNvzhfW8pMWv6V5XbTgGvJBklS1qE/s400/07Lukasc.jpg" width="291" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Georg Lukács (1885-1971), Intellektueller</td></tr>
</tbody></table>
Die <i>Intelligentsia</i> ist begrifflich niemals, tatsächlich nur selten ein streng in sich geschlossenes Gebilde. Jede privilegierte Klasse, die sich durch das Wissen oder die Tugenden der Intelligenz auszeichnet, begünstigt, selbst wenn das wider ihren Willen geschähe, den Aufstieg der stärker Begabten. Plato gehörte zur aristokratischen Partei, aber bestätigte dennoch, daß der Sklave imstande sei, mathematische Wahrheiten zu lernen. Aristoteles leugnete die soziale Notwendigkeit der Sklaverei nicht, aber er untergrub ihr Fundament. Er verneinte, daß jeder einen Platz entsprechend seiner Natur einnehme. Auf dem Sterbebett befreite er seine Sklaven, die vielleicht nicht für die Sklaverei geboren waren. So betrachtet, verschließt sich der professionelle Intellektuelle nur selten einer Demokratie de jure, wenn er auch geneigt ist, um so stärker den Aristokratismus de facto zu unterstreichen: nur eine Minorität hat Zutritt zu der Welt, in der er lebt.<br />
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Entsprechend den Gesellschaftsordnungen ändert sich auch die Rekrutierung der <i>Intelligentsia</i>. Das Prüfungsverfahren in China scheint auch dem Bauernsohn den Aufstieg ermöglicht zu haben, obwohl man über die Häufigkeit dieser Fälle sich noch nicht einig ist. Der erste Rang, den man in Indien den Denkern zugestand‚ war mit dem Regime der Kasten und auch damit nicht unvereinbar, daß jeder in dem Stand blieb, in dem er geboren war. In den modernen Gesellschaften erleichtert die Universität den sozialen Aufstieg. In gewissen Ländern Südamerikas oder des Nahen Ostens ermöglichen Offiziersschulen und die Armee einen ähnlichen Aufstieg. <br />
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Obwohl die Herkunft der Akademiker in den westlichen Ländern verschieden ist - die Studenten von Oxford und Cambridge haben sich bis zum Krieg von 1939 aus einer schmalen Schicht rekrutiert, und die Schüler der bedeutenden französischen Schulen kamen selten aus den Familien der Arbeiter und Bauern, aber häufig aus kleinbürgerlichem Milieu, d. h. mit zwei Generationen Abstand aus Kreisen des Volkes —, ist die <i>Intelligentsia</i> immer großzügiger und aufgeschlossener als die herrschende Klasse. Diese Demokratisierung hat die Tendenz, sich noch zu verstärken, weil die Industriegesellschaften ein wachsendes Bedürfnis nach Kadern und nach Technikern haben. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhO_w2vj7JQ2g9A881aA2_8xPZ4h9BzP3Z-EgIKyQC8j8LyBbwFl9gS25852SuRbAKMSAKjdzV9IXfdVp9ncHFgr92w71LuzPuLr5q5HbK1KEOyCzGU66N7RvUcpxWxoJaLuBcmlpms2Ww/s1600/08Brecht.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1110" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhO_w2vj7JQ2g9A881aA2_8xPZ4h9BzP3Z-EgIKyQC8j8LyBbwFl9gS25852SuRbAKMSAKjdzV9IXfdVp9ncHFgr92w71LuzPuLr5q5HbK1KEOyCzGU66N7RvUcpxWxoJaLuBcmlpms2Ww/s400/08Brecht.jpg" width="276" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Bertolt Brecht (1898-1956), Intellektueller</td></tr>
</tbody></table>
Die Ausbreitung der <i>Intelligentsia</i> hat in der Sowjetunion Menschen zu Machtstellungen verholfen, die auf den Sozialismus alles das zurückführten, was sich aus der wirtschaftlichen Entwicklung ergab. Das gleiche Phänomen droht die demokratischen Regimes zu erschüttern, wenn die Söhne der Kleinbürger, die durch die Universitäten gegangen sind, die Sehnsucht nach einem Umsturz in sich nähren, statt den Werten und dem Regierungssystem treu zu bleiben, das die frühere herrschende Klasse geschaffen hat. Das Risiko ist um so größer, als die Tendenz zur Kritik sozusagen die berufliche Übereinstimmung der Intellektuellen ausmacht. Diese sitzen gern über ihr Land und seine Einrichtungen zu Gericht, indem sie die augenblicklichen Realitäten eher mit irgendwelchen Ideen als mit anderen Realitäten vergleichen: das Frankreich von heute eher mit der Idee, die sie sich von Frankreich machen, als mit dem Frankreich von gestern. Kein Menschenwerk hält eine solche Belastungsprobe ohne Schaden aus. <br />
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Ob Schriftsteller oder Künstler, der Intellektuelle ist ein Mensch der Ideen, der Gelehrte oder der Ingenieur ein Mann der Wissenschaft. Er teilt den Glauben an die Menschen und an die Vernunft. Das Kulturbild, das die Universitäten vermitteln, ist optimistisch und rationalistisch: die Formen des gemeinsamen Lebens, die sich dem Blick bieten, erscheinen als das zufällige Werk von Jahrhunderten, nicht als Ausdruck eines klarblickenden Willens oder eines überlegten Planens. Der Intellektuelle, dessen berufliche Tätigkeit ihn nicht zur Beschäftigung mit der Geschichte veranlaßt, spricht gern über die „bestehende Unordnung“ ein unwiderrufliches Verdammungsurteil. <br />
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Die Schwierigkeit beginnt, sobald man sich nicht mehr darauf beschränkt, die bestehenden Verhältnisse zu verurteilen. Logischerweise kann man drei Verhaltensweisen unterscheiden. Durch die <i>Kritik an den Methoden</i> stellt man sich an den Platz derjenigen, die regieren oder verwalten, man empfiehlt Maßnahmen, die die Übel, die man anprangert, mildern würden, man akzeptiert aber die Abhängigkeit des Tuns, die unvorstellbare mannigfaltige Struktur der Gemeinwesen, gelegentlich sogar die Gesetze des bestehenden Regimes. Man beruft sich jedoch nicht auf eine ideale Organisation, auf eine strahlende Zukunft, sondern auf Resultate, die mit mehr Verstand und mehr gutem Willen erreichbar wären.<br />
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Die <i>moralische Kritik</i> stellt dem, was ist, die unbestimmte, aber gebieterische Vorstellung dessen, was sein müßte‚ gegenüber. Man lehnt die Grausamkeiten des Kolonialismus ab, die kapitalistische Selbstentfremdung, den Gegensatz zwischen Herren und Sklaven, das skandalöse Nebeneinander von Elend und Luxus. Selbst wenn man die Konsequenzen dieser Empörung oder die Mittel, sie in Taten umzuwandeln, nicht kennt, fühlt man sich doch getrieben, sie auszusprechen in Form einer Verurteilung oder eines Appells, einer Umwelt gegenüber, die ihrer selbst unwürdig ist. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi6eaAUGgF7kFiRkHt1X3q6Y8bI_sUy6JitVejiTJQztYvEBMYX3vW_tnvqSxHgmcv174Fia2Xx-9rqoFL8g0WqAL0QCwMw0Q2fQ5_V-zwO6P1Q2leVsv1jOmQtuSZCe-GgNmhgREbRros/s1600/09Sartre.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1001" data-original-width="1024" height="390" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi6eaAUGgF7kFiRkHt1X3q6Y8bI_sUy6JitVejiTJQztYvEBMYX3vW_tnvqSxHgmcv174Fia2Xx-9rqoFL8g0WqAL0QCwMw0Q2fQ5_V-zwO6P1Q2leVsv1jOmQtuSZCe-GgNmhgREbRros/s400/09Sartre.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Jean-Paul Sartre (1905-1980), Intellektueller</td></tr>
</tbody></table>
Die <i>ideologische oder historische Kritik</i> schließlich setzt sich mit der bestehenden Gesellschaft im Namen einer kommenden Ordnung auseinander, sie legt die Ungerechtigkeiten, deren Augenscheinlichkeit das Gewissen verletzt, der bestehenden Ordnung zur Last — Kapitalismus und Privatbesitz bringen schicksalhaft die Ausbeutung, den Imperialismus, den Krieg mit sich — und skizziert den Plan einer grundlegend anderen Ordnung, innerhalb derer der Mensch seine Berufung erfüllen würde.<br />
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Jede dieser Kritiken hat ihre Aufgabe und ihre Würde, aber jede kann in ihrer Bedeutung auch abgewertet werden. Die Methodiker stehen im Banne des Konservativismus: die Menschen ändern sich nicht, ebensowenig wie die unangenehmen Notwendigkeiten des Gemeinschaftslebens. Die Moralisten schwanken zwischen der Resignation gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen und der Unduldsamkeit des Wortes: zu allem nein sagen, heißt schließlich sich mit allem abfinden. Wo ist dann die Grenze zwischen der Ungerechtigkeit, die mit der bestehenden Gesellschaft zusammenhängt, und der Ungerechtigkeit jeder nur denkbaren Ordnung? Wo ist die Grenze zwischen der Ungerechtigkeit, die mit der Gesellschaft schlechthin zusammenfällt, und den Ausschreitungen, die einzelnen Menschen zur Last gelegt werden können und moralische Verurteilung verdienen? Die ideologische Kritik wiederum spielt gern auf beiden Instrumenten. Sie verhält sich moralistisch gegen die eine Hälfte der Welt, ist aber bereit, einer revolutionären Bewegung gegenüber in einem sehr realistischen Sinne nachsichtig zu sein. Niemals ist der Schuldbeweis hinreichend, wenn der Gerichtshof in den Vereinigten Staaten seinen Sitz hat. Niemals ist die Bestrafung unangemessen, wenn sie die Gegenrevolutionäre trifft: ein Verhalten, das der Logik der Leidenschaften entspricht. Wie viele Intellektuelle haben die Partei der Revolution aus moralischer Entrüstung ergriffen, um sich schließlich dem Terrorismus und der Staatsräson zu beugen!<br />
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Jedes Land neigt mehr oder minder zu der einen oder anderen Kritik. Engländer und Amerikaner vermengen die Moralkritik mit der an den Methoden, die Franzosen schwanken zwischen moralischer und ideologischer Kritik (die Auseinandersetzung zwischen den Rebellen und den Revolutionären ist der typische Ausdruck dieses Schwankens). Vielleicht ist die Moralkritik am häufigsten der tiefe Ursprung jeder Kritik, mindestens bei den Intellektuellen. Diese Kritik bringt ihnen gleichzeitig den Ruhm eines „Wiedergutmachers von Unrecht“, eines Geistes, der stets verneint und das weniger schmeichelhafte Ansehen des nur dem Wort Verpflichteten, der den rauhen Zwang der Tatsachen nicht zur Kenntnis nimmt.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjpfUYbLzz1iDR84_nlsEg8WLIw8RDyFmWwoFkqCnPjeEneefKKMbPdmf-5VKMbkt2U8fKF9gb-igfp7JlEd-4Ygh-4PqfVkUV3TTZ7wOqB84JP-xPk4eKRg0H8GL9DhwKztTiJCLdOwLg/s1600/10Meinhof.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1001" data-original-width="1024" height="390" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjpfUYbLzz1iDR84_nlsEg8WLIw8RDyFmWwoFkqCnPjeEneefKKMbPdmf-5VKMbkt2U8fKF9gb-igfp7JlEd-4Ygh-4PqfVkUV3TTZ7wOqB84JP-xPk4eKRg0H8GL9DhwKztTiJCLdOwLg/s400/10Meinhof.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ulrike Meinhof (1934-1976), Intellektuelle</td></tr>
</tbody></table>
Seit langem ist Kritik nicht mehr ein Beweis für Mut, wenigstens in unseren freien Gesellschaften des Westens nicht. Der Leser findet in den Zeitungen lieber Argumente, die seine Unlustgefühle und Vorbehalte rechtfertigen, als Gründe, die bestätigen, daß unter den gegebenen Umständen die Haltung der Regierung nicht sehr von der abweichen konnte, die sie tatsächlich eingenommen hat. Wenn man kritisiert, entgeht man der Verantwortung für die unerfreulichen Konsequenzen, die jede Maßnahme mit sich bringt, selbst wenn sie im großen und ganzen glücklich genannt werden kann: man hat mit der Unreinheit geschichtlicher Ursachen nichts zu tun. Der Oppositionelle, wie heftig auch immer seine Polemiken seien, leidet kaum unter seinen sogenannten Ketzereien. Anträge für die Rosenbergs oder gegen die Aufrüstung Westdeutschlands unterschreiben, das Bürgertum als eine Bande von Gangstern behandeln oder sich regelmäßig für das Lager einsetzen, gegen das Frankreich seine Verteidigung vorbereitet: das alles schadet der Karriere nicht, nicht einmal bei Staatsbeamten. <br />
<br />
Wie oft haben die Privilegierten den Schriftstellern Beifall gespendet, die sie geißelten! Die amerikanischen Babbits haben in großer Anzahl zum Erfolg von Sinclair Lewis beigetragen. Die Bürger und ihre Söhne, die von den gescheiten Köpfen gestern als Philister, heute als Kapitalisten behandelt wurden, haben den Erfolg der Rebellen oder der Revolutionäre gesichert. Der Erfolg fällt denen zu, die entweder die Vergangenheit oder die Zukunft glorifizieren: man zweifelt oft daran, ob es in unserer Zeit noch ohne Schaden möglich sei, die gemäßigte Meinung zu verteidigen, daß die Gegenwart in vieler Hinsicht weder schlechter noch besser ist als andere Epochen.<br />
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<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Raymond Aron: Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung. Kiepenheuer/Witsch, Köln/Berlin 1957. Ausgezogen wurde der Beginn von Kapitel VII (Seiten 249 bis 260)</i></span><br />
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<b>Kammermusikkammer: Wo das Streichquartett zu Hause ist:</b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/05/walter-braunfels-streichquartette-1-2.html" target="_blank">Walter Braunfels: Streichquartette 1 & 2 | Ein neuer Status der Rationalität: Wilhelm von Ockham.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/05/alberto-ginastera-die-streichquartette.html" target="_blank">Alberto Ginastera: Die Streichquartette | Eine fixe Idee von Winckelmann: Laokoon als Schmerzensmann.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/06/berhard-molique-streichquartette-op-18.html" target="_blank">Bernhard Molique: Streichquartette op. 18 Nr 3 und op 28 | Vom Mangel zum Überfluß: Das romantische Naturbild.</a></b><br />
<b><br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2013/11/heinz-holliger-streichquartett-die.html" target="_blank">Heinz Holliger: Streichquartett - Die Jahreszeiten - Chaconne | Die darstellbare Welt: Eine Funktion der Kunst-Großausstellung.</a></b><br />
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<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 17 MB <br />
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<span style="background-color: #ffd966;">Unpack x377.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: [54:56] 3 parts 268 MB</span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-45870776863794874452019-12-02T11:37:00.002+01:002019-12-02T11:37:23.982+01:00W. B. Yeats: Poems / Gedichte<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgpKT2pXzu9fxXhY0KtYww099jHCooMIYNaR0Mu5QEEhTWJHg-xnaqJYGI2TqAtIiSCm83VBAu1Pak5hcg-YxMLI86SnNvgmo_YPq4AMxuPTVnH1sRYDV9hvT4gyXirAdcz6FP4QFAx2qE/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1427" data-original-width="1600" height="285" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgpKT2pXzu9fxXhY0KtYww099jHCooMIYNaR0Mu5QEEhTWJHg-xnaqJYGI2TqAtIiSCm83VBAu1Pak5hcg-YxMLI86SnNvgmo_YPq4AMxuPTVnH1sRYDV9hvT4gyXirAdcz6FP4QFAx2qE/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
<span style="font-size: x-small;"><i>Verleihungsrede von Per Hallström anlässlich der feierlichen Überreichung des Nobelpreises für Literatur an William Butler Yeats am 10. Dezember 1923</i></span><br />
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Majestät, Exzellenzen, meine Damen und Herren,<br />
<br />
William Butler Yeats hat sich von früher Jugend an als ein Dichter in der vollen Bedeutung dieses Wortes behauptet; seine Autobiographie beweist, dass die innere Stimme des Dichters seine Beziehungen zur äußeren Welt von klein auf geregelt hat. So ist es natürlich, dass er sich seit seinen ersten Anfängen in der von seiner Sensibilität und Intelligenz vorgezeichneten Richtung entwickelte.<br />
<br />
In Dublin im Heim eines Künstlers geboren, wurde ihm die Schönheit von Natur aus lebenswichtige Notwendigkeit. Da er selbst künstlerische Fähigkeiten zeigte, wurde seine Erziehung besonders darauf angelegt, diese Neigungen zu unterstützen, ohne dass man sich dabei viel um die Sicherstellung traditioneller, schulischer Ausbildung kümmerte. Diese vollzog sich zum großen Teil in England, seiner zweiten Heimat, doch entschieden seine Verbindungen mit Irland — vor allem mit dem verhältnismäßig unbekannten keltischen Distrikt von Connaught, in dem der Feriensitz der Familie lag — seine Entwicklung. Hier empfing er aus dem Glauben und der Geschichte seines Volkes den phantasievollen Mystizismus, der den charakteristischsten Zug seines Temperaments bildete, und hier — umgeben von einer ursprünglichen Landschaft, zwischen Bergen und Ozean —ging er völlig auf in der leidenschaftlichen Erforschung dieser Natur.<br />
<br />
Für ihn war die Seele der Dinge kein leeres Wort, denn der keltische Pantheismus, das heißt, der Glaube an die Existenz lebendiger und personifizierter Kräfte, die im Geist des Volkes immer gegenwärtig sind, erfüllte seine Phantasie und nährte sein verinnerlichtes und vertieftes religiöses Streben. Wenn er in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Geist seiner Zeit das Leben in der Natur voll brennender Anteilnahme beobachtete, waren diese Beobachtungen in bemerkenswerter Weise dem Studium der Aufeinanderfolge von Vogelstimmen bei Tagesanbruch oder dem Flug der Nachtfalter gewidmet, wenn in der Abenddämmerung die Sterne sich entzündeten.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEieDRGhyXliGlOxNnvt9FkD-mmFJABi-cnJX7r3D0UJbXYMd9cZRpGdmIoaLOEIruQRHuO7_TOBGzsBLym5eIjAsQCKjHyi_66RbsrKebYGdW1xXyaJ5VlZmqittVAza5vfp1m0jSVNb3s/s1600/1wby.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="646" data-original-width="970" height="266" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEieDRGhyXliGlOxNnvt9FkD-mmFJABi-cnJX7r3D0UJbXYMd9cZRpGdmIoaLOEIruQRHuO7_TOBGzsBLym5eIjAsQCKjHyi_66RbsrKebYGdW1xXyaJ5VlZmqittVAza5vfp1m0jSVNb3s/s400/1wby.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">William Butler Yeats (1865-1939)</td></tr>
</tbody></table>
Der Junge war so vertraut mit dem Rhythmus des Tagesablaufs, dass er die Zeit durch solche kaum merkbaren Zeichen genau zu bestimmen wusste. Diesem Einklang mit dem täglichen Einschlafen und Erwachen der Natur entspringen später die fesselndsten Züge seiner Dichtung.<br />
<br />
Den Jünglingsjahren entwachsen, gab er seine Ausbildung in der bildenden Kunst auf, um sich der Dichtung zu widmen, zu der er sich besonders hingezogen fühlte. Der Umstand allerdings, dass er im künstlerischen Milieu aufgewachsen war, offenbarte sich während seiner ganzen Laufbahn, einmal durch die Sorgfalt, mit der er die Form behandelte, durch den persönlichen Charakter seines Stils, aber mehr noch durch die kühn paradoxe Lösung von Problemen, wobei sein scharfes, aber fragmentarisches, philosophisches Denken ihm den Weg bahnt, der seinem Wissen entspricht.<br />
<br />
Die literarische Welt, in die er eintrat, als er sich Ende der achtziger Jahre in London niederließ, bot ihm nichts besonders Positives, wenn nicht die Tatsache, dass seine Antipathien Widerhall finden, und das bedeutet für eine kämpferische Jugend einen wesentlichen Umstand. Gegenüber dem Geist der Epoche empfand er nur Auflehnung und Widerwillen, besonders gegenüber dem wissenschaftlichen Dogmatismus und der naturalistischen Kunst. Aber es gab nicht viele, die von einer so tiefverankerten Feindseligkeit beseelt waren wie Yeats, dieser intuitive, visionäre und unbezähmbar spiritualistische Genius.<br />
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Nicht allein der absolute Charakter der Wissenschaft und die Enge der die Wirklichkeit kopierenden Kunst irritierten ihn; er hegte tiefen Abscheu vor der Vernichtung der Persönlichkeit und vor der Kälte, die den Skeptizismus ablehnte, sowie vor dem Verdorren der Phantasie und des Gefühlslebens in einer Welt ohne anderen Glauben als den des kollektiven und automatischen Fortschritts, der einem heiligen Schlaraffenland entgegenstrebte. Die Ereignisse sorgten fur den Beweis, dass er erschreckend recht gehabt hatte: Des mit Hilfe einer solchen Methode von der Menschheit errichteten Paradieses dürfen wir uns gegenwärtig freuen.<br />
<br />
Selbst dem schönsten sozialen Utopismus, verkörpert durch den vielbewunderten Dichter William Morris, gelang es nicht, einen Individualisten wie den jungen Yeats zu fesseln. Erst später wandte er sich dem Volk zu, das für ihn keineswegs einen abstrakten Begriff darstellte, sondern sich in der irischen Rasse verkörperte, mit der er in seiner Kindheit engen Kontakt gefunden hatte. Und er suchte in dieser Rasse nicht die von den Anforderungen des heutigen Lebens zermürbten Massen, sondern einen Typ der im Laufe der Zeiten geformten Seele, die er zu bewusstem Leben erheben wollte.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhszb2ICaSvKdc0EVt6_1D1Fo8nuTh5jRe9zxD5KkIJvjPX5aURpnOYcePoYLi0sxBJEbe2w4nxRtQbeEjysfiGEUdidrWnpPj7JpG16TMGVHeULh6p1VHAlfmjvYcGjUinewr0gVerbac/s1600/2wb-yeats-bg.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1457" data-original-width="1600" height="363" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhszb2ICaSvKdc0EVt6_1D1Fo8nuTh5jRe9zxD5KkIJvjPX5aURpnOYcePoYLi0sxBJEbe2w4nxRtQbeEjysfiGEUdidrWnpPj7JpG16TMGVHeULh6p1VHAlfmjvYcGjUinewr0gVerbac/s400/2wb-yeats-bg.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">William Butler Yeats (1865-1939)</td></tr>
</tbody></table>
Inmitten des Getriebes des intellektuellen Londoner Lebens beschäftigte sich Yeats mit allem, was die irische Nation betraf, und diese Verbundenheit wurde lebendig erhalten durch die vertieften Studien der irischen Folklore, die er während seiner Ferien in seinem Geburtsland trieb. Seine ersten Gedichte sind ausschließlich von den in diesem Bereich gesammelten Eindrücken inspiriert. Die hohe Anerkennung, die sie schlagartig in England erfuhren, verdankten sie dem Umstand, dass dieser neue Stoff mit seinem mächtigen Appell an die Phantasie in einer Form dargeboten wurde, die trotz ihrer Eigenart eng mit edlen Traditionen der englischen Dichtung verbunden war. Die Mischung von keltischen und englischen Elementen, die im Bereich des politischen Lebens nie mit Erfolg hatte verwirklicht werden können, wurde in der Welt der dichterischen Phantasie zu einer Realität.<br />
<br />
Je mehr Yeats indes die englischen Meister studierte, erhielten seine Gedichte einen anderen Charakter. Rhythmus und Farben wandelten sich, als wären sie in eine neue Atmosphäre, jene der keltischen Abenddämmerung am Meeresstrand, übertragen worden. Ein wichtiger, in der modernen englischen Dichtung ungewohnter Platz wird dem Lied eingeräumt. Die Musik ist melancholischer, und unter der sanften Kadenz glauben wir einen anderen, aus leisem Windhauch und ewigem Pulsschlag der Naturkräfte gebildeten Rhythmus wahrzunehmen. Wenn diese Kunst einen solchen Grad erreicht, grenzt sie an Magie, doch macht ihre Düsterkeit sie zuweilen schwer zugänglich. Diese Esoterik stammt von dem Mystizismus des behandelten Gegenstands, aber vielleicht auch von der keltischen Gemütsart, die mehr durch Ungestüm, Sensibilität und Scharfsinn als durch Klarheit charakterisiert zu werden scheint. Dennoch kann die Tendenz der Zeit ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt haben: Symbolismus und l’art pour l’art — vor allem, um das kühn angeeignete Wort zu erforschen. <br />
<br />
Yeats’ Verbundenheit mit dem Leben seines Volkes bewahrte ihn vor der charakteristischen Sterilität in der ästhetischen Tendenz seiner Zeit. An der Spitze einer Gruppe von Landsleuten nahm er am literarischen Leben Londons teil und gründete die mächtige Bewegung <i>Die keltische Erneuerung</i>, die eine neue Nationalliteratur, die anglo-irische, geschaffen hat.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg2nYP-9B5-NxrP2mbFzIVADRebHn2QTrz2oBr8Uleor4SiGvJZhEtsSkgDTQAhNhltzS65Zr9D1UhByNQg6DFANzLXREYwkR8Kv9kfs3OBVuGt2iFWHTj6BabP4teFqFZLfabQDhEruDw/s1600/3Yeats-family.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="600" data-original-width="600" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg2nYP-9B5-NxrP2mbFzIVADRebHn2QTrz2oBr8Uleor4SiGvJZhEtsSkgDTQAhNhltzS65Zr9D1UhByNQg6DFANzLXREYwkR8Kv9kfs3OBVuGt2iFWHTj6BabP4teFqFZLfabQDhEruDw/s400/3Yeats-family.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">W.B. Yeats mit Ehefrau Georgie Hyde-Lees,und den Kindern Anne und Michael</td></tr>
</tbody></table>
Der hervorragendste und hinsichtlich des Talents vielschichtigste dieser Gruppe war Yeats. Seine belebende und anziehende Persönlichkeit trug im Wesentlichen dazu bei, dass die Bewegung sich so rasch entwickelte und ausbreitete, indem sie den bis dahin zerstreuten Kräften ein gemeinsames Ziel setzte oder die neuen, ihrer Existenz noch nicht bewussten Kräfte ermutigte.<br />
<br />
Damals wurde auch das irische Theater geboren. Yeats‘ aktive Propaganda schuf zugleich eine Bühne und ein Publikum; die erste dort gegebene Vorstellung war das Drama <i>The Countess Cathleen – Die Gräfin Cathleen</i>. Diesem dichterisch ungewöhnlich reichen Werk folgte eine ganze Reihe von Schauspielen, die alle irische Probleme behandelten und in der Hauptsache die alten Heldensagen zum Gegenstand hatten. Zu den schönsten unter ihnen gehörten <i>Deirdre</i>, die unheilvolle Tragödie der irischen Helena, <i>The Green Helmet – Der grüne Helm</i>, eine Sage von heldischer Heiterkeit und eigentümlich primitiver Wildheit, und vor allem <i>The King’s Threshold – Die Schwelle des Königs</i>, dessen einfacher Stoff von einer selten erreichten Größe und Tiefe ist. Der Streit um Rang und Stellung des Barden am Königshof stellt hier das immer brennende Problem der geistigen Werte und des Glaubens dar. Unter Einsatz seines Lebens verteidigt der Held mit dem Primat der Poesie alles, was das Dasein des Menschen schön und wert macht. Die meisten Dichter würden nicht gewagt haben, auf diese Weise solche Forderungen zu stellen, Yeats hat es getan: Sein Idealismus hat sich nie gebeugt, wenn ihm nicht der gleiche Ernst begegnete, der seiner Kunst innewohnt. In seinen Dramen erreichen seine Verse durch ihren Stil eine seltene Schönheit.<br />
<br />
Der bezaubernde Eindruck seiner Kunst zeigt sich vor allem in <i>The Land of Heart’s Desire – Das Land der Sehnsucht</i>, das in seiner klaren, träumerischen Melodie die ganze Magie märchenhafter Poesie, die ganze Frische des Frühlings besitzt. Vom dramatischen Standpunkt gesehen, ist dieses Werk auch eins der schönsten und könnte als das Kleinod seiner Dichtung betrachtet werden, wenn er nicht ein kleines Drama in Prosa, <i>Cathleen ni Houlihan – Die Tochter von Houlihan</i>, geschrieben hätte, das sein einfachstes, populärstes Theaterstück und vom klassischen Standpunkt zugleich sein vollkommenstes ist.<br />
<br />
Hier schlägt er -— mächtiger als überall sonst — die patriotische Saite an: das Thema ist Irlands jahrhundertelanger Kampf für die Freiheit und die Hauptgestalt Irland selbst, verkörpert durch eine umherirrende Bettlerin. Doch vernehmen wir nicht einen einzigen Schrei des Hasses; die das Stück beseelende tiefe Leidenschaft ist mehr als in jeder anderen Dichtung dieser Art gezügelt. Nur das reinste, erhabenste Gefühl der Nation wird hier ausgedrückt, der Text ist maßvoll und die Handlung auf ihren einfachsten Ausdruck zurückgeführt; das Ganze ist von echter Größe. Das Thema konzipiert Yeats im Traum: der visionäre Ursprung dieser Himmelsgabe blieb ihm bewusst — eine Auffassung, die übrigens der ästhetischen Philosophie des Autors nicht fremd ist.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhwoZX4UByD0PZai8CYKgzwJn4pTr_81vdTVKyGNDA1hRWERzp7SI2KFFQs-f5pW-i2_RKB7g44_moWiTeQFRaHHdniyynBmtZ60xR71gNTejebz0KhPe2vc6tcQnn4OV9Sal_xCDKoDr8/s1600/4YeatsGonne.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="657" data-original-width="1024" height="256" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhwoZX4UByD0PZai8CYKgzwJn4pTr_81vdTVKyGNDA1hRWERzp7SI2KFFQs-f5pW-i2_RKB7g44_moWiTeQFRaHHdniyynBmtZ60xR71gNTejebz0KhPe2vc6tcQnn4OV9Sal_xCDKoDr8/s400/4YeatsGonne.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">William Butler Yeats und <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Maud_Gonne" target="_blank">Maud Gonne</a></td></tr>
</tbody></table>
Man könnte länger bei seinen Werken verweilen, doch mag es genügen, die in seinen letzten Dramen verfolgten Wege aufzuzeigen. Hinsichtlich ihres seltsamen, ungewöhnlichen Stoffes waren sie oft romantisch, gelangten jedoch in ihrer Form mehr oder weniger zu einer klassischen Einfachheit. Dieser Klassizismus hat sich fortschreitend zu einem kühnen Archaismus weiterentwickelt: Der Dichter suchte die primitive Plastik zu erreichen, die den Beginn aller dramatischen Kunst darstellt. Die ganze Schärfe seines Denkens hat er darauf verwandt, sich von der modernen Autfassung des Theaters zu lösen, in welcher der Dekor das von der Phantasie heraufbeschworene Bild trübt, ein Charakterstück notwendigerweise durch die Rampe verzerrt, und wo das Publikum eine wirkliche Illusion fordert. Er wollte die Dichtung so darstellen, wie sie aus der Vision des Dichters geboren wurde — eine ihm eigentümliche Vision, die sich unter dem Einfluss uralter Modelle aus Hellas und Japan bildete. So hat er den Gebrauch der Masken wieder aufgenommen und der Mimik des Schauspielers, begleitet von einer einfachen Musik, großen Raum gegeben.<br />
<br />
In so vereinfachten und in vollkommener Einheit des Stils dargestellten Dramen, deren Stoffe vorwiegend von irischen Heldensagen inspiriert sind, hat Yeats zuweilen — sowohl durch den auf ein Minimum beschränkten Dialog als durch die tiefe, lyrische Intonation der Chöre — sogar auf einfache Menschen eine faszinierende Wirkung ausgeübt. Dies alles ist jedoch in voller Entwicklung begriffen; noch lässt sich nicht entscheiden, ob die Ergebnisse den vollbrachten Opfern entsprechen. Diese Art Theaterstücke, obwohl an sich höchst bemerkenswert, werden wahrscheinlich in Bezug auf die Popularität größeren Schwierigkeiten begegnen als die früheren.<br />
<br />
In ihnen und in seinen klarsten und schönsten Gedichten hat Yeats das vollbracht, was nur wenigen Dichtern vergönnt gewesen ist: wenn er auch noch so aristokratische Kunst schuf, ist es ihm gelungen, seinen Kontakt mit dem Volk zu bewahren. Sein dichterisches Werk hat sich in einem ausschließlich künstlerischen Milieu entwickelt, was viele Gefahren in sich birgt; doch ohne den Leitsätzen seines ästhetischen Glaubens abzuschwören, hat sich seine leidenschaftliche und wissensdurstige, stets auf der Suche nach dem Ideal begriffene Persönlichkeit von der Leere der Form um der Form willen gelöst. Es ist ihm gelungen, dieser Geistesrichtung treu zu bleiben, die ihn von vornherein zum Interpreten seines Landes bestimmte, eines Landes, das im Geheimen seit langem eine Persönlichkeit erwartete, die ihm eine Stimme lieh. Es ist also nicht übertrieben, ein solches Lebenswerk „groß“ zu nennen.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Booklet. Übersetzung von Hilda von Born-Pilsach.</i></span><br />
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<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiLJP_MP-9EXEpYpXTTupuBQ5gJAhl8kllyQvQmGHgRjesOlt-oZ5CRcQrymcB66q85nU5HmR4xzUQoiESAXKnqb-QVgfe-q3NMt9dv1EnVTZ-FfjF09CfN_5_wLdSDNQZnPo3_nCNKx90/s1600/0WBY_by_John_Singer_Sargent_1908.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="800" data-original-width="604" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiLJP_MP-9EXEpYpXTTupuBQ5gJAhl8kllyQvQmGHgRjesOlt-oZ5CRcQrymcB66q85nU5HmR4xzUQoiESAXKnqb-QVgfe-q3NMt9dv1EnVTZ-FfjF09CfN_5_wLdSDNQZnPo3_nCNKx90/s400/0WBY_by_John_Singer_Sargent_1908.jpg" width="301" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">William Butler Yeats (1908), Bleistiftzeichnung von<br />
John Singer Sargent <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:William_Butler_Yeats_by_John_Singer_Sargent_1908.jpg" target="_blank">[Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<pre>TRACKLIST
W.B. YEATS - Poems / Gedichte
CD 1 Poems Laufzeit ca. 58 Minuten
01. The Lake Isle Of Innisfree [03:39] WBY
02. The Fiddler Of Dooney [01:45] WBY
03. The Song Of The Old Mother [01:25] WBY
04. The Song Of Wandering Aengus [01:23] CC
05. He Wishes for the Clothes of Heaven [00:45] MM
06. No Second Troy [00:49] CC
07. The Mask [00:53] SM
08. A Coat [00:35] SM
09. The Wild Swans at Coole [01:56] CC
10. Broken Dreams [02:41] CC
11. Salomon and the Witch [03:29] DT
12. The Second Coming [01:37] CC
13. Sailing To Byzantium [02:12] CC
14. Leda and the Swan [01:27] DT
15. The Speech of Oedipus at Colonus [01:40] DT
16. The Dialogue of Self and Soul [02:02] DT
17. For Anne Gregory [01:09] DT
18. Three Things [01:32] DT
19. Byzantium [02:27] CC
20. After Long Silence [00:46] SM
21. Lapis Lazuli [04:12] DT
22. The Three Bushes [04:32] DT
23. The Wild Old Wicked Man [02:41] CC
24. Why Should Not Old Men be Mad? [01:04] CC
25. Chuchulain Comforted [01:52] CC
26. News for the Delphic Oracle [01:49] CC
27. In Tara's Halls [01:54] DT
28. The Long-Legged Fly [01:50] DT
29. The Circus Animal's Desertion [03:48] DT
CD 2 Gedichte Laufzeit ca. 51 Minuten
01. Die Seeinsel von Innisfree [01:37] BK
02. Der Geiger Von Dooney [00:54] BK
03. Das Lied Der Alten Mutter [00:44] BB
04. Das Lied Des Irrenden Aengus [01:13] WK
05. Er Wünscht Sich Die Kleider Des Himmels [00:40] WK
06. Kein Zweites Troja [00:50] WK
07. Die Maske [00:48] BB
08. Ein Rock [00:29] BB
09. Die Wilden Schwäne Auf Coole [01:41] WK
10. Zerbrochene Träume [02:45] WK
11. Salomo Und Die Zauberin [02:18] BB
12. Das Zweite Kommen [01:49] HZ
13. Seereise Nach Byzanz [02:09] HZ
14. Leda Und Der Schwan [01:03] HZ
15. Aus "Ödipus Auf Kolonos" [01:09] HZ
16. Ein Zwiegespräch Zwischen Selbst Und Seele [05:00] BK
17. Für Anne Gregory [00:55] BK
18. Drei Dinge [01:05] BK
19. Byzanz [02:51] BK
20. Nach Langem Schweigen [00:44] BB
21. Lapislazuli [02:42] BB
22. Die Drei Sträucher [03:34] BB
23. Der Alte Wüstling [02:53] HZ
24. Wie Als Greis Nicht Rasend Sein? [01:08] HZ
25. Die Tröstung Des Cuchulain [01:56] WK
26. Neuigkeiten Für Das Orakel Von Delphi [01:44] WK
27. In Taras Saal [01:19] BK
28. Wasserläufer [01:27] BK
29. Der Verrat Der Zirkustiere [03:22] BK
Gelesen von
WBY William Butler Yeats
DT Dylon Thomas
CC Cyril Cusack
MM Micheál MacLiammóir
SM Siobhan McKenna
BB Bibiana Beglau
BK Burghart Klaußner
WK Wolfram Koch
HZ Hanns Zischler
(C) + (P) 2015
</pre>
<br />
<br />
<span style="color: red;"><b><span style="font-size: x-large;">Das Haus des Tauben</span></b></span><br />
<br />
<span style="color: red;"><b><span style="font-size: large;">Goyas „pinturas negras“</span></b></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgB0eUQBiF4X33nvTYGzfCpd2sIbvyblb7binHsomQv986iCGydt0-Jc8TJfd6JIabUAvPVPOBuKEOLcrsjxeRxGINY1ysYLlnn1kNUFYSD02r4E6G8jbYXY_l5f1SAOxTkkfN6tcIQF3o/s1600/1Overview.png" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="1124" height="582" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgB0eUQBiF4X33nvTYGzfCpd2sIbvyblb7binHsomQv986iCGydt0-Jc8TJfd6JIabUAvPVPOBuKEOLcrsjxeRxGINY1ysYLlnn1kNUFYSD02r4E6G8jbYXY_l5f1SAOxTkkfN6tcIQF3o/s640/1Overview.png" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Diagramm der wahrscheinlichen Anordnung der Schwarzen Gemälde im Haus des Tauben.<a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Quintasordo.svg" target="_blank"> [Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Am 27. Februar 1819 kauft Goya auf dem Lande in der Umgebung von Madrid, am anderen Ufer des Manzanares, ein vereinsamtes Haus, das seine Nachbarn bald die „Quinta“ (das Haus im Feld) oder „la Casa del Sordo“ (das Haus des Tauben) nennen.<br />
<br />
1818/19 werden die wenigen Monate, die auf seine Entscheidung folgen, keine Aufträge mehr anzunehmen, und die wenigen anderen, wo er sich in seinem neuen Haus einrichtet, durch fieberhafte Tätigkeit gekennzeichnet sein.<br />
<br />
Ein wahrscheinlich um 1815 ausgeführtes <i>Selbstbildnis</i> zeigt ihn uns fast jünger aussehend, als das, was er zwanzig oder dreißig Jahre vorher malte. Seine Gesichtszüge sind nicht so verkrampft, sein Ausdruck nicht so unruhig, die Augen nicht so hart. Sein höflich verzogener Mund tritt hinter dem plastischer herausgearbeiteten Gesicht zurück. Im Alter von über siebzig Jahren hat er das Gesicht eines Mannes von vierzig oder fünfzig Jahren im besten Alter.<br />
<br />
Und doch fürchtet er das Schlimmste. Nicht nur für die Sicherheit seiner Person und seiner Güter. Er fühlt eine neue Krankheit im Anzuge und wird sich diese in der Tat zuziehen. Doch trägt seine Natur, wie gewöhnllch, den Sieg davon. Zeugnis ist ein von ihm gemaltes Bild, wo man den Zusammengebrochenen in den Armen seines Arztes sieht, und unter dem steht: „Der dankbare Goya seinem Freund Arrieta fur seine Geschicklichkeit und Mühen, die ihm in einer schweren und gefährlichen Krankheit das Leben gerettet haben, an der er Ende des Jahres 1819 im Alter von dreiundsiebzig Jahren litt. Gemalt 1820.“<br />
<br />
Im Verlauf der Periode, die diesem glücklich überwundenen Anfall vorausgeht, bereitet Goya nicht nur die Blätter der <i>Tauromaquia</i> vor. Man könnte meinen, daß er in einer letzten Botschaft all seine imaginären Gaben, alle Gründe versammeln wlll, die ihn zur Gestaltung veranlaßten, und die Möglichkeiten, die sich ihm boten, seit er den königlichen Weg von Eigensinn und Erfindung beschritt, bis zum Ende ausbeuten will.<br />
<br />
Seit der Restauration von 1814 zeichnet er seine anderen „Desastres“: Einkerkerungen, Gerichte, Mißbrauch amtlicher Gewalt und deren verderbliche Folgen, den Sieg der Dummheit im allgemeinen.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjuugSgPnQSJ1WW3o0rD7pMM7bu1rjxkATVSCFAb1wOhhUYAR1tX1vDa-cOBwHQV8vCRXoJNN1dzGFKvCRY-Vw6me3-fJ78vQAjjVncJLvaRyjWUk1PZ-tCPeYRmd61CJgjcwQzSdKdK5Q/s1600/2Atropos_o_Las_Parcas.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="615" data-original-width="1280" height="305" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjuugSgPnQSJ1WW3o0rD7pMM7bu1rjxkATVSCFAb1wOhhUYAR1tX1vDa-cOBwHQV8vCRXoJNN1dzGFKvCRY-Vw6me3-fJ78vQAjjVncJLvaRyjWUk1PZ-tCPeYRmd61CJgjcwQzSdKdK5Q/s640/2Atropos_o_Las_Parcas.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Francisco Goya: Átropos o Las Parcas / Átropos oder das Schicksal. 1819/23. 123 x 266 cm, Museo del Prado, Madrid.</td></tr>
</tbody></table>
Diese Zeichnungen, welche die Inspiration der <i>Caprichos, Desastres</i> und seines gesamten auf die Beobachtung gestellten graphischen Werkes fortsetzen, führen bald zu den ersten Skizzen der <i>Disparates</i>, Folge von zweiundachtzig Stichen, von denen die Akademie von San Fernando 1864 achtzehn unter dem Titel: <i>Proverbios</i> veröffentlichen wird. Andere werden sie <i>Die Träume</i> nennen.<br />
<br />
Sie sollten jedoch mit ihrem Originaltitel bezeichnet werden, denn Goya hat ihn nicht zufällig gewählt. Er will damit eine geistige Beziehung herstellen. Weil seine Zeitgenossen Hieronymus Bosch „El Disparato“ nennen, betitelt er seine Stiche: <i>Les Disparates</i>.<br />
<br />
Robert L. Delevoy hat mit Recht hervorgehoben, daß es sich hier um einen „neuen Abstieg zur Hölle, eine neue Wendung zur Teratologie der Monstren, geheimnisvollen Erscheinungen und Sprichworte handelt, welche die ewige Weisheit des Volkes verkörpern“. Die mit festerem Strich und weniger „anekdotischem“ Beiwerk als die <i>Caprichos</i> gestochene Radierfolge der <i>Disparates</i> gleicht einem jener Testamente, bei deren Abfassung die künftigen Erblasser mit Freude an die nach ihrem Tode erfolgende öffentliche Lesung vor den Erben denken. Weil sie hier endlich denen die Wahrheit sagen, deren Prinzipien, Manien oder Funktionen innerhalb der bestehenden Gesellschaft ein Leben lang auf dem Wesen gelastet haben, das sich nun endlich gerade von ihnen befreit, indem es in eine andere Welt „entfliegt“, wo es hoffentlich nie wieder etwas von ihnen hören wird.<br />
<br />
Die durch den für sie allein zugänglichen Raum eilenden „Fliegenden Männer“ scheiden in den <i>Disparates</i> von einem Reich, wo die — Blatt um Blatt erweckte — düstere, quälende, unbesiegbare Dummheit herrscht, die Goya so gehaßt hat, und die es ihm zu und nach seinen Lebzeiten oft vergolten hat.<br />
<br />
In der Malerei wird mit den <i>Alten, die Alten und die Jungen</i>, der <i>Zölestinerin</i> ein anderes Thema weitergeführt, das den Ausdruck der Bitterkeit oft zum Paroxysmus treibt. Diese ist um so aggressiver, als sie eine untröstliche Enttäuschung darüber enthält, daß dem Menschengeschlecht auch die Gabe der körperlichen und moralischen Häßlichkeit zugeteilt wurde.<br />
<br />
Etwa zur selben Zeit haben sich die <i>Manolas auf dem Balkon</i> (die der Sammlung Groult) verwandelt. Mit etwas verfetteten Gesichtern lehnen sie sich immer noch auf das Geländer. Noch immer überwachen sie mit gierigem oder träumerischem Auge die Straße, durch die wir vorbeigehen. Aber ihre pikante Gewöhnlichkeit macht einen weniger hergerichteten, zufriedeneren und tröstlicheren Eindruck.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhRhHER1xnziK6ecc-ieOysH0GGQNnlLx9emRKne8LRok9PZa4aL7jJ1LBomBNnd85OPZ3QwlIqwZh0c84o2sqZUqq5H-9z0uPQeTgO2_mdLOlcOW3EfPCcfeZAzylcnjIzk4ucGuBw1L4/s1600/3Duelo_a_garrotazos.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="589" data-original-width="1279" height="292" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhRhHER1xnziK6ecc-ieOysH0GGQNnlLx9emRKne8LRok9PZa4aL7jJ1LBomBNnd85OPZ3QwlIqwZh0c84o2sqZUqq5H-9z0uPQeTgO2_mdLOlcOW3EfPCcfeZAzylcnjIzk4ucGuBw1L4/s640/3Duelo_a_garrotazos.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Francisco Goya: Duelo a garrotazos o La riña / Duell mit Knüppeln. 1819/23. 125 x 261 cm, Museo del Prado, Madrid.</td></tr>
</tbody></table>
Dazu kommt — mit Einfluß der Todesdrohung — die religiöse Inspiration. In diese Epoche muß man ebenfalls <i>Die Kommunion von San José de Cabasanz</i> und <i>Das Gebet am Ölberg</i> datieren, zwei Bilder, die schon gelegentlich der Fresken von San Antonio de la Florida erwähnt wurden, die er vor zweiundzwanzig Jahren ausführte. Diese beiden Bilder können, hinsichtlich der Pinselführung, mit den besten Werken Rembrandts verglichen werden und zählen, wie schon gesagt, zu den mystischen Höhepunkten der christlich-katholischen Malerei.<br />
<br />
Und weiter — denn bei Goya gibt es immer ein „und weiter“ — kommt zu diesen verschiedenen Themen der Inspiration, die hier ihre volle Daseinsberechtigung finden, 1819 noch ein neues Ausdrucksmittel.<br />
<br />
Seine überraschten Freunde sehen, wie er statt einer Leinwand einen flachen Stein auf seine Staffelei legt . . . Er ergreift Stifte, mit denen er ebenso schnell wie mit dem Pinsel arbeitet, gibt ohne Übermalungen die Konturen der Volumina an, reibt und kratzt die Oberfläche des mit einer grauen Tönung bedeckten Steines. Manchmal genügt ihm sogar ein Rasiermesser, um aus dem Grund, Lichtfleck um Lichtfleck, ein Gesicht oder eine Gestalt hervorzuheben.<br />
<br />
Drei Jahre, nachdem die Lithographie, die der Sachse Senefelder 1796 in Leipzig entdeckte, 1816 die Pariser Ateliers erobert hatte, wird Goya sie in Spanien einführen. Nichts konnte besser zu seinem auf Spontaneität bedachten Genie passen als dieses Verfahren, dessen Einfachheit erlaubt, das Spiel des Helldunkels direkt zu beleben. Von nun an wird er oft davon Gebrauch machen, vor allem in Bordeaux.<br />
<br />
Seine erste bekannte Lithographie stellt eine alte Spinnerin dar. Sie wurde im Februar 1819 geschaffen, als er sich — um, wie er meinte, seine Tage zu beschließen — auf seinen ländlichen Ruhesitz zurückzog.<br />
<br />
In der Überzeugung, daß das Haus des Tauben auf der Erde seine letzte Zuflucht sei, wird Goya auf seinen Wänden mehr noch als ein Testament, ein monumentales Bekenntnis lassen: die berühmten <i>pinturas negras</i>, die <i>schwarzen Malereien</i>, wahrhafte Monologe, die er sich selbst und für sich selbst aufsagt. Über das Stadium, in dem man gefällt oder mißfällt, ist er hinaus. Zwischen ihn und seine Kunst drängt sich kein Publikum mehr. Ob Versuchungen der Oberflächlichkeit, in die Talent und Erfolg führen, ob Unglück oder Glück, er hat nacheinander alle gewöhnlichen Prüfungen bestanden, und nun muß er sich der schwersten aller Prüfungen unterziehen: Er steht allein sich selbst gegenüber, d. h. seiner Daseinsberechtigung, der Malerei.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhPM3HSmnQhBdwcEeRWagkzrWSpXt0brArao4ivc_VOPAyd1-EDjh8durRpbaV2-PraY-s1eTJQEUaNXFGJrzfSUdWoujXRa-LE4Zlzj8LRNA3Z6kfA_1nUHqdrviSUYQX6KTGUoDTKO2Y/s1600/4La_romer%25C3%25ADa_de_San_Isidro.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="515" data-original-width="1600" height="204" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhPM3HSmnQhBdwcEeRWagkzrWSpXt0brArao4ivc_VOPAyd1-EDjh8durRpbaV2-PraY-s1eTJQEUaNXFGJrzfSUdWoujXRa-LE4Zlzj8LRNA3Z6kfA_1nUHqdrviSUYQX6KTGUoDTKO2Y/s640/4La_romer%25C3%25ADa_de_San_Isidro.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Francisco Goya: La romería de San Isidro / Pilgerfahrt nach San Isidro. 1819/23. 138,5 x 436 cm, Museo del Prado, Madrid.</td></tr>
</tbody></table>
Im Haus des Tauben herrschen zwei Frauen: Doña Leocadia, die seit kurzem in Goyas Leben eingetretene Haushälterin, und die kleine Rosarito. In Zorilla geboren, ist Doña Leocadia, eine entfernte Verwandte des Malers, eine Dame, die viel „Unglück gehabt“ hat und fortschrittliche Ideen verkündet. Kurz angebunden, empfindlich, autoritär, zornig, hat sie einen fast ebenso schwierigen Charakter wie Goya. In Wirklichkeit heißt sie nach ihrem Mann Frau Weiss. Dieser, ein Bayer, kam nach Spanien, um dort Handel zu treiben, und ließ sie eines schönen Tages allein mit einem Knaben und einem Mädchen zurück, Guillermo und Maria del Rosario.<br />
<br />
Doña Leocadia zieht ihre 1814 geborene Enkelin Rosarito auf, und der kinderliebe Goya ist in Rosarito närrisch verliebt. Um sie weiter in seinem Garten spielen zu sehen oder in den schattigen Alleen, wo Brunnen murmeln, auf den Knien zu schaukeln, würde der jähzornige Taube alles tun. Rosarito ist fähig, ihn ganz klein werden zu lassen, und zwingt ihn sogar, die zänkische Leocadia zu ertragen. Doch was für ein seltsamer Rahmen für eine Kindheit ist dieses Haus, dessen Mauern sich bald mit düsteren und fratzenhaften Phantomen bevölkern werden.<br />
<br />
„Die Experten haben recht spät die unterirdischen Gänge gefunden, die vom Faschingsdienstag zur Welt der Verstorbenen führen. Aber wenn Goya auch nicht die Verbindungen zum Übernatürlichen kennt, so fühlt er doch die verwandtschaftlichen Zusammenhänge. Wie andere nach schrecklichen Krankheiten zu Medien werden, zieht er nach der Überwindung der seinen einen Nebel der anderen Welt hinter sich her, der ihn mehr verwirrt und intrigiert als erschreckt, die Welt, von der er sich entfernt hat, jedoch fraglich macht. Seine Dämonen sind ihm vertraut, wie es gezähmte Untiere den Komödianten sind, die sie Kunststücke ausführen lassen; er weiß aber, daß sie nur zu ihm gehören und doch jeden faszinieren können. . .“<br />
<br />
Nach diesem kurzen Kommentar von André Malraux über die <i>Caprichos</i>, die etwa dreißig Jahre vorher ausgeführt wurden, und „wo die Grenze zwischen dem Gesicht und dem, was an seine Stelle tritt, schon oft nicht mehr erkenntlich ist“, sollte man noch Baudelaire zitieren: „In den Werken tiefgründiger Persönlichkeiten liegt etwas, das an diese chronischen Träume erinnert, von denen unser Schlaf periodisch heimgesucht wird. . .“‚ um endlich die Bedeutung dieses in der Kunstgeschichte praktisch einzigartigen Phänomens zu verstehen, das die Gesamtheit der „schwarzen Goyas“ im Haus des Tauben darstellt.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiOR2TnpubREf0oMPmdGPiKhqvrT8OrlQqXZCaNJzqUf8pXsFMkEBUnYvGM-MwWOMupy9qJh9vWBa6Q-5t2-NpllxrpaVv3SKnjP0fAvddwRRh3Zuihx1_7WBw9QEVwEv4swY0HREvC-V4/s1600/5El_Aquelarre.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="507" data-original-width="1600" height="201" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiOR2TnpubREf0oMPmdGPiKhqvrT8OrlQqXZCaNJzqUf8pXsFMkEBUnYvGM-MwWOMupy9qJh9vWBa6Q-5t2-NpllxrpaVv3SKnjP0fAvddwRRh3Zuihx1_7WBw9QEVwEv4swY0HREvC-V4/s640/5El_Aquelarre.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Francisco Goya: El Aquelarre o Gran Cabrón / Hexensabbath oder der Große Ziegenbock. 1819/23,<br />
Museo del Prado, Madrid.</td></tr>
</tbody></table>
Die großen, direkt mit Öl auf die Wände des großen Wohnzimmers im Erdgeschoß, das auch als Speisesaal dient, gemalten rechteckigen Kompositionen (Hoch- und Breitformat) umgeben den Besucher. Am Eingang träumt eine Maja mit dickem Körper, aber noch jungen Gesichtszügen auf einen Fels gestützt, den eine Balustrade überragt. Vor ihr schwingt eine Judith mit maskenhaftem Gesicht ihr blutiges Schwert. An ihrer Seite verschlingt ein riesiger Saturn mit hervorquellenden Augen einen kleinen Menschenkörper. Rechts von der Tür stützt sich ein bärtiger Greis (der viele Male mit der Unterschrift: „Ich lerne noch“ gezeichnet oder gestochen wurde) mühselig auf einen großen Stock, während ihm ein schreckliches Wesen mit niederer Stirn Worte in die Ohren brüllt, die er nicht hört. Über der Tür läßt eine krummnasige Hexe mit bösem Lächeln einen Kessel mit abscheulichem Inhalt kochen, in ihrer Gesellschaft befinden sich Schatten mit vager Menschengestalt, von denen einer jedoch einen Totenkopf trägt.<br />
<br />
Alle freien Flächen sind bedeckt worden. Auf einer der Wände rollt zwischen den Felsbuckeln einer Sierra eine verworrene Kette ab, die aus fünf Meter Lumpen und betrunkenen Vollmondgesichtern besteht. Das ist die <i>Romeria von San Isidro</i>, ein ironisches Gegenstück zur <i>Prozession von San Isidro</i>, die man auf der anderen Wand sieht. Auch die satanische <i>Bockswiese</i> ist da. Wir sind jedoch weit von der verhältnismäßig artigen und dekorativen <i>Bockswiese</i> entfernt, die Goya für die Salons der Herzogin von Osuna malte. Aufrecht sitzend und zu drei Vierteln vom Rücken gesehen, belehrt das riesige, dunkle und behaarte Tier eine Menge hockender Klatschweiber, deren Gesichter sich zu einem Zusammenklang von Blicken und Fratzen vermengen, der die ganze Bissigkeit‚ das ganze zweideutige Elend und alle verbrecherische Verleumdung der Welt ausdrückt.<br />
<br />
Der privilegierte, in den Arbeitsraum des Malers zugelassene Besucher wird von dem zahnlosen Bild der „Lachenden“ eines Alptraums empfangen. Zur Seite drängt sich eine Gruppe Zerlumpter um einen „Vorleser“ mit gesenkten Augen, wenn er nicht gar blind ist. Woanders schlagen sich zwei mit Stöcken bewaffnete Männer, die, um nicht fliehen zu können, bis zu den Knien im Sumpf stecken, einem aragonischen Brauch gemäß bis zum Tode. Bleibt noch das farbigere‚ heiterere, aber noch befremdlichere im Himmel um einen riesigen Felsen schwebende Paar, auf dem sich eine Zitadelle erhebt, deren Form Goya ständig verfolgt hat, die beängstigende Gruppe der drei Parzen und dieser Hundekopf, das einzige sichtbar gegenständliche Element unten auf einer Tafel im Hochformat, die mit einer riesigen Flut dunkler Erdfarben bedeckt ist.<br />
<br />
Die hier ausgesprochene Verwünschung betrifft nicht nur den Unverstand der Menschen — den Krieg zum Beispiel —, sondern die Menschheit selbst wird angeklagt, seit ewig und für immer als Unterlage für die zerstörerische Dummheit zu dienen.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjxNgQHH1K6fDEeDd3xqLz7OKrLJCWELPhcOs_AYuPJXKh6IK1xduKE3Ej51C5thplRg9YVxDusEZVZu-GJTU7qXFz6cLPoTHHZMBkh0WzTZvvyxuuioGFD2qa-j3R-tiyWwuF1QYoE2gU/s1600/6Saturno_devorando_a_su_hijo.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="896" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjxNgQHH1K6fDEeDd3xqLz7OKrLJCWELPhcOs_AYuPJXKh6IK1xduKE3Ej51C5thplRg9YVxDusEZVZu-GJTU7qXFz6cLPoTHHZMBkh0WzTZvvyxuuioGFD2qa-j3R-tiyWwuF1QYoE2gU/s640/6Saturno_devorando_a_su_hijo.jpg" width="356" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Francisco Goya: Saturno devorando a su hijo / <br />
Saturn verschlingt einen seiner Söhne. 1819/23.<br />
143 x 81 cm, Museo del Prado, Madrid.</td></tr>
</tbody></table>
Goya ist sich bewußt, daß all seine Warnungen, all seine Vorhersagen sinnlos gewesen sind. Nun gibt er seinen Schrecken und Widerwillen nicht mehr Gestalt, um seine Nächsten zu warnen, sondern um sie auf ewig und so festzubannen, daß sie ihn selbst nie wieder angreifen können. Er nimmt Dämonen und Monstren gefangen und nagelt sie auf die Wände des Hauses, das er als sein letztes ansieht. Er malt sie, um sicher zu sein, daß er sie überwunden hat. Und er behält sie im Auge, um sicher zu sein, daß sie sich nie wieder bewegen werden, außer wenn er es selbst wünscht. Er hat das Grab seiner Gedanken verziert. Hier lebt und wartet er.<br />
<br />
Diese Malereien wurden zweifellos gewohnheitsmäßig <i>schwarze Malereien</i> genannt, weil viele den dramatisch düsteren Charakter ihrer Veranlassung wo nicht verstanden, doch erahnten. Die Bezeichnung paßt schlecht. Im allgemeinen wurden sie mit gebrannter Siena und Sevilla-Erde ausgeführt, was in der Tat die Wirkung einer gewissen Monochromie geben kann. Beim näheren Hinschauen sollte dieser Irrtum jedoch verschwinden. In Wirklichkeit hat Goya die Farben — alle seine Farben — nie mit soviel Wissen angewendet, sie so verteilt und zueinander in Beziehung gebracht, daß sie genau dem entsprechen, was man von ihnen erwartet, sie sollen nämlich die Valeurs des Bildes spannen und hervorheben. Leider kann man die „schwarzen Malereien“ — da man sie nun einmal so nennt — nicht so würdigen, wie man sollte, weil sie im Prado in einem Saale des Erdgeschosses ausgestellt sind. Ihr Verständnis würde erleichtert, ihre „Lektüre“ einfacher, wenn man sie in einem besonderen Gebäude unterbringen und dort so angebracht sehen könnte, wie Goya sie in seinem eigenen Hause verteilt hatte.<br />
<br />
Dies wäre die Vollendung des Werkes von Baron Erlanger, dieses von Goyas Kunst so eingenommenen Franzosen, der die „schwarzen Malereien“ rettete, indem er das Haus des Tauben einzig zu dem Zweck kaufte, um sie von den der Zerstörung ausgesetzten Wänden zu lösen und auf Leinwand übertragen zu lassen.<br />
<br />
Denn wenn Spanien Frankreich auch die Schrecken eines Unabhängigkeitskrieges verdankt, so verdankt es doch einem Franzosen, das Werk erhalten zu haben, ohne das man vielleicht nie daran gedacht hätte, Goyas Genie mit dem von Shakespeare oder Dostojewskij zu vergleichen.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Jean-Francois Chabrun: Goya. Der Mensch und sein Werk. Galery Somogy Paris. Im Bertelsmann Lesering. Ohne Jahr (Circa 1962). Zitiert wurden die Seiten 233-242</i></span><br />
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<b>Link-Tipp</b><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/02/franz-berwald-1796-1868-klaviertrios.html" target="_blank">Eine zweisprachige Auswahl von W.B. Yeats Lyrik in der Kammermusikkammer </a><br />
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<b>Hineinhören: (Weitere Hörbücher in der Kammermusikkammer)</b> <br />
<br />
<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/11/kurt-weill-bertolt-brecht-die.html" target="_blank">Kurt Weill / Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (Aufführung 1968) </a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/05/ts-eliot-waste-land-and-other-poems-das.html" target="_blank">T.S. Eliot: The Waste Land and Other Poems / Das Öde Land und andere Gedichte (zweisprachig) | Die unerträgliche Leichtigkeit des Zeichnens: Die Kunst Paul Floras</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/10/kuriose-wortspiele-schelmereien-von.html" target="_blank">Kuriose Wortspiele: Schelmereien von Heinz Erhardt | »Der Teppich ist mein bestes Stück!« Herbert Boeckls Bildteppich „Die Welt und der Mensch”</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/04/oskar-werner-spricht-gedichte-von.html" target="_blank">Oskar Werner spricht Gedichte von Mörike, Heine, Saint-Exupéry, Trakl | Traum und Wirklichkeit: George Grosz im Exil - Die amerikanischen Jahre (1933-1959)</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/09/johann-wolfgang-von-goethe-alterslyrik.html" target="_blank">Johann Wolfgang von Goethe: Alterslyrik - Friedrich Schiller: Gedankenlyrik | »Das Schauspiel des Himmels überwältigt mich« - Miró auf Mallorca</a></b><br />
<br />
<br />
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<br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-20702649199581207742019-11-25T10:44:00.003+01:002019-11-25T10:44:29.281+01:00Kurt Weill / Bertolt Brecht: Die Dreigroschenoper (Aufführung 1968)<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhWLJ7-1KGAGu1EGezSUW581wUb1jX_ISDcRVpVm9nDael84SjQr7HLtkMeHQutS3cG-KqqdSjdkMo_leP6JkgMt61Otk1v6taSxXDaojWnhKwslQZQ9hAnV4dGtpvxc-RHbmL5piPvwxc/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1423" data-original-width="1428" height="318" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhWLJ7-1KGAGu1EGezSUW581wUb1jX_ISDcRVpVm9nDael84SjQr7HLtkMeHQutS3cG-KqqdSjdkMo_leP6JkgMt61Otk1v6taSxXDaojWnhKwslQZQ9hAnV4dGtpvxc-RHbmL5piPvwxc/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Gleich nach der Uraufführung im Jahre 1928 erfaßte ein wahrer Dreigroschenoper-Taumel Berlin, und bald darauf das ganze Land, dem erst die Nazis 1933 ein gewaltsames Ende setzten. Den Text zum Werk hatte Bert Brecht beigesteuert, und sich dabei "The Beggar's Opera" von Gay/Pepusch bedient, die exakt zweihundert Jahre zuvor, 1728, in London uraufgeführt wurde. Zudem hatte er Gedichte von Francois Villon, einem spätmittelalterlichen französischen Dichter, ins Deutsche übersetzt und in seinen Text eingebaut. Brechts Formulierungskraft war großartig, und Kurt Weill hatte dazu Melodien erfunden, die an Einprägsamkeit nicht zu überbieten sind. Mit seinen "Songs", einem Verschnitt zwischen Schlager und Moritat, schuf er einen neuen Typus der Form, mit der sich Operettenhaftes und Parodistisches bestens verbinden ließ. Die Moritat von Mackie Messer, die zu Anfang und zum Schluß des Werks erklingt, wurde zu einem Weltevergreen. Das Stück war als Anklage gegen die kapitalistische Gesellschaft der "goldenen" zwanziger Jahre gedacht und sollte gleichzeitig einen neuen Musiktypus begründen, der von der damals noch vorherrschenden "klassischen Operette" zu den Musicals unserer Zeit einen Bogen spannte.<br />
<br />
<b>Zur Aufführung 1968</b><br />
<br />
Zur Legende der "Dreigroschenoper" gehört - neben dem turbulenten Verlauf der Proben für die Uraufführung - ihr verschlungener Weg durch die Schallplattengeschichte. Bis 1968, also bis vierzig Jahre nach der Berliner Premiere, sollte es dauern, bis die erste vollständige Fassung auf Platte erscheinen konnte, sowohl mit den Dialogen als auch mit den Songs. Die musikalische Leitung lag in Händen eines damals noch wenig bekannten Mannes: James Last. Ihm zur Seite stand ein Ensemble, das sich ebenso aus renommierten wie aus damals noch unbekannten Größen zusammensetzte. Man trifft nicht, wie gelegentlich in späteren Jahren, auf große Opernstimmen; man trifft ebenso wenig auf reine Revue-Sänger. Es ist vielmehr eine Melange aus echten Sing-Schauspielern: Helmut Qualtinger als Peachum und als dessen Gattin Berta Drews, Ehefrau von Heinrich George und Mutter von Götz. Karin Baal, die als "blonde Rebellin" den Zeitgeist der 50er und 60er Jahre verkörperte, sang und spielte Polly, Martin Held trat als Londons oberster Polizeichef auf, Dr. jur. Franz Josef Degenhardt, als Liedermacher eine der führenden Stimmen der 68er-Bewegung, übernahm die Rolle des Moritatensängers. Ein Jux am Rande: Als Ansager fungierte Deutschlands damals prominentester Nachrichtensprecher, Karl-Heinz Köpke. So entstand eine Aufnahme für den Platten-Hörer; daher wurde auf einige wenige bühnenrelevante Passagen verzichtet; es war eine Aufnahme, die in der Presse ein breites Echo fand, von entrüsteter Ablehnung bis enthusiastischer Begeisterung; eine Aufnahme, die niemanden kalt lassen wollte und konnte. In Brechts 50. Todesjahr [2006] ist diese Aufnahme dem Dornröschen-Schlaf in den Polydor-Archiven entrissen und dem Publikum nach digitalem remastering in neuem Klanggewand zugänglich gemacht worden. An der Aktualität des Werkes gibt es nichts zu deuteln. Für James Last hat Brechts und Weills Gemeinschaftsproduktion nach wie vor einen hohen Stellenwert: "Beide werden immer ihren Platz in den Kulturlandschaften haben müssen. Alleine dafür müssen wir allen jungen Interpreten dankbar sein, die immer wieder für neue Aufführungen sorgen.“<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: <a href="https://www.amazon.de/Die-Dreigroschenoper-Gesamtaufnahme-Bertolt-Brecht/dp/3829117973" target="_blank">Die Dreigroschenoper: Gesamtaufnahme Audio-CD – Hörbuch, 2006</a></i></span><br />
<br />
<pre>TRACKLIST
Kurt Weill (1900-1950)
Bertolt Brecht (1898-1956)
Die Dreigroschenoper
Theaterstück mit Musik
(01) Vorspiel 2:12
(02) Die Moritat von Mackie Messer 3:38
(Moritatensänger)
(03) Morgenchoral des Peachum 1:04
(Peachum)
(04) Der Anstatt-Dass-Song 1:49
(Peachum und seine Frau)
(05) Bill Lawgen und Mary Syer 0:41
(Chor)
(06) Die Seeräuber-Jenny 3:46
(Polly Peachum)
(07) Der Kanonensong 2:31
(Brown / Mackie Messer)
(08) Siehst du den Mond über Soho 1:36
(Polly Peachum / Mackie Messer)
(09) Einst glaubte ich, als ich noch unschuldig war 4:45
(Polly Peachum)
(10) Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit 2:15
(Frau Peachum)
(11) Erstes Dreigroschenfinale: Über die Unsicherheit
menschlicher Verhältnisse 3:37
(Polly Peachum / Peachum / Frau Peachum)
(12) Hübsch als es währte - Die Liebe dauert oder
dauert nicht 1:21
(Polly Peachum / Mackie Messer)
(13) Die Zuhälterballade 4:28
(Mackie Messer / Spelunken-Jenny)
(14) Die Ballade vom angenehmen Leben 2:44
(Mackie Messer)
(15) Eifersuchtsduett 1:10
(Polly Peachum / Lucy Brown)
(16) Zweites Dreigroschenfinale: Erst kommt das Fressen,
dann kommt die Moral 3:36
(Moritatensänger / Spelunken-Jenny / Chor)
(17) Die Ballade von der sexuellen Hörigkeit, 2. Teil 1:08
(Frau Peachum)
(18) Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen
Strebens 1:34
(Peachum)
(19) Salomo-Sonq 3:23
(Spelunken-Jenny)
(20) Ballade, in der Macheath jedermann Abbitte
leistet 3:54
(Mackie Messer)
(21) Drittes Dreigroschenfinale: Verfolgt das Unrecht
nicht zu sehr 5:54
(Polly Peachum / Frau Peachum / Spelunken-Jenny /
Mackie Messer / Brown / Peachum / Chor)
(22) Die Moritat von Mackie Messer (Schluss) 1:24
(Moritatensänger)
Gesamtspielzeit 58:30
Jonathan Jeremiah Peachum, Besitzer der Firma Bettlers Freund:
Helmut Qualtinger
Celia Peachum, seine Frau: Berta Drews
Polly Peachum, seine Tochter: Karin Baal
Macheath, genannt Mackie Messer: Hannes Messemer
Brown, oberster Polizeichef von London: Martin Held
Lucy seine Tochter: Sylvia Anders
Spelunken-Jenny: Hanne Wieder
Filch, ein Bettler: Hans Clarin
Moritatensänger: Franz-Josef Degenhardt
Ansager: Karl-Heinz Köpke
Musikalische Leitung: James Last
Aufnahme: 1968 Publikation: 2000
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: large;"><b><span style="color: red;">Heinrich Tietze:</span></b></span><br />
<span style="color: red;"><br /></span>
<b><span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;">DAS GROSSE FERMATSCHE PROBLEM</span></span></b><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhWj19z3ItPs1YpvwUf-frGvwPLwwn-gSLTxRNvyAjLWEVvUi29nUQ60CEvsNLBIbr1gkHdZZpFEif8sCDOkX_YWZu7AJBpTnZ7i5rNHNLMp7feSb6-ulPWujh2MT7uoWxwe5mJGg2B-AY/s1600/1ADiophantCover.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1261" data-original-width="800" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhWj19z3ItPs1YpvwUf-frGvwPLwwn-gSLTxRNvyAjLWEVvUi29nUQ60CEvsNLBIbr1gkHdZZpFEif8sCDOkX_YWZu7AJBpTnZ7i5rNHNLMp7feSb6-ulPWujh2MT7uoWxwe5mJGg2B-AY/s640/1ADiophantCover.jpg" width="403" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Buchdeckel der von Pierre de Fermats Sohn Clément-Samuel veröffentlichten<br />
Version der Arithmetica des Diophantos von 1670 mit den Bemerkungen<br />
seines Vaters. <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Diophantus-cover-Fermat.jpg" target="_blank">[Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Es gibt sehr alte mathematische Probleme, von denen in ziemlich weiten Kreisen zwar nicht immer eine klare Vorstellung herrscht von denen aber bekannt war, daß sie noch ungelöst seien und von denen geglaubt wurde, daß irgendwo ein Preis für ihre Lösung ausgeschrieben sei. Hierher gehört vor allem das Problem der Quadratur des Kreises, ebenso das der Dreiteilung eines Winkels; und man stößt auch heute noch hie und da auf Leute, die hier noch an Lösungen glauben, die man nur entdecken müsse, und an Preise, die man erwerben könne. Keineswegs so alt wie die genannten geometrischen Konstruktionsprobleme aus dem Altertum ist nun ein Problem, das uns der französische Mathematiker Fermat (1607-1665) hinterlassen hat. Und das Unglück, das hier geschehen ist, bestand darin, daß tatsächlich von einem für die Förderung der Wissenschaft begeisterten Mann, der sich selbst mit dem Problem befaßt hatte, — es war dies Dr. Paul Wolfskehl in Darmstadt — im Jahr 1908 ein Preis von 100.000 Mark gestiftet wurde; was nun zur Folge hatte, daß bei einer ungezählten Menge von Unberufenen der Entdeckertrieb erwachte und von vermeintlichen, mit Fehlern und Mißverständnissen behafteten Lösungen eine wahre Sintflut entstand, die erst wieder verebbt ist, seit der vor dem Krieg (nämlich vor 1914) in Papier-Mark hinterlegte Preis zugleich mit so vielen anderen Stiftungen durch die Inflation entwertet war. […]<br />
<br />
Wir beginnen mit den Quadratzahlen 1<sup>2</sup>, 2<sup>2</sup>, 3<sup>2</sup>, ... und fragen, ob es möglich ist, daß <i>die Summe zweier Quadratzahlen wieder eine Quadratzahl</i> ist. Immer wird die Summe zweier Quadratzahlen ja nicht wiederum eine Quadratzahl sein. Beispielsweise ist 1<sup>2</sup> + 2<sup>2</sup> = 1 + 4 = 5 keine Quadratzahl; ebensowenig ist es 1<sup>2</sup> + 3<sup>2</sup> = 1 + 9 = 10, oder auch 2<sup>2</sup> + 3<sup>2</sup> = 4 + 9 = 13. Aber vorkommen kann es schon, wie man am Beispiel 3<sup>2</sup> + 4<sup>2</sup> = 9 + 16 sieht, wo die Summe 25 = 5<sup>2</sup> selbst eine Quadratzahl ist. Die Antwort auf unsere Frage fällt also bejahend aus, und wenn man sich noch ein wenig umtut, dann findet man noch mehr Beispiele, wie 5<sup>2</sup> + 12<sup>2</sup> = 25 + 144 = 169 = 13<sup>2</sup> oder 15<sup>2</sup> + 8<sup>2</sup> = 225 + 64 = 289 = 17<sup>2</sup>. Man hat sogar — u. zw. schon im Altertum — eine vollständige Übersicht über alle möglichen solchen Fälle, deren es unendlich viele gibt, in Gestalt einer einfachen Formel sich verschaffen können. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXWVmw0EAg_t4jCvC3XfXc5k27Mh_Z3rbjAEa2rHmEdrCu3N-VUTdVPGd33RSMY7A1UYtERULguQHjaBIyZW-LRyLHbOFM35fimjaxGEEAt2EJQP71beHwgba_v2yX8z_mOYPA8R14JOI/s1600/2BDiophantPage.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1260" data-original-width="800" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXWVmw0EAg_t4jCvC3XfXc5k27Mh_Z3rbjAEa2rHmEdrCu3N-VUTdVPGd33RSMY7A1UYtERULguQHjaBIyZW-LRyLHbOFM35fimjaxGEEAt2EJQP71beHwgba_v2yX8z_mOYPA8R14JOI/s400/2BDiophantPage.jpg" width="253" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Diese Seite der Arithmetica von 1670 enthält <br />
Pierre de Fermats Randbemerkung.<a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Diophantus-II-8-Fermat.jpg" target="_blank"> [Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Wir gehen nunmehr über zur dritten Zeile unserer tabellarischen Zusammenstellung, wo alle dritten Potenzen der natürlichen Zahlen (die „Kubikzahlen“) verzeichnet zu denken sind. Und wiederum fragen wir: Kann es vorkommen, daß die Summe zweier Kubikzahlen wieder eine Kubikzahl ist? Hier kann ich Ihnen nun mit keinem Beispiel aufwarten. Denn es hat noch niemand ein Beispiel dafür gefunden,<br />
daß für drei natürliche Zahlen x, y, z die Gleichung<br />
<br />
x<sup>3</sup> + y<sup>3</sup> = z<sup>3</sup><br />
<br />
erfüllt wäre, obwohl mit der Frage, die ja im Anschluß an die Quadratzahlen recht nahe liegt, schon viele, denen die Neigung zum Basteln und Grübeln im Reich der ganzen Zahlen innewohnt, sich abgegeben haben. Die Vergeblichkeit des Suchens nach einer Lösung der Gleichung x<sup>3</sup> + y<sup>3</sup> = z<sup>3</sup> in drei natürlichen Zahlen x, y und z ließ nun bei manchem Mathematiker den Verdacht entstehen, es möchte überhaupt gar keine solchen Zahlen geben, was ja der einfachste Grund sein würde, daß man bis jetzt keine Lösung fand. Und so hat denn — wie man einer Schrift entnimmt, die den Scheich Abu Dschafar Muhamed Ibn Allusain zum Verfasser hat — bereits der arabische Astronom und Mathematiker <i>Alhogendi</i> um 970 einen — wenn auch nicht ausreichenden — Versuch gemacht, einen Beweis für die Unlösbarkeit der Gleichung x<sup>3</sup> + y<sup>3</sup> = z<sup>3</sup> in natürlichen Zahlen x, y, z zu geben. Auch bei dem persischen Mathematiker <i>Beha Eddin</i> (geb. 1547, gest. 1622 in Ispahan) kehrt die Angabe wieder, die Gleichung sei unlösbar. <br />
<br />
Was bei den dritten Potenzen vergeblich gesucht worden war, mißlang auch bei den vierten Potenzen; nämlich zwei vierte Potenzen von natürlichen Zahlen zu finden, deren Summe wieder eine solche vierte Potenz ist: Auch Lösungen der Gleichung<br />
<br />
x<sup>4</sup> + y<sup>4</sup> = z<sup>4</sup><br />
<br />
in natürlichen Zahlen x, y, z schienen nicht zu existieren oder allenfalls nur in so hohen Zahlbereichen, daß sie sich den naturgemäß mit nicht ganz großen Zahlen gemachten rechnerischen Versuchen entzogen. […]<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhycNXqXCrKRQZtV17KFYUeEuU0bF37wkcpptJFiP6hiRCjphPumsy56-69HxGGZ83X_8zX_uVcYS5UlDOZopg1SC6-2ClS2Z9lOTXsMrsT4GBIAIYA1h-cJcMtL1bE8GVAp4wnKTl1lwM/s1600/3CPierre_de_Fermat_%2528F._Poilly%2529.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="933" data-original-width="800" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhycNXqXCrKRQZtV17KFYUeEuU0bF37wkcpptJFiP6hiRCjphPumsy56-69HxGGZ83X_8zX_uVcYS5UlDOZopg1SC6-2ClS2Z9lOTXsMrsT4GBIAIYA1h-cJcMtL1bE8GVAp4wnKTl1lwM/s400/3CPierre_de_Fermat_%2528F._Poilly%2529.jpg" width="342" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Pierre de Fermat (1607-1665). <br />
Kupferstich von François de Poilly (1623-1693).<a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pierre_de_Fermat_(F._Poilly).jpg" target="_blank"> [Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Aber wie dem auch sei, so mochte wohl schon vor Fermat der eine oder andere Mathematiker die Mutmaßung gehabt haben, daß auch für größere Exponenten n (also für n = 5, n = 6, n = 7, usw.) die Gleichung<br />
<br />
x<sup>n</sup> + y<sup>n</sup> = z<sup>n</sup> <br />
<br />
keine Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z habe.<br />
<br />
Was aber die ganze Problemstellung dauernd mit dem Namen <i>Fermats</i> verknüpft hat, war der Umstand, daß er, der zu den angesehensten Mathematikern seiner Zeit zählte, behauptet hat, er besitze einen Beweis für die Unlösbarkeit aller Gleichungen von der eingeschriebenen Gestalt, das ist also <i>für alle Exponenten n von n = 3 aufwärts.</i> Mit dieser Behauptung, nicht zuletzt mit der ganzen Art, wie so manche seiner Entdeckungen bekanntgeworden sind, hat es nun eine eigene Bewandtnis.<br />
<br />
Seines großen Zeitgenossen und Rivalen <i>René Descartes</i> (1596 bis 1650), der in Europa kreuz und quer herumgekommen, schließlich, kurz nach seiner Ankunft am Hof der Königin Christine erst mit dem Tode Ruhe fand, haben wir in der III. Vorlesung gedacht. Wie ganz anders — fernab von den religiös-politischen und kriegerischen Kämpfen der Zeit des 30jährigen Krieges — verlief das Leben <i>Pierre de Fermats</i>, der am 17. August 1601 in dem kleinen Ort Beaumont de Lomagne bei Toulouse geboren, nur ganz selten aus Toulouse und seiner Umgebung herauskam; hier die Rechtswissenschaften studiert hatte, als er 1631 Parlamentsrat wurde, bald darauf sich verheiratete, in den folgenden Jahren geadelt wurde und am 12. Januar 1665 in Castres starb. Aber welche Fülle neuer Gedanken auf den verschiedensten Gebieten der Mathematik finden wir bei diesem Mann, dessen Tagesarbeit durch die regelmäßige Verwaltungstätigkeit seiner Vaterstadt in Anspruch genommen war! Fragen, die wir seit Newton (1643-1727) und Leibniz (1646-1716) mit dem systematisch durchgebildeten Rechenverfahren der Differential- und Integralrechnung erledigen, wurden schon damals von erfindungsreichen Mathematikern mit eigenen Methoden behandelt; und so wie Descartes hat hier Fermat Bedeutsames in der Lösung einzelner, speziell geometrischer Fragen, u. zw. mit einer genial gehandhabten Methode für Maximum- und Minimum-Probleme geleistet. Und wenn wir mit dem berühmten, 1637 erschienenen Buch „Géométrie“ von Descartes den Beginn einer „analytischen Geometrie“ datieren, so hatte gleichwohl auch Fermat‚ wie aus seinem Briefwechsel mit anderen Gelehrten nachweisbar ist, ganz unabhängig die Grundgedanken der analytischen Geometrie entwickelt, wenn er auch in keiner Weise die Priorität der Veröffentlichung Descartes bestreitet. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiz0OaxkQlA80L1mvA8cqtuCrbqBh_eozjeHVkfFSKlwWDEQ2OXWg-B3TrA9612kneKYWvzql7k6yNB0c7ho9EfPtYCFUO5aKZcgPSTUbnCLjVfArA-3wBR_6MvDDuU9lQAGWY1zoX_f2o/s1600/4Mersenne.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1023" data-original-width="754" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiz0OaxkQlA80L1mvA8cqtuCrbqBh_eozjeHVkfFSKlwWDEQ2OXWg-B3TrA9612kneKYWvzql7k6yNB0c7ho9EfPtYCFUO5aKZcgPSTUbnCLjVfArA-3wBR_6MvDDuU9lQAGWY1zoX_f2o/s400/4Mersenne.jpg" width="294" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Marin Mersenne (1588-1648). <br />
Kupferstich von P. Dupin, 1765. <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Marin_Mersenne._Line_engraving_by_P._Dupin,_1765._Wellcome_V0003990.jpg" target="_blank">[Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Noch war übrigens damals die Art, wie neue Ergebnisse der Fachwelt bekannt gemacht wurden, sehr verschieden von der heute üblichen, wo (zumindest in Friedenszeit) anerkannten Verfassern zur Drucklegung ihrer Manuskripte die Auswahl offensteht zwischen mannigfachen regelmäßig erscheinenden Fach- und Akademiezeitschriften, die es alle damals noch nicht gab. Auch erinnern wir uns aus den Streitigkeiten um die sogenannte Cardanische Formel für Gleichungen 3. Grades der Gepflogenheit, eigene Lösungen einer Frage zurückzuhalten und vorerst die fachliche Konkurrenz zur Lösung herauszufordem — eine Gepflogenheit, die noch zwei Generationen nach Fermats Zeit in einem weithin bekanntgewordenen Streit der verfeindeten Brüder Jakob und Johann Bernoulli lebendig war. Dabei wurde die Verbindung mit der Fachwelt — auch des Auslands — durch einen Briefwechsel hergestellt, der bei Fermat zumeist über gewisse Mittelspersonen geleitet wurde, wie den Minoritenpater Mersenne (1588-1648) in Paris (zeitweise auch im Kloster von Nevers), einen Mann von überaus großem wissenschaftlichem Bekanntenkreis. Aber auch in direktem Briefwechsel beschränkte man sich auf Mitteilungen von Resultaten und verschwieg den Weg, der zu ihnen führte. Und wie man bei Reisen oder in einsamen Gasthöfen hinsichtlich des Reisegepäcks, so fühlte sich der Gelehrte nicht sicher vor räuberischen Zugriffen nach seinem geistigen Eigentum, wie sie dadurch, daß die wissenschaftlichen Mitteilungen nicht sofort der gesamten Fachwelt unterbreitet werden konnten, möglich wurden und tatsächlich vorgekommen sind — als dunkle Flecken auf dem Charakter einzelner Forscher. Auch zwischen Fermat und Descartes, welch letzterer in Leyden wohl etwas bessere Gelegenheit zur Drucklegung hatte, gab es einmal durch unliebsame Indiskretionen eines Dritten mit den Druckbogen einer optischen Untersuchung eine Trübung, die aber dann durch einen an Descartes gerichteten Brief von Fermat behoben und in äußerst höflichen Formen beigelegt wurde.<br />
<br />
Auf dem Gebiet der Algebra, von dem Descartes’ Buch „Géométrie“ mehr enthält, als der Titel verrät, mag man Descartes den Vorrang vor den ebenfalls nicht unbedeutenden Leistungen Fermats geben. Unbestritten aber steht auf dem Gebiet, zu dem unsere oben besprochene Frage über die Gleichungen x<sup>n</sup> + y<sup>n</sup> = z<sup>n</sup> gehört, und das wir heute als <i>Zahlentheorie</i> bezeichnen, Fermat an der Spitze nicht nur seiner Zeitgenossen, sondern geradezu weithin auf einsamer Höhe. Aber in sehr eigenartiger Weise ist gerade auf diesem Gebiet sein großer schöpferischer Gedankenreichtum auf uns gekommen.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEifM2wgzhkoGU34Qx0U8dHTvRjB7CIFeU28c9PPJBxra7m1pboBaNqJxeoSOKyQSoGBhaj2P9dHEBmnjQ7o6mhSVa7p0v_s5bX4KmKMQLgT0hdmeOkB7i345Jw_nRQ6cmwEwuzQDglLi8M/s1600/5Euler.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="755" data-original-width="579" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEifM2wgzhkoGU34Qx0U8dHTvRjB7CIFeU28c9PPJBxra7m1pboBaNqJxeoSOKyQSoGBhaj2P9dHEBmnjQ7o6mhSVa7p0v_s5bX4KmKMQLgT0hdmeOkB7i345Jw_nRQ6cmwEwuzQDglLi8M/s400/5Euler.jpg" width="306" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Leonhard Euler (1707-1783). <br />
Pastel von Jakob Emanuel Handmann, 1753 <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Leonhard_Euler_by_Handmann.png" target="_blank">[Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Hier müssen wir in die Zeit der altgriechischen Mathematiker zurückgreifen, um den genialen Meister der Zahlentheorie zu finden, an den Fermat anknüpft: <i>Diophantos von Alexandria</i>. Das berühmte Werk „Arithmetisches“ Diophants enthält in seinem ersten Teil eine Art Vorlesung über die Elemente der <i>Algebra</i>, wie wir heute sagen würden, wobei eine — von den heutigen Formen des Buchstabenrechnens äußerlich natürlich abweichende — aber schon überaus systematische Bezeichnungsweise algebraischer Ausdrücke eingeführt wird. Ein zweiter Teil enthält eine große Anzahl von Einzelaufgaben und die an manche von ihnen angeschlossenen allgemeinen Aussagen stellen bedeutsame Ergebnisse eben jenes Teils der Mathematik dar, den man nunmehr als Zahlentheorie bezeichnet. In welchem Ausmaß das Werk, das seiner Einleitung nach 13 Bücher umfassen sollte, unvollständig auf uns gekommen ist und was es ursprünglich noch enthalten haben mag, darüber haben Geschichtsforscher unserer Wissenschaft mancherlei Überlegungen angestellt. […] Aus Angaben bei anderen Schriftstellern muß man oft versuchen, Fehlendes zu ergänzen. <br />
<br />
Über Diophant selbst erfährt man zwar aus einem — im Sinn seiner eigenen Aufgaben verfaßten — hübschen Rätselgedicht), daß er 84 Jahre alt wurde; aber außer den wenigen Angaben über Frau und Kind, die hinein verwoben sind, weiß man eigentlich nur, daß er in Alexandria gewirkt hat, nicht aber wann; und es bleibt Mutmaßung, er sei Zeitgenosse des 361-363 n. Chr. regierenden römischen Kaisers Julian Apostata gewesen.<br />
<br />
Wir überspringen nun rund 13 Jahrhunderte — vielleicht noch mehr — von der Abfassung des Diophantschen Werkes bis zu seiner ersten gedruckten Herausgabe im Jahre 1621. Und es ist ein Exemplar dieser Ausgabe, das eine besondere Bedeutung gewinnen sollte: dasjenige, das Fermat in Händen hatte. Auf den verschiedensten Seiten machte er Randbemerkungen, die tiefliegende, neue zahlentheoretische Erkenntnisse enthielten, ohne Angabe von Beweisen, wie er sie wohl manchmal anderwärts veröffentlicht hat. Raschen Publikationen waren ja weder die äußeren Umstände günstig, von denen wir schon kurz gesprochen haben und wozu wohl auch die berufliche Beanspruchung als Parlamentsrat zu rechnen ist, noch entsprachen sie den im Geist der Zeit gelegenen Neigungen von Fermat. Unter diesen Randbemerkungen zu Diophant aber findet sich eine, die die Unmöglichkeit der Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z für die Gleichung x<sup>3</sup> + y<sup>3</sup> = z<sup>3</sup>, desgleichen für x<sup>4</sup> + y<sup>4</sup> = z<sup>4</sup> und ganz allgemein für x<sup>n</sup> + y<sup>n</sup> = z<sup>n</sup>, mit jedem beliebigen Exponenten n größer als 2, behauptet, wobei Fermat ausdrücklich hinzufügt:<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhFuq6QcVD6E2uq9qDkmf4s97tK8nSoHO64jIZ63OTbMInyjLnI04X_GmqPQo854XoW9JDHrfXnk6fO2uWVsSXzVGfZqHBPFHzWzVMFKXCy_qz5lsKEWgLjJDnnJdwENRt_SazVjTR5Jm8/s1600/6Gauss.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1180" data-original-width="917" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhFuq6QcVD6E2uq9qDkmf4s97tK8nSoHO64jIZ63OTbMInyjLnI04X_GmqPQo854XoW9JDHrfXnk6fO2uWVsSXzVGfZqHBPFHzWzVMFKXCy_qz5lsKEWgLjJDnnJdwENRt_SazVjTR5Jm8/s400/6Gauss.jpg" width="310" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Carl Friedrich Gauß (1777-1855), <br />
Gemälde von Gottlieb Biermann, 1887 <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Carl_Friedrich_Gauss.jpg" target="_blank"> [Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
<i>„Hierfür habe ich einen wahrhaft wunderbaren Beweis entdeckt, aber der Rand ist zu schmal, ihn zu fassen."</i> <br />
["Cujus rei demonstrationem mirabilem sane detexi; hanc marginis exiguitas non caperet."]<br />
<br />
Dies die Behauptung Fermats. So steht es in einer vom Sohn Fermats nach dessen Tode herausgegebenen neuen Diophant-Ausgabe (1670), die diese und die anderen „Randbemerkungen“ bringt und dadurch ihren besonderen Wert erhielt.<br />
<br />
Ob Fermat, der sonst sehr sorgsam in der Form seiner Behauptungen war, wirklich einen lückenlosen Beweis besaß? Ob die Randbemerkung nur dem ersten Erschauen eines Weges durch das Labyrinth des Problems entsprang — eines Wegs, den näher auszubauen und auf seine Ausführbarkeit zu überprüfen, späterem Durcharbeiten vorbehalten blieb? Wir wissen es nicht. Und da alle uns erhaltenen und in Frage kommenden Briefe und Schriften aus dem Nachlaß längst auf das eingehendste durchforscht sind, werden wir es wohl nie erfahren. Wohl aber ist das bis heute ungelöste Problem, ob wirklich für jeden Exponenten n > 2 eine Lösung von x<sup>n</sup> + y<sup>n</sup> = z<sup>n</sup> in natürlichen Zahlen x, y, z <i>unmöglich</i> sei, dauernd mit dem Namen Formats verbunden geblieben und hat seinen Namen in weitere Kreise getragen, als alle seine unbestritten gesicherten mathematischen Erfolge.<br />
<br />
Allerdings hat man, besonders auch aus Hinweisen auf andere analoge Aussagen, einen Fingerzeig, in welcher Richtung das Beweisverfahren lag, das Fermat im Auge hatte. Zumal die ersten Erfolge, die später wenigstens in einigen Fällen zum Nachweis der Fermatschen Behauptung führten, in der gleichen Richtung liegen. Der Gedanke, von dem dabei zunächst ausgegangen ist, liegt recht nahe, wenn man sich vergegenwärtigt, daß beispielsweise im Falle des Exponenten n = 4 ein weiter Bereich von Zahlen x, y daraufhin durchprobiert war, ob nicht vielleicht einmal eine Summe x<sup>4</sup> + y<sup>4</sup> selbst gleich einer vierten Potenz z<sup>4</sup> sei. Wenn also die Gleichung x<sup>4</sup> + y<sup>4</sup> = z<sup>4</sup> überhaupt eine Lösung haben sollte, dann jedenfalls nur in recht hohen Zahlen, die außerhalb des rechnerisch durchforschten Bereichs liegen. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg7DBaDGQdbxG6MG5V0Bm1_ci5OfNPoXOQK4Uhm552ad6n-bN61nlCSRsZlwElx-j0Xo2v8FK4Ih6aQ3VgShX61cvYpUWIgTrJhqIo6Q2xAMXFpMBgte84qPlgVwmdxGOYuX2lvE6RYf3A/s1600/7Kummer.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="415" data-original-width="300" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg7DBaDGQdbxG6MG5V0Bm1_ci5OfNPoXOQK4Uhm552ad6n-bN61nlCSRsZlwElx-j0Xo2v8FK4Ih6aQ3VgShX61cvYpUWIgTrJhqIo6Q2xAMXFpMBgte84qPlgVwmdxGOYuX2lvE6RYf3A/s400/7Kummer.jpg" width="289" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ernst Eduard Kummer (1810-1893) </td></tr>
</tbody></table>
Wir haben schon bei früheren Gelegenheiten betont, daß man niemals den unendlichen Gesamtbereich aller Zahlen mit der Methode des Durchprobierens erschöpfen könne und daß zum Nachweis der allgemeinen Gültigkeit einer Behauptung ein geeigneter neuer Gedanke erforderlich sei. Wie steht es nun, wenn sich aus der Annahme einer Lösung von x<sup>4</sup> + y<sup>4</sup> = z<sup>4</sup> in Zahlen x, y, z, die vielleicht ganz ungeheuer groß sein mögen, erschließen ließe, daß dann stets auch eine andere Lösung in wenigstens etwas kleineren Zahlen, sagen wir in höchstens halb so großen Zahlen existieren muß? Nimmt man an, der Bereich unter 10.000 sei rechnerisch durchforscht und es haben sich darin keine Zahlen x, y, z gefunden, so daß für sie die Gleichung x<sup>4</sup> + y<sup>4</sup> = z<sup>4</sup> gelten würde. Unsere Schlußweise würde dann sofort gestatten, zu behaupten, daß auch im Bereich bis 20.000 keine Lösung anzutreffen sein wird, weil ja aus ihr auf eine Lösung unter 10.000 geschlossen werden könnte. Nun aber ist wieder klar, daß auch bis 40.000 keine Lösung liegen kann, da aus ihr auf eine unter 20.000 zu schließen wäre. Ein solches Schlußverfahren würde uns also jedes weiteren Probierens entheben: die Behauptung, daß es überhaupt keine Lösung geben kann, wäre gesichert.<br />
<br />
In einem Bruchstück eines angefangenen, aber nicht vollendeten Aufsatzes, der auf der Leydener Bibliothek entdeckt wurde, spricht Fermat von einer Methode der „unendlichen oder unbegrenzten Abnahme“ („la descente infinie ou indéfinie“). Diese Bezeichnung trifft aber genau das Wesen der eben geschilderten Schlußweise.<br />
<br />
Ob nun Fermat wirklich eine solche Schlußweise für das Problem der Gleichung x<sup>n</sup> + y<sup>n</sup> = z<sup>n</sup> besaß, u. zw. für jeden beliebigen Exponenten n und nicht nur für n = 4, wo man dies mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit annehmen darf, wird wohl immer im Dunkel bleiben. Denn wenn auch in einzelnen Fällen Erfolge erzielt wurden, so sind doch durch nunmehr zweieinhalb Jahrhunderte die Bemühungen der verschiedensten Forscher, in der angedeuteten Richtung einen allgemein gültigen Beweis zu entdecken, in welchem man dann den Beweis Fermats vermuten könnte, vergeblich geblieben.<br />
<br />
Zu mächtigen Anregungen in der Weiterentwicklung der Zahlentheorie haben aber die Gedanken und Fragestellungen Fermats — und nicht zum wenigsten seine „Randbemerkungen“ zu Diophant — geführt. Gerade das nach ihm benannte Problem der Lösungen von x<sup>n</sup> + y<sup>n</sup> = z<sup>n</sup>, das uns heute beschäftigt, spielt dabei keine kleine Rolle, da von ihm aus ganz neuartige Zweige der Zahlentheorie sich entwickelten.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhkOjX1dNb9d8FkRj1UauZaXqRBKm2_qQ7dsLVFa6CjDKGtrEHB8vL7V-GmKkJuusQxJNv1nnlF18Ik8G2PQW8gws3Cq24Q3PZK82g-ubHhVCXz5P_cLk82eDPuYCrVhCZh6RuoNKiNWIM/s1600/8Wiles.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1067" data-original-width="800" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhkOjX1dNb9d8FkRj1UauZaXqRBKm2_qQ7dsLVFa6CjDKGtrEHB8vL7V-GmKkJuusQxJNv1nnlF18Ik8G2PQW8gws3Cq24Q3PZK82g-ubHhVCXz5P_cLk82eDPuYCrVhCZh6RuoNKiNWIM/s400/8Wiles.jpg" width="298" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Andrew Wiles (* 1953), der den Großen Fermatschen<br />
Satz erst 1994 bewiesen hat. <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Andrew_wiles1-3.jpg" target="_blank">[Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Bleiben wir aber vorerst beim Fermatschen Problem selbst und berichten wir über den dermaligen Stand und wie sich nach Fermat die Dinge entwickelt haben! Es waren gewisse einzelne Werte des Exponenten n, für welche zunächst die Fermatsche Behauptung bewiesen werden konnte. Und zwar ist es nicht der Exponent n = 3, also nicht die Gleichung x<sup>3</sup> + y<sup>3</sup> = z<sup>3</sup> gewesen, für die man zuerst die Unmöglichkeit einer Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z nachweisen konnte, sondern die Gleichung x<sup>4</sup> + y<sup>4</sup> = z<sup>4</sup>, also der Exponent n = 4. Hier ergaben historische Nachforschungen, daß schon <i>Frénicle de Bessy</i> (der etwa 1602-1675 lebte) in einer 1676 erschienenen Schrift einen Beweis darlegte, von dem man annimmt, daß er mit Gedankengängen übereinstimmt, die schon Fermat für diesen Fall skizzierte. Ohne etwas von der nicht sehr bekanntgewordenen Untersuchung Frènicles zu wissen, hat sieben Jahrzehnte später, im Jahre 1747, der berühmte Mathematiker <i>Euler</i> nicht nur das gleiche Resultat bezüglich der Gleichung x<sup>4</sup> + y<sup>4</sup> = z<sup>4</sup> gewonnen, sondern er hat 1763 unbestritten als erster in dem wesentlich schwierigeren Fall x<sup>3</sup> + y<sup>3</sup> = z<sup>3</sup> die Unmöglichkeit einer Lösung in natürlichen Zahlen x, y, z zu beweisen vermocht‚ so daß man ihn als den ersten Bahnbrecher auf dem Gebiet des berühmten Problems angesehen hat. […]<br />
<br />
Wieder verging mehr als ein halbes Jahrhundert, bis der Fall des Exponenten n = 5 und vierzehn Jahre später n = 7 erledigt werden konnte. Hat sich der erste der damals lebenden Mathematiker, der große <i>Gauß</i>, der so viele und verschiedenartige Probleme zu bewältigen wußte, niemals mit der von Fermat der Nachwelt hinterlassenen Aufgabe befaßt? Warum hat er dieses Problem nie erwähnt? Hielt er die Zeit dafür noch nicht reif und jene Gebiete noch nicht weit genug ausgebaut, auf denen fußend nachmals <i>E. E. Kummer</i> die bis heute weitreichendsten Fortschritte erzielen sollte? Gauß’ Nachlaß hat ergeben, daß er für die vorgenannten Fälle n = 5, n =: 7 etwa dieselben Beweise skizziert hatte, die dann von Dirichlet und Lamé veröffentlicht wurden. Hat er darin vielleicht nur Vorbereitungen zu einem allgemeinen Beweis für beliebige Exponenten n gesehen, den er nachmals, beim damaligen Stand der Zahlentheorie, noch nicht für fällig ansah? Wenn dies das Urteil eines Gauß gewesen sein konnte, soll man da nun lachen oder weinen über jene eingangs erwähnten vielzu vielen Preiswerber und über all die Harmlosen, die ohne Kenntnis vom Stand der Wissenschaft sich gleich an die Bezwingung ihrer schwerstumworbenen Probleme wagen?<br />
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<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhmv1X5pLW7c_nWunLWhBNPGMcwGhyphenhyphen6oKgbKfLfU75XieRb1FPWNu0vYxzVuobYXT1HI_MJCslYELI5lowEHB_DXB2B7GZAFDEpR4r0GNHYz1-s0znhYDW9ZooqYdqWZKcrgB6ZpxPH1W8/s1600/9klein.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1063" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhmv1X5pLW7c_nWunLWhBNPGMcwGhyphenhyphen6oKgbKfLfU75XieRb1FPWNu0vYxzVuobYXT1HI_MJCslYELI5lowEHB_DXB2B7GZAFDEpR4r0GNHYz1-s0znhYDW9ZooqYdqWZKcrgB6ZpxPH1W8/s320/9klein.jpg" width="211" /></a></div>
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Heinrich Tietze: Gelöste und ungelöste mathematische Probleme aus alter und neuer Zeit. Band 2. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1982. ISBN 3-423-04399-7. Zitiert wurden Auszüge aus der 13. Vorlesung - Seite 104 bis 118</i></span><br />
<br />
<span style="font-size: x-small;">Tietze (1880-1964) hielt seine Vorlesungen in den 40er-Jahren des vorigen Jahrhunderts und konnte den Beweis der Fermatschen Vermutung nicht mehr erleben. </span><br />
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<b>Hineinhören: (Weitere Hörbücher in der Kammermusikkammer)</b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/05/ts-eliot-waste-land-and-other-poems-das.html" target="_blank">T.S. Eliot: The Waste Land and Other Poems / Das Öde Land und andere Gedichte (zweisprachig) | Die unerträgliche Leichtigkeit des Zeichnens: Die Kunst Paul Floras</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/10/kuriose-wortspiele-schelmereien-von.html" target="_blank">Kuriose Wortspiele: Schelmereien von Heinz Erhardt | »Der Teppich ist mein bestes Stück!« Herbert Boeckls Bildteppich „Die Welt und der Mensch”</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/04/oskar-werner-spricht-gedichte-von.html" target="_blank">Oskar Werner spricht Gedichte von Mörike, Heine, Saint-Exupéry, Trakl | Traum und Wirklichkeit: George Grosz im Exil - Die amerikanischen Jahre (1933-1959)</a><br />
<br />
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<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 6 MB </b><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-25742189797154103022019-11-18T10:55:00.004+01:002019-11-18T10:55:54.682+01:00Francis Poulenc: Klavierwerke<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiFb4fTRYoIE124tbSxL4MHRKEXrLuHUZkSXZT9_j0MUi7YEQIHJutBo_W41gm2DadvWExruDPprWlzxw4ivSSPfs8RQbIK7XL4R5Pr6CsANakwqNi2kkcP7uWuYCSF6pZ_9smsp5I40-k/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1424" data-original-width="1437" height="317" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiFb4fTRYoIE124tbSxL4MHRKEXrLuHUZkSXZT9_j0MUi7YEQIHJutBo_W41gm2DadvWExruDPprWlzxw4ivSSPfs8RQbIK7XL4R5Pr6CsANakwqNi2kkcP7uWuYCSF6pZ_9smsp5I40-k/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Der Komponist Francis Poulenc wurde im Jahr 1899 in eine wohlhabende Familie von Pharmaindustriellen hineingeboren. Seine Mutter, eine ausgezeichnete Pianistin, gab ihm die ersten Klavierstunden‚ als er erst fünf Jahre alt war. Als zehnjähriger konnte er einige Gedichte von Mallarmé auswendig hersagen und mit 16 Jahren nahm er Unterricht bei Ricardo Viñes, dem Freund von Debussy und Ravel, deren Werke er interpretierte. 1918 wurde Poulenc mit den Komponisten Georges Auric, Arthur Honegger, Darius Milhaud und Eric Satie bekannt; letzterer war der Widmungsträger seiner ersten veröffentlichten Komposition, der <i>Rapsodie nègre</i>. Im Jahr 1920 verlieh der französische Musikkritiker Henri Collet Poulenc, Auric, Honegger, Milhaud, Louis Durey und Germaine Tailleferre den Beinamen „Groupe des Six“. Diese von Satie und Jean Cocteau beeinflussten Komponisten standen infolge ihrer fortschrittlichen Ideen in einem etwas dubiosen Ruf. <br />
<br />
Die vorliegende CD beginnt mit den <i>Trois Mouvements perpétuels</i> (1918), die bei pianistischen Amateuren beliebt waren. Im Jahr 1924 verbreitete sich Poulencs Ruhm dank seiner Musik für Diaghilevs Ballet <i>Les Biches</i> auch außerhalb von Paris. Etwa zehn Jahre später kam sein Freund Pierre-Octave Ferraud bei einem Autounfall ums Leben; dieses Ereignis berührte ihn so tief, dass er sich wieder dem katholischen Glauben seiner Familie zuwandte. Er schrieb eine Reihe von Chorwerken über geistliche Texte, sowohl a cappella als auch mit Orchesterbegleitung. Diese Chorwerke und viele andere markante Kompositionen für Klavier, verschiedene Kammermusikbesetzungen, Orchester, sowie Lieder und Opern bilden seinen unverwechselbaren Nachlass. Während des Zweiten Weltkriegs lebte er im besetzten Teil Frankreichs und 1947 hatte er mit seiner ersten Oper, <i>Les Mamelles de Tirésias</i>, einen Riesenerfolg. Im folgenden Jahr besuchte er die Vereinigten Staaten zum ersten Mal. 1963 steckte er mitten in der Arbeit an seiner vierten Oper über Cocteaus <i>La Machine infernale</i>, als er in Paris einem Herzanfall erlag.<br />
<br />
Kennzeichen von Poulencs Œuvre sind das warm leuchtende Kolorit, die rhythmische Vitalität und originelle Harmonik; dazu kam eine ausgesprochen individuelle Synthese von Humor und Melodik (und, wie er selber postulierte, „beaucoup de pedale“). Diese Eigenheiten kommen in der Auswahl der vorliegenden CD, die etwa ein Drittel seiner solistischen Klavierwerke enthält, gut zur Geltung. Der überwiegende Teil seiner Kompositionen für das Instrument stammt aus den frühen 1930er Jahren; allerdings entstanden die ältesten hier aufgenommenen Werke — die <i>Trois Mouvements perpétuels</i> und die Sonate zu vier Händen — schon 1918, und die dritte <i>Novelette</i>, sein letztes Werk für Klavier solo, viel später, nämlich 1959. Poulenc behauptete, sein einfallsreichster Klaviersatz sei in der Begleitung seiner Lieder zu finden, aber seine solistischen Stücke sind von seinem ganz individuellen Stil belebt. Am Klavier fand Poulenc an erster Stelle seine kompositorische Sprache; nach eigener Aussage konnte er nie die Freude am Klavierspielen vom Bedürfnis zu komponieren trennen.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Anonymus, im Booklet</i></span><br />
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<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgGmGzcjAuzHfGGfGwQo6X6nxAjgvbS2Mx-n-E3VV0Dk3Ba-Ld8Ct3PdPVuJ2iaNtO6wukMliyPYaiWKZ0DQRV0MqCHeviZ5klDHa2Ja-ZN3qyjowHn8mrSx29EOuMVy0p8o76THqSHTic/s1600/Poulenc.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1129" data-original-width="1299" height="347" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgGmGzcjAuzHfGGfGwQo6X6nxAjgvbS2Mx-n-E3VV0Dk3Ba-Ld8Ct3PdPVuJ2iaNtO6wukMliyPYaiWKZ0DQRV0MqCHeviZ5klDHa2Ja-ZN3qyjowHn8mrSx29EOuMVy0p8o76THqSHTic/s400/Poulenc.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Francis Poulenc (1899-1963)</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<pre>TRACKLIST
Francis Poulenc (1899-1963)
Klavierwerke
Trois Mouvements perpétuels (1918)
01. I. Assze modéré 01:19
02. II. Très modéré 01:01
03. III. Alerte 02:43
Trois Novelettes
04. Nr.1 C-Dur (1928) 02:54
05. Nr.2 b-moll (1928) 01:59
06. Nr.3 e-moll (1959) 02:23
07. Valse C-Dur (1919) 01:51
08. Pastourelle (1927) 02:11
Suite française (1936)
09. Bransle de Bourgogne 01:38
10. Pavane 02:33
11. Petite marche militaire 01:00
12. Complainte 01:24
13. Bransle de Champagne 01:55
14. Sicilienne 01:31
15. Carillon 01:46
16. Presto B-Dur (1934) 01:36
Sonate pour Piano à quatre mains (1918)*
17. I. Prélude 02:11
18. II. Rustique 01:54
19. III. Finale (très vite) 01:52
20. L'Embarquement pour Cythere (1951)* 02:08
Suite C-Dur (1920)
21. I. Presto 01:57
22. II. Andante 02:04
23. III. Vif 01:28
Trois Pièces (1928)
24. Pastorale 02:27
25. Hymne 04:11
26. Toccata 02:03
27. Mélancolie (1940) 05:43
28. Humoresque (1934) 01:45
Trois Intermezzi
29. Nr.1 C-Dur (1934) 01:40
30. Nr.2 Des-Dur (1934) 02:11
31. Nr.3 As-Dur (1943) 04:16
Villageoises (1933)
32. Valse tyrolienne 00:36
33. Staccato 00:46
34. Rustique 00:39
35. Polka 00:31
36. Petite ronde 00:41
37. Coda 00:54
38. Française (1939) 01:36
39. Bourrée au Pavillon d'Auvergne (1937) 01:35
Gesamt 75:07
Gabriel Tacchino, Klavier
*mit Jacques Février, Klavier
Aufgenommen: XII 1966 (1-8), III 1967 (9-16), X - XI 1972 (17-20), IV 1979 (21-23), X 1980 (24-28),
V 1982 (29-31), XII 1983 (32-38), X 1983 (39), Salle Wagram, Paris.
Produzent: Eric Macleod
Tonmeister: Paul Vavasseur (1-20), Serge Remy (21-23, 27-39), Daniel Michel & Serge Remy (24-26)
(P) 1968, 1973, 1982, 1985
(C) Compilation 2003
</pre>
<br />
<br />
<span style="color: red;"><b><span style="font-size: x-large;">Lukian: Das Gastmahl oder die Lapithen</span></b></span><br />
<br />
<b>(Philon (PHI) und Lykinos (LYK) (1,17)</b><br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh9DppoCm2966N5KAk12CY0djeOO9kRwLXg5sQErRaSSxIlO9B9PQoxfdbB3bMy2d_necy63C-HPh-rWk6sX-loqUjmnCK9nc_AOvvYNhbNtntcJyG-0G2svRuMNPDQA8yQaJAWGRvfuYg/s1600/1G.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="479" data-original-width="1600" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh9DppoCm2966N5KAk12CY0djeOO9kRwLXg5sQErRaSSxIlO9B9PQoxfdbB3bMy2d_necy63C-HPh-rWk6sX-loqUjmnCK9nc_AOvvYNhbNtntcJyG-0G2svRuMNPDQA8yQaJAWGRvfuYg/s1600/1G.jpg" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: left;"><a href="http://ancientrome.ru/art/artworken/img.htm?id=6810" target="_blank">Kentauromachie. Frontplatte eines Sarkophags, um 150 n.Chr, Marmor. Archäologisches Museum, Ostia</a></td></tr>
</tbody></table>
PHI. […] Aber sag mir zuerst: Hatte euch Aristainetos zur Hochzeit seines Sohnes Zenon eingeladen?<br />
<br />
LYK. Nein, es war seine Tochter Kleanthis, die er dem Sohn des Eukritos zur Frau gab — du weißt schon: Vater Geldverleiher, Sohn Philosophiestudent.<br />
<br />
PHI. Beim Zeus, ein ausnehmend hübsches Bürschchen, aber er ist doch noch ein zarter Junge und kaum alt genug, um zu heiraten!<br />
<br />
LYK. Einen passenderen hatte er aber nicht, glaube ich. Und weil der einen ordentlichen Eindruck machte, sich zur Philosophie hingezogen fühlt und außerdem der einzige Sohn des reichen Eukritos ist, da hat er ihm vor allen anderen den Vorzug als Bräutigam gegeben.<br />
<br />
PHI. Eukritos’ Geld — da nennst du keinen kleinen Grund! Jetzt aber, Lykinos: Wer waren die Gäste?<br />
<br />
LYK. Warum sollte ich dir die übrigen alle aufzählen? Die Vertreter von Philosophie und Rhetorik hingegen, von denen du, glaube ich, in erster Linie hören willst, waren der alte Stoiker Zenothemis und mit ihm Diphilos‚ genannt ›Labyrinth‹, der Lehrer von Aristainetos’ Sohn Zenon; von den Peripatetikern Kleodemos, du weißt schon, der Zungenfertige, der Disputiermeister, ›Schwert‹ nennen ihn seine Schüler und ›Beil‹. Es war aber auch der Epikureer Hermon da, und schon bei seinem Eintreten sahen ihn die Stoiker böse an, wandten sich ab und bekundeten deutlich ihren Abscheu vor ihm wie vor einem Vatermörder und verfluchten Frevler. Sie alle waren als Aristainetos’ eigene Freunde und Bekannte zum Fest eingeladen worden, und mit ihnen der Grammatiker Histiaios und der Rhetor Dionysodoros. Chaireas, dem Bräutigam, zu Gefallen war auch sein Lehrer, der Platoniker Ion, zu Gast, ehrwürdig anzuschauen, jeder Zoll divin‚ und Zucht und Unbescholtenheit standen ihm ins Gesicht geschrieben: Schließlich nennen ihn die meisten ja auch ›Maßstab‹ mit Blick auf die Geradheit seiner Anschauungen. Bei seiner Ankunft machten ihm alle Platz und begrüßten ihn wie einen von den Mächtigen, kurz: der Herrgott auf Besuch, das war’s, daß der vielbestaunte Ion gekommen war.<br />
<br />
Schon wurde es Zeit, sich auf den Klinen niederzulassen, es waren beinahe alle da; auf der rechten Seite der Eintretenden nahmen die Frauen das ganze Liegesofa ein, ziemlich viele waren es, und unter ihnen die Braut, sorgfältigst verschleiert, von den Frauen schützend umgeben. Gegenüber der Tür lagen all die übrigen, jeder nach seinem Rang. Den Frauen gegenüber lagen zuerst Eukritos, dann Aristainetos. Dann gab es eine Diskussion, ob nun zuerst Zenothemis der Stoiker seinem Alter entsprechend folgen solle oder Hermon der Epikureer: Denn er war Priester der Dioskuren und entstammte der ersten Familie der Stadt. Doch Zenothemis löste diese Aporie: »Aristainetos,« sagte er, »wenn du mich hinter diesem Hermon da auf den zweiten Platz verweist, einem, um kein anderes Schimpfwort zu gebrauchen, Epikureer, dann lasse ich dich mit deinem ganzen Symposion hier stehen und gehe.« Mit diesen Worten rief er schon nach seinem Sklaven und sah aus, als wolle er den Raum verlassen. Da sagte Hermon: »Dann setz dich eben auf den ersten Platz, Zenothemis; allerdings hätte es dir gut zu Gesicht gestanden, einem Priester Platz zu machen, wenn schon aus keinem anderen Grund, wie sehr auch immer du den göttlichen Epikur verachtest.« — »Daß ich nicht lache‚« sagte Zenothemis, »ein Epikureer — und Priester!« und mit diesen Worten nahm er Platz, nach ihm dann trotzdem Hermon, dann Kleodemos der Peripatetiker, dann Ion und unterhalb von ihm der Bräutigam, dann ich, neben mir Diphilos und unterhalb von ihm sein Schüler Zenon, dann der Rhetor Dionysodoros und der Grammatiker Histiaios.<br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh4ldhM-eStWvPECFDAgJiOmvlHV2DFVdcDwmWgBtfAGQbDOXEb_wy0rYZkwJnDHAIqWfhpGsmSYTBUDalNdQj_D50K64L8-viHrzCutg9iBBvu8KjHpSSuk5ikifcztqAnuO6VFkVI7Vc/s1600/2B.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="778" data-original-width="1024" height="302" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh4ldhM-eStWvPECFDAgJiOmvlHV2DFVdcDwmWgBtfAGQbDOXEb_wy0rYZkwJnDHAIqWfhpGsmSYTBUDalNdQj_D50K64L8-viHrzCutg9iBBvu8KjHpSSuk5ikifcztqAnuO6VFkVI7Vc/s400/2B.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai, <br />
Westliche Langseite, Platte 528. British Museum, London</td></tr>
</tbody></table>
PHI. Potztausend, Lykinos, geradezu ein Musenheiligtum beschreibst du da, ein Symposion von fast ausschließlich weisen Männern, und ich muß den Aristainetos wirklich für seine Entscheidung loben, zu einem großen und wichtigen Fest anstelle anderer Leute die Weisesten der Weisen einzuladen, eine Blütenlese der jeweiligen Schulen, und nicht die einen schon, aber die anderen nicht, sondern alle ohne Unterschied.<br />
<br />
LYK. Er gehört eben, lieber Freund, nicht zu diesen Allerweltsreichen, sondern die Bildung liegt ihm am Herzen, und er verbringt die meiste Zeit seines Lebens mit diesen Leuten.<br />
<br />
Nun, das Essen verlief zuerst ganz ruhig, und die Speisenfolge war abwechslungsreich. Aber ich denke doch, das muß ich dir nicht alles aufzählen, die Brühen und die Kuchen und die übrigen leckeren Sachen: von allem im Überfluß. Indessen beugte sich Kleodemos zu Ion: »Siehst du den Alten«, sagte er — er meinte Zenothemis, ich hörte nämlich zu —, »wie er sich mit den Köstlichkeiten vollstopft‚ wie er sich seinen Umhang mit Suppe bekleckert, und was er alles seinem Sklaven hinter sich gibt: Und er glaubt, die anderen würden es nicht merken, aber er denkt nicht an die in seinem Rücken! Zeig das auch mal dem Lykinos, damit er Zeuge ist!« Ich brauchte aber Ions Hinweis gar nicht, hatte ich es doch schon viel früher bemerkt, da ich von meinem Platz aus alles gut überblicken konnte. <br />
<br />
Kaum hatte Kleodemos das gesagt, da platzte uneingeladen der Kyniker Alkidamas herein, jenes bekannte Scherzwort auf den Lippen, wonach »ungerufen erschien Menelaos«. Die meisten fanden das unverschämt und unterbrachen ihn mit naheliegenden Entgegnungen: »Töricht handelst du, Menelaos«, skandierte der eine, der andere: »Nur Agamemnon, dem Sohne des Atreus, behagte das gar nicht«, und brummelten noch weitere zur Situation passende und elegante Bemerkungen in ihre Bärte: Offen zu reden traute sich allerdings keiner, denn sie fürchteten sich vor Alkidamas, der eben wirklich ein »Meister im Schlachtruf« ist und von allen Hunden der lärmendste Kläffer. Deshalb hielten ihn auch alle für eine bedeutende Persönlichkeit, und er jagte jedermann gewaltige Angst ein. Aristainetos wollte ihn auf einen Sessel neben Histiaios und Dionysodoros komplimentieren, aber er sagte: »Zum Teufel damit! Sessel und Liegen sind was für Weiber und Schlappschwänze wie euch, die ihr euch da auf diesem weichen Lager ausstreckt, ach was: fläzt, und es euch, auf Purpur gebettet, schmecken laßt. Ich hingegen ziehe es vor, im Stehen zu essen und dabei im Speisesaal auf und ab zu gehen. Und sollte ich müde werden, dann lege ich mich auf meinen Mantel und stütze mich auf den Ellbogen, wie Herakles auf den Bildern.« — »Aber bitte doch«, sagte Aristainetos, »wenn es dir so lieber ist.« Und so spazierte Alkidamas von nun an während des Essens im Kreis herum und wechselte wie die Skythen stets zur fetteren Weide, immer auf den Spuren der Speisenträger. […]<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjRsjmn09SRkyAHeInExiEWPsdJt4tj1iG0lb8C84TAguSmnoMp8_LGMjBerNvnKr-xrWCpwsifnJILh31Fk592JS-K_Xr6Hmtm-TjzyLdKwnNnADJLLySZ4oOmqv_ZXeHcxuO5pWjJ1w0/s1600/3C.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="789" data-original-width="1024" height="307" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjRsjmn09SRkyAHeInExiEWPsdJt4tj1iG0lb8C84TAguSmnoMp8_LGMjBerNvnKr-xrWCpwsifnJILh31Fk592JS-K_Xr6Hmtm-TjzyLdKwnNnADJLLySZ4oOmqv_ZXeHcxuO5pWjJ1w0/s400/3C.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,<br />
Südliche Schmalseite, Platte 526. British Museum, London</td></tr>
</tbody></table>
Auch bei den anderen Gästen kreiste der Becher jetzt unaufhörlich, man prostete einander zu und unterhielt sich, Lichter wurden hereingebracht. Da sah ich in all dem Getriebe den Diener, der bei Kleodemos stand, einen hübschen Mundschenk, verstohlen lächeln — ich soll ja wohl, denke ich, auch alles erzählen, was sich am Rande des Festes ereignete, vor allem, wenn es sich um delikatere Dinge handelt —, und gleich ließ ich ihn nicht mehr aus den Augen, um herauszufinden, warum er lächelte. Kurz darauf kam er nach vorn, um Kleodemos’ Schale entgegenzunehmen, der aber streichelte seinen Finger und drückte ihm, glaube ich, mit der Schale zwei Drachmen in die Hand. Der Diener lächelte wieder, als er ihm den Finger streichelte, allerdings bemerkte er, glaube ich, die Münzen nicht: So entglitten sie seinen Fingern und fielen geräuschvoll zu Boden, was die beiden erröten ließ, und zwar ziemlich. Die Gäste unmittelbar daneben fragten sich, wem die Münzen gehören könnten‚ denn der Diener bestritt, sie verloren zu haben, und Kleodemos, an dessen Platz das Geräusch zu hören gewesen war, tat so, als ob er sie nicht hätte fallen lassen. Nun, man wandte sich darüber anderen Dingen zu und vergaß die ganze Sache: Es hatten ohnehin nicht sehr viele mitbekommen, außer einem, wie mir schien: Aristainetos. Der ließ nämlich kurz darauf den Diener sich diskret entfernen und befahl zu Kleodemos einen von den schon älteren und kräftigen, einen Esel- oder Pferdetreiber. Ja, so ging diese Angelegenheit also aus, und es hätte für Kleodemos reichlich peinlich werden können, wenn sie bei allen Gästen die Runde gemacht hätte und nicht sofort von Aristainetos im Keim erstickt worden wäre, der den Übermut der Zecher bestens im Griff hatte. […]<br />
<br />
Die meisten waren jetzt schon stark angeheitert, und der Speisesaal hallte wider von ihren lauten Unterhaltungen: Dionysodoros‚ der Rhetor, deklamierte irgendwelche von seinen Reden, eine nach der anderen, und sonnte sich in der Bewunderung der hinter ihm aufwartenden Diener; der Grammatiker Histiaios, der neben ihm lag, rezitierte Gedichte und vermischte dabei Verse von Pindar, Hesiod und Anakreon, so daß daraus ein einzelnes Lied entstand, das fürchterlich komisch war, vor allem aber, gerade als ob er das Kommende vorausgesagt hätte, diese Verse: »Sie ließen ihre Schilde zusammenstoßen«, und »gleichzeitig schrieen sie da vor Schmerz und vor Jubel«. Zenothemis hingegen las währenddessen aus einem Buch mit kleiner Schrift vor, das er sich von seinem Diener hatte geben lassen. […]<br />
<br />
Denn nun trat in die Mitte des Saales ein Diener, der verkündete, er komme von Hetoimokles dem Stoiker. Er hatte ein Schreibtäfelchen bei sich und sagte, sein Herr habe ihm aufgetragen, dies allen öffentlich zu Gehör zu bringen und dann wieder zurückzukommen. Aristainetos gab ihm die Erlaubnis zu sprechen; so trat er also zur Lampe und las laut vor.<br />
<br />
PHI. Wohl eines der üblichen Loblieder auf die Braut, Lykinos, oder ein Hochzeitsgedicht?<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj1s7UrQNaNmwyB7eGu50xw6m9hPnL7_RQaDFwX9Wz1z6zZ-9XHQgnPhI7x6oTY5bX9cxKHRuFNjIsr6xObpci14LNDLLzF7AxWlIKbR5ryGCRE6noG4QaASttMZ2aI15MRJUX8dmcBB3M/s1600/4D.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="790" data-original-width="1024" height="307" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj1s7UrQNaNmwyB7eGu50xw6m9hPnL7_RQaDFwX9Wz1z6zZ-9XHQgnPhI7x6oTY5bX9cxKHRuFNjIsr6xObpci14LNDLLzF7AxWlIKbR5ryGCRE6noG4QaASttMZ2aI15MRJUX8dmcBB3M/s400/4D.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,<br />
Östliche Langseite, Platte 522. British Museum, London</td></tr>
</tbody></table>
LYK. Das dachten wir natürlich auch, aber von wegen! Davon konnte keine Rede sein! Da stand vielmehr folgen- des: »Hetoimokles der Philosoph grüßt Aristainetos. Von meiner Einstellung zu Festessen legt wohl mein ganzes bisheriges Leben Zeugnis ab. Jedenfalls habe ich mich, obwohl mich jeden Tag viele Leute, die viel reicher sind als du, mit Einladungen bedrängen, noch nie so mir nichts dir nichts dafür hergegeben: Ich kenne doch das Gelärme und die Ausgelassenheit bei Gelagen! Nur in deinem Fall ärgere ich mich, zu Recht, wie ich meine: Da habe ich mich so lange und so intensiv um dich gekümmert, und nun hältst du mich noch nicht einmal für würdig, mich unter deine Freunde zu zählen, sondern ich allein bekomme nichts ab, dabei wohne ich direkt nebenan. Es bekümmert mich mehr für dich, daß so dein Undank offenbar wird; denn für mich liegt die Glückseligkeit nicht in einer Portion Schweine- oder Hasenbraten oder in einem Stück Kuchen, die ich bei anderen, die wissen, was sich gehört, reichlich genießen kann. Denn ich hätte heute auch bei meinem Schüler Pammenes ein vollendetes Festessen bekommen können — alle Welt spricht davon —, habe aber abgesagt, obwohl er gebettelt hat, weil ich Dummkopf mich für dich aufgehoben habe. Du aber hast mich übergangen und bewirtest andere — natürlich! Denn du hast ja noch nie einen Blick gehabt für das, was besser ist, und die kataleptische Phantasie besitzt du schon gar nicht! Aber ich weiß, wem ich das zu verdanken habe: deinen tollen Philosophen, Zenothemis und Labyrinth, denen ich — Adrasteia sei fern — im Handumdrehen mit einem einzigen Syllogismus das Maul stopfen könnte. Soll doch mal einer von ihnen sagen, was die Philosophie ist! Oder diese erste aller Fragen, worin sich die Schesis von der Hexis unterscheidet! Um gar nicht erst von den Aporien zu sprechen, dem ›Horn‹, dem ›Haufen‹ oder dem ›Schnitter‹.<br />
<br />
Aber bitte, viel Glück mit ihnen! In der festen Überzeugung, daß allein das Edle gut ist, trage ich die Entehrung leicht. Trotzdem habe ich, damit du dich jedenfalls später nicht in die Ausrede flüchten kannst, du hättest die Einladung in dem ganzen Trubel bloß vergessen, dich heute zweimal angesprochen, einmal morgens vor dem Haus, dann später noch einmal beim Opfer im Dioskuren-Tempel. Somit bin ich gegenüber den Anwesenden entschuldigt. Wenn du aber jetzt glaubst, ich sei wegen des Essens wütend, dann denke an die Geschichte von Oineus: Da kannst du nämlich sehen, daß auch Artemis sich geärgert hat, weil er nur sie allein nicht zum Opfer holte, während er die anderen Götter alle bewirtete. Davon spricht Homer ungefähr folgendermaßen:<br />
<br />
›Er vergaß es, oder dachte nicht daran, gewaltig war er verblendet in seinem Mute.‹<br />
<br />
und Euripides:<br />
<br />
›Das ist das Land Kalydon, der Peloponnes <br />
Gegenüber, mit seinen glücklichen Feldern.‹<br />
<br />
und Sophokles:<br />
<br />
›Ein Schwein, ein gewaltiges Ding, zu den Feldern des Oineus <br />
Sandte die Tochter der Leto, die fernhintreffende Göttin.‹<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiGgTTykq6JYmhtCvZvVxVfo-ballr9QopZE4G65darSenoxWoUiZiWy2rny3P1WXNZ5dbD34ILJK7euIJL4YlkmedsGTWubvxN3sBshWti5xbchH4c1efdbNpFUiUdKEm0VIXbT6tiOow/s1600/5E.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="798" data-original-width="1024" height="311" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiGgTTykq6JYmhtCvZvVxVfo-ballr9QopZE4G65darSenoxWoUiZiWy2rny3P1WXNZ5dbD34ILJK7euIJL4YlkmedsGTWubvxN3sBshWti5xbchH4c1efdbNpFUiUdKEm0VIXbT6tiOow/s400/5E.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Kentauromachie. Friesplatte vom Apollontempel in Bassai,<br />
Westliche Langseite, Platte 521. British Museum, London</td></tr>
</tbody></table>
Nur ein paar Beispiele von vielen habe ich dir angeführt, damit du merkst, was für einen Mann du übergangen hast, um dafür Diphilos zu bewirten, und ihm deinen Sohn anzuvertrauen, natürlich: Er ist dem Bürschchen ja sehr zugetan, und sie verkehren miteinander voller Hingabe. Wäre solcher Klatsch nicht unter meinem Niveau, dann könnte ich mehr erzählen, und wenn es dich interessiert, kannst du dir vom Pädagogen Zopyros bestätigen lassen, daß es stimmt. Aber man soll ja keine Hochzeit stören und auch nicht andere Leute verleumden, und schon gar nicht mit so häßlichen Vorwürfen. Und wenn Diphilos es auch verdient hätte, wo er mir schon zwei Schüler abspenstig gemacht hat, so werde ich aber doch aus Liebe zur Philosophie schweigen.<br />
<br />
Ich habe diesem Diener aufgetragen, für den Fall, daß du ihm ein Stück Schweinebraten oder Hirschfleisch oder Sesamkuchen für mich als Entschuldigung für das entgangene Essen mitgibst, es nicht anzunehmen, damit es nicht so aussieht, als hätte ich ihn eigens zu dem Zweck geschickt.«<br />
<br />
Während dieser Lesung, lieber Freund, lief mir vor lauter Scham der Schweiß hinunter, und ich wäre am liebsten, wie man so schön sagt, in den Erdboden versunken, als ich sah, wie die Gäste bei jedem Satz lachten, vor allem diejenigen, die Hetoimokles kannten, einen schon ergrauten und ehrwürdig aussehenden Mann. Da wunderten sie sich nun, daß sie gar nicht gemerkt hatten, was für einer er wirklich war, und daß sie sich durch seinen Bart und sein ernstes und strenges Gesicht hatten täuschen lassen. Denn ich glaube, Aristainetos hatte ihn nicht aus Unachtsamkeit übergangen, vielmehr hätte er wohl nie zu hoffen gewagt, daß Hetoimokles eine Einladung annehmen oder sich für so etwas hergeben würde. Und so hatte er es nicht für der Mühe wert gehalten, es auch nur zu versuchen.<br />
<br />
Als nun der Diener endlich fertig vorgelesen hatte, da wandten sich die Blicke aller Gäste auf Zenon und Diphilos, die vor Schreck ganz blaß geworden waren und deren hilflose Gesichter die Vorwürfe des Hetoimokles bestätigten; Aristainetos hingegen war ganz verstört und innerlich aufgewühlt, forderte uns aber trotzdem zu trinken auf, versuchte schmallippig lächelnd, den Vorfall vergessen zu machen, und schickte den Diener mit den Worten weg, er werde sich darum kümmern. Kurz danach stand auch Zenon auf und zog sich unauffällig zurück, nachdem sein Pädagoge ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen gegeben hatte, er solle auf Anordnung seines Vaters verschwinden.<br />
<br />
Kleodemos hatte schon die ganze Zeit nur auf eine passende Gelegenheit gewartet - er wollte sich nämlich mit den Stoikern anlegen und platzte beinahe, weil er keinen rechten Anlaß finden konnte —, und jetzt, wo der Brief gewissermaßen den Startschuß gegeben hatte, sagte er: »Solche Früchte verdanken wir dem edlen Chrysipp, dem herrlichen Zenon und dem Kleanthes: unseliges Geschwätz, ewige Fragereien und philosophisches Posieren, aber eigentlich sind sie fast alle Leute wie Hetoimokles. Schaut euch diesen Brief an, ganz der eines ehrwürdigen Greises, und am Ende ist Aristainetos Oineus und Hetoimokles Artemis! Beim Herakles, nein, was für schöne Segenswünsche, und wie passend für ein Fest!« »Allerdings, beim Zeus!« sagte Hermon, der oberhalb von ihm lag. »Hetoimokles hat, denke ich, läuten hören, daß bei Aristainetos ein Schwein auf den Tisch kommen sollte, und daher hielt er es für nicht unangebracht, die Sprache auf den kalydonischen Eber zu bringen. Aber, bei Hestia, Aristainetos, schick dem Alten nur schleunigst seinen Teil am Erstlingsopfer, bevor er am Ende noch vor Hunger eingeht wie Meleager. Andererseits sollte ihm das doch nichts ausmachen: Chrysipp hielt so etwas ja für gleichgültig‚« »<i>Ihr</i> redet von Chrysipp?« fragte Zenothemis ziemlich laut und richtete sich auf. »Ihr nehmt einen einzigen Mann, der nicht einmal regelgerecht philosophieren kann, Hetoimokles den Scharlatan, zum Maßstab, um Denker wie Kleanthes und Zenon zu beurteilen? Wer seid ihr denn, daß ihr euch so zu reden traut! Hast du denn nicht, Hermon, den Statuen der Dioskuren die Locken abgeschoren, weil sie aus Gold waren? Dafür wirst du noch büßen, wenn du dich erst in den Händen des Henkers befindest. Und du, Kleodemos‚ hast du es nicht mit der Frau deines Schülers Sostratos getrieben und hast die peinlichsten Folgen tragen müssen, als man dich ertappt hat? Wollt ihr also nicht still sein, wo ihr genau wißt, was ihr auf dem Kerbholz habt?« — »lmmerhin mache ich nicht bei meiner eigenen Frau den Zuhälter«, antwortete Kleodemos, »so wie du, und ich habe mir auch nicht von einem ausländischen Schüler sein Reisegeld anvertrauen lassen und dann bei der Athena Polias geschworen, ich hätte es nie bekommen, und ich verleihe mein Geld auch nicht auf vier Prozent, und ich gehe meinen Schülern auch nicht an die Gurgel‚ wenn sie ihre Studiengebühren nicht pünktlich zahlen.« »Du wirst aber nicht abstreiten wollen«, sagte Zenothemis, »daß du dem Kriton für seinen Vater Gift verkauft hast.«<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjeQ4cXX2-Lp3ykVYaIsmpFT5x6Y-H7wMafOl8JAWxByQqmMnIVWN1lqr_x_eUflL7S892cTfRSKIKtn_NRB2AElRpKnZJEunkNfR_PRVecR3grZ_dJ1MnSnBl3qdltecANjZFPaq9-E_U/s1600/6A.JPG" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="978" data-original-width="1024" height="381" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjeQ4cXX2-Lp3ykVYaIsmpFT5x6Y-H7wMafOl8JAWxByQqmMnIVWN1lqr_x_eUflL7S892cTfRSKIKtn_NRB2AElRpKnZJEunkNfR_PRVecR3grZ_dJ1MnSnBl3qdltecANjZFPaq9-E_U/s400/6A.JPG" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Michelangelo: Zentaurenschlacht, um 1492, Marmor, 84 x 90 cm. <br />
Museo Casa Buonarroti, Florenz</td></tr>
</tbody></table>
Und mit diesen Worten schüttete er ihnen, er hatte nämlich gerade seinen Kelch in der Hand, seinen restlichen Wein, fast noch die Hälfte, ins Gesicht. Auch Ion, der daneben saß, bekam seinen Anteil ab, und verdient hatte er es durchaus. Hermon beugte sich vor, um sich den Wein vom Kopf zu wischen, und rief die Anwesenden zu Zeugen an für das, was man ihm angetan hatte. Kleodemos, der keinen Weinkelch hatte, drehte sich zu Zenothemis um, bespuckte ihn und packte ihn mit der Linken am Bart, um ihm eine runterzuhauen‚ und er hätte den Alten umgebracht, wenn Aristainetos ihm nicht die Hand festgehalten hätte, über Zenothemis hinübergestiegen wäre und sich zwischen sie gelegt hätte, damit sie, mit ihm als Sperrmauer‚ Frieden halten mußten. […]<br />
<br />
Denn auch nachdem Aristainetos sich zwischen sie gelegt hatte, hörten Zenothemis und Kleodemos nicht auf, sich hartnäckig weiterzuzanken. Vielmehr sagte Kleodemos: »Für jetzt soll es genügen, wenn ihr als Dummköpfe entlarvt werdet, aber morgen will ich euch so in die Schranken weisen, wie es sich außerdem noch gehört. Antworte mir daher, Zenothemis, du oder der Tugendbold Diphilos, wie es kommt, daß ihr den Gelderwerb als gleichgültig bezeichnet, aber an nichts anderes denkt als bloß daran, wie ihr noch mehr anhäufen könnt, und euch deswegen immer an die Reichen haltet und Geld zu Wucherzinsen verleiht und Studiengebühren erhebt, und warum ihr die Lust verabscheut und die Epikureer anklagt, selber aber, wenn es euch nur Lust bereitet, die schlimmsten und peinlichsten Dinge tut und mit euch geschehen laßt und euch schon ärgert, wenn man euch nicht zum Essen einlädt. Lädt man euch aber ein, dann eßt ihr so viel, und so viel gebt ihr euren Dienern ...« — und mit diesen Worten versuchte er die Stofftasche an sich zu reißen, die der Sklave des Zenothemis hielt und die mit den verschiedensten Fleischsorten gefüllt war, und beinahe hätte er sie aufgemacht und das Fleisch auf den Boden geworfen, aber der Sklave ließ nicht los und hielt kräftig dagegen. Und Hermon sagte: »Bravo, Kleodemos! Sollen sie doch mal erklären, wieso sie die Lust anklagen, aber selbst mehr als alle anderen auf Lustgewinn aus sind.« — »O nein, sag du doch, Kleodemos«, antwortete Zenothemis, »wie du dazu kommst, den Reichtum nicht für etwas Gleichgültiges zu halten.« — »Nein‚ du!« Und so ging es einige Zeit hin und her […] und zugleich wurde uns der sogenannte ›letzte Gang‹ serviert, ein Vogel für jeden, Schweinefleisch, Hase, Bratfisch, Sesamkuchen und Knabberzeug, und das alles durfte man auch mit nach Hause nehmen. Es stand aber nicht eine Platte mit Essen vor jedem, sondern Aristainetos und Eukritos hatten eine zusammen auf einem Tisch, und jeder von beiden sollte das nehmen, was sich auf seiner Seite befand; Zenothemis der Stoiker und Hermon der Epikureer hatten genauso eine gemeinsame Platte, dann der Reihe nach Kleodemos und Ion, nach ihnen der Bräutigam und ich; Diphilos bekam Essen für zwei serviert, denn Zenon hatte ja das Fest verlassen. […]<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjGvXZgFULJqUTCwc0zF8ECCjhi82BlWtz91Sc0rnWC12ALz_S6WwDsdHBzG33qhpxY77CTRgbX1xDhJE_bUNDoGG6psVJ2Apkj2rTGDlPDosROOp3H4QDxM7pDSjA8zDWPKIMdVRrly2E/s1600/7F.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="960" data-original-width="1280" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjGvXZgFULJqUTCwc0zF8ECCjhi82BlWtz91Sc0rnWC12ALz_S6WwDsdHBzG33qhpxY77CTRgbX1xDhJE_bUNDoGG6psVJ2Apkj2rTGDlPDosROOp3H4QDxM7pDSjA8zDWPKIMdVRrly2E/s400/7F.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Antonio Canova: Theseus tötet den Zentaur, 1805/19. <br />
Kunsthistorisches Museum, Wien.</td></tr>
</tbody></table>
Hermon und Zenothemis lagen auf einer Kline, wie ich erzählt habe, Zenothemis weiter oben, Hermon unterhalb von ihm. Ihnen hatte man alles übrige in gleicher Menge serviert, und sie packten es friedlich ein; der Vogel, der vor Hermon lag, war allerdings (rein zufällig, glaube ich) ein klein wenig fetter: Aber auch die hätten sie, jeder seinen, einpacken sollen. Da ließ Zenothemis — paß gut auf, Philon, jetzt kommen wir nämlich zum Höhepunkt der Ereignisse —, Zenothemis, sagte ich, ließ seinen Vogel los und griff nach dem, der vor Hermon lag, weil der, wie gesagt, fetter war. Aber Hermon hielt ihn fest und wollte nicht zulassen, daß Zenothemis mehr haben sollte als er. Lautes Gezeter, dann fielen sie übereinander her, droschen einander die Vögel ins Gesicht, packten sich gegenseitig am Bart und riefen um Hilfe, Hermon den Kleodemos‚ Zenothemis Alkidamas und Diphilos, und die Herren ergriffen Partei, die einen für diesen, die anderen für jenen, außer Ion: Der wahrte strikte Neutralität. Die anderen jedoch kämpften, ineinander verkeilt. Da griff sich Zenothemis einen Pokal, der vor Aristainetos auf dem Tisch gestanden hatte, schleuderte ihn auf Hermon,<br />
<br />
»und schoß an jenem vorbei, eine andre Bahn nahm das Geschoß«,<br />
<br />
und spaltete dem Bräutigam den Schädel, die Wunde war ordentlich tief. Da kreischten die Frauen los, und die meisten sprangen aufs Schlachtfeld, vorne weg die Mutter des Bürschchens, als sie das Blut sah. Auch die Braut fuhr hoch, in höchster Angst um ihn. Bei all dem zeichnete sich Alkidamas als Kampfgenosse des Zenothemis aus und zertrümmerte mit seinem Knüppel dem Kleodemos den Schädel, dem Hermon zermalmte er den Kiefer, und er verwundete einige Diener, die ihnen zu helfen versuchten. Ihre Gegner ließen sich allerdings nicht so leicht in die Flucht schlagen, im Gegenteil! Kleodemos bohrte dem Zenothemis mit gestrecktem Zeigefinger das Auge aus, packte ihn an der Nase und biß sie ihm ab, und Hermon warf den Diphilos, der zur Unterstützung des Zenothemis herbeigeeilt war, kopfüber von der Kline herunter. Bei dem Versuch, sie zu trennen, wurde auch Histiaios, der Grammatiker, verwundet, indem er, glaube ich, von Kleodemos‚ der ihn für Diphilos hielt, einen Tritt in die Zähne bekam. Da lag er nun, der Arme, und »spie noch Blut«, ganz wie bei seinem Homer. Kurz, ein gewaltiges Durcheinander und Geheule. Die Frauen flatterten um Chaireas herum und schrieen und jammerten, die übrigen Gäste versuchten zu schlichten. Das größte Übel von allen stellte Alkidamas dar, der, nachdem er sich nun einmal zum Herrn des Schlachtfeldes gemacht hatte, auf jeden, der ihm in den Weg kam, eindrosch. Und viele wären zu Boden gegangen, da kannst du sicher sein, wenn er nicht seinen Knüppel zerbrochen hätte. Ich drückte mich aufrecht an die Wand und beobachtete alles, ohne mich einzumischen, wohl belehrt durch das Beispiel des Histiaios, wie riskant es ist, in einer solchen Situation vermitteln zu wollen.<br />
<br />
Lapithen und Kentauren hättest du nun hier sehen können, umgekippte Tische, Blut in Strömen, Pokale im Flug. Zuletzt kippte Alkidamas die Lampe um und stürzte alles in tiefe Dunkelheit, wodurch die Sache natürlich nur um so schlimmer wurde. Denn so schnell hatten sie kein anderes Licht zur Hand, und viele schreckliche Dinge geschahen in der Dunkelheit. Als endlich jemand kam und Licht brachte, ertappten wir Alkidamas dabei, wie er gerade die Flötenspielerin auszog und vergewaltigen wollte, und Dionysodoros wurde bei einer anderen lustigen Sache erwischt: Ihm fiel nämlich beim Aufstehen ein Pokal aus dem Mantel. Er redete sich dann damit heraus, Ion habe ihn aufgehoben und ihn ihm in der Aufregung gegeben, damit er nicht verloren ginge, und Ion, rührend besorgt, bestätigte das.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi9M_wpATWW_9WzvGtNN1kljctrcLKesiZ5JWkpquxS25akbL46NHEenk15vTn_NnXNeBRBa-z2X1uDps4kz8HbIb9CyiUYys0_iTVvJIIj1j6wiitHGs0ENVrzyEi9tPEPMBroBMc_tSI/s1600/8Lucian.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1536" data-original-width="970" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi9M_wpATWW_9WzvGtNN1kljctrcLKesiZ5JWkpquxS25akbL46NHEenk15vTn_NnXNeBRBa-z2X1uDps4kz8HbIb9CyiUYys0_iTVvJIIj1j6wiitHGs0ENVrzyEi9tPEPMBroBMc_tSI/s640/8Lucian.jpg" width="403" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Lucian von Samosata (120-180/200 n.Chr.). <br />
Kupferstich von William Faithorne (1616-1591).<a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Lucian_of_Samosata.png" target="_blank"> [Quelle]´</a></td></tr>
</tbody></table>
So endete schließlich dieses tränenreiche Gastmahl doch noch in Gelächter über Alkidamas, Dionysodoros und Ion. Die Verwundeten wurden auf Bahren hinausgetragen; es ging ihnen schlecht, vor allem dem alten Zenothemis, der mit einer Hand seine Nase, mit der anderen sein Auge betastete und schrie, er sterbe vor Schmerzen, so daß Hermon, obwohl er selbst auch nicht gut dran war — zwei Zähne waren ihm ausgeschlagen worden —, das als Zeugenaussage gegen die stoische Philosophie nahm: »Denk daran, Zenothemis«, sagte er, »daß du den Schmerz für etwas nicht Gleichgültiges hältst!« Der Bräutigam wurde, nachdem Dionikos seine Wunde verarztet hatte, nach Hause gebracht, mit einem Verband um den Kopf; man hatte ihn auf den Wagen gelegt, auf dem er die Braut hätte heimführen sollen — ein bitteres Hochzeitsfest hatte der Arme gefeiert! Auch um die anderen kümmerte sich Dionikos, so gut er konnte, und sie wurden zum Schlafen nach Hause gebracht, wobei sich die meisten noch auf der Straße erbrachen. Alkidamas hingegen blieb, wo er war. Sie konnten den Kerl nicht hinausschaffen, nachdem er sich erst einmal quer über die Kline geworfen hatte und eingeschlafen war.<br />
<br />
Das, werter Philon, war das Ende des Gastmahls, oder besser noch, ich zitiere jenen bekannten tragischen Schlußvers:<br />
<br />
›In vielen Gestalten erscheint das Werk der Unsterblichen,<br />
Vieles, was wir nie gehofft, führen die Götter zu Ende,<br />
Vieles Gehoffte ward nicht vollzogen.‹<br />
<br />
Denn in der Tat: Auch dies ging ganz gegen die Erwartung aus. Das jedenfalls habe ich gelernt: Daß es nicht ungefährlich ist, mit solchen Philosophen zu speisen, wenn man selbst kein Durchsetzungsvermögen besitzt.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Lukian: Gegen den ungebildeten Büchernarren. Ausgewählte Werke. Übersetzt von Peter von Möllendorff. Artemis &amb; Winkler, Düsseldorf/Zürich 2006. ISBN 3-7608-4121-2. Seiten 146 bis 166 (gekürzt)</i></span><br />
<br />
<br />
<b>Link-Tipps</b><br />
<br />
<a href="https://www.kurz-geschichte.at/kentauromachie/" target="_blank">Lukian spielt im Alternativtitel seines Textes auf die Kentauromachie an, was mich dazu verführt hat, ihn mit den entsprechenden Illustrationen zu ergänzen.</a><br />
<br />
<a href="https://www.ds.uzh.ch/phpfi/wiki/Allegorieseminar/index.php?n=Main.Ogmios" target="_blank">Ogmios war ein Gott der Gallier, den Lukian in seinem Essay »Der gallische Herakles« (um 175 u.Z.) beschreibt. Er hat in Südgallien ein Fresko gesehen, auf dem ein Greis dargestellt war, von dessen durchbohrter Zunge zu den Ohren der ihm folgenden Menschen feine goldene Ketten führten. Für Lukian äußert sich darin die Personifikation der Redekunst.</a><br />
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<b>Mehr französische Klaviermusik in der Kammermusikkammer</b> <br />
<br />
<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/07/gabriel-faure-die-klaviermusik.html" target="_blank">Gabriel Faurè (Jean-Philippe Collard, 1970-1983). | Arthur Schopenhauer: Über die Freiheit des Willens.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/10/chopin-klaviersonaten-nr-2-3-fantasie.html" target="_blank">Frédéric Chopin (Daniel Barenboim, 1974). | Philippe Ariès: Der gezähmte Tod. (Aus den »Studien zur Geschichte des Todes im Abendland«)</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/06/erik-satie-klavierwerke-michel-legrand.html" target="_blank">Erik Satie (Michel Legrand, 1993). | Die Seagram Murals von Mark Rothko.</a></b><br />
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<br />
<a href="https://www.amazon.de/Oeuvre-pour-Piano-Gabriel-Tacchino/dp/B0002N5KFA/" target="_blank"><b>CD bestellen bei Amazon</b></a> <br />
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<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 10 MB <br />
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<span style="background-color: #b6d7a8;">Unpack x374.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: [75:07] 3 parts 245 MB</span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-91187553467610496822019-11-08T10:43:00.006+01:002019-11-08T10:43:56.090+01:00George Gershwin: Rhapsody in Blue<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjv7HsfJvpAaE2AHgiWFLzUKM_gyZCHVc5XABu1CoG07hm-6idq1yul1goHQPP-uFkjJ_ieTu783RwVUXf3S3RGHvl-TMY5LkBzF-pZtbtswvMhpZUWx1sHg_z7sQcRz_afYN_nV5KI4gw/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1409" data-original-width="1423" height="316" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjv7HsfJvpAaE2AHgiWFLzUKM_gyZCHVc5XABu1CoG07hm-6idq1yul1goHQPP-uFkjJ_ieTu783RwVUXf3S3RGHvl-TMY5LkBzF-pZtbtswvMhpZUWx1sHg_z7sQcRz_afYN_nV5KI4gw/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Mit "Rhapsody in Blue" wollte George Gershwin den Amerikanern musikalisch eine eigene nationale Identität verleihen. Und mithilfe der Musik auch alle ethnischen und kulturellen Barrieren überwinden. Nicht zuletzt begründete der Komponist mit der "Rhapsody" auch seinen eigenen Weltruhm. Am 12. Februar 1924 wurde das Stück uraufgeführt.<br />
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"Das erste Solo in der Klarinette - das ist ein Aufruf." So beschreibt der Pianist Denis Matsuev den Beginn der "Rhapsody in Blue". Der signalhafte Aufstieg in der Klarinette fesselt die Zuhörer auf Anhieb. Bei der Uraufführung der "Rhapsody" in der New Yorker Aeolien Hall tobte das Publikum. Das Konzert vom 12. Februar 1924 schrieb Geschichte. George Gershwin hatte den Amerikanern ein Stück echte amerikanische Musik geschrieben. In ihr spiegelt sich auch das Leben im Schmelztiegel New York wieder, findet Denis Matsuev: "Das erste Thema assoziiere ich mit Amerika. Ich sehe gleich New York, die Freiheitsstatue, Manhattan, Jazzclubs, Birdland, Bluenotes, Jazz. Das ist ein Symbol von New York, von Amerika. Und alle anderen Themen, die es da gibt, sind mit fröhlichen Motiven verbunden. Es ist die Rhapsodie der Freude, die Rhapsodie des Glücks. Sie ist so optimistisch, so lebensbejahend."<br />
<br />
Zunächst wollte Gershwin sie "American Rhapsody" nennen. Der Vorschlag "Rhapsody in Blue" kam von seinem Bruder Ira, mit dem er viel als Textdichter zusammenarbeitete. Der Name spielt auf die "Blue Notes" an, ein wichtiges Merkmal der Jazzmusik. Gershwin baut sie in seine Musik ebenso ein wie die für den Blues so charakteristischen, swingenden Rhythmen. Jazz steht für Freiheit. Kein Wunder, dass Gershwin sich für die Form der Rhapsodie entschied. Denn sie enthält kein vorgegebenes Schema, der Komponist ist total frei. "Mir gefällt der rhapsodische Stil, er ist so frei und lässt der Interpretation viel Raum", sagt Denis Matsuev. "Die 'Rhapsody in Blue‘ ist das Symbol für amerikanische Kultur und amerikanische klassische Musik, die mit Jazz vermischt ist. Jeder kennt die 'Rhapsody in Blue': sie ist Popmusik, Jazz und klassische Musik in einem - einfach alles und das ist genial."<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjRrR59cAgn4YD0Anu_75U9PZlgQqP_VoYaXMCZPSqSDC4jDnJd1C0S4SJtTudsUk0T1f_tsyzHZBIyfBXhAIIin2t2aCUIVVySK8P0nkViaqkkjU0ppLhzzyuovhcKUfpk15CldNbsuk8/s1600/GeorgeGershwin.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="558" data-original-width="994" height="223" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjRrR59cAgn4YD0Anu_75U9PZlgQqP_VoYaXMCZPSqSDC4jDnJd1C0S4SJtTudsUk0T1f_tsyzHZBIyfBXhAIIin2t2aCUIVVySK8P0nkViaqkkjU0ppLhzzyuovhcKUfpk15CldNbsuk8/s400/GeorgeGershwin.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">George Gershwin (1898-1937)</td></tr>
</tbody></table>
In Auftrag gegeben hatte die "Rhapsody in Blue" der Bandleader Paul Whiteman. Er führte mit seinem Orchester gerne Stücke im Jazz-Stil auf, auch wenn sich diese Musik doch deutlich von dem originalen Jazz der Afroamerikaner unterschied. Whiteman schwebte eine Synthese von europäischer Kunstmusik und afroamerikanischem Jazz vor. Als er Gershwin um ein entsprechendes Stück für Klavier und Orchester bat, zögerte der Komponist. Gershwin hatte bisher vor allem Musik für Musicals geschrieben. Jazz hingegen war für ihn musikalisches Neuland. Whiteman half der Entscheidung nach, indem er Gershwins neue Komposition, von der noch keine Note existierte, kurzerhand in der Zeitung ankündigte – zusammen mit dem Datum der Uraufführung. Gershwin blieb keine Wahl. Innerhalb von drei Wochen schrieb er seine "Rhapsody in Blue".<br />
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"Eine Mischung. Natürlich ist es vorrangig klassische Musik. Gershwin gehört zu den klassischen amerikanischen Komponisten. Er ist eine Legende. Aber die 'Rhapsody' zählt ebenso zu den Jazz-Standardstücken. Ich spiele oft meine selbst komponierte Improvisation darüber. Beim echten Jazz schreibt man die Noten ja nicht auf. Jazz entsteht spontan. Natürlich kann man Jazz auch nach Noten spielen. Aber dann ist es kein echter Jazz. Die Rhapsody in Blue ist ein toller Jazz-Standard, ein fantastisches Thema. Aber erst wenn man darüber improvisiert, ist es wirklich Jazz."<br />
<br />
Die "Rhapsody in Blue" enthält drei große Kadenzen für das Klavier. Bei der Uraufführung spielte Gershwin selbst den Solopart. Die Orchestrierung stammt nicht von ihm, sondern von Whitemans Arrangeur Ferde Grofé. Im Orchester spielen auch Instrumente mit, die man sonst eher in einer Big Band findet, wie beispielsweise das Saxophon. Einige Themen spielt das Orchester auch allein – ohne Klavier. Wie beispielsweise das lyrische Thema, das ein wenig an Rachmaninow erinnert.<br />
<br />
Die Uraufführung der "Rhapsody in Blue" war ein großer Erfolg. Rachmaninow saß damals übrigens auch im Publikum. Bis heute hat die "Rhapsody" nichts von ihrer Faszination verloren. Denis Matsuev hat sie bereits mehr als 100 Mal im Konzert gespielt. Für ihn ist die Coda am Schluss immer wieder ein Höhepunkt: "Beim Schlussthema in der Coda kommt der Vulkan zum Ausbruch. Das kommt bei Publikum sehr gut an."<br />
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<a href="https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/starke-stuecke-gershwin-rhapsody-100.html" target="_blank"><span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Susanna Felix, am 12.02.2019 in BR Klassik</i></span></a><br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhwlTn4djQnX5yHomVhTe6xZw8VhWY4A3x8-6CM3KNW_80C2VmBz9Hwrbm0JdEatqPCX_pug13imGPj-J0ja_WpyeMciBN7pzgKzXGS4ZDa5vxbF3nVJrv75X4gz5iUjtPFXX6MVCmN6Cc/s1600/Gershwin_am_Klavier.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="558" data-original-width="994" height="223" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhwlTn4djQnX5yHomVhTe6xZw8VhWY4A3x8-6CM3KNW_80C2VmBz9Hwrbm0JdEatqPCX_pug13imGPj-J0ja_WpyeMciBN7pzgKzXGS4ZDa5vxbF3nVJrv75X4gz5iUjtPFXX6MVCmN6Cc/s400/Gershwin_am_Klavier.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">George Gershwin am Klavier</td></tr>
</tbody></table>
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<pre>TRACKLIST
George Gershwin
(1898-1937)
Rhapsody In Blue & Other Works
[1] Rhapsody in Blue (Originalfassung) 13:45
Orchestrierung: Grofé
Klavier: Wayne Marshall
City of London Sinfonia
Klavierkonzert F-Dur
[2] I. Allegro 14:00
[3] II. Adagio - Andante con moto 13:11
Trompete: Howard Snell
[4] III. Allegro agitato 7:07
Klavier: Daniel Blumenthal
[5] Ein Amerikaner in Paris 18:39
English Chamber Orchestra
Stuart Bedford
[6] Cuban Overture 9:44
Saint Louis Symphony Orchestra
Felix Slatkin
Gesamte Spieldauer: 76:36
(P) 1997
(C) 2003
</pre>
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<b><span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;">Ovid: Diana und Aktäon</span></span></b><br />
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<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiao7C_I4BjnOPRBQw-5_7AHe5IBjcBwM9VTe3Qac6WK4VdK_OnxCx7_Ei1mhRMAF1JaheBhGtmMtMuSojqb5toFodKAG5mcYS5sHsUfG2ZAm14UQ61MwDuSgLbpviVBLcx3XBOdIH2qPM/s1600/1rembrandt.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1007" data-original-width="1280" height="313" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiao7C_I4BjnOPRBQw-5_7AHe5IBjcBwM9VTe3Qac6WK4VdK_OnxCx7_Ei1mhRMAF1JaheBhGtmMtMuSojqb5toFodKAG5mcYS5sHsUfG2ZAm14UQ61MwDuSgLbpviVBLcx3XBOdIH2qPM/s400/1rembrandt.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Rembrandt: <a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Bad_der_Diana_mit_Akt%C3%A4on_und_Kallisto" target="_blank">Das Bad der Diana mit Aktäon und Kallisto,</a> um 1635, <br />
Öl auf Leinwand, 168 x 93 cm, Museum Wasserburg Anholt</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr bgcolor="#ff0000"><td><b>Publius Ovidius Naso</b></td><td><b>Metamorphosen</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ff0000"><td><b>Metamorphoseon Libri</b></td><td><b>Liber Tertius, 138 - 252</b></td>
</tr>
<tr bgcolor="#ff0000"><td><b>Aktäon</b></td><td><b>Die Göttin im Bade</b></td>
</tr>
<tr><td><pre>Prima nepos inter tot res tibi, Cadme, secundas
causa fuit luctus, alienaque cornua fronti
addita vosque canes satiatae sanguine erili.
at bene si quaeras, Fortunae crimen in illo,
non scelus invenies: quod enim scelus error habebat?
Mons erat infectus variarum caede ferarum:
iamque dies medius rerum contraxerat umbras
et sol ex aequo meta distabat utraque,
cum iuvenis placido per devia lustra vagantes
participes operum conpellat Hyantius ore:
‘lina madent‚ comites‚ ferrumque cruore ferarum,
fortunamque dies habuit satis; altera lucem
cum croceis invecta rotis Aurora reducet,
propositum repetemus opus; nunc Phoebus utraque
distat idem terra finditque vaporibus arva.
sistite opus praesens nodosaque tollite lina!’
iussa viri faciunt intermittuntque laborem.
Vallis erat piceis et acuta densa cupressu,
nomine Gargaphie, succinctae sacra Dianae,
cuius in extremo est antrum nemorale recessu,
arte laboratum nulla: simulaverat artem
ingenio natura suo; nam pumice vivo
et levibus tofis nativum duxerat arcum.
fons sonat a dextra tenui perlucidus unda,
margine gramineo patulos succinctus hiatus.
hic dea silvarum venatu fessa solebat
virgineos artus liquido perfundere rore.
quo postquam subiit, nympharum tradidit uni
armigerae iaculum pharetramque arcusque retentos;
altera depositae subiecit bracchia pallae,
vincla duae pedibus demunt; nam doctior illis
Ismenis Crocale sparsos per colla capillos
conligit in nodum, quamvis erat ipsa solutis.
excipiunt laticem Nepheleque Hyaleque Rhanisque
et Psecas et Phiale funduntque capacibus urnis.
</pre>
</td><td><pre>Inmitten von so viel Glück gab dein Enkel dir, Kadmos, den
ersten Grund zur Trauer, dazu das fremde Geweih, das ihm auf
die Stirn gesetzt wurde, und ihr Hunde, gesättigt am Blut des
Gebieters. Doch erwägt man es wohl, dann findet man dabei nur Fortunas
Schuld, keinen Frevel, denn welche Sünde war’s, sich zu verirren?
Der Berg war schon gerötet vom Blut verschiedenen Wildes,
schon hatte die Mitte des Tages die Schatten der Dinge zusammen-
gezogen und die Sonne war gleich weit entfernt von beiden Enden
ihrer Bahn, als der böotische Jüngling den im Dickicht umher-
streifenden Gefährten des Weidwerks mit freundlicher Stimme zurief:
»Netze und Eisen triefen vom Blut der Tiere, ihr Freunde; Glück genug
brachte der Tag. Morgen, wenn auf ihrem safranfarbenen Wagen Aurora
wieder das Licht bringt, gehen wir, wie beschlossen, aufs Neue ans Werk.
Jetzt aber, da Phöbus von Morgen- und Abendland gleich weit entfernt ist
und durch seine Glut den Boden rissig werden läßt, macht eurem jetzigen
Tun ein Ende und holt die geknoteten Netze!«
Die Männer befolgen das Gebot und stellen die Arbeit ein.
Da war ein Tal, von Fichten und spitzen Zypressen beschattet,
Gargaphie mit Namen, der Diana im kurzen Jagdgewand
heilig. Im entlegensten Dickicht des Waldes ist dort eine Höhle,
nicht künstlich geschaffen: künstliche Bildung täuschte die ein-
fallsreiche Natur vor, denn sie hatte aus unbehauenem Bimsstein
und leichtem Tuff ein gewachsenes Gewölbe gebildet. Zur
Rechten rieselt eine Quelle, nicht reich an Wasser, aber ganz klar,
deren breites Becken ein Rasenrand einfaßt. Hier pflegte die
Göttin der Wälder, von der Jagd ermüdet, ihre jungfräulichen
Glieder mit schimmernden Tropfen zu netzen. Sobald sie dahin
gelangte, übergab sie ihrer Waffenträgerin, einer der Nymphen,
Spieß und Köcher samt dem entspannten Bogen. Eine andere
fing mit den Armen das abgeworfne Gewand auf, zwei lösen die
Riemen am Fuß, während, geschickter als jene, Krokale, die
Tochter des Ismenos, das den Nacken umwallende Haar in
einen Knoten faßt — sie selbst trägt es allerdings offen. Nephele
aber und Hyale und Rhyanis und Psekas und Phiale schöpfen
das Naß und gießen es dann aus weiten Gefäßen.
</pre>
</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi3CRyaP4xndK323-V2QJlvI_6t3AA9EUpA_BQVcXskElRhaCOJIoyZCvNrCpsYYyI8gk2G22Z-F_kdaK5ob6y-u6mNSNXjPR0rMAC9M40xTVU0RB7CM5DV0XOZZdsOw7clq6L3TSGKj1Y/s1600/2Diana_and_Actaeon.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1173" data-original-width="1280" height="366" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi3CRyaP4xndK323-V2QJlvI_6t3AA9EUpA_BQVcXskElRhaCOJIoyZCvNrCpsYYyI8gk2G22Z-F_kdaK5ob6y-u6mNSNXjPR0rMAC9M40xTVU0RB7CM5DV0XOZZdsOw7clq6L3TSGKj1Y/s400/2Diana_and_Actaeon.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Tizian: Diana und Actäon, 1556-1559, <br />
Öl auf Leinwand, 184 x 202 cm, National Galleries of Scottland</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>Dumque ibi perluitur solita Titania lympha,
ecce nepos Cadmi dilata parte laborum
per nemus ignotum non certis passibus errans
pervenit in lucum: sic illum fata ferebant.
qui simul intravit rorantia fontibus antra,
sicut erant‚ viso nudae sua pectora nymphae
percussere viro subitisque ululatibus omne
inplevere nemus circumfusaeque Dianam
corporibus texere suis; tamen altior illis
ipsa dea est colloque tenus supereminet omnis.
qui color infectis adversi solis ab ictu
nubibus esse solet aut purpureae aurorae,
is fuit in vultu visae sine veste Dianae.
quae, quamquam comitum turba stipata suarum,
in latus obliquum tamen adstitit oraque retro
flexit et, ut vellet promptas habuisse sagittas,
quas habuit, sic hausit aquas vultumque virilem
perfudit spargensque comas ultricibus undis
addidit haec cladis praenuntia verba futurae:
‘nunc tibi me posito visam velamine narres,
si poteris narrare, licet.’ nec plura minata
dat sparso capiti vivacis cornua cervi,
dat spatium collo summasque cacuminat aures,
cum pedibusque manus‚ cum longis bracchia mutat
cruribus et velat maculoso vellere corpus.
additus et pavor est. fugit Autonoeius heros
et se tam celerem cursu miratur in ipso.
ut vero vultus et cornua vidit in unda‚
‘me miserum!’ dicturus erat: vox nulla secuta est.
ingemuit: vox illa fuit, lacrimaeque per ora
non sua fluxerunt; mens tantum pristina mansit.
quid faciat? repetatne domum et regalia tecta
an lateat silvis? timor hoc, pudor inpedit illud.
</pre>
</td><td><pre>Diana erfrischt sich eben im vertrauten Bad, doch siehe, der
Enkel des Kadmos — er hat zum Teil sein Tagwerk verschoben
und durchstreift ungewissen Schritts den unbekannten Wald —
gerät in jenen Hain! So wollte es sein Verhängnis. Sobald er die
Grotte betrat, die die Quelle befeuchtet, schlugen die
Nymphen, nackt wie sie waren, beim Anblick des Mannes
sich an die Brust, erfüllten zugleich mit kläglichem Schreien
den ganzen Wald, umringten Diana und deckten sie mit
ihren Leibern. Allein, höher gewachsen als sie ist die Göttin
selbst; um Haupteslänge überragt sie alle.
Die Röte, die Wolken färbt im Licht der Abendsonne oder der
purpurnen Aurora, die überzog Dianas Antlitz, weil man ohne
Gewand sie erblickte. So dicht sie auch die Schar ihrer
Gefährtinnen umringte, drehte sich sich doch zur Seite und
wandte das Gesicht ab. Wie gerne hätte sie nun die Pfeile zur
Hand gehabt, die sie hatte! So aber schöpfte sie Wasser und
spritzte es dem Mann ins Angesicht, und während sie auch
sein Haar mit dem rächenden Naß netzte, fügte sie
folgende Worte hinzu, Vorboten künftigen Unheils: »Jetzt
magst du erzählen, daß du mich ohne Schleier gesehn hast, wenn
du’s noch erzählen kannstl« Ohne weiter zu drohen, gibt sie sei-
nem feuchten Haupt das Geweih des langlebenden Hirsches,
gibt Länge dem Hals und läßt die Ohren ganz oben sich spitzen,
verwandelt die Hände in Füße, in schlanke Läufe die Arme und
hüllt in geflecktes Fell seinen Leib. Furchtsamkeit bekam er
dazu. Es flieht Aktäon, der Held, und daß er so flink ist, wun-
dert ihn eben beim Lauf. Als er im Spiegel des Wassers sein
Gesicht und das Geweih erblickte, wollte er »Ich Unseligerl«
rufen, doch es folgte kein Wort, er stöhnte nur. Das war nun
seine Stimme, und Tränen strömten über die Züge, die nicht die
seinen waren; nur Empfindung blieb ihm wie früher. Was soll er
tun? Soll er nach Hause, zur Königsburg sich begeben oder sich
bergen im Wald? Dies verbietet die Furcht und jenes die Scham.
</pre>
</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEicYATbbxIUUXay9eRx6nJVixu6bu-g6jd9BDgFmbanK2tLgzcWwKnHs1j3H3zqad7c97WhwkQDYv9eG3PEBJe0mKrQq942-YNEGuDW3mbvRfuPAeOwNBlFducYn2_zX-rwKPeYmC8xwu4/s1600/3Tod+des+Actaeon.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="1135" height="360" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEicYATbbxIUUXay9eRx6nJVixu6bu-g6jd9BDgFmbanK2tLgzcWwKnHs1j3H3zqad7c97WhwkQDYv9eG3PEBJe0mKrQq942-YNEGuDW3mbvRfuPAeOwNBlFducYn2_zX-rwKPeYmC8xwu4/s400/3Tod+des+Actaeon.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Tizian: Der Tod des Actäon, 1559-1575, <br />
Öl auf Leinwand, 178 x 198 cm, National Gallery, London</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>Dum dubitat, videre canes; primique, Melampus
Ichnobatesque sagax latratu signa dedere,
Gnosius Ichnobates, Spartana gente Melampus.
inde ruunt alii rapida velocius aura,
Pamphagus et Dorceus et Oribasus, Arcades omnes,
Nebrophonusque valens et trux cum Laelape Theron
et pedibus Pterelas et naribus utilis Agre,
Hylaeusque ferox nuper percussus ab apro
deque lupo concepta Nape pecudesque secuta
Poemenis et natis comitata Harpyia duobus,
et substricta gerens Sicyonius ilia Ladon,
et Dromas et Canache Sticteque et Tigris et Alce
et niveis Leucon et villis Asbolus atris
praevalidusque Lacon et cursu fortis Aello
et Thous et Cyprio velox cum fratre Lycisce
et nigram medio frontem distinctus ab albo
Harpalos et Melaneus hirsutaque corpore Lachne
et patre Dictaeo, sed matre Laconide nati
Labros et Agriodus et acutae vocis Hylactor
quosque referre mora est. ea turba cupidine praedae
per rupes scopulosque adituque carentia saxa,
quaque est difficilis quaque est via nulla, sequuntur.
ille fugit: per quae fuerat loca saepe secutus,
heu, famulos fugit ipse suos! clamare libebat
‘Actaeon ego sum, dominum cognoscite vestrum!’
verba animo desunt; resonat latratibus aether.
Prima Melanchaetes in tergo vulnera fecit,
proxima Therodamas, Oresitrophus haesit in armo
(tardius exierant, sed per compendia montis
anticipata via est); dominum retinentibus illis,
cetera turba coit confertque in corpore dentes.
iam loca vulneribus desunt; gemit ille, sonumque‚
etsi non hominis, quem non tamen edere possit
cervus‚ habet maestisque replet iuga nota querellis
et genibus pronis supplex similisque roganti
circumfert tacitos tamquam sua bracchia vultus.
at comites rapidum solitis hortatibus agmen
ignari instigant oculisque Actaeona quaerunt
et velut absentem certatim Actaeona clamant
(ad nomen caput ille refert) et abesse queruntur,
nec capere oblatae segnem spectacula praedae.
vellet abesse quidem, sed adest: velletque videre,
non etiam sentire canum fera facta suorum.
undique circumstant, mersisque in corpore rostris
dilacerant falsi dominum sub imagine cervi.
Nec nisi finita per plurima vulnera vita
ira pharetratae fertur satiata Dianae.
</pre>
</td><td><pre>Während er noch schwankte, erblickten ihn seine Hunde, und
als erste gaben bellend Schwarzfuß Laut und Spürnase mit der
feinen Witterung. Spürnase stammte aus Kreta, Schwarzfuß war
von spartanischer Rasse. Gleich stürmen, schnell wie der Wind,
noch andre herbei: Allesfresser, Scharfauge, Bergsteiger — Arka-
dier alle —, Hirschkalbwürger, der starke, und mit Windsbraut
der schreckliche Hetzer, Flügelschlag, gut als Renner wie Fangab
als Spürhund, Waldmann, der wilde, vom Eber kürzlich ver-
wundet, Försterin — von einem Wolfe gezeugt —, und Hirtin, die
Schafen einst folgte, von zwei Jungen begleitet Harpyie, mit
schmächtigen Weichen Ladon aus Sikyon, Läufer und Kläffer
und Schecke und Tiger und Kraftvoll, dann mit hellen Zotteln
Schneeweißchen, Kohlschwarz mit dunklen, Spartakus, bären-
stark, Wirbelwind, unermüdlich im Laufe, Blitz und die schnelle
Wölfin mit ihrem Bruder aus Zypern, Packan mit dem weißen
Fleck mitten auf der schwarzen Stirn, Finsterling auch und
Flock, ganz struppig am Leibe, und — der Vater ein Kreter, die
Mutter aus Sparta — Meerwolf und Reißzahn und Blaff mit seiner
durchdringenden Stimme, dazu andere, deren Erwähnung
nur aufhält. Dieser Schwarm folgt voller Gier nach Beute über
Berg und Tal und Klippen und unzugängliche Felsen, da wo der
Weg beschwerlich ist und da, wo es keinen mehr gibt. Aktäon
flieht durch Gelände, durch das er so oft den Spuren des Wilds
gefolgt war. Ach, er flieht vor den eigenen Helfern! Gern wollte
er rufen: »Aktäon bin ich, erkennt doch euren Herrn!« Doch dem
Wünsche fehlen die Worte, es widerhallt vom Bellen der Äther.
Zuerst verletzte ihn Schwarzhaar im Rücken, dann Wildfang,
Bergbursche biß sich am Bug fest. Die waren später losgerannt,
doch hatten sie im Bergwald den Weg abgekürzt und Vorsprung
gewonnen. Während diese ihren Herrn festhalten, sammelt sich
die übrige Meute und gräbt ihm die Zähne in den Leib; schon fehlt es
an Raum für neue Wunden. Aktäon seufzt — der Laut, den er ausstößt,
ist zwar nicht menschlich, doch so, wie ein Hirsch nie schreien könnte
— und erfüllt mit Wehklagen das bekannte Gebirge, sinkt vorwärts auf
die Knie nieder, gleich einem, der demütig um Schutz fleht, und läßt
seine Blicke schweifen, als wären es bittende Hände. Aber seine Gefährten
treiben die rasende Meute mit den üblichen Rufen ahnungslos
an, halten Ausschau nach Aktäon, und, als wäre er fern, rufen sie
um die Wette Aktäon. Er wendet bei seinem Namen das Haupt.
Sie klagen, daß er nicht da sei, daß er, verspätet, das Schauspiel
des Fanges nicht mit ihnen teile. Da wünscht er zwar, fern zu
sein, doch er ist da! Er möchte nur sehen, nicht spüren das wilde
Treiben der eigenen Hunde! Von allen Seiten umdrängen sie ihn,
schlagen ihr scharfes Gebiß in seinen Leib und zerreißen ihren
Herrn in der trügerischen Erscheinung eines Hirsches.
Erst, als unter zahllosen Wunden sein Leben endete, war, so
sagt man, der Zorn der köchertragenden Diana gestillt.
</pre>
</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg7Qmue8IQ4iOSJNWs-gAVJI6rKelybRksb8HEUNeT6evr-DlopwtSsdmCBqR3YiHo8aYBL8wtfg4vW0dL59cF-iImDaxie9btV48ws6vhyphenhyphen3p7N5_Tn5FSUZffzkHHV60fCf5tgbwO-_6w/s1600/4grafik+nach+tizian.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="941" data-original-width="1417" height="265" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg7Qmue8IQ4iOSJNWs-gAVJI6rKelybRksb8HEUNeT6evr-DlopwtSsdmCBqR3YiHo8aYBL8wtfg4vW0dL59cF-iImDaxie9btV48ws6vhyphenhyphen3p7N5_Tn5FSUZffzkHHV60fCf5tgbwO-_6w/s400/4grafik+nach+tizian.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://www.dorotheum.com/de/l/635984/" target="_blank">Pieter van Liesebetten: Diana und Actäon, 1656-1660,</a> <br />
Kupferstich nach Tizian aus der Folge "Theatrum Pictorium", 21 x 31 cm.</td></tr>
</tbody></table>
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Ovid: Metamorphosen. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Gerhard Fink. Albatros, Mannheim 2010. ISBN 978-3-491-96280-4. Seiten 128-135</i></span><br />
<br />
<br />
<b>In der Kammermusikkammer ist gelegentlich auch Platz für großes Orchester:</b> <br />
<br />
<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/12/sergei-rachmaninow-klavierkonzerte.html" target="_blank">Sergei Rachmaninow: Klavierkonzerte (Peter Rösel, Berliner Sinfonie-Orchester, Kurt Sanderling). | Italienische Dichter des Mittelalters, übertragen von Karl Vossler. </a></b><br />
<b><br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/12/franz-liszt-klavierkonzerte-nr-1-2.html" target="_blank">Franz Liszt: Klavierkonzerte Nr. 1 & 2, Totentanz, Ungarische Fantasie. | Historisch-Musische Anagrammatik von Helmut Kracke, und Bilder von Minimax. "Am Anfang war auch Schnabel nur / Das Ende einer Nabelschnur."</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/09/chopin-klavierkonzerte-nr-1-und-2.html" target="_blank">Chopin: Klavierkonzerte Nr. 1 und 2 (Alexis Weissenberg, 1967), | Erwin Panofsky: Interpretatio Christiana: "Antoninus Pius wurde in St. Peter verwandelt, Herkules zur Fortitudo, Phaedra zur Jungfrau Maria".</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2017/09/mozart-mendelssohn-violinkonzerte-mit.html" target="_blank">Mozart / Mendelssohn: Violinkonzerte mit Jascha Heifetz. | Fritz von Herzmanovsky-Orlando: Maskenspiel der Genien: "Es ist eine traurige, aber unbestreitbare Tatsache, daß die Welt dem Phänomen Österreich mit tiefem Unwissen gegenübersteht."</a></b><br />
<br />
<br />
<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 4 MB <br />
<a href="http://www.embedupload.com/?d=1TIUAGF2GZ" rel="nofollow" target="_blank">Empedupload</a> --- <a href="https://mega.nz/#!75hggISa!574TJaOapbx8ZxSU9DV7ryI-Yb62R6VK2zxcR6c-TdE" rel="nofollow" target="_blank">MEGA </a>--- <a href="http://depositfiles.com/files/ah6xivdsk" rel="nofollow" target="_blank">Depositfile</a></b> <br />
<span style="background-color: #a2c4c9;">Unpack x373.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files: [76:36] 4 parts 304 MB</span><br />
<br />
<br />
<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-9597022520675133802019-10-29T12:48:00.001+01:002019-10-29T12:48:09.729+01:00Beethoven: Bagetellen, Sonaten und Trio (Glenn Gould, 1952/54)<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhPUZ4s15D6yHYV8bqBzZv3-SQdmOpMMTE8GoZTV4hjEfWDKQ9VTu1UspnWZSpnOgZxkZMjBWhXQlFK-Vk_BBgvka_nxvHr6V_XkEB7ktOfdKB_68jGoCFRUzCMdgFThx1aqYPHA2XZ2dA/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1416" data-original-width="1413" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhPUZ4s15D6yHYV8bqBzZv3-SQdmOpMMTE8GoZTV4hjEfWDKQ9VTu1UspnWZSpnOgZxkZMjBWhXQlFK-Vk_BBgvka_nxvHr6V_XkEB7ktOfdKB_68jGoCFRUzCMdgFThx1aqYPHA2XZ2dA/s320/Cover.jpg" width="319" /></a></div>
Glenn Gould hätte das Internet geliebt. Er, der in der intimen und unmittelbaren Atmosphäre des Radios aufgewachsen war, nahm das Fernsehen begeistert an, experimentierte mit der Technologie, verbrachte Stunden am Telefon und gab ein Vermögen dafür aus und schuf ein einzigartiges Dasein im Aufnahmestudio. Obwohl sein vorzeitiger Tod ihn der Web-Erfahrung beraubte, war er Zeuge einiger erstaunlicher musikalischer, technologischer und sozialer Entwicklungen und trug selbst zu diesen bei.<br />
<br />
Als die kanadischen Rundfunk- und Fernsehanstalten 1936 mit Radioübertragungen begannen, war der junge Glenn Gould Teil einer Zuhörerschaft, die bald zu <i>seinem</i> Ideal wurde — eine Zuhörerschaft, die weder zu sehen noch zu hören war. Als die erste Übertragung des achtzehnjährigen Pianisten 1950 live gesendet wurde, war es nicht so sehr die Idee einer weitverstreuten und doch vereinten Zuhörerschaft, die Gould ansprach, sondern vielmehr, daß er mit der Musik allein sein konnte.<br />
<br />
Ohne Ablenkung durch Husten, Bonbonpapier und Unterhaltung. Gould freute sich, mit seiner lebenslangen Mission zu beginnen, dem Publikum und den Künstlern den Gedanken abzugewöhnen, daß Musik ein Zuschauersport ist. Wie er später in seinem gepriesenen <i>High Fidelity</i> Artikel mit dem Titel <i>Let‘s Ban Applause</i> (Laßt uns Applaus verbieten) schrieb, “…Ich glaube, daß die Rechtfertigung von Kunst das innere Feuer ist, das sie in den Herzen der Menschen entzündet, und nicht ihre oberflächlichen, veräußerlichten Manifestationen. Der Zweck der Kunst ist nicht die Freigabe eines momentanen Adrenalinstoßes, sondern vielmehr der allmähliche, lebenslange Aufbau eines Zustands des Staunens und der Gelassenheit.”<br />
<br />
Die Verlockung des Mikrophons erwies sich als unwiderstehlich, und als die Zeit verging und die Technologie sich verbesserte, wurde Gould immer unzufriedener mit Live-Übertragungen und —Konzerten. Je mehr Zeit er im Aufnahmestudio verbrachte, desto mehr wuchs seine Abneigung gegen die Unmöglichkeit einer zweiten Aufnahme. “Es handelt sich um eine streng klösterlich behütete Umwelt, diese Welt des Aufnahmestudios, darum liebe ich sie so”, schrieb Gould. “Schließlich handelt es sich um einen Ort, wo der ersten Aufnahme sehr gut die sechzehnte für das Endprodukt vorausgehen kann und wo beide vielleicht durch Jahre später aufgenommene Einfügungen verbunden werden.”<br />
<br />
Seine Abwendung vom Konzertleben begann kurioserweise mit den CBC-Live- Übertragungen Anfang der 50er Jahre und endete am 10. April 1964, knapp neun Jahre nach seinem New Yorker Debüt. Es gab kein großes Trara bei seinem Ausscheiden, keine große Publicity, keine sentimentalen Andenken an sein Abschiedsprogramm mit Bach, Beethoven und Hindemith in Los Angeles, weil niemand wußte, daß Glenn Gould seinen Konzertfrack für immer an den Nagel hängen würde. Er hatte sich jahrelang mit dem Gedanken getragen, aber ob Gould selbst wußte, daß diese Vorführung seine letzte öffentliche Vorführung sein würde, darüber lassen sich viele Vermutungen anstellen.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEihNa9_FnxLo4bU_IGTcRH_weEWMRP5izMeMiiRp4UVfyjVKUcAYLgTScBz8cveeSW22qa0QbpNNJ6xlAM-lYsWEuy_ktLNv29PCOzLraxwDHC_Vh0l4jZyx7jzc12MEqiLnMJNCrL38gM/s1600/a.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1243" data-original-width="1600" height="310" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEihNa9_FnxLo4bU_IGTcRH_weEWMRP5izMeMiiRp4UVfyjVKUcAYLgTScBz8cveeSW22qa0QbpNNJ6xlAM-lYsWEuy_ktLNv29PCOzLraxwDHC_Vh0l4jZyx7jzc12MEqiLnMJNCrL38gM/s400/a.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Glenn Gould im Tonstudio</td></tr>
</tbody></table>
Aber irgendetwas war im Gange, denn der Mann, der „die Idee des Nordens” liebte, zog sich in das winterfest gemachte Wochenendhäuschen der Familie in Uptergrove, Ontario, am Simcoe-See zurück, neunzig Meilen nördlich von Toronto. In dieser Abgeschiedenheit konnte er herausfinden, was er tun mußte, um sein schöpferisches Leben weiterzuführen. Er kehrte natürlich nie wieder zur Konzertbühne zurück und tat, was selbst führende Leute in der Musikbranche nicht für möglich hielten, nämlich seine gefeierte Karriere fortsetzen, ohne jemals wieder in einer Konzerthalle aufzutreten.<br />
<br />
Uptergrove hatte zu einem früheren wesentlichen Zeitpunkt in Goulds Laufbahn eine wichtige Rolle gespielt. Im Jahre 1952 entschied der 19jährige Pianist, daß es an der Zeit war, seinen Lehrer, Alberto Guerrero, den chilenisch-kanadischen Pianisten und Komponisten, der nicht nur Gould, sondern auch eine Reihe anderer distinguierter Komponisten zu seinen Schülern zählte, zu verlassen. Es war eine schwierige Entscheidung und obwohl Gould eine beeindruckende Liste von Konzertauftritten hinter sich hatte, war er hin und her gerissen zwischen Spielen und Komponieren. Zusammen mit seinen Büchern, einem Kassettenrekorder und seinem Hund ließ sich Gould häuslich in dem Wochenendhäuschen an seinem geliebten Chickering-Klavier nieder, um herauszufinden, ob er es wirklich in sich hatte, ein Pianist von Wert zu werden. Diese Zeit der Introspektion dauerte über zwei Jahre und erlaubte ihm wenige öffentliche Auftritte.<br />
<br />
Im Herbst 1952, kurz nach seinem Geburtstag, spielte er jedoch für <i>Distinguished Artists</i>, eine Radioserie der CBC, die selbst so distinguiert war, daß sie über 25 Jahre lief. In den drei Übertragungen im Herbst spielte Gould Musik von Beethoven, einem Komponisten, für den Gould sein ganzes Leben lang zweideutige Gefühle hegte. In einem Magazinartikel des Jahres 1972, in dem Glenn Gould sich selbst über Beethoven interviewte, wurde die <i>Appassionata</i> und die <i>Fünfte Sinfonie</i> zugunsten der <i>Achten Sinfonie</i>, des <i>Quartetts op. 95</i> und der <i>Mondscheinsonate</i> beiseite gefegt. Er zog “sparsame”, “ausgeglichene” Werke vor, die eher einem “Übergangsbeethoven” und nicht so sehr dem “Schlachtroß” Beethoven entsprachen. Von den hier eingeschlossenen Werken fürs Klavier wurden als einzige die charmanten sechs <i>Bagatellen op. 126</i>, jemals kommerziell von Gould aufgenommen.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjOpG53bCa3D1I-9fEWmSDQehPp-HrS8BuRBVMSNbShi0VSYuCRNKJsg9_PrKbnObC7sbw5xMbLH0FknEzBjAXcbQ424Dj3kBGn73-WzLu6XZGJfOfpZaNPkI2bKRtflx0EY2WKPjkj-2k/s1600/b.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="600" data-original-width="900" height="266" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjOpG53bCa3D1I-9fEWmSDQehPp-HrS8BuRBVMSNbShi0VSYuCRNKJsg9_PrKbnObC7sbw5xMbLH0FknEzBjAXcbQ424Dj3kBGn73-WzLu6XZGJfOfpZaNPkI2bKRtflx0EY2WKPjkj-2k/s400/b.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Glenn Gould im Tonstudio</td></tr>
</tbody></table>
Im Sommer 1954 führten die Stratford Festspiele eine außergewöhnliche Inszenierung von Strawinskis <i>Die Geschichte vom Soldaten</i> auf, mit Marcel Marceau in seinem nordamerikanischen Debüt und Alexander Schneider als dem wandernden Geigenspieler. Gould begleitete Schneider in einem Konzert von Bach, Brahms und Beethoven und sein musikalisches Können machte einen unauslöschlichen Eindruck auf den Violinisten. Die kanadische Cellistin Zara Nelsova wurde die Dritte für Trios, ein Ereignis, an das sie sich gern erinnert. “Er war so jung und so aufs Spielen erpicht. Er hatte einige seltsame Vorstellungen über Beethoven, aber die meisten davon haben wir ihm ausgeredet”, sagt sie mit leisem Lachen. Frau Nelsova erinnert sich ebenfalls an Goulds Liebe zum Lesen. “Morgens erschien er, das Gesicht gelb von einer durchlesenen Nacht — Tolstoi und die großen Schriftsteller.” Trotz seines exzentrischen Wesens und seiner Hartnäckigkeit erwies Gould sich als liebenswürdiger und aufmerksamer Kammerpartner, ein Ruf, den er während seiner ganzen Laufbahn beibehielt.<br />
<br />
Ihr Beethovens <i>Allegretto in B-Dur</i> und das <i>Geistertrio</i> in Stratford wurde auf drei Kanälen des neuen CBC-Fernsehsendenetzes übertragen (Toronto‚ Ottawa und Montreal). Wie die Klaviersonaten von 1952 wurden auch diese Beethoventrios nie kommerziell von Gould aufgenommen.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Cynthia Dann-Beardsley, im Booklet</i></span><br />
<br />
<i>Technische Anmerkungen von Peter Cook</i><br />
<br />
<span style="font-size: x-small;">Das gesamte Material auf dieser CD stammt von bei der Programmausstrahlung gemachten Archivaufnahmen. Die ursprünglichen Aufnahmen wurden von CBC-Technikern auf l6—Zoll Azetatplatten gespielt, die jetzt im Staatsarchiv [National Archives] in Ottawa aufbewahrt werden (Bagatellen und die Sonate op. 49). Gould hatte in kommerziellen Studios für seinen eigenen Gebrauch Kopien seiner Aufnahmen anfertigen lassen. Wo die CBC-Studioaufnahmen nicht überlebt haben (wie zum Beispiel im Falle der Trios und der Sonaten, op. 101 und op. 7) wurden Goulds eigene Platten als Quelle für diese CD benutzt. Diese 33,3er und 78er sind jetzt Teil der Glenn Gould Sammlung in der kanadischen Staatsbibliothek [National Library of Canada] in Ottawa. Obwohl die Tonqualität der ursprünglichen Platten nicht immer den professionellen Normen entspricht, sind die Aufnahmen von künstlerischem und historischem Wert.</span><br />
<br />
<br />
<pre>TRACKLIST
Ludwig van Beethoven
(1770-1827)
Original CBC broadcasts
Six Bagatelles for Piano, Op. 125 15:04
01 No. 1 in G Major: Andante con moto 2:11
02 No. 2 in G minor: Allegro 1:47
03 No. 3 in E Flat Major: Andante 2:57
04 No. 4 in B minor: Presto 3:18
05 No. 5 in G Major: Quasi allegretto 1:15
06 No. 6 in E Flat Major: Presto - Andante amabile e con monto 3:20
(Broadcast on: Distinguished Artists, Sept. 28, 1952
Piano Sonata No. 28 in A Major, Op. 101 (1816) 16:16
07 I. Allegretto ma non troppo 3:39
08 II. Vivace alla marcia 3:45
09 Adagio, ma non troppo, con affetto 8:42
(Broadcast on: Distinguished Artists, Oct. 12, 1952
Piano Sonata No. 4 in e Flat Major, Op. 7 (1797/98) (excerpt) 9:31
10 II. Largo, con gran espressione
(Broadcast on: Distinguished Artists, Oct. 12, 1952
Piano Sonata No. 19 in G minor, Op. 49, no. 1 (1797) 6:25
11 I. Andante 3:30
12 II. Rondo, Allegro 2:55
(Broadcast on: Distinguished Artists, Oct. 5, 1952
* Allegretto in B Flat Major, WoO 39 3:29
13 Allegretto
(Broadcast on: Summer Festival July 18, 1954)
* Piano Trio in D Major, Op. 70, No. 1 "Ghost" 22:49
14 I. Allegro vivace e con brio 6:41
15 II. Largo assai ed espressivo 10:00
16 III. Presto 5:55
(Broadcast on: Summer Festival July 18, 1954)
Total: 74:02
Glenn Gould, piano
* Alexander Schneider, violin
* Zara Nelsova, violoncello
Music compilation: Neil Crory
Analogue to digital transfers: Gilles Saint-Laurent and Peter Cook
Digital reconstruction and remastering: Peter Cook
Les disques SRC / CBC Records
(P) 1997
</pre>
<br />
<br />
<h1>
<span style="color: red;">NINFA FIORENTINA</span></h1>
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhb0kutgBo8FE51RzZ0EOvbrxM8bgN4yJ90SvfMGYVo9R-C5fotPVv1iGQRWs4toF5jJ-Lo0zsbwVGf99NbQleNRR9XWmcUVTxkvO2Ar17-DAWFjYQcWoJFoSOkzkdFRci_s-51WI0yTMs/s1600/1GeburtJohannes.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="874" data-original-width="1280" height="435" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhb0kutgBo8FE51RzZ0EOvbrxM8bgN4yJ90SvfMGYVo9R-C5fotPVv1iGQRWs4toF5jJ-Lo0zsbwVGf99NbQleNRR9XWmcUVTxkvO2Ar17-DAWFjYQcWoJFoSOkzkdFRci_s-51WI0yTMs/s640/1GeburtJohannes.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 1. Domenico Ghirlandaio: Die Geburt Johannes des Täufers, um 1490, <br />
Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.</td></tr>
</tbody></table>
<h1>
André Jolles: Ein Brief vom 23.11.1900</h1>
<br />
Lieber Freund<br />
<br />
Erinnerst du dich unseres Gespräches vor ungefähr einem Jahr in jener Mondnacht auf der Terrasse <i>deiner</i> Villa in San Domenico. […]<br />
<br />
Wir hatten natürlich über Kunst geredet. Ich mit dem epicuraeischen Uebermut eines Knaben der, erst vor kurzem freigekommen von den strammenden Fesseln der universitairen Studien, jetzt zum ersten Mal schwelgt an dem Fest der Florentiner Vor-Renaissance. Du mit der mehr bedächtigen Würdigkeit eines Gastes, der sich zwar noch nicht ganz satt gegessen hat, dessen erster Hunger aber gestillt ist. Wir wurden nicht einig. Ich schalt dich in meinem Herzen einen Pedanten, du mich wahrscheinlich einen paradoxellen Freibeuter. […]<br />
<br />
Und jetzt komm ich wieder. Aber der übermüthige Kämpfer von damals ist ein demüthiger Bittsteller geworden; der Verächter aller offiziellen Wissenschaft und ihrer Dogmen, der keine andere Autorität als die des Künstlerauges anerkannte, der es wagte, dein heiliges Archiv als muffig und dumm zu beschimpfen und durch die Kunst hüpfen wollte so wie die Ziegen auf dem Berge Gilead, tritt in gebückter Haltung mit einem trübselig winkenden Palmzweig zu deinem Altar und bittet dich unterthänigst den Geist aus ihm zu bannen, der ihm keine Ruhe lässt und ihn wie von Furien gepeitscht‚ durch eine Unterwelt von wilden Phantasien jagt.<br />
<br />
Was ist geschehen? Cherchez la femme, mein Lieber. Es ist eine Dame im Spiel, die grausam mit mir kokettiert. Ich hab einen geistigen flirt angefangen und werde dessen Opfer. Verfolge ich sie, oder verfolgt sie mich? Ich weiss es wahrhaftig nicht mehr. Aber lass mich meine Leidensgeschichte dir der Reihe nach erzählen.<br />
<br />
Ich machte ihre Bekanntschaft bei einem Wochenbesuch in einer Kirche . . . und jetzt wirst du sie wahrscheinlich schon kennen. Sie wohnt in dem Chor von Sa Maria Novella, <i>linke Wand</i>, zweite Reihe von Unten, auf dem Bild rechts vom Zuschauer.<br />
<br />
Der kleine Johannes ist glücklich zur Welt gekommen und Elisabeth empfängt Besuch auf ihrem langen, feierlichen Staatsbett. (Abb. 1) Sie sieht noch etwas angegriffen aus (bei ihrem Alter ist solche Affäre keine Kleinigkeit) und der Arzt hat stärkende Mittel verschrieben, die ein Dienstmädchen ihr auf einem Präsentirteller anbietet. Vor dem Bett sitzen auf niedrigen Schemeln: die Amme, die dem kleinen Bengel grade zu trinken giebt und eine Wärterin die ihm ›Mantjes‹ vormacht. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiExdNZ9ffJIrqSzMzropQiwEB08nWM6RffxVoIFsrdI9y2JnBjURFL6yZpMEZwf6pjDSlCBHdPO7wg3xl00Cz9ACjuUYI8NQwe-kvK5TORzRyPuqRhJh_Wy5OLYy9IF2yTA4lB-aBfiLk/s1600/1X.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="743" data-original-width="333" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiExdNZ9ffJIrqSzMzropQiwEB08nWM6RffxVoIFsrdI9y2JnBjURFL6yZpMEZwf6pjDSlCBHdPO7wg3xl00Cz9ACjuUYI8NQwe-kvK5TORzRyPuqRhJh_Wy5OLYy9IF2yTA4lB-aBfiLk/s400/1X.jpg" width="178" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Detail aus Abb. 1</td></tr>
</tbody></table>
Der Gesammteindruck der heiligen Vorstellung ist ziemlich nüchtern. Es fehlt eine Pointe. Das Gold der Nimben von Johannes und Elisabeth ist verblichen und mit diesem Strahlenkranz auch ihre biblische Glorie. Es sind einfach sogar ziemlich bürgerliche Personen. Aber wenn der Wert der erbauenden Erinnerungen verloren ist, wird er doch reichlich ausgeglichen durch eine prahlende Gegenwart. Niemand geringeres als eine reiche florentinische Edelfrau macht hier ihren Besuch. Nicht so sehr bei der Wöchnerin, die sie selbst nicht ansieht, eben so wenig bei der heiligen Mutter, die vor kurzem ein Kind geboren hat, dessen mächtige Stimme später die Wasser des Jordan erbeben macht, sondern sie macht so im allgemeinen einen Besuch. Die aristocratischen Hände über dem etwas gewölbtem Bauchi gefaltet, das Haupt mit hochherziger Arglosigkeit auf dem schlanken Hals getragen schreitet sie fort, während ihr vorsichtiger Schritt kaum die starren Falten ihres schwer brocatenen Gewandes verschiebt. Sie ist von einer etwas oberflächlichen Stattlichkeit, nicht sehr characteristisch aber sehr distinguirt: eine Weltdame mit unübertreffbarer Gratie und hochnobelen Manieren aber ohne viel Geist.<br />
<br />
Hinter ihr spazieren zwei gleichgültige alte Personen: ihre Mutter und ihre Tante. Und hinter diesen grade bei der geöffneten Thür läuft, nein fliegt, nein schwebt der Gegenstand meiner Träume, der allmählich die Proportionen eines anmutigen Alpdruckes anzunehmen beginnt. Eine fantastische Figur, nein ein Dienstmädchen, nein eine klassische Nymphe kommt, auf ihrem Kopfe eine Schüssel mit herrlichen Südfrüchten tragend, mit weit wehendem Schleier ins Zimmer hinein. Aber, der Teufel, das ist doch keine Manier, ein Krankenzimmer zu betreten, selbst nicht wenn man gratulieren will. Diese lebendig leichte aber so höchst bewegte Weise zu gehen; diese energische Unaufhaltsamkeit, diese <i>Länge vom Schritt</i>, während alle andern Figuren etwas <i>Unantastbares</i> haben, was soll dies Alles?! <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhghi_JU3j2A-oEvLpuoobx-xYuerDNdm01TMxiMRskZdu1lWLtYk7BtK32UswOMXHb52KiSgoo0UK-vT2MFGV6WBk2X_U0rfP-uchY7rjLEgxZjBTCUq-b9K1ZZy4w9nmC4uzzSZKiax8/s1600/2HerodesGastmahl.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="682" data-original-width="1000" height="272" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhghi_JU3j2A-oEvLpuoobx-xYuerDNdm01TMxiMRskZdu1lWLtYk7BtK32UswOMXHb52KiSgoo0UK-vT2MFGV6WBk2X_U0rfP-uchY7rjLEgxZjBTCUq-b9K1ZZy4w9nmC4uzzSZKiax8/s400/2HerodesGastmahl.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 2. Domenico Ghirlandaio: Gastmahl des Herodes (Tanz der Salomé), <br />
um 1490, Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.</td></tr>
</tbody></table>
Aber was meint vor Allem dieser plötzliche Unterschied im Fussboden, wo alle andern fest stehen oder gehen auf einem harten florentiner Fliesengrund, scheint dieser unter den Füssen meiner Geliebten seine natürliche Eigenschaft von Unbeweglichkeit zu verlieren; er scheint sich die wiegende Elastizität einer sonnenbeschienenen Frühlingswiese anzueignen, er wippt wie die dicken Mooskissen auf einem grünschattigen Waldpfad, ja, manchmal kommt es mir vor als ob er etwas Überirdisches hat, als ob das dienende Mägdlein, anstatt auf den gangbaren Wegen zu laufen, wie eine Göttin auf zarttreibenden Wolken fortgleitet, als ob sie mit beflügelten Füssen den hellen Aether durchschnellt, oder auf den langsam schaukelnden Wellen, auf den wie Delphinrücken sich krümmenden Rundungen, halb sich treiben lässt, halb sich fort bewegt, zu gleicher Zeit, mit der Gratie eines grossen Vogels, der in breitem Flug, auf gestrecktem Flügel schwebt, und der eines ranken Schiffes, das mit geblähtem Segel, rythmisch das mächtige Wasser spaltet. (Abb. 1 Detail)<br />
<br />
Vielleicht mach ich sie poetischer als wie sie wirklich ist — welcher Liebhaber thut das nicht — aber ich hatte den ersten Moment als ich sie sah, das sonderbare Gefühl, das uns manchmal beim Sehen einer düstern Berglandschaft, beim Lesen eines grossen Dichters, oder auch wenn wir verliebt sind, überkommt: das Gefühl von »wo hab ich dich <i>mehr</i> gesehen«. […]<br />
<br />
Lieber Freund, man verliebt sich eigentlich nur einmal. Wenn man denkt es öfters zu thun, sieht man immer nur andre Fläche desselben Prismas. Die Objekte wechseln, die Verliebtheit bleibt eins und untheilbar. Und so entdeckte ich denn, in vielem was ich in der Kunst geliebt hatte, etwas von meiner jetzigen Nymphe.<br />
<br />
Mein Zustand schwankte zwischen einem bösen Traum und einem Kindermärchen. Wenn ich meine Wunderlampe in die Hand nahm, und das Zauberwort sprach, erschienen zwar keine fünfzig Cirkassische Sklaven, die Goldschalen auf dem Haupt trugen gefüllt mit Blumen aus puren Edelsteinen […]. Aber diesmal erschien immer nur das laufende Dienstmädchen mit ihrem Schleier.<br />
<br />
Bald war es Salome, wie sie mit todbringendem Reiz vor dem geilen Tetrarch angetanzt kommt (Abb. 2); bald war es Judith, die stolz und triumfirend, mit lustigem Schritt, das Haupt des ermordeten Feldherrn zur Stadt bringt; dann schien sie sich unter der knabenhaften Gratie des kleinen Tobias versteckt zu haben, so wie er mit Mut und Leichtherzigkeit zu seiner gespenstischen Braut marchiert. Manchmal sah ich sie in einem Seraphin, der in Anbetung zu Gott geflogen kommt, und dann wieder in Gabriel wie er die frohe Botschaft verkündet. Ich sah sie als Brautjungfer bei dem Sposalizio in unschuldiger Freude, ich fand sie als fliehende Mutter bei dem Kindermord mit Todesschrecken im Gesicht.<br />
<br />
Ich versuchte sie wieder zu sehen, wie ich sie das erste Mal getroffen hatte im Chor der Dominicanerkirche, aber sie hatte sich verzehnfacht. — Ich verlor meinen Verstand. Immer war sie es die Leben und Bewegung brachte in sonst ruhige Vorstellungen. Ja, sie schien die verkörperte Bewegung ... aber es ist sehr unangenehm die zur Geliebten zu haben.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiq_poqyVQP9oLTR-K380k4gP7UjrRkgPB9GlXYtPgmcaKQhE3uuckNpAGup3Kdxd9QVx7t01qLY9RiJ5eb4xJp9Ts0n7CXvwc-1vNS810C0N2Gh5ORsCh4NhZmAd9cr2jgw-FaHPds8Hs/s1600/2X.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="462" data-original-width="356" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiq_poqyVQP9oLTR-K380k4gP7UjrRkgPB9GlXYtPgmcaKQhE3uuckNpAGup3Kdxd9QVx7t01qLY9RiJ5eb4xJp9Ts0n7CXvwc-1vNS810C0N2Gh5ORsCh4NhZmAd9cr2jgw-FaHPds8Hs/s320/2X.jpg" width="245" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Detail aus Abb. 2</td></tr>
</tbody></table>
Und so komm ich wie gesagt zum Priester der offiziellen Wissenschaft, der das Allerheiligste des Quattrocento kennt oder wenigstens zu kennen hat, um mich nach ihrem Namen, Stand und ihrer Adresse zu erkundigen. Wer ist sie, woher kommt sie, hab ich sie schon früher, ich meine schon anderthalb Jahrtausend früher getroffen, ist sie von Alt-griechischem Adel und hatte ihre Urgrossmutter ein Verhältnis mit Leuten aus Klein-Asien, Egypten oder Mesopotamien, aber vor allem, kommen Briefe an »Die laufende Nymphe. P. R.« zu recht.<br />
<br />
Im Ernst was ist das mit dem Mädchen<br />
Heut und immer dein<br />
<br />
<br />
<h1>
Aby Warburg: Eine Antwort</h1>
<br />
Nein, mein Freund, so ohne Weiteres kann ich dich nicht mit dem Mädchen bekannt machen; ohne irgendwie introduzirt zu sein, stürmst Du auf das abwehrend geschlossene Gehege einer florentinischen Patrizierfamilie los, selbst gerade so ungestüm wie Dein leichtfüßiges Fräulein. So husarenmäßig kann man denn doch nicht gleich die intime Bekanntschaft von jemand machen wollen, der zum Haushalte der Tornabuoni, wenn auch nur als dienstbarer Geist, gehört.<br />
<br />
Aber ich merke schon, Du weisst garnicht recht, was hinter diesen Bildern vorgeht Laß uns leise im Chorgestühl niedersitzen, damit sie sich nicht stören lassen: die Tornabuoni führen hier nämlich ein geistliches Schauspiel auf, zu Ehren der Jungfrau Maria und Johannes des Täufers. Giovanni Tornabuoni ist es glücklich gelungen, das Patronat des Chores und das Recht zur bildlichen Ausschmückung zu erwerben und nun dürfen seine Angehörigen als Figuren der heiligen Legende persönlich auftreten; von dieser Erlaubnis machen sie ruhig und würdevoll Gebrauch: patrizische Kirchgänger, denen tadellose Manieren im Blut liegen. Daß nun in diese schwerwandelnde Respektabilität ihrer christlichen Gedämpftheit Dein heidnisches Windspiel hinein wirbeln darf, das zeigt mir die Tornabuoni von der rätselhaft unlogischen Seite primitivster Menschlichkeit, die mich mindestens ebenso sehr anzieht, wie Dich der pläsirliche Leichtsinn Deiner Unbekannten. Es lockt Dich, ihr wie einer geflügelten Idee durch alle Sphären im platonischen Liebesrausche zu folgen, mich zwingt sie, den philologischen Blick auf den Boden zu richten, dem sie entstieg und staunend zu fragen: wurzelt denn dieses seltsam zierliche Gewächs wirklich in dem nüchternen florentinischen Erdboden? […]<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh2LX4NChMU8WNOiegrIBiTyPg4sYMvR56Oe6vj6u6xRC4O8eOmcA_568UVOBSELUKK5B9N_V8KakYiwxB_acZFL3Ad0mHaM7VQWyLTF6c9E_h83YUPVDazfNUlDjm2CcUUiHivITxT0cY/s1600/3acharias.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="831" data-original-width="1100" height="481" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh2LX4NChMU8WNOiegrIBiTyPg4sYMvR56Oe6vj6u6xRC4O8eOmcA_568UVOBSELUKK5B9N_V8KakYiwxB_acZFL3Ad0mHaM7VQWyLTF6c9E_h83YUPVDazfNUlDjm2CcUUiHivITxT0cY/s640/3acharias.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 3. Domenico Ghirlandaio: Die Verkündigung des Zacharias, um 1490, <br />
Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.</td></tr>
</tbody></table>
Vergiß nicht, der Chor von Santa Maria Novella war die feierlichste Grabstätte, welche streitbare Dominikanermönche zu vergeben hatten; wie unbeschränkt und gewaltsam ihr Eifer hier herrschte, beweist ihr siegreich durchgeführter Streit mit Francesco Sassetti, dem unmittelbar vor Giovanni Tornabuoni anerkannten Patronatsherrn des Chores. […] Sassetti hatte am 22. Febr. 1470 von den Mönchen von Santa Maria Novella durch notariellen Akt sein von alters her seiner Familie zustehendes Recht zur Ausschmückung des Altarbilds und des Hauptchores bestätigt und verbrieft erhalten. Trotz dieses Kontraktes und obgleich Sassetti die Kirche bereits mit kostbaren Paramenten beschenkt hatte, treiben die Mönche nicht allein ihren Patronatsherren, weil er andere bildliche Darstellungen an den Wänden sehen wollte als ihnen genehm war, zur Kirche hinaus und zwingen ihn, die geplanten Malereien des Ghirlandajo in einer Capelle von San Trinità anbringen zu lassen, sie entfernen auch noch widerrechtlich das Grabmal seines Vaters Tommaso von seinem angestammten Platze. […]<br />
<br />
Hatte etwa Francesco den Jüngern des hl. Dominicus zugemutet die Legenden des Concurrenzheiligen S. Francesco, die er ja in S. Trinità hat darstellen lassen, weil er sein Namenspatron war, vor Augen zu haben? Wie sehr ihm die Verehrung seines Namenspatrons am Herzen lag, geht aus der ausdrücklich einzigen Bedingung hervor, die er 1487 an eine extra Donation an S. Trinità schloß, daß am Tage des hl. Francesco eine große und feierliche Seelenmesse in seiner geschmückten Capelle gelesen werden müsse. […]<br />
<br />
Francesco Sassetti, der Compagnon der Medici in ihrer Lyoner Filiale, war ein sehr reicher und angesehener Mann, Giovanni Tornabuoni außerdem noch der leibliche Onkel des Lorenzo Magnifico und dessen erfolgreicher diplomatischer Vertreter bei der römischen Curie; dort hatte er mit Pfaffen umzugehen gelernt. Dem blinden mönchischen Eifer setzte er Anfangs scheinbare Nachgiebigkeit und freundl. Versprechungen entgegen, und stellte sie aber schließlich, als sie nichts mehr daran ändern konnten, einfach vor die vollendete Thatsache seiner erfüllten ikonographischen Wünsche.<br />
<br />
In dem Contract den Giovanni Tornabuoni mit Domenico Ghirlandajo abschloß am 1. Sept. 1485 sind die Gegenstände der Fresken genau vorgeschrieben. Da die Verleihung des Patronatsrechtes an die Familie Tornaquinci (von der die Tornabuoni nur ein Zweig waren) von Seiten der Mönche erst am 13. Oct. 1486 geschah, so stand die Urkunde den Mönchen vorher zur Einsicht offen.<br />
<br />
Darum gelingt ihm nur fünf Jahre später mit demselben Maler, woran Sassetti gescheitert war.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhCnwiLGJZbGXr5SHXww3sqWFjrvUc-3Zzs7BFci4kKn0GmOg1l2m1MT_GRgdtQA8Th_jH-VZTG_WanEdmhkSiPl_mxv1f0SEWFkGY1ViPbJjk4ipCf44uSv-9DMSDOKEySVDjc0aM8eoI/s1600/3X.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="545" data-original-width="338" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhCnwiLGJZbGXr5SHXww3sqWFjrvUc-3Zzs7BFci4kKn0GmOg1l2m1MT_GRgdtQA8Th_jH-VZTG_WanEdmhkSiPl_mxv1f0SEWFkGY1ViPbJjk4ipCf44uSv-9DMSDOKEySVDjc0aM8eoI/s400/3X.jpg" width="247" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Detail aus Abb. 3.</td></tr>
</tbody></table>
Die Ausführung entspricht nun diesen notariellen Urkunden durchaus nicht. Auf der linken Seite oben war statt des Kindermords: die Verkündigung, statt der Vertreibung des Joachim: Jesus unter den Schriftgelehrten vorzusehen. Auf der rechten Wand sollte die »Heimsuchung« dorthin kommen, wo sich jetzt die Geburt des Johannes befindet, die dann ein Stockwerk höher gerückt wäre, so daß Du Dein bewegliches Fräulein nicht so bequem betrachten könntest; unten sollte eigentlich neben der Verkündigung an Zacharias die »Taufe Christi« dargestellt werden, darüber die »Predigt des Johannes« an Stelle der Namensgebung, die ursprünglich garnicht in Aussicht genommen war, sondern »Johannes wie er in die Wüste geht«! Ganz ignorirt wurden die kontraktlich für die schmalen Fresken neben dem Chorfenster ausbedungenen Dominikaner-Heiligen Thomas d’Aquino, der hl. Antoninus, Vincenzo und die hl. Catharina; statt ihrer erblickt man in der Mitte die Verkündigung an Maria, und St. Johannes in die Wüste gehend und unten nehmen ihre Stellen die knienden Stifter selbst ein: Giovanni Tornabuoni und seine Frau Francesca Pitti: das zeigt Herkunft und Richtung der ganzen kontraktwidrigen Veränderung: keine dogmatische Illustration zum großen Ruhm des hl. Dominicus sondern ein Weihgeschenk zu Ehren der hl. Jungfrau und Sankt Johannes sollte zur Schau gestellt werden, ein bildliches Dankopfer für das bestehende Familienglück und ein Gebet in effigie um Fürbitte zu weiterer gedeihlicher Fruchtbarkeit. Darum sind offenbar die beiden Wochenstubenbilder, das Opfer des kinderlosen Joachim, die Begegnung der Elisabeth und die Verheißung des Sohnes Johannes an Zacharias an die sichtbarsten Stellen gerückt und darum tragen gerade hier die Personen der Legende die Züge ganz bestimmter Personen der Familie Tornabuoni. In der Wochenstube der hl. Elisabeth wird das kirchlich dogmatische Element gänzlich eliminirt: der repräsentationsfreudige Kaufmann und der geschmackvoll ornamentale Künstler trafen auf Kosten der Mönche einen harmonischen Ausgleich: Verlangte nun aber auch einmal die heilige Legende ihr gutes Recht wie auf dem Opfer des Zacharias, so zerlegen sich die drei (K) Kirche, Kaufmann, Künstler in ihre natürlichen Bestandteile, Verratend, daß sie keine organische Verbindung fanden, sondern nur einer willkürlichen Mischung ihre malerische Existenz verdanken. […]<br />
<br />
Die Worte des Evangeliums erfüllen den Raum mit zwei grandiosen Silhouetten, der ehrwürdige, in der andächtigen Erfüllung des Räucheropfers aufgestörte Hohepriester und vor ihm der hereinstrahlende Engel, der ihm die unerwartete Sohnesverheißung kündet; nur das leise Gemurmel des betenden Volkes im Vorhofe gesellt sich noch hinzu, wie Rauschen im Aehrenfeld, das dumpf ergeben im Wehen des göttlichen Windes mitwogt, der anonymen Masse Oberton.<br />
<br />
Was macht nun die Consorteria Tornaquinci aus diesem religiösen Drama? ein kirchliches Ausstattungsstück, in dem die Statisten anscheinend zu Hauptacteuren werden.<br />
<br />
Da man die meisten der auftretenden Personen mit einiger Sicherheit identifiziren kann, so überreiche ich Dir anbei ein bühnenmäßiges Personenverzeichnis zur Erklärung der Scene. (Abb. 3)<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhWt_MozumyDtpINMjnupFFyUdy5HwavB9vvYVOXpjuQjNXKOBiU3s94takZEKkRKw1YU-zus9rwEKR5od0ZC9CB3Do7i8oFVZ7NYPmhEznuhvzBYVheMhWKqQEtIWDF8tVjrr8Ui0NLxs/s1600/4VertreibungJoachims.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="850" data-original-width="1373" height="247" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhWt_MozumyDtpINMjnupFFyUdy5HwavB9vvYVOXpjuQjNXKOBiU3s94takZEKkRKw1YU-zus9rwEKR5od0ZC9CB3Do7i8oFVZ7NYPmhEznuhvzBYVheMhWKqQEtIWDF8tVjrr8Ui0NLxs/s400/4VertreibungJoachims.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb 4. Domenico Ghirlandaio: Vertreibung Joachims aus dem Tempel, <br />
um 1490, Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.</td></tr>
</tbody></table>
Bei unserem Versuche, eine Zeit nachzuerleben, wo festlich spielender Gestaltungstrieb und künstlerisch spiegelnde Kraft »noch (um sich Jean Pauls Worte zu erinnern) auf einem Stamm geimpfet blühen«, ist dieser Theaterzettel kein gewaltsam herangezogener pikanter Vergleich, vielmehr eine wesensgleiche Metapher.[…]<br />
<br />
<b>Die Verheißung des Sohnes Johannes</b><br />
<br />
Ein Opferspiel aufgeführt in der Grabcapelle der Consorteria Tornaquinci<br />
<br />
<i>Handelnde Personen:</i><br />
<pre>Zacharias, Hohepriester in Jerusalem } im Allerheiligsten
der Engel des Herrn }
</pre>
<br />
<i>Stumme Personen:</i><br />
<br />
Chor der neun Familienhäupter innerhalb der Opferstätte<br />
<pre>1. Giovanni Tornabuoni } die 4 ältesten
2. Bartolommeo Nicolai Pieri Popoleschi } Stammhalter auf
3. Hieronymus Adoradi Giacchinotti } einer Stufe links
4. Leonardo Tornabuoni } vom Altar
5. Giovanni Tornaquinci } die fünf
6. Girolamo Tornabuoni Domherr } jüngeren
7. Gianfrancesco Tornabuoni } Stammhalter
8. Simone Tornabuoni } links vom
9. Hieronymo di Scarabotto } Altar
</pre>
<br />
Chor des außenstehenden Volkes, vorgestellt von andern Verwandten u. zeitgenössischen Celebritäten u. Honoratioren<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjQEoHPITpud6-HwAIjHeONrCzM6eibmrB09Ii811w7lVWOzIqUp58P3lm8Cai1hCmfw6sSZTVoBy1NjbvnovJSmzgP6Zou6GoSFAyGpBcx01nrPoMYxv6lqrG2VLGAIGbZGjfm6khrhkU/s1600/5GeburtMaria.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="850" data-original-width="1376" height="393" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjQEoHPITpud6-HwAIjHeONrCzM6eibmrB09Ii811w7lVWOzIqUp58P3lm8Cai1hCmfw6sSZTVoBy1NjbvnovJSmzgP6Zou6GoSFAyGpBcx01nrPoMYxv6lqrG2VLGAIGbZGjfm6khrhkU/s640/5GeburtMaria.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 5. Domenico Ghirlandaio: Die Geburt Marias, um 1490, Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.</td></tr>
</tbody></table>
links<br />
<br />
10. Benedetto Dei, Chronikenschreiber<br />
11. Baccio Ugolini, Musiker u. Priester an S. Lorenzo<br />
12. Tieri di Tornaquinci, Verwandter<br />
13. Luigi Tornabuoni, Praeceptor u. Commendatore an S. Jacopo in Campo Corboli sowie Malteser Ritter<br />
14. Giovanni Batista Tornabuoni? Ridolfi?<br />
15. Gentile Becchi, Bischof v. Fiesole (Erzieher)<br />
<pre>16. Cristoforo Landino } Kenner des Alterthums /
17. Angelo Poliziano } Gelehrte und
18. Marsiglio Ficino } führende Geister
</pre>
<br />
rechts:<br />
<pre>19/22 4 junge Frauen der Familie
23/ Federigo Sassetti, apostolischer } befreundet [/]
Protonotar } junge Leute
24 Andrea de Medici, der häßliche } der Gesell-
Leibgardist des Lorenzo Magnifico } schaft
25 Gianfrancesco Ridolfi }
</pre>
<br />
Die Handlung geht in der Nische eines römischen Triumphbogens aus dem Zeitalter Constantin d. Großen vor sich, der mit Reliefs aus dem Leben d. Trajan verziert ist.<br />
<br />
Zeit der Handlung: 1490<br />
<br />
Ueber dem Thorweg rechts folgende Inschrifttafel mit den lateinischen Worten:<br />
<br />
AN. MCCCCLXXXX. Quo. pulcherrima. civitas. opibus. Victoriis. artibus. aedificiisque. nobilis. copia. salubritate. pace. perfruebatur.<br />
<br />
Im Jahre 1490, als unsere schönste Stadt, durch Schätze, Siege, Künste, Bauwerke geadelt, Reichthum‚ Gesundheit und Frieden genoß.<br />
<br />
Würde ein kunsthistorisch unbefangener Zuschauer, ohne ausdrücklichen Hinweis auf den Zusammenhang den biblischen Kern in dieser weltlichen Schale erkennen? Kaum; sie würden etwa denken: hier gibt eine vornehme Renaissancefamilie Gesellschaft vor ihrer Loggia und in einer Nische im Hintergrunde an dem antiken Buffet ist ein alter Haushofmeister damit beschäftigt, das Festgetränk zu bereiten, zu dem ihm ein junger Diener die längst erwartete Citrone bringt.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIuPYB8IEtmZkFbmeudWt13JBojdthyphenhyphen9hpQ7QVsVckq2Skfqkt2hr5HjX-GVPm1-K8GyEg9MbspuQXYcFHm5p99b1bn21peGXSS1ReGvh5JL-XMI8Jepv8dtkyGUaSqZXEjxpr1fLo-jA/s1600/5X.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="578" data-original-width="615" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIuPYB8IEtmZkFbmeudWt13JBojdthyphenhyphen9hpQ7QVsVckq2Skfqkt2hr5HjX-GVPm1-K8GyEg9MbspuQXYcFHm5p99b1bn21peGXSS1ReGvh5JL-XMI8Jepv8dtkyGUaSqZXEjxpr1fLo-jA/s320/5X.jpg" width="320" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Detail aus Abb. 5.</td></tr>
</tbody></table>
Mit dem diskreten Lächeln innerer Ueberlegenheit wendet sich der müde Kulturmensch auf seiner italienischen Erholungsreise von so viel banalem Realismus ab: ihn zieht Ruskins Machtgebot hinaus auf den Klosterhof, zu einem mittelmäßigen Giottesken Fresko, wo er in den lieben, unverdorbenen einfachen Trecentisten sein eigenes Gemüt wieder zu finden hat. Ghirlandajo ist eben keine ländlich murmelnde Erfrischungsquelle für Praeraffaeliten aber auch kein romantischer Wasserfall dessen tolle Cascaden dem andern Reisetypus, dem Uebermenschen in den Osterferien, mit Zarathustra in der Tasche seines Lodenmantels, neuen Lebensmut einrauscht, zum Kampf ums Dasein, selbst gegen die Obrigkeit.<br />
<br />
Und doch! Laß uns verweilen und laß nur die andern Schönheitsbedürftigen Ferienreisenden neidlos vorübereilen zu den lieblicheren oder erhabenen Objekten ihres Kunstgenusses. <br />
<br />
<br />
<h1>
Aby Warburg: Florentinische Wirklichkeit und antikisirender Idealismus</h1>
<br />
[…] (Abb. 1) Auf einem der Fresken die Ghirlandajo für Giovanni Tornabuoni in Santa Maria Novella etwa 1490 malte, ist die Geburt des heiligen Johannes, des Schutzpatrons des Tornabuoni, allerdings sehr weltlich florentinisch dargestellt. Für Maler und Auftraggeber war es ein willkommener Vorwand, eine Staats-Visite zu schildern, wo die Damen aus dem Hause Tornabuoni eine vornehme Dame zur Geburt ihres Kindes beglückwünschen. Von beiden Seiten her, geht es würdevoll gelassen zu; die Mutter ruht auf dem schön verzierten Paradebett würdig wie eine etruskische Matrone auf ihrem Sarkophag. Eine Magd im Hintergründe bringt ihr Erfrischungen‚ im Vordergrunde ist die Amme mit der Ernährung des neugeborenen Kindes beschäftigt, während eine andere Dienerin die Hände ungeduldig ausstreckt, um das Kind zum Bade in Empfang zu nehmen. Die drei stattlichen Frauen, die der heiligen Elisabeth die Ehre ihres Besuches erweisen, sind offenbar nicht gerade freudig aufgeregt, wenigstens wissen sie ihre Gefühle unter dem schweren Faltenwurf der Brokatgewänder und der würdevoll drapirten Tuchmäntel wirksam zu verbergen. Lebhafte Beweglichkeit, die den pompös einherwandelnden Damen vom Hause Tornabuoni nicht ziemt, kommt dann aber um so explosiver in der Früchte tragenden Dienerin heraus, die vergeblich versucht, ihre unvorschriftsmässige antike Vergangenheit durch die stürmische Entfaltung häuslicher Tugenden zu verdecken, ihre heidnisch römische Abkunft verräth sich in dem gebauschten Gewand, in dem stilisirten Faltenwurf, an den sogar mit Sandalen bekleideten Füssen. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi_ZYKF_hAh8Iu4cMYSCwTHCfIUEallHPZ6fyrkwBbby2Rn5a5N_WxC8OKcOXKMHCYWa2hJuBRj9K2BwDXDo7YUux1hd00YQfCdNzzfZTmwKRPm2E_d51Vv9n6PbFMSBeRVIIaXSznU9yQ/s1600/6Tempelgang.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1040" data-original-width="1600" height="259" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi_ZYKF_hAh8Iu4cMYSCwTHCfIUEallHPZ6fyrkwBbby2Rn5a5N_WxC8OKcOXKMHCYWa2hJuBRj9K2BwDXDo7YUux1hd00YQfCdNzzfZTmwKRPm2E_d51Vv9n6PbFMSBeRVIIaXSznU9yQ/s400/6Tempelgang.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 6. Domenico Ghirlandaio: Marias Tempelgang, um 1490, <br />
Cappella Tornabuoni, Santa Maria Novella, Florenz.</td></tr>
</tbody></table>
All zu durchsichtig schimmert durch die Maske der eilig schreitenden Dienerin die römische Siegesgöttin hindurch, gewohnt im stürmischen Fluge luftige Räume zu durchmessen. Was Ghirlandajo wohl zu einem modernen individuellen Maler sagen würde, der kollegial besorgt um Domenicos Originalität, angesichts dieser eilenden Dienerin ihn schonend aber nicht ohne leisen Tadel darauf aufmerksam machen würde, dass ihm in diesem Falle doch wohl eine Figur der Antike vorgeschwebt habe. »Altro chè [und ob],« meint man ihn verächtlich hinwerfen zu hören! Das ist ja gerade unser Stolz, dass die »Nymphen der Antike« wieder zu uns zurückgekehrt sind.<br />
<br />
(Abb. 4) Domenico, weit entfernt davon, sich etwa einer Anlehnung an die Antike zu schämen, setzt ja auf dem Fresko direkt darunter auf dem Opfer des Joachim in Graumalerei Architektur links oben das Vorbild seiner Nymphe hin: Es ist die getreu copirte Siegesgöttin aus dem Triumphbogen des Constantins in Rom, die den siegreichen Kaiser bekrönt. Keine mythische Figur der antiken Sage hat bekanntlich im künstlerischen Abbilde dem Christenthum so verzweifelt Widerstand geleistet, wie das Standbild einer Siegesgöttin in der römischen Kurie, die erst zur Zeit Constantins als offizielles Kultbild der Unerbittlichkeit des heiligen Ambrosius zum Opfer fiel. Aus dem Relief im Innern des Triumphbogens hat sie aber der fromme kirchenväterliche Eifer bis auf den heutigen Tag nicht vertreiben, ja selbst ihr Fortleben in kirchlicher Kunst nicht verhindern können, denn anscheinend als gut biblische Figur, als tanzende Salome, als Erzengel, der den Tobias begleitet‚ als eilende Dienerin bei der Geburt der Maria oder Johannes, schreitet sie leichtfüssig durch die Kunst der Frührenaissance.<br />
<br />
Das stolze Flügelrauschen hat sie sich freilich abgewöhnen müssen, aber in der unmotivirt flatternden Beweglichkeit der Gewänder weht noch ein Hauch aus jenen höheren Regionen, in denen sie als heidnische Siegesgöttin schwebte. Aber kaum irgendwann hat in der florentinischen Kunst die toskanische Nymphe, die eilende Jungfrau des täglichen Lebens, sich mit solcher Unbefangenheit den Idealgestalten der Vergangenheit gleichgesetzt, wie hier auf dem Fresko des Ghirlandajo. […] <br />
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<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Aby Warburg: Werke in einem Band. Suhrkamp, Berlin, 2018. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2242 . ISBN 978-3-518-29842-8. Ausgezogen wurde aus den Seiten 198-209 und 226-227.</i></span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-38427094960199491292019-09-30T09:51:00.001+02:002019-09-30T09:51:05.458+02:00Hanns Eisler / Arnold Schönberg: Quintette für Bläser<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg5yh1zfW5lOk6VYe46somoAkOMktB0GXWfiEqeU1MOJyqV7UYTfsTeujUSN02kACX2ZeEZ1mZwNIQGOwMyMmmWEPx9c_5ZBfy6IiqwMltMWo_BRQ8RIaHHX5_6HOqTSfTrYfnNvP-73-0/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1412" data-original-width="1425" height="317" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg5yh1zfW5lOk6VYe46somoAkOMktB0GXWfiEqeU1MOJyqV7UYTfsTeujUSN02kACX2ZeEZ1mZwNIQGOwMyMmmWEPx9c_5ZBfy6IiqwMltMWo_BRQ8RIaHHX5_6HOqTSfTrYfnNvP-73-0/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Neben Alban Berg und Anton Webern gehörte Hanns Eisler zu den namhaftesten Schülern Arnold Schönbergs. Daß Alexander Zemlinsky ihn einmal als einzig selbständigen Kopf unter Schönbergs Zöglingen bezeichnete, mag daran liegen, daß sich Eisler von Beginn an den l'art pour l’art-Anschauungen des Schönbergkreises widersetzte. Der ideologische Streit zwischen Lehrer und Schüler war demnach vorprogrammiert. Schönberg prophezeite mit väterlicher Nachsicht, daß sich Eisler den Sozialismus schon abgewöhnen würde, wenn er zum ersten Mal in seinem Leben zwei anständige Mahlzeiten am Tag haben werde, drei gute Anzüge und etwas Taschengeld. Eisler hielt Schönberg für einen »Kleinbürger ganz entsetzlicher Art«. Die Auseinandersetzung beschränkte sich zunächst auf weltanschauliche Differenzen, bis die Beziehung zwischen beiden ab 1926 aufgrund von Mißverständnissen für lange Zeit einfror. <br />
<br />
In musikalischer Hinsicht brachten Eisler und Schönberg einander große Hochachtung entgegen. Schon früh erkannte Schönberg das kompositorische Talent des jungen Eisler. Er unterrichtete ihn anfangs gratis, ließ ihn zeitweise sogar bei sich wohnen und äußerte sich immer wieder anerkennend über das Schaffen seines Schülers. Eisler wiederum fühlte sich Schönberg nicht nur in menschlicher Hinsicht dankbar verbunden, sondern schätzte und bewunderte dessen künstlerische Genialität. 1954 — zum 80. Geburtstag Schönbergs — würdigte er seinen Lehrer als einen der größten Komponisten nicht nur des 20. Jahrhunderts: »Seine Meisterschaft und Originalität sind erstaunlich … Seine Schwächen sind mir lieber als die Vorzüge mancher anderer … Verfall und Niedergang des Bürgertums — gewiß, aber welch eine Abendröte!« (Vortrag in der deutschen Akademie der Künste).<br />
<br />
In techniseh-handwerklicher Hinsicht ist Schönbergs Einfluß auf Eisler groß. Beide verbindet das Prinzip des sogenannten »Lapidarstils«, wie der Leipziger Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm schrieb, der darin besteht, keine Note zuviel zu schreiben, nur das konstruktiv absolut Notwendige musikalisch zu formulieren. In stilistischer Hinsicht allerdings deutet sieh Eislers Individualität schon früh an, etwa in seiner Neigung zu sarkastisch—humoristischen Wendungen, zu einer musikalischen Leichtigkeit und einer unverkrampften Musiksprache. <br />
<br />
Ein Beispiel ist das <b>Divertimento op. 4</b> — ein frühes Bläserquintett von 1925. Eisler gelingt hier — entsprechend des Titels — jener leichte Ton, den er später mit dem Begriff »Freundlichkeit« umschrieb. Obwohl das Werk an den frei-atonalen Stil anknüpft, ist das Thema des ersten Satzes, der in erweiterter dreiteiliger Liedform (A B A) steht, fast zwölftönig. Im A-Teil wechselt das Thema von der Oboe zum Fagott, in der anschließenden Wiederholung vom Fagott zum Horn. Der B—Teil arbeitet mit knappen Kontrapunkten aus A und leitet in einem Kanon zur Reprise des A-Teils über. Einen ursprünglich geplanten Mittelsatz — ein kurzes Menuett mit Trio — hat Eisler verworfen. Der abschließende Variationssatz stellt ein sparsam begleitetes siebentaktiges Thema auf, das in sechs beinahe witzigen Variationen verarbeitet wird, wobei die Durchführungsart im Sinne der Vorform der Zwölftontechnik erfolgt. In der Coda erscheinen die vorangegangenen Variationen erneut in verknappter, komprimierter Form.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiJGHXZ3jMd8rURILbjvUfxKxp9CO1_itZF0WMEC_HD8e4HdmdN7AvhixzF40zjGiChv5e_uMqwa6xYaUj3aDjj99JdWh-LlbbGtjmPvpvz7UKxdTS52UueLh6K3AhVYTBvyxmPeY9x8Q0/s1600/1HannsEisler.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1257" data-original-width="1273" height="315" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiJGHXZ3jMd8rURILbjvUfxKxp9CO1_itZF0WMEC_HD8e4HdmdN7AvhixzF40zjGiChv5e_uMqwa6xYaUj3aDjj99JdWh-LlbbGtjmPvpvz7UKxdTS52UueLh6K3AhVYTBvyxmPeY9x8Q0/s320/1HannsEisler.jpg" width="320" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Hanns Eisler in Malibu, Kalifornien, 1947</td></tr>
</tbody></table>
Ein <b>Ouintett op. 26</b> mit gleichter Besetzung wie Eislers Werk (für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott) schreibt Arnold Schönberg 1925/24. Es ist sein konservativster Versuch, strenge Zwölftontechnik mit klassischen Satzweisen und Formen zu versöhnen. Die vier Satze des etwa 40 Minuten langen Werkes folgen treu den klassischen Typen: Sonatenhauptsatz, Scherzo mit Trio, dreiteilige Liedform, Rondo. Die Grundform der Reihe mit ihren drei Spiegelungen bildet in den vier Sätzen das alleinige Material aller Themen. Die Reihe selbst ist mit zielbewußter List so erfunden, daß ihre Hälften sich wie Tonika und Dominante verhalten (es-g-a-h-cis-c = b-d-e-fis-gis-f). Beantwortungen werden damit in der oberen Ouinte möglich, von denen Schönberg mehrfach Gebrauch macht. Der so zustande kommende pseudo-tonale Charakter der Musik bildet einen paradoxen Gegensatz zur strengen zwölftönigen Konstruktion der Komposition, die eigentlich Konsonanz und Tonalitat ausschließt. Die Uraufführung des Ouintetts fand anläßlich des 50. Geburtstags von Schönberg am 15. September 1924 in Wien statt. <br />
<br />
Inwieweit sich neue Kompositionsmethoden wie die Zwölftontechnik auch für den Film — also für »angewandte Musik« — eigneten, untersuchte Hanns Eisler während seiner Exiljahre in Amerika: zwischen Januar 1940 und Oktober 1942. Die 1909 gegründete Rockefeller-Stiftung, die zunächst nur naturwissenschaftliche Forschungen unterstützt hatte, weitete nun ihre Förderung auch auf kulturelle Projekte aus, u. a. auf Rundfunk und Film. Daher wurde Eisler an der New Yorker »New School of Social Research« ein Stipendium »experimentelle Studien der Musik in der Filmproduktion« zur Verfügung gestellt. Dies war nicht nur in künstlerischer Hinsicht wichtig für Eisler, sondern sicherte ihm zugleich seinen Lebensunterhalt für wenigstens zwei Jahre. <br />
<br />
Die theoretische Auswertung der Forschungsergebnisse zwschen 1942 und 1944 wurde in dem Buch »Komposition für den Film« (1947, Oxford University Press) zusammengefaßt. Für seine Untersuchungen wählte Eisler u.a. kurze Dokumentarfilme aus, z.B. den Stummfilm »Regen« von Joris Ivens. Zu diesem Leinwandstück komponierte Eisler 194l ein zwölftöniges Bläserquintett: die <b>Variationen »14 Arten den Regen zu beschreiben«</b>, das der Komponist für sein bestes Kammermusikwerk hielt. Gleich zu Beginn des Werks zitiert er in einem Anagramm Schönbergs Initialen (A-eS-C-H) und widmet es drei Jahre später seinem Lehrer zum 70. Geburtstag. Schönberg gefiel das Stück, er wollte es zusammen mit dem Film in seiner Vorlesung an der Universität vorführen. Auch Brecht mochte es, da es für ihn »etwas von chinesischer Tuschzeichnung« habe. Eisler wollte mit dem Stück einerseits einen akustischen Eindruck vom Naturprozeß »Regen« vermitteln, ohne jedoch deskriptiv oder malerisch zu werden. Andererseits stand der Regen für Eisler — entsprechend seiner persönlichen Situation im Exil und der politischen Lage in Deutschland — auch als Symbol für Trauer. Musikalisch äußert sich das in einem agressiven und unsentimentalen Ton, wie man ihn auch aus Eislers Kampfmusik kennt.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Antje Hinz, im Booklet</i></span><br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgLyAyczPXRdzkWDOHekOo4TKaIBcB4To8pxPDc5Sn6cZmYSV3c99zaYu7KWFviH3BE1-OuenX9JLjLFZVqBzt2LgeAjN4-q8EQ6dVb6_n3grKwkBo3iRcG6YpKZdvhtszpx5Njr7J8lOQ/s1600/2ArnoldSch%25C3%25B6nberg.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1265" data-original-width="1265" height="319" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgLyAyczPXRdzkWDOHekOo4TKaIBcB4To8pxPDc5Sn6cZmYSV3c99zaYu7KWFviH3BE1-OuenX9JLjLFZVqBzt2LgeAjN4-q8EQ6dVb6_n3grKwkBo3iRcG6YpKZdvhtszpx5Njr7J8lOQ/s320/2ArnoldSch%25C3%25B6nberg.jpg" width="320" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Porträt Arnold Schönberg von Karl Schrecker, um 1939</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<pre>TRACKLIST
HANNS EISLER
(1898-1962)
[1] Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben op.70 12:56
Fourteen ways to describe the rain
(Variationen - variations)
Kammermusikvereinigung der Deutschen Staatsoper Berlin:
Wilfried Winkelmann, Flöte - flute
Hans Himmler, Klarinette - clarinet
Friedrich-Carl Erben, Violine I und Leitung - violin I and direction
Arnim Orlamünde, Viola
Wolfgang Bernhardt, Violoncello
Jutta Czapski, Klavier - piano
Divertimento op. 4 6:47
[2] 1. Andante con moto 2:10
[3] 2. Thema mit Variationen 4:35.
ARNOLD SCHÖNBERG
(1874-1951)
Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott op. 26 39:19
Quintet for Flute, Oboe, Clarinet, Horn and Bassoon
[4] l. Schwungvoll 11:29
[5] 2 Anmutig und heiter; scherzando 9:12
[6] 3. Etwas langsam (Poco Adagio) 9:23
[7] 4 Rondo 9:15
Danzi-Bläserquintett Berlin:
Werner Tast, Flöte - flute
Klaus Gerbeth Oboe
Manfred Rümpler, Klarinette - clarinet
Gerhard Meyer, Horn
Eckart Königstedt, Fagott - bassoon
Total: 59:13
Eisler [op. 70]:
Recording: Berlin, Christuskirche, 5. 10/1967
Recording Producer and Balance Engineer: Bernd Runge, Eberhard Richter
Recording Engineer: Jürgen Regler, Werner Ebel
Eisler [op. 4] / Schönberg:
Recording: Dresden, Lukaskirche, 12/1987 und 1/1988
Recording Producer: Eberhard Geiger
Balance Engineer: Eberhard Richter, Horst Kunze
Recording Engineer: Hans-Jürgen Seiferth.
(p) 1968/1990
(c) 1997
</pre>
<br />
<br />
<span style="font-size: x-large;"><span style="color: red;"><b>Navid Kermanis <i>ungläubiges Staunen</i> über den<i> SOHN</i></b></span></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi6pD6nyr6VDLzZ6jE9pavZ0iyRKKMdhmD5a-cu-Kf8qNh13QKI6BbQEfX3-LtmkBk3HvAqTQr-gEDTuBjlyjr72BQaSioMZOukD9hn252v3TICSbDU-76aleG7_7ZFV6vmeIVKbcjlOa4/s1600/01.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="616" data-original-width="630" height="624" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi6pD6nyr6VDLzZ6jE9pavZ0iyRKKMdhmD5a-cu-Kf8qNh13QKI6BbQEfX3-LtmkBk3HvAqTQr-gEDTuBjlyjr72BQaSioMZOukD9hn252v3TICSbDU-76aleG7_7ZFV6vmeIVKbcjlOa4/s640/01.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Christuskind. Perugia, um 1320. Nußbaumholz, Höhe 42,2 cm. Bode-Museum, Berlin.</td></tr>
</tbody></table>
Der Junge ist häßlich. Er ist noch viel häßlicher als auf diesem oder überhaupt jedem Photo, das ich im Internet aufgestöbert oder mit der guten Kamera, die ich mir geborgt, selbst aufgenommen habe. Von Bild zu Bild klickend, würde ich so weit gehen zu sagen, daß der Junge geradezu photogen ist – wenn ich mir sein wirkliches Aussehen vor Augen führe. Der Mund zum Beispiel, dieser offene Mund: hasenschartig der Unter-, hervorstehend der Oberkiefer, und mehr noch die Lippen: die untere kurz oder genaugenommen nicht kurz, sondern gestaucht, fett in die beiden Wölbungen sich dehnend, dazu eine Oberlippe wie ein Zelt, das von zwei Schnüren nach oben gezogen wird und sich seitlich bis über die Mundwinkel ausbreitet. Auf den Aufnahmen, weil sie immer nur einen Blickwinkel einfangen, ist bestenfalls zu ahnen, wie blöd der Junge mit seinen auseinanderklaffenden Lippen aussieht, wirklich blöd, also mehr als nur unschön, nämlich tumb, und zwar so eine fiese Tumbheit, die zugleich etwas Plumpes und Garstiges hat, etwas Verzogenes, Bengelhaftes, nur an sich Denkendes. Unangenehm, geradezu unappetitlich ist die Vorstellung eines Kusses, so gern und unbefangen man sonst von Kindern geküßt wird – aber von dem? Es gibt so Kinder, die sich mit fünf Jahren immer noch in der ungeputzten Pofalte kratzen, ungeniert, und einem die Scheiße noch entgegenstrecken. Bei diesem ist es nur Farbe, die abgeblättert ist, aber ausgerechnet an den drei Fingern, die er segnend hochhält, von der Nagelspitze bis übers zweite Gelenk. Im ersten Augenblick fürchtet man, er würde sie gleich in den Hals stecken, so gekrümmt sind die braunen Finger schon.<br />
<br />
Und wie rund er ist, also nicht fett im Sinne von schwergewichtig, vielmehr gerundet, die Nase breiter als lang und die Haut wie aufgeblasene Ballons gewölbt. Weil die zurückgezogene Unterlippe das ballrunde Kinn in die Höhe hebt, wirken die Wangen noch kugeliger. Im ganzen besteht das Gesicht mithin aus drei, nein: vier, nein: fünf Bällen, weil das Doppelkinn und die Nasenspitze ebenfalls kugelrund sind, nur kann man das Kugelige eben nicht in seinem schon karikativen Volumen ermessen, wenn man den Jungen aus einem einzigen Blickwinkel, folglich nur zweidimensional sieht. Die beiden Brüste sind ebenfalls rund wie bei einer Frau, fällt mir auf, da ich die Photos des Jungen betrachte, und an den Ober- und Unterarmen kringelt sich das Fett, so daß weitere Kügelchen entstehen. Ein Wonneproppen, würde eine Mutter sagen, die ihren Sohn selbst dann für den Hübschesten hält, wenn er für jeden anderen, erst recht für einen Anders- oder Ungläubigen wie mich, ein Ausbund an Scheußlichkeit ist. Auch der katholische Freund, den ich bat, bei seinem nächsten Besuch in Berlin beim Bode-Museum vorbeizugehen, weil auf den Photos, die ich ihm geschickt hatte, die Blödheit nur zweidimensional ist, selbst der Freund räumt am Telefon ein, daß er mit dem Jungen Schönheit, Anmut, Liebreiz am wenigsten assoziiert.<br />
<br />
— Haben Sie die Finger gesehen? frage ich.<br />
<br />
— Ich stehe noch davor, flüstert der Freund.<br />
<br />
Den Jungen fand er sofort, mußte nur den erstbesten Wärter nach einem häßlichen Christuskind fragen, um grinsend den Weg gewiesen zu bekommen, alle Wärter wußten Bescheid: zum Dickerchen den Korridor lang und im kleinen Kuppelsaal die erste Tür links. Hingegen im Katalog haben sie das Christuskind nicht abgebildet und selbst im Sonderkatalog der Skulpturensammlung nur ein kleines, fast schon winziges und noch dazu vorteilhaft ausgeleuchtetes Photo abgedruckt, als schäme sich die Museumsleitung dafür oder wolle keinen Ärger heraufbeschwören mit einer Art von Gotteslästerung. Dabei stört es in Berlin allenfalls noch Türken, wenn Gott gelästert wird. Vor allem aber geht es darum zu verstehen, daß genau dieser Junge den Vater lobpreist.<br />
<br />
Die katholische Kunst kenne das Motiv des kindlichen Jesus erst seit dem dreizehnten Jahrhundert, weicht der Freund in die Kunstgeschichte aus, die Skulptur müsse daher ein recht frühes, noch nicht ausgereiftes Beispiel sein. Besonders der heilige Franziskus habe das Christuskind geliebt, und Mystikerinnen hätten es in der Versenkung geherzt und in den Armen gewiegt, um sich mit der Gottesmutter eins zu fühlen.<br />
<br />
— Diesen Rotzlöffel? frage ich.<br />
<br />
— Nun ja, flüstert der Freund, er vermute, daß der Künstler in diesem speziellen Fall, der sich wohl weniger für die Unio mystica eigne, die Züge und dann wohl auch die dichten Locken des Auftraggebers verewigt habe, oder des Auftraggebers Kind.<br />
<br />
— Aha, sage ich, um auf die Erklärung überhaupt zu reagieren, mit der ich mich nicht zufriedengeben mag.<br />
<br />
Da entschuldigt sich der Freund schon, er müsse auflegen, habe mir nur rasch Bescheid geben wollen. «Schauen Sie bei Ratzinger nach», simst er noch hinterher. «Hab ich schon», simse ich zurück.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXIsy5Gco-JFYS8k4rgIxrORhJJvjdjILXN9uKV0uBkUR9EITWawHufncYnTvJQ6XHgwMQr1RirEFsFq_BWwCiVeIrAC1tjhGZPJV7luNqKHEgnqaMLOgFlI5JAklkPnum0F7AXAGMN9A/s1600/02.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="617" data-original-width="625" height="393" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXIsy5Gco-JFYS8k4rgIxrORhJJvjdjILXN9uKV0uBkUR9EITWawHufncYnTvJQ6XHgwMQr1RirEFsFq_BWwCiVeIrAC1tjhGZPJV7luNqKHEgnqaMLOgFlI5JAklkPnum0F7AXAGMN9A/s400/02.jpg" width="400" /></a></div>
Lieber hätte ich den Freund zum heiligen Franziskus befragt, der sich um die Häßlichkeit des Sohns vielleicht gar nicht scherte, weil er jedes Kind, ob häßlich, ob schön, als Gottes Kind herzte. Der zurückgetretene Papst jedenfalls, den der Freund mehr schätzt als Franziskus I., hat kein Buch über die Kindheit Jesu geschrieben. Ausgerechnet die Jahre, in denen Jesus ein Kind war, nicht mehr Baby und noch nicht Jüngling, sind in dem Kindheitsbuch ausgelassen. Benedikt XVI. schildert die Ankündigung der Geburt, die Geburt selbst, den Besuch der Weisen und die Flucht nach Ägypten – da war Jesus noch ein Baby. Dann setzt Benedikt XVI. erst wieder bei dem beinah schon Jugendlichen ein. Und dazwischen? Er wird wissen, der zurückgetretene Papst, daß es Hinweise gibt, das Kindheitsevangelium des Thomas; wenn es auch nicht in den Kanon aufgenommen worden ist, galt es Christen vieler Jahrhunderte als ein Zeugnis, das beachtet werden muß.<br />
<br />
Ohne mich in die philologische Debatte einmischen zu wollen, schien mir das Kindheitsevangelium stets ein sehr realistischer Text zu sein. Eben weil es verstört, sehr unvorteilhaft von der Vorstellung abweicht, die man sich gläubig oder ungläubig vom erwachsenen Jesus macht, konnte ich mir seine Bewahrung und Verbreitung innerhalb des Christentums nur mit einer besonders starken Überlieferungskette erklären. Denn schlüssig verbunden, in eins gesetzt mit dem geliebten Säugling und dem später so heftig liebenden Mann, fand ich das Kindheitsevangelium nie. Da spielt zum Beispiel – und das ist der Auftakt, so knallend – der Fünfjährige am Ufer eines Baches und leitet das vorbeirauschende Wasser mit bloßer Willenskraft in kleine Pfützen um. Ein Nachbarsjunge nimmt einen Weidenzweig und fegt das Wasser zurück in den Bach. Die beiden geraten in Streit, und bisher liest sich noch alles normal, eine Szene zwischen zwei Jungen, wie sie in jedem Kindergarten passiert. Aber dann schreit Jesus, daß der Nachbarsjunge wie ein Baum verdorren, weder Blätter noch Wurzeln noch Frucht mehr tragen solle. Und alsbald verdorrt der Nachbarsjunge ganz und gar, und das heißt wohl, er stirbt, verendet elendig und stürzt seine Eltern ins Unglück, wie es im Kindheitsevangelium ausdrücklich heißt. Ungerührt geht Jesus nach Hause.<br />
<br />
Und so setzt sich der Bericht fort, genau in dem Stil, mit den gleichen Charakterzügen: Im Dorf stößt ein Junge im Laufen versehentlich an Jesu Schulter. Was tut Jesus? Tötet den Jungen mit einem einzigen Wort. Und als die Eltern dieses und des anderen Jungen und immer mehr Leute sich bei Josef beschweren – was tut Jesus? Läßt alle erblinden. Und als er seinen Lehrer Zachäus an Wissen überbietet, macht er den Greis vor allen Leuten zum Gespött; Zachäus verzweifelt und will nur noch sterben wegen dieses Kindes, das ein Ausbund an Scheußlichkeit sein muß.<br />
<br />
Vielleicht sind Benedikt XVI. und mit ihm der katholische Freund zu sehr von der Schönheit gebannt, die ihnen am Christentum und damit an Jesus Christus selbst so wichtig erscheint, um das Häßliche ebenfalls zu sehen. Ich verstehe ihr Beharren, muß in einer Stadt wie Berlin nur einen gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst besuchen, um beizupflichten, wie sehr dem Christentum Schönheit heute fehlt. Armut allein macht keinen Gott groß. Indes wird Schönheit auch erst mitsamt ihres Gegensatzes wahr. Jesus selbst sagte oder soll gesagt haben, in einem Spruch, den der Kirchenvater Hippolyt überliefert: «Wer mich sucht, wird mich finden unter den Kindern von sieben Jahren an.» Das heißt doch wohl, daß man den Erlöser nicht in dem Fünfjährigen findet, den das Kindheitsevangelium beschreibt. Es heißt, daß selbst der Sohn erst werden mußte, was er in den kanonischen Überlieferungen von Anfang an ist. Jesus könnte ein Rotzlöffel gewesen sein, ein Ungeheuer von einem Kind, mit Wunderkraft ausgestattet, ja, die er jedoch voller Arglist eingesetzt. Ich fürchte, man wird meinen, ich lästere Jesus nun selbst. Dabei ist es keine Lästerung und die Arglist ein Attribut, das Gott ebenfalls zugesprochen wird.<br />
<br />
Von Bild zu Bild klickend, frage ich mich, ob Jesus nicht zum Liebenden wurde, indem er sich beschämt an die Lieblosigkeit des Kindes erinnerte, das er gewesen, ein endlich Verzückter, Beseelter, Erkennender, der selbst im Verbrecher das Gute hervorhob, selbst im Häßlichen die Schönheit pries? Es gibt diese Lieblingsanekdote der Sufis, die auch mir die liebste ist: Jesus kommt mit seinen Jüngern an einem toten, schon halb verwesten Hund vorbei, dessen Maul offensteht. «Wie schrecklich er stinkt», wenden sich die Jünger angeekelt ab. Jesus aber sagt: «Seht doch, wie herrlich seine Zähne leuchten!» Mit dem Hund meinte Jesus vielleicht auch das Kind, das er war.<br />
<br />
Aber die Mutter – man wünscht keiner Mutter, einen solchen Sohn zu haben, ihr angekündigt von Engeln, von Königen verherrlicht, und dann entpuppt er sich als verzogenes Bürschchen, das vor Wunderkraft nur so strotzt. Das Kindheitsevangelium erwähnt Maria erst ganz zum Schluß, als Jesus schon älter als sieben Jahre ist. Bestimmt hat sie sich über ihn gegrämt, sich für seine Untaten auch geschämt und dennoch zu ihm gehalten, den Wonneproppen vorbehaltlos geliebt. Das ist die Mutter, die Mutter schlechthin: egal wie das Kind ist. Das ist der Sohn, jeder Sohn, der die Liebe von der Mutter erst lernt. Im Arm halten, wiegen, wollt ich den Jungen nicht.<br />
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<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. C.H.Beck, München 2015, edition C.H.Beck Paperback, ISBN 978 3 406 71469 6. Seite 14 bis 20.</i></span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-71633372099058142092019-09-16T13:09:00.002+02:002019-09-16T13:14:17.787+02:00Hanns Eisler: Lieder (Dietrich Fischer-Dieskau, Aribert Reimann, 1987)<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhBSanGuuZC0NJM3dtDVCqyx3RubqwR51w8WDwl374sHSWU8mNwHYBat3gxNvdky9HIkfIdgmbHHv2eUH7wr0MBzXXCBvmEHAhO0nNbyVEt42BlZwxXobwmfYIs4nEIgVbQnqjkI5zGWhA/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1425" data-original-width="1410" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhBSanGuuZC0NJM3dtDVCqyx3RubqwR51w8WDwl374sHSWU8mNwHYBat3gxNvdky9HIkfIdgmbHHv2eUH7wr0MBzXXCBvmEHAhO0nNbyVEt42BlZwxXobwmfYIs4nEIgVbQnqjkI5zGWhA/s320/Cover.jpg" width="316" /></a></div>
Hanns Eislers „Hollywooder Liederbuch“ ist der vielleicht bedeutendste Liedzyklus des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache. Autorisiert sind Zusammenstellung und Reihenfolge der 47 Lieder von Eisler freilich nicht. Auf 38 Autographen findet sich der Titel (zuweilen auch zu „Hollywooder Liederbüchlein“ verkleinert), neun weitere Partituren lassen sich der Sammlung chronologisch und inhaltlich zuordnen. Eisler komponierte die Lieder in Hollywood seit dem Frühjahr 1942 neben groß besetzten Filmmusikpartituren und griff dabei auf Texte von Brecht, Hölderlin u. a. zurück: »Für mich ist es hier eine Hölle der Dummheit, der Korruption (einer wahrlich unbeschreibbaren!) und der Langeweile. Das einzig gute ist mein neues Liederbüchlein …«. Später, in Ost-Berlin, löste Eisler das Liederbuch quasi auf und verteilte die Lieder auf verschiedene Bände seiner Werkausgabe „Lieder und Kantaten“. Erst 1976, etliche Jahre nach dem Tod des Komponisten, wurde das „Hollywooder Liederbuch“ in der Gesamtausgabe „Eisler – Gesammelte Werke“ (EGW) zusammen veröffentlicht. Die erste vollständige Aufführung erfolgte dann 1982 in Leipzig.<br />
<br />
Kein anderer Liedsänger hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart stilbildend gewirkt wie Dietrich Fischer-Dieskau. Mit seinen psychologisierenden Ausdeutungen, die oft in geradezu manieristischer Weise einzelne Wörter bedeutungsvoll artikulieren, vermochte er ein großes Publikum in seinen Bann zu ziehen und viele Kollegen zur Nachahmung zu animieren. <br />
<br />
Als er sich in den 1980er Jahren dem Schaffen Hanns Eislers zuwandte, schien der Widerspruch zur Ästhetik des Komponisten, der sich über solch einfühlendes Singen stets mokiert und für seine Lieder eine ganz andere Darstellungsweise verlangt hatte, unvermeidlich. Wenn man nun die Aufnahmen Fischer-Dieskaus von Exil-Liedern Eislers hört, stellt man mit einigem Erstaunen fest, daß der Sänger sich dafür einen ganz besonderen Interpretationsstil zurecht gelegt hat, der von seinem eigenen einfühlenden Singen ebenso weit entfernt ist wie von Eislerscher „Freundlichkeit“. Zwar gibt es auch hier einige Lieder, die Fischer-Dieskau auf seine bekannte Weise interpretiert, etwa wenn er im Hölderlin-Fragment «An die Hoffnung» das Wort „kalt“ mit schneidender Schärfe artikuliert, bei „stille“ still wird und das „schaudernde Herz“ mit bebender Stimme veranschaulicht. <br />
<br />
Doch das ist hier die Ausnahme. Die meisten Lieder geht Fischer-Dieskau in einer Art Bänkelsänger-Manier an: er verschleift die Tonhöhen mit Portamenti, nimmt es mit den Zieltönen der vokalen Aufschwünge nicht immer genau, und verfällt gelegentlich in einen ungepflegten Sprechgesang. Erstaunlicherweise appliziert er diese Vortragsweise nicht nur jenen Brecht-Liedern wie etwa den Fünf Hollywood-Elegien, die ihres satirischen Gehaltes wegen dafür sich anzubieten scheinen. Nein, auch das zweite und dritte der Hölderlin-Fragmente geht Fischer-Dieskau in solch hemdsärmeliger Weise an und vergröbert diese subtilen Gebilde in beinahe schon grotesker Weise.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quellen: <a href="https://www.breitkopf.com/work/8610/hollywooder-liederbuch" target="_blank">Breitkopf und Härtel</a> bzw. <a href="http://www.christoph-keller.ch/de/eislergesang.php" target="_blank">Christoph Keller</a></i></span><br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgcI-1O9mDRnQft2QI6MHj3Fgw0OfYiGdQ0UMvFMgUHjtYw-sFjSYci8lq4ES6pRnzx0NSJLvoEEgZDJi9Z4SKNbHplLntXEHabmyt9g6OxJCz0B-MhPj6m_KSdsvQ5FjqoicV30fG1PS4/s1600/eisler-hanns.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="552" data-original-width="786" height="280" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgcI-1O9mDRnQft2QI6MHj3Fgw0OfYiGdQ0UMvFMgUHjtYw-sFjSYci8lq4ES6pRnzx0NSJLvoEEgZDJi9Z4SKNbHplLntXEHabmyt9g6OxJCz0B-MhPj6m_KSdsvQ5FjqoicV30fG1PS4/s400/eisler-hanns.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Der Komponist Hanns Eisler bei der Arbeit, <br />
fotografiert von Gerda Goedhardt, 1944</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<pre>TRACKLIST
Hanns Eisler (1898-1962)
Lieder
01. Spruch 1939 [01:22]
02. In die Städte kam ich [02:16]
03. An die Überlebenden [01:50]
04. Über die Dauer des Exils [01:26]
05. Zufluchtsstätte [00:58]
06. Elegie 1939 [02:37]
07. An den Schlaf [01:25]
08. An den kleinen Radioapparat [01:05]
09. In den Weiden [00:52]
10. Frühling [01:11]
11. Auf der Flucht [01:13]
12. Über den Selbstmord [01:42]
13. Gedenktafel für 4000 Soldaten, die im Krieg
gegen Norwegen versenkt wurden [00:40]
14. Spruch [01:10]
15. Hotelzimmer 1942 [01:55]
16. Die Maske des Bösen [01:02]
17. Despite These Miseries [01:54]
18. The Only Thing [01:50]
19. Die letzte Elegie [01:21]
20. Unter den grünen Pfefferbäumen [00:52]
21. Die Stadt ist nach den Engeln genannt [01:33]
22. Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen [00:54]
23. Diese Stadt hat mich belehrt [01:06]
24. In den Hügeln wird Gold gefunden [00:48]
25. In der Frühe [01:46]
26. Erinnerung an Eichendorff und Schumann [00:52]
27. An die Hoffnung [01:10]
28. Andenken [02:01]
29. Elegie 1943 [01:48]
30. Die Landschaft des Exils [01:30]
31. Verfehlte Liebe [01:09]
32. Monolog des Horatio [01:17]
Total 44:50
Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton
Aribert Reimann, Piano
Recorded at Sender Freies Berlin, Kleiner Sendesaal, in December 1987
Recording producers: Ursula Klein, Wolfgang Mohr
Recording engineer: Harry Tressel
(C) 2002
</pre>
<br />
<br />
<h1>
<span style="color: red;">Edmund Wilson:</span></h1>
<br />
<h1>
<span style="color: red;">Paul Valéry</span></h1>
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgDrdOLXTf4xrU_uicsC4XeTlonfcVlpH0fLxUuzWU4fDCv0rHul8lfz6MRwj8Cq67-LAlO0cneMOsePJpI9fCCY36XBxSth4NiWNnNtYngUgReggp0SQc1qmvHbhcrZfhgfptXXmnVc1k/s1600/1.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="776" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgDrdOLXTf4xrU_uicsC4XeTlonfcVlpH0fLxUuzWU4fDCv0rHul8lfz6MRwj8Cq67-LAlO0cneMOsePJpI9fCCY36XBxSth4NiWNnNtYngUgReggp0SQc1qmvHbhcrZfhgfptXXmnVc1k/s640/1.jpg" width="483" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Paul Valéry (1871-1945)</td></tr>
</tbody></table>
Im Alter von 22 Jahren traf Valéry das erste Mal mit Mallarmé zusammen; das war 1892; er wurde danach einer der treusten und ernsthaftesten Anhänger Mallarmés. Valéry schrieb damals wenig, und er versammelte seine Verse nicht einmal zu einem Buch; doch die Symbolisten der damaligen jüngeren Generation scheinen seine Überlegenheit von Anfang an akzeptiert zu haben. Wir sehen heute in diesen Gedichten vor allem das Keusch-Himmlische, die Blau-und-weiß-Stimmung solcher Mallarmé-Gedichte wie »Erscheinung« in, wie uns scheint, verdünnter und verwässerter Form. Wie sein Meister wird Valéry »verfolgt« vom »Azur«; aber jener Azur ist weniger der reine, blaue Raum, sondern eher eine verdünnte obere Luftschicht. Aber manchmal ist in diesen frühen Gedichten schon der späte Valéry zu erkennen: sein typisches Interesse an der vom Material unabhängigen Methode führt ihn dazu, zwei Versionen eines Sonetts zu veröffentlichen; und in dem vielleicht bemerkenswertesten frühen Gedicht, dem unvollendeten »Profusion du Soir«, wird der Sonnenuntergang, den der Dichter schaut, durch eine Valéry eigene Technik seinem Bewußtsein assimiliert, bis er oft nur noch ein Bildgefüge für einen Komplex von Gefühlen und Gedanken zu sein scheint.<br />
<br />
Valéry hat uns eine seltsame Beschreibung seiner damaligen Haltung Mallarmé gegenüber hinterlassen:<br />
<br />
»Als ich Mallarmé persönlich kennenlernte, bedeutete mir die Literatur fast nichts mehr. Lesen und Schreiben waren mir zur Last, und ich muß gestehen, daß etwas von dieser Unlust geblieben ist. Die Erkenntnis meines Ich um ihrer selbst willen, die leidenschaftliche Aufhellung dieser Erkenntnis, der Wunsch, mein Dasein klar und scharf zu sehen, beschäftigten mich unablässig. Dieses verborgene Leiden entfernt von der Literatur, obwohl sein Ursprung in ihr zu suchen ist.<br />
<br />
Mallarmé jedoch stellte in meinem inneren System die Verkörperung der bewußten Kunst und den höchsten Grad des edelsten literarischen Ehrgeizes dar. Sein Geist war dem meinen ständig nah, und ich hoffte, daß bei allem Altersunterschied und ungeheuren Abstand unserer Leistungen doch der Tag kommen würde, an dem ich ihm ohne Scheu meine eigensten Probleme und Ansichten darlegen könnte. Nicht etwa, daß er mich einschüchterte, denn niemand war sanfter noch von reizenderer Einfachheit als er; aber damals meinte ich, literarische Arbeit sei kaum vereinbar mit dem Streben nach Strenge und vollkommener Wahrhaftigkeit des Denkens. Eine äußerst heikle Frage. Durfte ich sie Mallarmé vorlegen? Ich liebte ihn und stellte ihn höher als alle; aber ich hatte aufgehört, das anzubeten, was er sein Leben lang angebetet, dem er es ganz geweiht hatte, und ich fand nicht den Mut, ihn das wissen zu lassen.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgURbdr9CxsvFnq9o-p19V9okVg3ueZtnpyD-CDJ3EBchgYg147SGRZQKKc4gwH5FhPyckUeSDhkHKEkAizDc3ELiCMOC4o8FoKxfKvf28YnNZ9UjZIFvuDmZsu_8Yme-fadUqo2vlL2dI/s1600/2.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="768" data-original-width="768" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgURbdr9CxsvFnq9o-p19V9okVg3ueZtnpyD-CDJ3EBchgYg147SGRZQKKc4gwH5FhPyckUeSDhkHKEkAizDc3ELiCMOC4o8FoKxfKvf28YnNZ9UjZIFvuDmZsu_8Yme-fadUqo2vlL2dI/s400/2.jpg" width="400" /></a></div>
Doch schien mir, ich könnte ihm nicht aufrichtiger huldigen, als indem ich ihm meine Gedanken anvertraute und ihm darlegte, wie sehr seine Forschungen und die so feinen, so genauen Analysen, von denen sie ausgehen, in meinen Augen das Problem der Literatur verändert und mich dazu gebracht hatten, das Spiel aufzugeben. Es zielten nämlich die Bestrebungen Mallarmés, in genauem Gegensatz zu den Lehren und den Bemühungen seiner Zeitgenossen, dahin, den gesamten Bereich der Literatur einer abstrakten Ordnung der Formen zu unterwerfen. Höchst erstaunlich ist es, daß er durch das vertiefte Studium seiner Kunst, ohne wissenschaftliche Kenntnisse, zu Begriffen so abstrakter Art, so nah verwandt den höchsten Spekulationen bestimmter Wissenschaften, gelangte. Er sprach übrigens von seinen Ideen nie anders als in Gleichnissen. Es war eigentümlich, wie sehr eine lehrhafte Darstellung ihm widerstrebte. Sein Beruf, den er verabscheute, mochte zu dieser Abneigung beitragen. Versuchte ich, mir über sein Streben klar zu werden, so erlaubte ich mir freilich, es im stillen auf meine Art zu benennen. Die Literatur im allgemeinen schien mir der <i>Arithmetik</i> vergleichbar, d. h. der Lösung von Einzelaufgaben, aus denen sich der Lehrsatz nur schwer entnehmen läßt; die Literatur, wie er sie sich dachte, schien mir der <i>Algebra</i> zu entsprechen, denn sie setzte den Willen voraus, die Sprachformen selbst sichtbar darzustellen, sie durch den Gedanken hindurchscheinen, sie rein um ihrer selbst willen sich entfalten zu lassen.<br />
<br />
Aber von dem Augenblick an, da jemand eine Methode gefunden und erfaßt hat, ist es zwecklos, sich mit ihrer Anwendung abzugeben — sagte ich mir.<br />
<br />
Der Tag, auf den ich hoffte, kam nie.«<br />
<br />
Mallarmé starb 1898. Valéry aber hatte bereits eine Krise durchlebt, die dazu führte, daß er es aufgab, Gedichte zu schreiben. Wie wir von Valéry Larbaud wissen, war diese moralische und intellektuelle Krise durch eine unglückliche Liebesaffäre heraufbeschworen worden. In schlaflosen Nächten kämpfte Valéry mit seinen Gefühlen: »Der Wille, auf sich selbst zurückgeworfen‚ schulte sich zum Sprung, die Idole zu zerbrechen und, um welchen Preis auch immer, sich von diesen Täuschungen zu befreien: der Literatur und der Empfindung. Zum Wendepunkt, zum teuren Sieg kam es in einer stürmischen Nacht, in einem jener Stürme an der Ligurischen Küste (Valéry befand sich in Genua), die nur von wenig Regen begleitet werden; doch dafür sind die Blitze so häufig und hell, daß man sie für das Tageslicht hält. Seit jener Nacht galt nichts mehr von dem, was bis dahin das Leben des jungen Mannes ausgemacht hatte. Er verließ Montpellier, wo er die Universität besucht hatte, und ging nach Paris, wo er sich, wenn er wollte, in Einsamkeit verschließen konnte, um sich jener Durchdringung seiner selbst zu ergeben, der allein er sich seitdem gewidmet hat.«<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiidiJ7fWljdF2UMPBlJgHYlYVIjWGMA5MUjHVngkfB9vJQLvqrfufeNK-3e3swtHAsztymile0cDWGWOWVkzWm9jXFrj45p0KFV3CNXSLmc4QOU3brX9MdSU0VlAjNcVJghr5etPZbbbU/s1600/3.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="750" data-original-width="508" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiidiJ7fWljdF2UMPBlJgHYlYVIjWGMA5MUjHVngkfB9vJQLvqrfufeNK-3e3swtHAsztymile0cDWGWOWVkzWm9jXFrj45p0KFV3CNXSLmc4QOU3brX9MdSU0VlAjNcVJghr5etPZbbbU/s400/3.jpg" width="270" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Val%C3%A9ry-Paul+Die-junge-Parze-Ins-Deutsche-%C3%BCbertragen-von-Paul-Celan/id/A02l1ELq01ZZA" target="_blank">Paul Valéry: Die junge Parze. </a><br />
<a href="https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Val%C3%A9ry-Paul+Die-junge-Parze-Ins-Deutsche-%C3%BCbertragen-von-Paul-Celan/id/A02l1ELq01ZZA" target="_blank">Ins Deutsche übertragen von Paul Celan. </a><br />
<a href="https://www.booklooker.de/B%C3%BCcher/Val%C3%A9ry-Paul+Die-junge-Parze-Ins-Deutsche-%C3%BCbertragen-von-Paul-Celan/id/A02l1ELq01ZZA" target="_blank">Wiesbaden, Insel Verlag, 1960.</a></td></tr>
</tbody></table>
In den folgenden zwanzig Jahren arbeitet Valéry im Kriegsministerium und in der Nachrichtenagentur Havas; er schreibt keine Gedichte mehr. Es interessieren ihn nur noch »die Erkenntnis des eigenen Ich um ihrer selbst willen, die leidenschaftliche Aufhellung dieser Erkenntnis und der Wunsch, sein Dasein klar und scharf zu sehen«. In dieser Zeit schreibt er seine <i>Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci</i> und erfindet seine mythologische Figur M. Teste. Leonardo und M. Teste (Herr Kopf, eine Parallelschöpfung zu Rabelais’ »Messer Gaster«, Herr Bauch) sind für Valéry Symbole des reinen Intellekts, des sich selbst zugewandten menschlichen Bewußtseins. Leonardos Geist als solcher ist unermeßlich größer als irgendeine seiner Manifestationen in bestimmten Tätigkeitsbereichen, im Malen, im Schreiben, in der Technik oder der Kriegskunst. Das Handeln lähmt und beraubt den Geist. Denn als solcher kann der Geist sich mit einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten beschäftigen — er wird nicht durch fachliche Grenzen eingeschränkt. Der Geist an sich ist allmächtig. Und konsequenterweise ist die Methode, die Theorie, wie etwas zu tun sei, interessanter als die Ausführung. Denn die Methode findet viel größere Anwendungsmöglichkeiten — sie kann universal angewandt werden. Wenn nämlich ein Prinzip tatsächlich »erkannt und begriffen worden ist, so ist es ganz nutzlos, die Zeit mit seiner Anwendung zu verschwenden«.<br />
<br />
Und anders als Leonardo haßt Monsieur Teste es, seine Methode auf irgendeine Weise praktisch zu verwenden. Seine ganze Existenz ist der Überprüfung seiner eigenen geistigen Prozesse gewidmet. Er ist das Symbol des menschlichen Bewußtseins, das sich isoliert hat von »allen Meinungen und geistigen Gewohnheiten, die dem gewöhnlichen Leben und dem Verkehr mit anderen Menschen entspringen‚« und das erlöst ist von »allen Empfindungen und Ideen, die durch sein Unglück und seine Furcht, seine Ängste und Hoffnungen, nicht aber frei durch reine Welt- und Ichbetrachtung im Menschen erzeugt oder erregt werden«. Herr Teste ist, wie sein Schöpfer zugibt, freilich ein Ungeheuer. Und obwohl er auf uns eine gewisse Faszination ausübt, lehnen wir ihn ab: er läßt uns schaudern. Wir fühlen mit Madame Teste, der bei Herrn Testes Verhalten unbehaglich zumute wird, bei seiner Art, einen Raum zu betreten, so, als sähe er ihn gar nicht, oder wenn er sie mit »Wesen« oder »Ding« anredet. Doch obgleich sie ihn auch fürchtet und zugleich ihn nicht versteht, hat sie doch nie aufgehört, ihn zu verehren; sie beneidet die andern Frauen, die gewöhnliche Männer geheiratet haben, keinesfalls. Und wenn er von seinen Meditationen erwacht, greift er manchmal unvermittelt wie mit Erleichterung, Appetit und Erstaunen nach ihr. Monsieur und Madame Teste sind einander schließlich unentbehrlich.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhIGk7eeqAr_Sx6PXYguRwGoAJ7mO8INgubCXyQaTfmMX8JhAXZAxAVH4vwhyphenhyphenuwyV4xw1nl3KXRPcnP_lUpLiOL08O-Ew43F99C52FriQShNEz1O21sKe3Ui7UrztqDwmDAgN3tsuyJZl4/s1600/4.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="580" data-original-width="580" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhIGk7eeqAr_Sx6PXYguRwGoAJ7mO8INgubCXyQaTfmMX8JhAXZAxAVH4vwhyphenhyphenuwyV4xw1nl3KXRPcnP_lUpLiOL08O-Ew43F99C52FriQShNEz1O21sKe3Ui7UrztqDwmDAgN3tsuyJZl4/s400/4.jpg" width="400" /></a></div>
1900 heiratet Valéry eine Dame aus dem Mallarmé-Kreis. Und nach Ablauf der zwanzig Jahre beginnt er wieder zu schreiben. André Gide überredet ihn endlich dazu, der Sammlung und Veröffentlichung seiner frühen Gedichte zuzustimmen; dabei kommt Valery der Gedanke, der Sammlung ein neues Gedicht von etwa 25 bis 50 Versen hinzuzufügen — das letzte Gedicht, das er vielleicht je schreiben würde. Zuvor jedoch, in der Zeit seiner Zurückgezogenheit, hatte er sich mit Psychologie, Physiologie und Mathematik befaßt; es sind vor allem methodische Fragen, die ihn beschäftigen. »Zwanzig Jahre ohne Gedichte zu schreiben, sogar ohne den Versuch dazu; und fast sogar ohne welche zu lesen! Dann stellen sich wieder diese Probleme; und man entdeckt, daß man sein Metier nicht beherrscht hatte, daß die kleinen Gedichte, die man vor so langer Zeit geschrieben hatte, den Schwierigkeien ausgewichen waren, daß sie unterdrückt hatten, was sie nicht auszudrücken wußten, daß sie sich einer infantilen Sprache bedient hatten.« In seinem neuen Gedicht unterwirft er sich »Gesetzen, festen Bedingungen, <i>die sein wahres Objekt ausmachen.</i> Es ist wirklich eine Übung, als solche gedacht, durchgeführt und überarbeitet: ganz das Produkt einer absichtlichen Anstrengung, dann einer zweiten absichtlichen Anstrengung, deren schwierige Aufgabe darin besteht, die erste zu verschleiern. Wer mich zu lesen weiß, wird eine Autobiografie lesen: in der Form. Der <i>Stoff</i> ist von geringer Wichtigkeit.«<br />
<br />
Und dieses Gedicht, das zunächst nur eine Seite füllen sollte, beschäftigt Valéry mehr als vier Jahre und beläuft sich schließlich auf fünfhundertundvierzig Zeilen. Im letzten Augenblick, als es gerade gedruckt werden soll (1917), findet Valéry dafür den Titel »Die junge Parze.« Aber trotz des Titels, trotz des heroisch-erhabenen Stils und der widerhallenden Alexandriner ist »Die junge Parze« kein konventionelles französisches Gedicht über ein Thema der griechischen Mythologie. Valéry spricht von der »ziemlich monströsen Paarung meines Systems, meiner Methoden und meiner musikalischen Ansprüche mit den klassischen Konventionen«. Und sicherlich verkörpert dieses geheimnisvolle Gedicht eine Gattung, die es in der Literatur bisher nie gegeben hat. Mallarmés Herodiade und sein Faun sind Vorläufer von Valérys junger Schicksalsgöttin: sie besitzen schon die gewisse Ambiguität und scheinen zeitweise weniger Figuren der Fantasie zu sein als vielmehr an metaphysischen Träumereien festgemachte Namen. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjPlpmz2D3SFS6xDanoRQp0UseFIHxI-cuGWbzNLAGzah_LumDq2Y3LsTvshVunYCcHlfZeVIEceBxFHt42HM6-bQI-86IVvDCSgEMCFv7O9ImGwLNhxdf3J2031qJXfIm-iThijZvgRh0/s1600/5.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="700" data-original-width="583" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjPlpmz2D3SFS6xDanoRQp0UseFIHxI-cuGWbzNLAGzah_LumDq2Y3LsTvshVunYCcHlfZeVIEceBxFHt42HM6-bQI-86IVvDCSgEMCFv7O9ImGwLNhxdf3J2031qJXfIm-iThijZvgRh0/s400/5.jpg" width="332" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Jacques Emile Blanche: Paul Valéry, 1923.</td></tr>
</tbody></table>
Valéry aber hat die Subtilität der Konzeption, die Komplexität der Darstellung dieser typisch symbolistischen Form viel weiter vorangetrieben als Mallarmé. Ist »Die junge Parze« der Monolog einer jungen Schicksalsgöttin, die gerade von einer Schlange gebissen wurde? Ist es die Träumerei des Dichters, der eines frühen Morgens im Bett erwacht und mehr oder weniger wach den Tagesanbruch erwartet? Ist es die Reise des menschlichen Bewußtseins, das seine Grenzen überprüft und seine Horizonte erforscht: die Liebe, das einsame Denken, das Handeln, den Schlaf, den Tod? Ist es das Drama des Geistes, der von der Welt sich zurückziehen und über sie hinaus gelangen will, dabei aber unweigerlich ins Leben zurückgezogen und in die Prozesse der Natur verwickelt wird? Es ist alles das — und doch sind die verschiedenen Schichten, »die physische, die psychologische und die esoterische«‚ wie Francis de Miomandre sie nennt, nicht übereinander gelegt wie in einer konventionellen Allegorie oder einer Fabel. Sie sind miteinander verschmolzen und gehen immer ineinander über; und das macht die Dunkelheit des Gedichts aus. Die Dinge, die in der »Jungen Parze« und in Paul Valérys anderen mythologischen Monologen geschehen — im »Narziß«‚ in der »Pythia« und der »Schlange« jener an poetischer Aktivität so reichen Periode, die direkt auf »Die Junge Parze« folgt — diese Dinge sind einerseits nie ganz vorstellbar als Ereignisse, die tatsächlich geschehen; andrerseits aber sind sie auch nie allein auf die Gedanken im Kopf des Dichters zu reduzieren. Das Bild kommt nie voll zum Vorschein; die Idee ist nie ganz ausformuliert. Und trotz aller Herrlichkeiten des Klangs, der Farbe und der Suggestion, wie wir sie Strophe für Strophe in diesen Gedichten finden, scheinen sie mir doch unbefriedigend, weil sie nicht als Ganze zu erfassen sind.<br />
<br />
Vergleichen wir aber Valéry mit Mallarmé, an den er in seinen Gedichten so oft erinnert, dann wird deutlich, daß Valéry über die größere Kraft und die stärkere Imagination verfügt. Mallarmé ist immer Maler, gewöhnlich ein Aquarellist — er schrieb Verse auf die Fächer der Damen, so wie er sie auch mit kleinen Figuren und Blumen hätte bemalen können. Er verfügt über Farbigkeit und Tiefe, aber es ist nur die Farbigkeit und Tiefe, die dem erreichbar ist, der flächig arbeitet; während Valérys Genius eher plastisch ist: seine mythologische Lyrik ist von der Dichte stark geballter Wolken — und wären sie nicht Wolken, wir müßten sie marmorn nennen. Er zeigt die Figuren und Gruppen halbplastisch, und er erzielt weniger Farb- als Lichtwirkungen: das Silberne, das Düstere, das Sonnige, das Durchscheinende, das Kristalline. Und mit der Emphase einer heroisch-nachklingenden Diktion, die an Alfred de Vigny erinnert, sind Valérys Verse erfüllt von dem fließenden Flimmern, den angedeuteten Ambiguitäten und den sehr fein erfaßten Zwischentönen, die er von Mallarmé gelernt hat. So wie Mallarmé Debussy Anregungen gab, wurde Valery, der Debussys Beliebtheit überlebte, in der »Jungen Parze« von Gluck inspiriert. Valéry ist auf eine Art das Maskulinum einer Kunst, deren Femininum Mallarmé ist. Jene Eigenschaften Mallarmés, die es ihm ermöglichten, eine Frauenzeitschrift herauszugeben und mit seiner typischen Nettigkeit über die Stile weiblicher Kleidung zu schreiben, werden bei Valéry durch einen kraftvolleren und kühneren Geist ergänzt, der eine natürliche Affinität zu dem des Architekten besitzt.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgNt-XQkvNwVNZoe9MXU9PKOdn3Vr6O5BWJa4V19oSCIhyISD6_qARuSHYYvW1dHX59hfTSx0bDmJrIt1EIXDWsiW3f7wrmtdsQ2p4MLu_u0OPXHq9d3KsopWc5TmvqM9WUe1VB4LWZUy4/s1600/6.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="620" data-original-width="1024" height="241" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgNt-XQkvNwVNZoe9MXU9PKOdn3Vr6O5BWJa4V19oSCIhyISD6_qARuSHYYvW1dHX59hfTSx0bDmJrIt1EIXDWsiW3f7wrmtdsQ2p4MLu_u0OPXHq9d3KsopWc5TmvqM9WUe1VB4LWZUy4/s400/6.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Rainer Maria Rilke und Paul Valéry in Anthy-sur-Léman (Haute-Savoie),<br />
15.09.1926. Im Hintergrund der Bildhauer Henri Vallette</td></tr>
</tbody></table>
Zudem verfügt Valéry, verglichen mit Mallarmé, über die größere Substanz. Trotz der Behauptung, daß ihn in seinen Arbeiten nur die Form, nur die Methode interessieren, hat Valérys Poesie eine gewisse dramatische Qualität. Vor allem beschäftigt ihn ein ganz besonderer Konflikt — der Konflikt zwischen dem Teil der menschlichen Existenz, der durch die Abstraktion eines Monsieur Teste dargestellt wird und jenem Teil, der eingetaucht ist in die Empfindungen der Alltagswelt und durch deren Ereignisse abgelenkt wird. Wenn man nur den »Monsieur Teste« lesen würde — obwohl Monsieur Teste recht humorvoll dargestellt wird — oder nur Valérys Prosa, könnte man Valéry für einen ausgesprochen trockenen und hartnäckig abstrakten Kopf halten. Und in der Tat spielt der Gesichtspunkt des Monsieur Teste in Valérys Gedichten eine auffällige Rolle, wie auch seine Prosa von ihm beherrscht wird: keiner seiner Figuren ist nämlich jemals ein Leben erlaubt, das unabhängig ist von der Welt des Intellekts, in der sie jederzeit als Abstraktion erscheinen kann; und mit Recht verdächtigen wir Valéry, daß er dem Menschen die Marmorsäulen und die hohen Palmen vorzieht, die er zu Helden von Gedichten macht, oder daß er sie zumindest befriedigender findet. Sogar in der Liebe neigt er dazu, die sinnliche Befriedigung hinauszuzögern und seine Geliebte in den Zustand zeitloser Erwartung zu versetzen, die für ihn rivalisierende Befriedigung bedeutet; in »Die Schritte« bittet er die Frau, sich nicht zu beeilen, denn er genießt das Warten auf sie genauso wie ihren Kuß; und die Schlange läßt er zu Eva sprechen, als diese gerade die Frucht des Baumes kosten will:<br />
<br />
»Que si ta bouche fait un rêve,<br />
Cette soif qui songe à la sève,<br />
Ce délice à demi futur,<br />
C'est l’éternité fondante, Eve!« <br />
<br />
(Wenn dein Mund träumt,<br />
jenen Durst, der auf Wein sinnt‚<br />
jene Köstlichkeit der halben Zukunft,<br />
das ist begründete Ewigkeit, Eva!)<br />
<br />
So scheint er im Grunde schlafende oder ermüdete Frauen am meisten zu lieben, weil er sie sich dann, wie in »Die Schläferin«‚ als Formen reiner Abstraktion vorstellen kann, aus denen die Person entflohen ist; oder er kann, wie in »La Fausse Morte«, darüber nachdenken, daß die Sättigung der Liebe eine Art Tod ist; wie in »Intérieur« schreibt er den Frauen eine immaterielle Anwesenheit zu, die sich vor das Auge des Geistes schiebt wie Glas vor die Sonnenstrahlen. Jedoch hat es vielleicht nie einen Dichter gegeben, der die Sinnenwelt mit mehr Geschmack genossen hat als Valéry, oder sie anschaulicher verkörpert hat. In der Nachahmung von Formen, Klängen, Licht- und Schatteneffekten, von pflanzlicher und fleischlicher Materie durch schöne Verse ist Valéry niemals übertroffen worden. Von der Sommerzikade sagt er:<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj1lGayFXaINN5Ve-DqyGCTfzE0hYt0HNmbhjplGWKYn7ioN2uRQxHNhf78PB9XV61maHqyurs4duqs-MaAMEbx0OWipSDkJfY8d6-V8KMkC5yGj4p04F9n5y3rIhyjfZY0m69iyJOybX0/s1600/7x.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="704" data-original-width="1045" height="268" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj1lGayFXaINN5Ve-DqyGCTfzE0hYt0HNmbhjplGWKYn7ioN2uRQxHNhf78PB9XV61maHqyurs4duqs-MaAMEbx0OWipSDkJfY8d6-V8KMkC5yGj4p04F9n5y3rIhyjfZY0m69iyJOybX0/s400/7x.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Henri Cartier-Bresson: Paul Valèry, 1945</td></tr>
</tbody></table>
»L'insecte net gratte la sécheresse«<br />
(Das reine Insekt schabt die Trockenheit.)<br />
<br />
über einen Friedhof am Meer:<br />
<br />
»Où tant de marbre est tremblant sur tant d’ombres« <br />
(Wo soviel Marmor zittert über soviel Schatten.)<br />
<br />
über den Teich des Narziß im abendlichen Wald:<br />
<br />
»une tendre lueur d’heure ambigue existe«<br />
(Es herrscht ein zarter Schimmer zweideutiger Stunde.)<br />
<br />
und über das Wasser, das glatt wie ein Spiegel ist:<br />
<br />
»Onde déserte, et digne<br />
Sur son lustre, du lisse effacement d'un cygne«<br />
(verlassene Welle, würdig,<br />
daß auf ihrem Glanz ein Schwan sanft entschwinde.)<br />
<br />
Über die rauhe See heißt es:<br />
<br />
»Si l’âme intense souffle, et renfle furibonde<br />
l’onde abrupte sur l’onde abbatue, et si l'onde<br />
Au cap tonne‚ immolant un monstre de candeur,<br />
Et vient des hautes mers vomir la profondeur<br />
Sur ce roc« <br />
<br />
(Wenn die starke Seele atmet, und die plötzliche Flut<br />
auf der verlaufenen Flut wütend anschwillt, und die<br />
Fluten am Felsen branden, opfernd ein Untier der Reinheit,<br />
und es kommen hohe Seen, die die Tiefe auf den<br />
Felsen speien)<br />
<br />
Und seine menschlichen Figuren gleichen heroischen Statuen, die dennoch voller Schwingungen und zarter Verhüllungen sind. Die Schlange stellt vor uns eine Eva des Michelangelo:<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEju6wnxy2nmukhh8hU7zUdEztpuq6aXa3JS0CbA6sQ1GB39uGTJM5TInMIdZ9ByP3x9mBsvcU5IMvfJAEXjFiE95PzmETQjl_WF3wdW-cujGIoUUMR3oUvavHGTIfs3wACB0s4cDIGRn6w/s1600/8Edmund_Wilson.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="658" data-original-width="497" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEju6wnxy2nmukhh8hU7zUdEztpuq6aXa3JS0CbA6sQ1GB39uGTJM5TInMIdZ9ByP3x9mBsvcU5IMvfJAEXjFiE95PzmETQjl_WF3wdW-cujGIoUUMR3oUvavHGTIfs3wACB0s4cDIGRn6w/s400/8Edmund_Wilson.jpg" width="301" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Edmund_Wilson" target="_blank">Edmund Wilson (1895-1972), Literaturkritiker</a></td></tr>
</tbody></table>
»Calme‚ claire‚ de charmes lourde,<br />
Je dominais furtivement,<br />
L'oeil dans l’or ardent de la laine,<br />
Ta nuque énigmatique et pleine<br />
Des secrets de ton mouvement!« <br />
<br />
(Ruhig, klar, von schwerem Zauber,<br />
ich herrschte heimlich,<br />
das Auge im feurigen Gold des Haares,<br />
dein Nacken, rätselhaft und voll<br />
von den Geheimnissen deiner Bewegung.)<br />
<br />
Und später, wenn sie in Versuchung geführt wird:<br />
<br />
»Le marbre aspire, l’or se cambre!<br />
Ces blondes bases d’ombre et d’ambre<br />
Tremblent au bord du mouvement!« <br />
<br />
(Der Marmor atmet, das Gold wölbt sich,<br />
die hellen Festen des Schattens und des Bemsteins<br />
zittern am Rande der Bewegung!)<br />
<br />
Und in einer bewundernswerten Zeile der »Schläferin« enthüllt er eine liegende Figur:<br />
<br />
»Ta forme au ventre pur qu’un bras fluide drape.« <br />
(Deine Form im reinen Wind, die ein fließender Arm verdeckt.)<br />
<br />
So wechselt Valerys Poesie ständig zwischen der fühlbaren und sichtbaren Welt und einem Raum intellektueller Abstraktion. Und der Kontrast beider, der implizierte Konflikt zwischen den absoluten Gesetzen des Geistes und den einschränkenden Zufälligkeiten des Lebens — unmöglich von einander zu trennende Gegensätze — ist, wie ich meine, das eigentliche Thema seiner Gedichte. Man könnte denken, ein ziemlich undankbares Thema — jedenfalls eines, das von den Gefühlen romantischer Dichtung sehr weit entfernt ist. Doch dieser seltsame Antagonismus hat Valéry zu den einzigartigsten Gedichten inspiriert, die je geschrieben wurden, zu den unzweifelhaft großen Gedichten unserer Zeit. <br />
<br />
Als Beispiel dafür, wie Valery dieses Thema mit all seinen Mitteln angeht, können wir sein bekanntestes und vielleicht gelungenstes Gedicht anführen, »Le Cimetière Marin;« es krönt Valérys Rückkehr zur Lyrik nach der langen Zeit des Schweigens. In diesem Gedicht bleibt der Dichter eines Mittags an einem Friedhof am Meer stehen: die Sonne scheint über ihm zu verharren; das Wasser sieht so eben aus wie ein Dach, auf dem die Boote die Tauben sind. In diesem Augenblick scheint die Außenwelt jenes Absolute darzustellen, dem Valéry sich immer wieder zuwendet und von dem er seit so vielen Jahren besessen ist. Doch er ruft aus: »Mittag ohne Bewegung ... Ich bin in dir die heimliche Veränderung ... der Makel deines großen Diamanten ...« Doch die Toten dort unten, sie sind in die Leere eingegangen, sie sind Teil der unbelebten Natur geworden. Und angenommen, er selbst, der lebendige Mensch habe als Lebender nur die Illusion von Bewegung, wie der Läufer oder der Pfeil in Zenos Paradoxon? »Nein, nein!« ermahnt er sich. »Zerbrich das Brüten, die Unbeweglichkeit, die auch dich fast geschluckt hat!« Der salzige Wind erhebt sich bereits, das stille Dach des Meeres zu zerbrechen und gegen die Felsen zu schleudern. Die Welt gerät wieder in Bewegung, und der Dichter muß ins Leben zurückkehren.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhINZc1ARYnX7A8mxZ3kL7OqaMisXCcNMoPNP0I9zFh3l95wZ43IMhMITBDDHy9SsyVG8Yt8WAKNTd3q9C4kSFWJ1C70D5Fcw9vUZUpb4260709LmBOVwmkZci4L9CLQLBMaNPxSJnMwtc/s1600/9.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="500" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhINZc1ARYnX7A8mxZ3kL7OqaMisXCcNMoPNP0I9zFh3l95wZ43IMhMITBDDHy9SsyVG8Yt8WAKNTd3q9C4kSFWJ1C70D5Fcw9vUZUpb4260709LmBOVwmkZci4L9CLQLBMaNPxSJnMwtc/s400/9.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Wilson, Edmund: AXEL'S CASTLE. <br />
NEW YORK: CHARLES SCRIBNER'S SONS, <br />
1931, first edition</td></tr>
</tbody></table>
Es ist allerdings unmöglich, auch nur ein einziges Valéry-Gedicht in anderen Worten nachzuzeichnen: man ist dabei gezwungen, auf alles für Valéry Charakteristische zu verzichten. Beim Versuch, seine Bedeutung zu erklären, erklärt man zuviel. Im Grunde gibt es nämlich in einem Gedicht wie »Der Friedhof am Meer« gar keine echten Ideen, keine wirklichen allgemeinen Reflexionen: vollständiger als selbst Yeats in »Unter Schulkindern« stellt Valéry Gefühl und Idee als miteinander verschmolzen dar, und diese wiederum eingebettet in die Szene, aus der sie stammen. Ziel und Triumph des symbolistischen Dichters ist es, die Beständigkeit der Außenwelt auf ihr wechselndes Verständnis durch das Individuum reagieren zu lassen. Es ist in der Tat die Wirkung des Dichters, wenn nicht sein Ziel, uns an dem traditionellen Dualismus zweifeln zu lassen, der aus Außenwelt und Erkenntnis zwei verschiedene Dinge macht. In einem Gedicht wie »Der Friedhof am Meer« gibt es keine einfache zweite Bedeutung: es gibt die wunderbar getreue Nachahmung der sehr komplexen und sich ständig wandelnden Beziehung des menschlichen Bewußtseins zu den Dingen, deren es sich bewußt ist. Der Mittag ist die unbelebte Natur, aber auch das Absolute in der Vorstellung des Dichters; er ist auch sein zwanzig Jahre langes Nichthandeln — und auch bloß der Mittag, den es in einem Augenblick nicht mehr geben wird, weil er dann nicht mehr ruhig und nicht mehr Mittag ist. Und das Meer, das in den Augenblicken der Ruhe einen Teil des Diamanten der Natur bildet, als dessen einziger Makel — weil im Wechsel begriffen — sich der Dichter empfindet, ist auch ein Bild für das Schweigen des Dichters, eines Schweigens, das in dem Augenblick, als Wind aufkommt und die See peitscht, einer plötzlich hervorbrechenden Äußerung weichen wird, der Hervorbringung des Gedichts selbst. Welt und Dichter überschneiden sich ständig, durchdringen einander ständig, wie in einem romantischen Gedicht; aber anders als der Romantiker wird der Symbolist nicht einmal versuchen, die Beziehungen beider im Gleichgewicht zu halten. Die Konventionen der Bilderwelt des Gedichts wechseln so schnell und so natürlich, wie die Bilder die Vorstellung des Dichters durcheilen.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Edmund Wilson: Axels Schloß. Studien zur Literarischen Einbildungskraft 1870-1930. (Übersetzt von Wolfgang Max Faust und Bernd Samland). Ullstein, Frankfurt, 1980. (Ullstein-Buch Nr. 35050). ISBN 3-548-35050-X. Zitiert wurden die Seiten 53 bis 61.</i></span><br />
<br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/07/lili-boulanger-clairieres-dans-le-ciel.html" target="_blank">Lili Boulanger: Clairières dans le ciel | Jean de la Bruyère: Vom Menschen ("Ereifern wir uns nicht..."), Mit grotesken Zeichnungen von 1565.</a><br />
<br />
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<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/04/der-dirigent-bruno-walter-als.html" target="_blank">Der Dirigent als Liedkomponist (Bruno Walter) | Vorsicht, Satire - Angewandte Lyrik von Klopstock bis Blubo (Friedrich Torberg).</a><br />
<br />
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<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiQc3uursf6JgsmmvqkpvhnOyyyEwAyOh5oHPacvXzBmUKgMSLdHJJ1dFCl_kRRjIV_bqX4bv0sM3HhnRmDOT-4PI2UqIPaLVpXGUtdMp0tCz1FkDpd-CbeHDuCrRDDcFdSh7xQMcQsghk/s1600/Cover.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1421" data-original-width="1416" height="320" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiQc3uursf6JgsmmvqkpvhnOyyyEwAyOh5oHPacvXzBmUKgMSLdHJJ1dFCl_kRRjIV_bqX4bv0sM3HhnRmDOT-4PI2UqIPaLVpXGUtdMp0tCz1FkDpd-CbeHDuCrRDDcFdSh7xQMcQsghk/s320/Cover.jpeg" width="318" /></a></div>
Henry Cowell war eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten in der Geschichte der amerikanischen Musik — ein erstaunlich innovativer Komponist, ein unnachahmlicher Klaviervirtuose, ein brillanter Schriftsteller und Dozent sowie ein unermüdlicher Organisator und Propagator, der gewissermaßen im Alleingang die Grundlagen der amerikanischen Kompositionskultur schuf.<br />
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Henry Cowell wurde 1897 als Sohn eines irischen Einwanderers und einer couragierten Mutter aus dem amerikanischen Mittelwesten geboren. Nach der Scheidung der Eltern versuchte die Mutter, den Lebensunterhalt für sich und ihren Sohn zu verdienen, doch eine schwere Krankheit führte zu bitterer Armut. Henry verließ die Schule nach der dritten Klasse und verdiente mit dem Haus-zu-Haus-Verkauf von Blumen, als Kuhhirte und mit der Reinigung des Schulgebäudes das nötige Zubrot. Ein Professor der Stanford-Universität bemerkte, daß der verschmutzte Zwölfjährige einen immensen Wortschatz, ein außergewöhnlich breitgefächertes Wissen — einschließlich einer tiefen Kenntnis der Botanik — und ein enormes musikalisches Talent hatte, aber kaum buchstabieren konnte. Er vermittelte Cowell Englischunterricht in Stanford Unhersity und ein Musikstudium an der University of California in Berkeley, wo der renommierte Charles Seeger die unorthodoxen musikalischen Ansichten des jungen Studenten in geordnete Bahnen lenkte. Es dauerte nicht lange, bis Cowell mit ersten Kompositionen an die Öffentlichkeit trat.<br />
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Nach dem Militärdienst im Ersten Weltkrieg entwickelte sich Cowells Karriere sprunghaft. Das sog. „Ton-Cluster" (ein Übereinanderstellen zweier oder mehrerer in der Notation unmittelbar benachbarter Töne) wurde zu seinem Markenzeichen. Diese Tontrauben, die gelegentlich bereits in der Klaviermusik früherer Jahrhunderte begegnen, dominieren bei ihm oft ganze Stücke und verlangen vom Interpreten nicht selten den Einsatz des Unterarms, der flachen Hand oder der Faust. Das Spektakel eines sich mit diesen ungewöhnlichen Mitteln produzierenden Pianisten, der später auch die Saiten des Flügels mit den Händen anriss oder über sie hinwegstrich, machte Cowell zu einer internationalen Kuriosität. Während nur wenige Kritiker die musikalische Basis dieser Technik erkannten, zweifelte kaum jemand an Cowells künstlerischer Integrität. Zu den Berufskollegen, die ihn bewunderten, zählten neben Artur Schnabel und Alban Berg auch Béla Bartók, der Cowell persönlich um Erlaubnis bat, Ton-Cluster auch in seiner eigenen Musik zu verwenden. Obgleich Cowells Klavierwerke neue Klanghorizonte öffneten, so koexistierten seine fortschrittlichen Ideen stets mit einer traditionellen, von seiner Vorliebe für Folklore beeinflussten Melodik, die selbst seine experimentellste Musik unmittelbar zugänglich macht.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjdDBb0opDak7olU5eWhPBU4okhRcOVA91owdz5ZW9fs4sz72KaH20Ls1VxXp4Bmv9lQB7P6a2sHLE9RTKg-yAQOe2nQvaHR9BKOfyzDa-S8oh7NfJ3KPhuzn96YZEaFz9e08VUp17cnsg/s1600/1.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="671" data-original-width="1000" height="267" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjdDBb0opDak7olU5eWhPBU4okhRcOVA91owdz5ZW9fs4sz72KaH20Ls1VxXp4Bmv9lQB7P6a2sHLE9RTKg-yAQOe2nQvaHR9BKOfyzDa-S8oh7NfJ3KPhuzn96YZEaFz9e08VUp17cnsg/s400/1.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Henry Cowell in jungen Jahren, mit Klavier</td></tr>
</tbody></table>
Die hier ausgewählten Klavierwerke zeigen Cowell auf der Suche nach neuen technischen Herausforderungen und stilistischer Vielfalt. <i>Piece for Piano with Strings</i> (1924), ein Produkt seiner Europa-Tournee von 1923, wurde in Frankreich erstveröffentlicht. Der merkwürdige Titel (wörtlich „Stück für Klavier mit Saiten“) bezieht sich auf Cowells Technik des direkten Bearbeitens der Saiten mit den Händen. Detaillierte Spielanweisungen beinhalten etwa das Anzupfen mit den Fingerkuppen zur Erzeugung eines sanften Tons oder mit den Fingernägeln für härtere, geschärfte Klänge. Der für Cowell so typische Klavierdonner ist mit „weitgriffigen" Ton-Clustern notiert, die den Einsatz beider Unterarme erfordern. <br />
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<i>Vestiges</i> (1920) zeigt eine gewisse Verwandtschaft mit dem europäischen Expressionismus, schweißt jedoch atonale Harmonien zu einem tonalen Rahmenwerk zusammen. Der Suche nach rhythmischer Freiheit entsprang das kurze Stück <i>Euphoria</i> (ca. 1929), dessen Musik gleichsam über die Taktgrenzen hinausfließt. (Obwohl dieser Titel heute allgemein gebräuchlich ist, lässt Cowells Handschrift vermuten, dass er ursprünglich „Euphonia" lauten sollte. Das lärmende <i>What's this</i> (ca. 1915) ist wildgewordene Motorik; ein englischer Kritiker witzelte, seine Antwort auf die Frage nach den Werktitel sei nicht druckreif! <i>Elegie</i>, komponiert um 194l, verwendet Cowellsche Techniken in einem eher konservativen Stil.<br />
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<i>The Banshee</i> (1925), obwohl ursprünglich nicht als Programm-Musik konzipiert, ist untrennbar mit der Legende des irischen Hausgeists verbunden, der seine Klage immer dann erhebt, wenn ein Familienmitglied im Sterben liegt. Während ein Assistent das rechte Pedal betätigt, wirbelt der Pianist im Innern des geöffneten Flügels wie eine Hexe über einem brodelnden Kessel und zaubert protoelektronische Klänge hervor.<br />
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Cowells Schaffen begann bereits früh vielfältigere Formen anzunehmen. In dem visionaren Buch <i>New Musical Resources</i> (1916-19. erschienen 1930) formulierte er erstmals seine Ideen. Zur Theorie kam mit der Gründung der California Society for New Music 1925 die Praxis hinzu — dieser Verein, ein Unterstützungsorgan für junge Komponisten, organisierte zunächst Konzertveranstaltungen und brachte später auch die Zeitschrift <i>New Music</i> mit neuen Werken etablierter und aufstrebender Künstler sowie eine Schallplattenreihe heraus. In den frühen 1930er Jahren initiierte Cowell ein zukunftweisendes Musikprogramm an der New School for Social Research in New York, das einzigartige Einblicke in außerwestliche Musik vermittelte. Ein Guggenheim-Stipendium gab ihm 1931-32 die Gelegenheit, seine Kenntnisse der Musik anderer Weltkulturen am Berliner Phonogrammarchiv zu erweitern. All diese Erfahrungen flossen in seine Kompositionen, Vorlesungen und Schriften ein, in denen er seiner Überzeugung Ausdruck verlieh, dass sich die gigantische ethnische Vielfalt der Musik zu neuen, ungewöhnlichen Amalgamen umschmelzen lässt. Nicht zuletzt durch seine Rundfunksendereihe <i>Music ofthe World's‘ Peoples</i> und das Folkways-Schallplattenlabel wurde er zum führenden Propagator für außerwestliche Musik.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhyZwMNpihuVJxnjQkbcG_kMldTQH5Yc7iuIlb6OVHljbJ8BS0xmaeHNbBb9ptXRVTgRJUa1x0Dbn15oK2BcQ19zso1jTy2uYFZF7g1TlQA9mwnF8mtMmybfqKcpP8RFOOAYGA1C5I3YDo/s1600/2.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="540" data-original-width="960" height="225" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhyZwMNpihuVJxnjQkbcG_kMldTQH5Yc7iuIlb6OVHljbJ8BS0xmaeHNbBb9ptXRVTgRJUa1x0Dbn15oK2BcQ19zso1jTy2uYFZF7g1TlQA9mwnF8mtMmybfqKcpP8RFOOAYGA1C5I3YDo/s400/2.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Henry Cowell, mit Assistent</td></tr>
</tbody></table>
In den späten 1920 Jahren begann sich Cowell verstärkt der Komposition von Kammern-, Orchester- und Vokalmusik zu widmen. Zwar begann der Hang zum Experimentieren in seiner Musiksprache in den Hintergrund zu treten, die Werke büßten aber niemals die typisch schrullige, undefinierbare Findigkeit ihres Schöpfers ein. <i>Six Casual Developments</i> (1933) für Klarinette und Klavier - oder in Bearbeitungen für Holzbläserquintett sowie für Klarinette und Kammerorchester, enthält Cowells einziges Experiment mit einem vom Jazz inspirierten Stil. In <i>Two Songs</i> (1936) nach Gedichten von Catherine Riegger, der Tochter des Komponisten Wallingford Riegger, verbindet er tonale Melodik und Harmonisierung mit Ton-Clustern und veranschaulicht somit den Text in einer Weise, die Tradition und Moderne in sich vereinigt.<br />
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Das Jahr 1936 war der Beginn einer für den Komponisten schwierigen Zeit. Im Rahmen einer allgemeinen kalifornischen Hysteriekampagne gegen sexuelle Delikte wurde er wegen angeblicher Gesetzesübertretungen zu einer fünfzehnjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, von der er vier Jahre in der San Quentin-Haftanstalt verbüßte, bevor er auf Bewährung entlassen wurde und nach New York ging. wo er die Volksliedsammlerin Sidney Hawkins Robertson heiratete. 1942 hatte ihn der Gouverneur von Kalifornien begnadigt, nachdem sogar der Staatsanwalt eingesehen hatte, dass die Verurteilung unrechtmäßig gewesen war. Während der letzten Jahre seines Lebens unterrichtete Cowell an der New School for Social Research, der Columbia University, dem Peabody Conservatory und anderen Institutionen.<br />
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Eines seiner erstaunlichsten Werke der Nachkriegszeit — und eines von verschiedenen Stücken, in denen er seine eigenen Ideen einer Weltmusik verwirklichte — ist <i>Set of Five</i> (1952). Im gleichsam barocken <i>Largo</i> werden Klavier und Violine von einem rhythmischen „Continuo“ aus gedämpften Gongschlägen begleitet. Das <i>Allegro</i> verschmilzt Violine, Klavier und Xylophon zu einer einzigen Farbe, während ein kontrastierendes „Trio" mit Effekten im tiefen Klangregister überrascht. Der mittlere, einem barocken Cantabile ähnelnde Satz besitzt gleichwohl eine höchst unbarocke, von indischen Tablas oder, wie in unserer Einspielung, von Tam-Tams erzeugte Begleitung. Im <i>Presto</i> setzen ein indisches Jalatarang bzw. fünf Porzellan- oder Metallschüsseln (Continuum verwendet Suppenschüsseln) die charakteristischen Akzente. Hinter der kontinuierlichen Variation, die die beiden scherzoartigen Sätze zu monumentalen Zungenbrechern macht, verbirgt sich eine klare formale Logik. Im majestätischen Finale lässt Cowell seine ganze Kompositionspalette aufblitzen: Ton-Cluster, Obertöne der Klavier-Saiten, außerwestliches Schlagzeug, tonale Harmonien und eine geradezu herausfordernde Sang1ichkeit.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiFLSzuDQ4pgSzA7FhHQZYkci2Qxn2rcVi8I5mIEZ7NEuuBaWwvpqcE73tTMX3E5ktAzXj0eelaM7mf5b-RNGJphcKr5or1Eb1G7wTg7yM_fZv62mCwqtaTeMWtNbMsajIaS6A9txfvKkA/s1600/3+Cowell+playing+the+shakuhachi+with+Edgar+Varese..jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="467" data-original-width="700" height="266" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiFLSzuDQ4pgSzA7FhHQZYkci2Qxn2rcVi8I5mIEZ7NEuuBaWwvpqcE73tTMX3E5ktAzXj0eelaM7mf5b-RNGJphcKr5or1Eb1G7wTg7yM_fZv62mCwqtaTeMWtNbMsajIaS6A9txfvKkA/s400/3+Cowell+playing+the+shakuhachi+with+Edgar+Varese..jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Henry Cowell spielt die Shakuhachi, mit Edgar Varese</td></tr>
</tbody></table>
Eine 1956-57 unternommene Asienreise führte den Komponisten auch in den Iran und zum Madras-Musikfestival, der größten alljährlichen Veranstaltung mit Werken der klassischen Musik Indiens. Produkte dieser Reise waren zwei Stücke, in denen Cowell persische und westliche Idiome und Instrumente miteinander vermischt: <i>Persian Set</i> für Kammerorchester und <i>Hommage to Iran</i>. Obwohl beide Kompositionen ihre Wurzeln in der persischen Kultur haben, sind sie ganz bewusst aus dem Blickwinkel eines amerikanischen Besuchers konzipiert, der eine beiden Gesellschaften verständliche Musiksprache anstrebt.<br />
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<i>Hommage to Iran</i>, als Duo veröffentlicht, war ursprünglich als Trio gedacht. In der Druckfassung dämpft der Pianist die Klaviersaiten mit den Fingern, um den Klang einer Trommel zu imitieren. In der 1963 mit Cowells Zustimmung entstandenen Einspielung wurden der erste und dritte Satz sowie Teile des vierten von einem Geiger und einem Schlagzeuger gespielt, wobei als Trommel ein arabisches oder türkisches Dombak verwendet wurde: Gemeint war jedoch das persische Zarb, eine becherförmige Trommel aus Holz, die auch als Tombak bekannt ist. Nachdem ich das Stück bereits in der veröffentlichten Version aufgeführt hatte, studierte ich das Zarb, um Cowells Originalfassung so nahe wie möglich zu kommen. Ahnlich wie <i>Set of Five</i> enthält auch <i>Hommage to Iran</i> einen Cowellschen „Hummelflug“.<br />
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Das reiche künstlerische Erbe, das Cowell bei seinem Tod neben einer Vielzahl großartiger Werke hinterließ und das in den Arbeiten namhafter Schüler wie John Cage oder Lou Harrison eine würdige Fortsetzung fand, besteht nicht zuletzt in den von ihm ausgehenden Impulsen für die Bereitschaft eines breiten Publikums, sich für außerwestliche Musik zu begeistern. Cowells unermüdlicher Einsatz für den kompositorischen Nachwuchs seines Landes sorgte für ein Klima des Individualismus, das jene grenzenlosen Energien freisetzte, die die Vereinigten Staaten zu einem Weltzentrum der Komposition machten.<br />
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<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Joel Sachs (Deutsche Fassung: Bernd Delfs), im Booklet</i></span><br />
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<pre>TRACKLIST
Henry Cowell (l897-l965):
A Continuum Portrait - 2
Homage to Iran 14:50
01 Andante rubato 6:43
02 Interlude: Presto 1:09
03 Andante rubato 3:18
04 Con spirito 3:41
Mark Steinberg, Yiolin; Joel Sachs, Persian Drum; Cheryl Seltzer, Piano
05 Piece for Piano with Strings 3:34
06 Vestiges 2:31
07 Euphoria 0:59
08 What's This 0:35
09 Elegie 5:16
10 The Banshee 2:05
Cheryl Seltzer, Piano
Two Songs (Poems of Catherine Riegger) 4:23
11 Sunset 1:52
12 Rest 2:31
Raymond Murcell, Baritone; Cheryl Seltzer, Piano
Six Casual Developments 7:43
13 Rubato 0:51
14 Andante 1:11
15 Andante 1:57
16 Allegro 0:53
17 Adagio cantabile 1:44
18 Allegretto con moto 1:09
David Krakauer, Clarinet; Joel Sachs, Piano
Set of Five 16:32
19 Largo sostenuto 3:21
20 Allegro 2:10
21 Andante 4:09
22 Presto leggiero 2:20
23 Vigoroso 4:31
Marilyn Dubow, Violin; Gordon Gottlieb, Percussion; Joel Sachs, Piano
Playing time: 59:44
Continuum (Cheryl Seltzer and Joel Sachs, Directors)
www.continuum-ensemble-ny.org
Tracks 5-12 and 19-23 recorded 1984 at the Great Hall at Copper Union, New York City.
Tracks 1-4 and 13-18 recorded 1992 at the American Academy and Institute of Arts and Letters
Producers: Cheryl Seltzer and Joel Sachs
Engineer and Editor: Dr. Frederick J.Bashour
Cover Photo: Henry Cowell playing <i>The Banshee</i> c. 1926
(C) 2006
</pre>
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<h1>
<span style="font-size: large;"><span style="color: red;">Hugo Friedrich:</span></span></h1>
<span style="color: red;"><span style="font-size: x-large;"><b>Petrarcas Laura</b></span></span><br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjIjSz_kEd7D6aFVpOSVqa6_ukEjwtQwrZu1-uJQum8wTM4gzpKyfQmWWVAJS5lP6ApV_ZniLZnpMvOGYVV4EHE9Y028ngYmCASSzkrMU7St0BotdNxhBrrnzk6YkF_LGMqobpzzCz4H60/s1600/1Casa.JPG" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1113" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjIjSz_kEd7D6aFVpOSVqa6_ukEjwtQwrZu1-uJQum8wTM4gzpKyfQmWWVAJS5lP6ApV_ZniLZnpMvOGYVV4EHE9Y028ngYmCASSzkrMU7St0BotdNxhBrrnzk6YkF_LGMqobpzzCz4H60/s640/1Casa.JPG" width="444" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Laura und Petrarca. Ausschnitt aus einem Wandgemälde in der<a href="https://www.collieuganei.it/ville/casa-del-petrarca/" target="_blank"> Casa di Petrarca,</a><br />
<a href="https://www.collieuganei.it/ville/casa-del-petrarca/" target="_blank">Via Valleselle, 4, 35032 Arquà Petrarca (Padua).</a></td></tr>
</tbody></table>
Wer Laura war, können wir allein von Petrarca selber erfahren. Doch wir erfahren sehr wenig, wenn wir eine Auskunft über ihre reale Existenz erwarten. Nur eine einzige Stelle im <i>Canzoniere</i> gibt es, wo er ihren Namen offen ausspricht (Nr. 332, v. 50). Die übrigen Male ist der Name in Wortspiele verhüllt. Auch in der ganzen Masse seiner Prosabriefe kommt der Name lediglich einmal vor, und zwar in der latinisierten Form <i>Laurea</i> (Famil. II,9). Als er ihren Tod erfuhr, trug er ihn mit genauer Zeitangabe in seinen Vergil-Kodex ein, wie er dies auch bei anderen ihn persönlich angehenden Ereignissen tat. Der Eintrag vermerkt neben dem Todesdatum (6. April 1348) das Datum der ersten Begegnung (6. April 1327) und spricht von der Gewißheit, daß ihre Seele, „wie das auch Seneca von Scipio Africanus sagt“, in den Himmel zurückgekehrt ist, woher sie kam. Gleich danach finden sich die Worte, daß er, Petrarca, „mit bitterer Süße“ — <i>amara quadam dulcedine</i> — das alles niederschreibe. Dieses Leitmotiv seiner Liebesdichtung, verbunden mit der humanistischen Reminiszenz aus Seneca (genau aus dessen epist. 86,1) und mit den Daten, von deren Stilisierung wir gleich sprechen werden, deuten auf den Ort der eigentlichen Existenz Lauras, auf den geistigen.<br />
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Weitere Datierungen enthält der <i>Canzoniere</i> selber. Sie bezeichnen jeweils die seit jener Begegnung in Avignon verstrichenen Jahre bis zum Tod der Herrin, es sind einundzwanzig, und vom Tode an weitere zehn Jahre; eine letzte Datierung (Sonett Nr. 336) gibt noch einmal Jahr, Tag und Stunde des Todes an. Vage Anspielungen auf Laura sind in einigen lateinischen Dichtungen enthalten. Ausführlich mit ihr beschäftigt sich der dritte Teil des <i>Secretum</i>, jedoch in bezug auf die Liebe zu ihr und auf das Schuldgefühl dieser Liebe, an der im übrigen weiterzudichten Petrarca ja nicht abließ.<br />
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Das ist alles: Rufname, Ort und Zeitpunkt der Begegnung, Ort und Zeitpunkt des Todes, Daten der Liebesdauer. In den dreißiger Jahren schon sind dem Freund und Gönner Petrarcas, Giacomo di Colonna, Zweifel an der realen Existenz Lauras gekommen. Er nennt die Liebesdichtungen erfunden und die Seufzer Petrarcas geheuchelt <i>(ficta carmina; simulata suspiria)</i>. Dies wenigstens entnimmt man dem Antwortbrief Petrarcas. Dessen Antwort selber ist pathetisch, ausweichend, nichtssagend. Meine Blässe und mein Leiden, so lesen wir, sind doch Beweise genug für meine Liebe, denn wie sollte man derartiges heucheln? (Famil. II,9). Man kann es heucheln, vor allem dann, wenn der Briefschreiber in Avignon wohnt und der Adressat in Rom. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi1jnBlHoEAxYahAs7neNPwwfIXKmto6lRcaKglGxpAw61kgGtHcS0YzD2drg4fNIfizhn-6TIsJHvKcRUUx6aTVGv1j9ErNcTJVMm1RaccPEIDaTeMNQqq1hVFOWqEAASiUkiEXDGUkRM/s1600/2Rime.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="509" data-original-width="676" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEi1jnBlHoEAxYahAs7neNPwwfIXKmto6lRcaKglGxpAw61kgGtHcS0YzD2drg4fNIfizhn-6TIsJHvKcRUUx6aTVGv1j9ErNcTJVMm1RaccPEIDaTeMNQqq1hVFOWqEAASiUkiEXDGUkRM/s400/2Rime.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">„Le Rime di M. Francesco Petrarca“ aus der <br />
<a href="https://buecheratlas.com/2018/09/24/petrarca-im-bild-annaeherungsversuche-an-ein-genie/" target="_blank">Kölner „Biblioteca Petrarchesca Reiner Speck“.</a></td></tr>
</tbody></table>
Die Blässe aber beweist, daß man seinen Horaz und seinen Ovid gut kennt: <i>tinctus viola pallor amantium</i>, dieser Vers aus Horaz (Carm. III,10) war dem Humanisten ebenso geläufig wie der andere aus Ovid: <i>Palleat omnis amans</i> (Ars am. I,729). Den ersteren wiederholt Petrarca nahezu wörtlich im <i>Canzoniere</i> (Nr. 224). Eine an den gleichen Giacomo di Colonna gerichtete metrische Epistel (Epist. I, 7), auch von der Blässe redend und vom Joch der Lauraliebe, von der Flucht vor ihr durch die Länder, durch die Meere, besagt genau so wenig wie jener Prosabrief, ist vermutlich keinem anderen Beweggrund zu verdanken als dem sprachkünstlerischen, der das im Prosabrief Gesagte in die Stilzone der Hexameter versetzt, wo antike Autoren noch reichlicher anklingen dürfen als dort. Der Name Laura — oder, wie im lateinischen Gewand zu erwarten wäre, Laurea — fehlt in der Epistel völlig, die Herrin heißt nur noch „Weib, durch meine Verse berühmt geworden, altadligen Geschlechts.“ […]<br />
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Trotzdem besteht kein zwingender Anlaß, Lauras Existenz zu leugnen. Allen Anlaß aber haben wir, die im <i>Canzoniere</i> gedichteten Situationen von realen Vorkommnissen zu trennen, und weiterhin, wie unten noch ausgeführt werden soll, zu bezweifeln, ob die Bedichtete auf den Namen Laura getauft war, obwohl das damalige Vorkommen dieses Namens in der Provence durchaus gesichert ist. Die Geschichte Lauras ist das, als was sie vor uns tritt: die innere Geschichte eines Liebenden. Wie diese, so hat auch sie ihre Wirklichkeit nur in der Dichtung selber. Aus einem Minimum an Tatsachen, die sich abgespielt haben können — die Begegnung, der Tod —, macht der <i>Canzoniere</i> ein Maximum an seelischen Ereignissen. Der <i>Canzoniere</i> hat genau den Rang, den Petrarca selber, im dritten Dialog des <i>Secretum</i>, der Erzählung Vergils von der Liebe Didos (Aeneis IV) zuschreibt: „Du weißt — so läßt er sich von Augustin sagen —, daß dies alles nur erdichtet ist, und doch achtete der Erdichter auf die Ordnung der Natur.“ Dies bedeutet: Dichtung muß in ihren Stoffen, die erfunden sein können, auf seelische Glaubwürdigkeit und Wahrheit bedacht sein. Der Canzoniere hat diese Wahrheit. Wir bedürfen zu seiner Auslegung nicht der Rekonstruktion einer Wirklichkeit, zu der uns ohnehin alle Materialien fehlen. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhti3eAFgfnxuGNPOhdcEusa9kYmpFOd1xLoPFUxUggjm7jjpmfyvLAME2jeJXLeRRTYy7X8XkXiNOkt-1kk2AFnT7ZmirOWn8ntad1H3i6yFZBWHvCfk93r0z5aQPkH4L4OrLsOvWN9wo/s1600/3Pluteus.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="837" data-original-width="676" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhti3eAFgfnxuGNPOhdcEusa9kYmpFOd1xLoPFUxUggjm7jjpmfyvLAME2jeJXLeRRTYy7X8XkXiNOkt-1kk2AFnT7ZmirOWn8ntad1H3i6yFZBWHvCfk93r0z5aQPkH4L4OrLsOvWN9wo/s400/3Pluteus.jpg" width="323" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Francesco Petrarca im „Codex Pluteus“. <br />
Siena, 1463, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz.</td></tr>
</tbody></table>
Eher bedürfen wir der Erinnerung an das heitere antike Wissen, daß Dichter nicht wörtlich genommen werden sollen. Ovid hat es, wenn auch mit gespieltem Protest, in einigen Versen der <i>Amores</i> so ausgedrückt: „Es ist doch nicht üblich, die Dichter als Zeugen zu hören; lieber wünscht’ ich, es hätte mein Wort kein Gewicht“, und: „Ins Unendliche hebt sich des Dichters fruchtbare Willkür, bindet nie seinen Vers mit geschichtlicher Treue“. Man wird nicht ganz so weit gehen können, wie es Ovid zu tun scheint, aber in diese Richtung wird man gehen müssen, um die auch von Petrarca eingehaltene Distanz zwischen Leben und Dichtung zu erkennen. Laura mag die Liebesdichtung Petrarcas angeregt haben. Doch bildet die Dichtung alles neu, in einer inneren Welt, worin immer noch der Geist der provenzalischen Poesie und des dolce stil novo weht und das Erfundene höhere Würde hat als das Vorgefundene. Wir können auch heute nicht anders urteilen als Herder, der die biographische Neugier und Fabelei des Abbé de Sade zurückwies und schrieb: „Laura möge in Person oder zum leibhaftigen Petrarca gewesen sein, was sie wolle; dem geistigen Petrarca war sie eine Idee, an die er . . . allen Reichtum seiner Phantasie, seines Herzens, seiner Erfahrungen, endlich auch alle Schönheiten der Provenzalen dergestalt verwandte, daß er sie in seiner Sprache zum höchsten, ewigen Bilde . . . zu machen strebte.“<br />
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Die dichterisch transformierte Laura ist eingesponnen in ein Netz von Zahlen. Auffallend dabei, daß Tag und Monat der Begegnung mit ihr die gleichen sind wie diejenigen ihres Todes: 6. April. Im dritten Gedicht des <i>Canzoniere</i> wird umschreibend gesagt, daß die Begegnung am Karfreitag stattgefunden habe; nach den Angaben eines anderen Sonettes (Nr. 211), sowie nach der Eintragung im Vergil-Kodex war es der Karfreitag des Jahres 1327. Doch fiel in jenem Jahr der Karfreitag auf den 10. April. Die Abänderung des Datums kann kaum anders als aus dem Bedürfnis nach Zahlensymbolik verstanden werden; sechs ist eine Sakralzahl: sechs Schöpfungstage, am sechsten ist der Mensch erschaffen; die patristische Theologie, mit der Petrarca vertraut war, fügte hinzu, daß am sechsten Tag Adam gesündigt habe und an einem sechsten Tag der Erlöser von der Sünde, Christus, geboren worden sei. Die Übereinstimmung zwischen beiden Daten wird noch dadurch enger, daß Begegnung wie Tod „zur ersten Stunde“ erfolgt sein sollen, d. h. zu einer Stunde, die nach heutiger Zeitrechnung acht Uhr morgens wäre (Nr. 336). […]<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg4kg4N4wFuznkIPesosjfb6C6_K8kYAYWHilQIw34RmNWb1UMbdyqAJykZqOZ4QnCsQ4eioP9eKDMhg_PnXoqvzzQbfJfyo7AImnq5ukj2RQIiv4UGDxSLL6YM5UIuJ_vJXcZzFWHJssY/s1600/4LauraR.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1101" data-original-width="800" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg4kg4N4wFuznkIPesosjfb6C6_K8kYAYWHilQIw34RmNWb1UMbdyqAJykZqOZ4QnCsQ4eioP9eKDMhg_PnXoqvzzQbfJfyo7AImnq5ukj2RQIiv4UGDxSLL6YM5UIuJ_vJXcZzFWHJssY/s400/4LauraR.jpg" width="290" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Laura im „Codex Pluteus“. <br />
Siena, 1463, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz.</td></tr>
</tbody></table>
Petrarca hat die Herrin des <i>Canzoniere</i> mit einer Symbolik von solcher Folgerichtigkeit und Beharrlichkeit umgeben, daß man geradezu von einem Laura-System sprechen kann. Wie erwähnt, tritt ihr Name eindeutig nur in einem einzigen Vers des <i>Canzoniere</i> auf. In allen anderen Fällen gebraucht er das durch Artikelsetzung lautgleiche Wort <i>l’aura</i> oder lautähnliche Wörter wie <i>lauro, l’auro, l’oro, aureo</i> (Lorbeer, Gold, golden), einmal auch die Gruppe <i>l’aura ora</i>, die wegen der Vokalverschmelzung <i>l’aurora</i> gelesen werden kann. Auf diese Weise entsteht ein Geflecht von Beziehungen, das die verschiedensten Motive und Erscheinungen sowohl untereinander wie auch mit Laura verbindet. Jeder Vers dieser Art meint primär die einfache Bedeutung des jeweiligen Wortes, darüber hinaus aber den anklingenden Namen der Herrin und damit diese selbst.<br />
<br />
Die wichtigste Verbindung in diesem System ist diejenige von Laura und <i>lauro</i>, Lorbeer. Letzterer ist das Attribut des Dichterruhms und des Gottes der Dichter, Apollon. Der immergrünende Baum, der, nach Plinius, als einziger unter allen Bäumen nicht vom Blitz getroffen wird, symbolisiert die Unsterblichkeit der Dichter. So kann Petrarca mit dem zu <i>lauro</i> umgebildeten Namen der Herrin auf sein eigenes, Unsterblichkeit erhoffendes Dichten verweisen, ja eine urbildliche Kausalität zwischen ihr und dem Dichten herstellen. Möglicherweise hat die wirkliche Laura gar nicht so geheißen; zu auffallend ist die Tauglichkeit des Namens zur symbolischen Verwendung, als daß man nur an einen Zufall glauben dürfte. Es scheint, daß Petrarca diesen Namen gewählt hat, um mit ihm eine für ihn so wichtige Funktion der Herrin auszudrücken, die Erweckung zum Dichter. Wie sehr er die Gleichsetzung von Laura und Lorbeer wollte, geht zudem aus dem dritten Dialog des <i>Secretum</i> hervor. Aus dem Gesichtspunkt der Selbstkritik, nämlich mit tadelnden Worten des Gesprächspartners Augustin, bekennt er, daß er nicht nur der Schönheit Lauras, sondern ebenso ihrem Namen verfallen sei, so sehr, daß er jeglichem verfalle, was diesem Namen ähnlich klinge, dem Ruhm am meisten.<br />
<br />
Doch die symbolische Namenbeziehung reicht weiter. Da der Lorbeer die heilige Pflanze des Apollon ist, wird der Gott mehrmals im <i>Canzoniere</i> genannt, unter Auswertung seiner verschiedenen mythischen Rollen. Als Gott der Musen rechtfertigt er Petrarcas Äußerungen über das Dichten. In der Nachantike sah man beharrlicher als in der griechischen Mythologie in ihm den Sonnengott, Phoibos Apollon.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh9r6_MHYMj_fbmlUgaVG4Q7cqVfxsmd23CADUiK1HolUld7mp2l8YntN9k4sPyNP-FWBY6MHbzGEFxm3shbkyGHD-UBLEG8zSQY7Hg2l2tLPZNnE_uFYJhZBAPKJfSfrHWyKso4jCXm_g/s1600/5incorona.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="609" data-original-width="800" height="303" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh9r6_MHYMj_fbmlUgaVG4Q7cqVfxsmd23CADUiK1HolUld7mp2l8YntN9k4sPyNP-FWBY6MHbzGEFxm3shbkyGHD-UBLEG8zSQY7Hg2l2tLPZNnE_uFYJhZBAPKJfSfrHWyKso4jCXm_g/s400/5incorona.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Laura krönt den Poeten. Miniatur aus Petrarcas Canconiere, <br />
15. Jahrhundert, Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz.</td></tr>
</tbody></table>
Daher leiten die Gedichte des <i>Canzoniere</i> über zum Sprechen von der Sonne, von ihrem Aufgeben oder von ihrem Untergehen. Das Aufgeben, <i>l’aurora</i>, die Morgenröte, hat Klangähnlichkeit mit dem Namen Laura, so daß Aurora sowohl aus dieser wie aus Apollon legitimiert wird. Aber Aurora ist auch nach einigen — nicht allen — mythologischen Überlieferungen verwandtschaftlich mit Apollon verbunden: sie ist seine Tochter. Apollon hat die Nymphe Daphne geliebt, die, um ihm zu entgehen, in einen Lorbeerbaum verwandelt wird. So ist, wie in einem sich schließenden Ring, erneut eine Beziehung zum Lorbeer und zur klangähnlichen Laura hergestellt, damit zur Liebe selber, so daß Petrarca die Lauraliebe in Reminiszenzen aus dem Daphnemythos einkleiden kann. In einigen Texten, so z.B. im Sonett Nr. 41, ist Laura völlig mit Daphne identifiziert. Mit ihr stimmt sie auch darin überein, daß sie, gleich dieser, das reine, der Liebe abgeneigte Geschöpf ist. Mit mehrfachem Anklang an die Daphnedarstellung bei Ovid wird ihre Schönheit beschrieben, und wie Daphne ist sie die Fliehende, in der charakteristischen Gebärde des nach rückwärts gewendeten Kopfes und mit den wehenden Haaren.<br />
<br />
Zu diesen Vcrstrebungen treten noch folgende hinzu. Das klangähnliche <i>l’auro, l’oro,</i> erscheint im Goldhaar der Herrin. Das aus <i>oro</i> abgeleitete <i>dorare</i> (vergolden) wird von ihrem Antlitz, aber auch von den Pfeilen Amors gesagt. Die Sonne (Phoibos Apollon) wiederum dient zur Metapher für die Augen der Herrin. Aus dem Lorbeer ergibt sich weiterhin die Bildgruppe: Baum, Wurzel, Rinde, Blätter, dazu die Farbe grün, überwiegend auf Landschaften bezogen und nur in wenigen Fällen metaphoriseh gemeint. Zur Landschaft führt aber auch das Laub des Lorbeers und zugleich das Haar der Herrin. Denn gemäß einer schon antiken Gepflogenheit kann Haar metaphorisch für Laub verwendet werden. Dies ist auch bei Petrarca so, weshalb das entsprechende Wort <i>chioma</i> zum einen zwischen Laura und <i>lauro</i> vermittelt, zum andern von belaubten Bäumen zu sprechen gestattet. Landschaftlich auswertbar ist ferner <i>l’aura soave</i>, eine seit den Provenzalen übliche Metonymie für den Frühling, so daß Laura auch zum Symbolnamen des Frühlings als der Zeit des Liebens wird. Schließlich deutet der Komplex „Dichten“ ebenfalls in landschaftliche Elemente, nämlich vermittels des Wortes <i>fiore</i>, das als rhetorischer Terminus Schmuck des Ausdrucks, eine Figur der Redekunst bedeutet und mühelos zu Versen über blumenreiche Wiesen hinlenkt.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhlBk7FQJ07fnDVCcwSshNynaOgiAU7FHfwhO7thlUIcPvyQpXh-oG5NnQ8gHaPZfl9FqUB1ZTD2pnLh2YLGfNOAAOq9kefTkRnCj1nT8D9ApRO2psblWyprR08HUWqJ1Z0r_SUao4CNmQ/s1600/6Garten.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="612" data-original-width="800" height="305" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhlBk7FQJ07fnDVCcwSshNynaOgiAU7FHfwhO7thlUIcPvyQpXh-oG5NnQ8gHaPZfl9FqUB1ZTD2pnLh2YLGfNOAAOq9kefTkRnCj1nT8D9ApRO2psblWyprR08HUWqJ1Z0r_SUao4CNmQ/s400/6Garten.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Gespräch im Garten</td></tr>
</tbody></table>
Die Technik, mittels derer Petrarca solche Verstrebungen erreicht, ist die Paronomasie — Verwendung klangähnlicher, jedoch in Ursprung und Bedeutung verschiedener Wörter — und die Wahrnehmung weiterer Assoziationen, die sich aus den paronomastischen Wörtern gewinnen lassen. Diese rein sprachliche Technik weist erneut auf die sprachliche, und das heißt: geistige Heimat dieser Liebesdichtung. Sowohl in seiner Technik wie auch in ihrer Spezialisierung auf <i>aura — lauro — auro</i> hat Petrarca Vorgänger gehabt. Sie finden sich — sehr maßvoll — im Lateinischen, so bei Varro, bei Horaz, bei Servius und bei Isidor von Sevilla, aber auch im Provenzalischen, und hier bei Arnaut Daniel, dem Vorbild Petrarcas. Arnaut hat die meisten der bei Petrarca wiederkehrenden Wortspiele mit <i>aura</i>. Doch fällt sofort auch ein Unterschied auf. Während Arnaut Daniel in den paronomastischen Wörtern den nie nennbaren Namen der bedichteten Herrin versteckt und mit solchem Verstecken sein Ziel erreicht und erledigt hat, geht Petrarca weiter und erhebt die Paronomasien zu Symbolen für ein ganzes Feld von Beziehungen. Möglich bleibt, daß die aus den hochmittelalterlichen Poetiken bekannte Tradition eine Rolle gespielt hat, wonach in topischer Regelmäßigkeit die Beschreibungen weiblicher Schönheit von goldenen Haaren sprechen, vom goldenen Haarreif, von der Ähnlichkeit des Gesichtes mit Aurora. Doch auch hier gewinnt man mit der Ableitung aus einem Vorbild nicht viel. Niemand vor Petrarca ist so weit gegangen wie er, der zum bedeutungsreichen System erhob, was vor ihm ein Spiel war. Denn in seiner Lyrik hängt alles mit allem zusammen. Jedes Gedicht, das die genannten Worte enthält, hat mehrfache Bedeutungen, die symbolisieren, daß eine geheime Einheit Laura, Liebe, Dichten, Landschaft miteinander verbindet. In jeder einzelnen der paronomastischen und assoziativen Ableitungen aus dem Namen Laura sind gleichzeitig alle anderen Ableitungen und damit alle anderen Beziehungen mitgedacht.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgZl767NsE5XoPB19TVNvtotbLqwEoEkKci-tpAZd6iv8LF7KzWBA6qLh4avu-7i6KAcsIpP-PuO2s9xgqrxMsa1jMRh8CTmnlyQ7s5VLLMWx0T2GtU3vOtc7BnPOOXvkuXFYLN5zTYrho/s1600/7Ambras.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="480" data-original-width="409" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgZl767NsE5XoPB19TVNvtotbLqwEoEkKci-tpAZd6iv8LF7KzWBA6qLh4avu-7i6KAcsIpP-PuO2s9xgqrxMsa1jMRh8CTmnlyQ7s5VLLMWx0T2GtU3vOtc7BnPOOXvkuXFYLN5zTYrho/s400/7Ambras.jpg" width="340" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Laura. Italienische Schule, 16. Jahrhundert. <br />
<a href="https://www.schlossambras-innsbruck.at/besuchen/sammlungen/die-habsburger-portraetgalerie/" target="_blank">Habsburger Porträtgalerie, Schloss Ambras, Innsbruck</a></td></tr>
</tbody></table>
Wenn Petrarca zum ersten Male in der italienischen Lyrik in so großem Maße die Landschaft zum Gegenstand seines Dichtens macht, so mag daran gewiß ein Wille zur Annäherung an die Welt der Erscheinungen beteiligt sein, in Verbindung mit einigen absichtsvollen Nachbildungen von Versen aus den Eklogen Vergils und aus dem irdischen Paradies der <i>Divina Commedia</i>. Indessen scheint er sich das Recht dazu aus dem Entschluß gegeben zu haben, die sinnenhafte Welt abzuleiten aus einer Welt vielstrahliger geistiger Beziehungen. Denn nicht zu übersehen ist, daß er die landschaftlichen Bestandteile innerhalb des Wortkreises hält, den er paronomastisch aus dem Namen Laura und assoziativ aus dem um diesen Namen liegenden Bedeutungsfeld gewinnt. Da die paronomastisch und assoziativ gewonnenen Wörter auf Laura zurückverweisen, enthalten sie Symbole. Symbole aber, seien es mythische wie Lorbeer, Apollon, Daphne, oder rein erscheinungshafte wie Gold, Sonne, Blüten, gelten hier höher als das Wirkliche, weil sie geistigen Ranges sind. Jene Aussage des <i>Secretum</i>, die wir oben erwähnt haben, ist eine vollkommen richtige Selbstauslegung Petrarcas: er liebt einen Namen, ein Wort. Indessen geht diese Wortliebe nicht auf Kosten der seelischen Wahrheit; die Poesie des <i>Canzoniere</i> ist eine solche der Liebe. Allerdings fällt letztere mit der Wortliebe zusammen. Wortliebe, die zu einer vielsagenden Symbolik führt, erteilt der Lauraliebe die spirituale Vollkommenheit, ohne daß die menschliche Seelenwahrheit geopfert werden müßte, denn sie kann ja eingefügt werden in das spirituale System.<br />
<br />
Die in der Lyrik Petrarcas hin und her gehenden Wege zwischen Worten und Sachen sind keine natürlichen, vielmehr solche, die durch das Wort und den Mythos gebahnt werden. Wiederum sind sie nicht willkürliche Wege oder bloße Spielereien, denn sie gehorchen dem Gedanken, daß ein Wort das Wesen der Sache ausdrücke und die Wortähnlichkeit eine Gewähr für die Sachverwandtschaft biete. Das ist antik-mittelalterliches Erbe. Im <i>Canzoniere</i> vermählt sich die humanistische Sensibilität für die Schönheit der Sprache mit dem mittelalterlichen, auch bei Dante noch lebendigen Prinzip, ein Wort und eine Sache um so höher zu stellen, je reicher ihre Beziehungen und Analogien sind. Daher die Fülle im Namen der Laura: er ist verbunden mit Lorbeer, Ruhm, Apollon; daher die Vergeistigung der Landschaft: sie ist sinnenhaft, hell, bewegt und kommt mit ihren Blüten, ihrem Laub, ihrem Gold doch her aus den Unsichtbarkeiten, die in jenem Namen geborgen sind; daher die Rechtfertigung dieser Liebe: sie ist die Analogie zu Apollons Liebe für Daphne und ist der Ursprung eines Dichtens, das mythologisch in Beziehung zu Apollon steht.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgfHUXboV6HUYWbkrFQPOuZYe-2N1SDZHSqj8QOBZpRQZzcT-_4fFUnsgRhXdn-4c6RxcK0qP6tw3pmNk0Yjncelj-F4f120ffhPkAiYbi1mq3biqs0Q-91EVViW58RzniCQgGj9KUhXuM/s1600/8AnselmFeuerbach.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="683" data-original-width="842" height="323" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgfHUXboV6HUYWbkrFQPOuZYe-2N1SDZHSqj8QOBZpRQZzcT-_4fFUnsgRhXdn-4c6RxcK0qP6tw3pmNk0Yjncelj-F4f120ffhPkAiYbi1mq3biqs0Q-91EVViW58RzniCQgGj9KUhXuM/s400/8AnselmFeuerbach.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Anselm Feuerbach (1829-1880): Laura in der Kirche, 1865. <br />
Neue Pinakothek, München</td></tr>
</tbody></table>
Dies ganze System ist kompliziert. Es ist an die Stelle jener komplizierten Amortheorien getreten, die einst dem dolce stil novo zugrunde lagen, und die Petrarca aufgegeben hatte. Aber es ist nicht so dichtungsfremd, wie der moderne Leser vermuten könnte. Es ist erdacht, jedoch von einem Denken, das nicht Widersacher der Poesie ist. Dank seiner Symbole bringt es in die Dichtung einen Bedeutungszuwachs, der in unsymbolischer Aussage nicht zu gewinnen gewesen wäre. In allen Erscheinungen, die durch den <i>Canzoniere</i> gehen, menschlichen oder landschaftlichen, fällt das Sichtbare mit dem Zeichenhaften zusammen. Daher entsteht diejenige Sinnen- wie Sinnfülle, die nie der Allegorie, sondern allein dem Symbol glückt. Der Symbolismus Petrarcas erlaubt, die Verse mit leisen Anspielungen zu versehen und — um Worte A. W. Schlegels zu gebrauchen — den „Reiz des Doppelsinnes“ zu erzeugen, der bestätigt, daß „die zartesten Mysterien wirklicher sind als alle äußere Wirklichkeit.“ Zuweilen kann dieser Symbolismus wohl zur Allegorie erstarren, so im Sonett Nr. 228: Laura ist, als Lorbeerbaum, von Amor dem Liebenden ins Herz gepflanzt; mit dem „Pflügen“ seiner Feder, mit dem Windhauch seines Seufzens und mit benetzenden Tränen brachte er ihn zum Blühen . . . Oder es kommen manieristische Häufungen vor wie zum Beginn des Sonetts Nr. 246: <i>L’aura, che'l verde lauro e l’aureo crine / Soavemente sospirando move . . .</i> („Die Luft, den grünen Lorbeer und das Goldhaar / In sanftem Seufzen regend . . .“). Derartiges verliert sich indessen gegenüber dem sonstigen Maßgefühl Petrarcas, das Aufdringlichkeiten des symbolischen Systems vermeidet und die Symbolglieder in der Nähe des Natürlichen zu halten versteht. Erst in der Marienkanzone (Nr. 366), die der irdischen Schönheit abschwört, hört die wie eine zweite Sprache durch den <i>Canzoniere</i> gehende Laurasymbolik auf.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1964. Zitiert wurde aus Kapitel IV: Francesco Petrarca, Seiten 192-201 (gekürzt)</i></span><br />
<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgRJWlkCdLCCblza2Lts0zLMyAuoT7nkEhBY2IXfXZ4x81VsPqiWSIkXJIuv2ESC93k8VPtqmm2fRUbWZOd19BVCteX5knmcb3usqbxqVu36HuifDHiGFSm5j2YcBjBycqSykZ31YES3Kc/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1406" data-original-width="1412" height="318" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgRJWlkCdLCCblza2Lts0zLMyAuoT7nkEhBY2IXfXZ4x81VsPqiWSIkXJIuv2ESC93k8VPtqmm2fRUbWZOd19BVCteX5knmcb3usqbxqVu36HuifDHiGFSm5j2YcBjBycqSykZ31YES3Kc/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Die Polyphonie erlebte in Spanien eine frühe Blüte, eine Entwicklung, die sich durch die engen musikalischen Beziehungen, die Spanien im 15. Jahrhundert mit dem übrigen Europa unterhielt, vor allem während der Regierungszeit von Ferdinand von Aragon und Isabella von Kastilien‚ noch weiter verstärkte. Es läßt sich vermuten, daß die Liedersammlung <i>Cancionero de Palacio</i>, die von einer etablierten spanischen Schule voller Vitalität zeugt, am Hof von König Ferdinand zusammengestellt worden ist.<br />
<br />
Die meisten Stücke in dieser Sammlung sind <i>villancicos</i> und kommentieren volkstümliche Themen in stilisierter Sprache. Kennzeichnend für die villancicos ist ihre klare Gliederung, der homophone Stil und der Gegensatz zwischen Refrain <i>(estribillo)</i> und Strophe <i>(mudanza)</i>. Die anderen hier vertretenen Stücke sind <i>romances</i>, lange, einfache Gedichte erzählenden Inhalts mit syllabischem Versbau und Verzierungen während des Vortrags, wie man sie zum Beispiel in den <i>recercadas</i> von Diego Ortiz findet.<br />
<br />
Der <i>Cancionero de la Colombina</i>, eines der ältesten Manuskripte spanischer Polyphonie, gehörte Ferdinand Columbus, dem Sohn des Entdeckers, und bezeugt den französischen und italienischen Einfluß auf die Musik der iberischen Halbinsel. Der <i>Cancionero de Uppsala</i>, der 1556 in Venedig im Druck erschien und in der Universitätsbibliothek Uppsala aufbewahrt wird, zeigt die Weiterentwicklung der Villancico-Tradition.<br />
<br />
Die Juden wurden 1492 aus Spanien und 1506 aus Portugal vertrieben. Trotzdem hat ihr <i>sefarad</i>, ihr „spanischer“ Gesang eine ungewöhnlich weite Verbreitung gefunden, und die <i>Séfardim</i>, d.h. die Juden Spaniens und Portugals, haben viele Elemente der spanischen Kultur des Mittelalters im Rahmen ihrer religiösen und weltlichen Traditionen weitergegeben. Die Aktivitäten jüdischer Musiker im weltlichen Leben in Spanien sind schon früh vor ihrer Vertreibung bezeugt. Der <i>Romancero</i>, der spanische Romanzen enthält, weist auch zahlreiche altertümliche Texte auf, deren Melodien ebenso reichhaltig wie vielgestaltig sind.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Adélaide de Place (Übersetzung Gudrun Meier), im Booklet.</i></span><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg1BjdFuBpcFibrbxHK-lWtkbFh3e8RAl6b4HeUC1rnKPUBoMLfOExMHIRBS5UbOz1g4YfyV-TPbaMGmXfquYGBc2DK0exD91ADLtRcd9A4brJPknoo1hY4NOWAvc5xRWAz2e_WN9rwj1M/s1600/Montserrat-Figueras.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="480" data-original-width="518" height="296" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg1BjdFuBpcFibrbxHK-lWtkbFh3e8RAl6b4HeUC1rnKPUBoMLfOExMHIRBS5UbOz1g4YfyV-TPbaMGmXfquYGBc2DK0exD91ADLtRcd9A4brJPknoo1hY4NOWAvc5xRWAz2e_WN9rwj1M/s320/Montserrat-Figueras.jpg" width="320" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Montserrat Figueras (1942-2011)</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<pre>TRACKLIST
CD 1 57:20
Court Music and Songs
Villancicos
from Cancionero de la Colombina (end of the 15th century)
01. Niña y viña anon. 01:36
02. Propiñan de melyor anon. 01:42
03. Como no le andaré yo? anon. 02:22
04. Recercada anon. 01:38
05. Fantasia Luys Milan (c.1500-after 1561) 02:15
06. Pavana Luys Milan (c.1500-after 1561) 01:54
Villancicos
from Cancionero de Palacio 1490-1530
07. Al alva venid, buen amigo anon. 03:49
08. Perdí la mi rrueca anon. 02:22
09. A los baños del amor anon. 01:35
10. Fantasia anon. 01:39
11. Romanesca anon. 01:15
12. Pues bien para esta Garcimuñós 03:19
13. Si avéis dicho, marido anon. 01:59
Romances
from Cancionero de Palacio 1490-1530
14, Si d'amor pena sentís anon. 05:12
15. O voy Roman 01:58
16. Qu'es de ti, desconsolado?
Juan de Encina (1468-1529) 05:32
Recercadas sobre tenores
17. Recercada 4 Diego Ortiz (1525-?) 01:41
18. Recercada 5 Diego Ortiz (1525-?) 02:20
19. Recercada 6 Diego Ortiz (1525-?) 01:18
Villancicos
from Cancionero de Uppsala 1500-1550
20. Yo me soy la morenica anon. 01:11
21. Si la noche haze escura anon. 03:47
22. Soleta só jo aci anon. 01:33
23. Con qué la lavaré? anon. 03:53
24. Soy serranica anon. 01:17
CD 2 51:05
Sephardic Romances (anon.)
01. Pregoneros vay y vienen 05:10
02. El rey de Fancia tres hijas tenía 05:13
03. Una matica de Ruda 02:52
04. Palestina hermoza 01:32
05. Nani, nani 06:06
06. El rey que tanto madruga 03:08
07. Por qué llorax blanca niña 07:32
08. Moricos los mis moricos 02:59
09. Lavava y suspirava 05:37
10. Paxarico tu te llamas 01:52
11. La reina xerifa mora 05:56
12. Por allí pasó un cavallero 03:02
HESPÈRION XX
Montserrat Figueras - soprano
Jordi Savall - tenor and bass viola da gamba, bowed Saracen chitarra
Hopkinson Smith - Renaissance lutc, Saracen chitarra
Lorenzo Alpert - recorder, percussion
Arianne Maurette - viola da gamba
Pere Ros - viola da gamba
Pilar Figueras - bagpipe
Gabriel Garrido - percussion
Jordi Savall - direction
Recording: Münstermuseum, Basel, 4-10 November 1975
Producer: Gerd Berg
Balance engineer: Johann-Nikolaus Matthes
(P) 1976 (C) 1999
</pre>
<br />
<br />
<br />
<h1>
<span style="color: red;">Ein Mensch ist kein Stilleben</span></h1>
<br />
<b>Oskar Kokoschka portraitiert Karl Kraus</b><br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgYrkfBOQnSbasNll8paL4hBAq3FCqNQTaWZWoFPqf4542s7jXexBJ0Lhx69IPq5xWnZMleXtT_hlk6C9rviQxNMXta4Cnat3La83TFV6Gh_uzQEP5lMPyS8rWENdgsBeCe9wZuTNuX1jc/s1600/Abb+1.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1537" data-original-width="1121" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgYrkfBOQnSbasNll8paL4hBAq3FCqNQTaWZWoFPqf4542s7jXexBJ0Lhx69IPq5xWnZMleXtT_hlk6C9rviQxNMXta4Cnat3La83TFV6Gh_uzQEP5lMPyS8rWENdgsBeCe9wZuTNuX1jc/s640/Abb+1.jpeg" width="465" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 1 Oskar Kokoschka, Karl Kraus I, 1909, Öl auf Leinwand, 100 x 74,5 cm, zerstört.</td></tr>
</tbody></table>
„Wenn ich Portraits male", schreibt Oskar Kokoschka 1971 in der Autobiographie <i>Mein Leben</i>, „geht es mir nicht darum, das Äußerliche eines Menschen den Rang oder Attribute seiner geistlichen oder weltlichen Prominenz oder bürgerlichen Provenienz festzuhalten. Es gehört ins Gebiet der Historie, Dokumente der Nachwelt zu überliefern. Was die Gesellschaft früher an meinen Portraits schockierte, war das, was ich in einem Gesicht im Mienenspiel, in Gebärden zu erraten suchte, um dies in meiner Bildersprache als Summe eines Lebewesens in einem Gedächtnisbild wiederzugeben. Ein Mensch ist kein Stilleben.”<br />
<br />
In dieser knappen, für Kokoschka ungewöhnlich klaren Aussage ist die Fülle dessen, was diesen Maler über die Portraitisten seiner Zeit hinausragen läßt, eindrücklich offengelegt. Es ist die Summe eines Lebewesens, die er in seltener Weise blitzartig erfaßt zu haben scheint. Eine außergewöhnliche Begabung, eine angeborene Fertigkeit, die Adolf Loos, Kokoschkas erster Förderer, staunend als hellsichtig apostrophierte. Kokoschka selbst führt die Fähigkeit des blitzschnellen Festhaltens eines inneren Ausdrucks auf die Bewegungsstudien seiner Lehrjahre zurück. Er mußte damals seine — wie er schreibt — Modelle, oder Opfer, wie er sie auch nannte, so gut unterhalten, daß sie vergaßen, daß sie gemalt wurden und die Posen in natürliche Bewegungen wandelten. So bedürfe es auch seiner langen Erfahrung im Umgang mit Menschen, meinte er, eine oft in Konvention verschlossene Persönlichkeit wie mit einem „Büchsenöffner” ans Licht zu bringen. […]<br />
<br />
Ernst H. Gombrich teilt dazu eine interessante Facette mit: „Ein Kunsthistoriker ist selten in der Lage für eine solch allgemeine Hypothese direkte Beweise zu liefern; aber zufällig genoß ich das Privileg, Kokoschka einmal zuhören zu können, als er über einen besonders schwierigen Portraitauftrag sprach, den er einige Zeit zuvor erhalten hatte. Als er von dem Modell erzählte, dessen Gesicht er so schwer zu enträtseln fand, zog er automatisch eine Grimasse von undurchdringlicher Starrheit. Bei ihm nahm das Verstehen der Physiognomie einer anderen Person seinen Weg deutlich über die eigenen Muskelerlebnisse.“ Kokoschka war in seiner erstaunlichen Naivität als sehr begabter Schüler Bertold Löfflers an der Kunstgewerbeschule in diversesten Tätigkeiten u. a. als Postkartenmaler seit 1907 in der Wiener Werkstätte tätig, hatte das wunderbare Märchen „Die träumenden Knaben" erfunden und illustriert (bezeichnenderweise Gustav Klimt gewidmet), als Adolf Loos ihn in der Kunstschau 1908 entdeckte und ihn aus dieser Idylle riß und — das Genie erkennend oder besser gesagt, die Energie dieses eigentümlichen Träumers ahnend — mit Portraitaufträgen interessanter Persönlichkeiten überhäufte, von denen erwartet wurde, daß sie die Bilder erwerben konnten.<br />
<br />
Kokoschka dazu: „Meistens waren es Juden, die mir als Modell dienten, weil sie viel unsicherer als der übrige Teil der im gesellschaftlichen Rahmen fest verankerten Wiener und daher für alles Neue aufgeschlossener waren, viel empfindlicher auch für die Spannungen und den Druck infolge des Verfalls der alten Ordnung in Österreich. Dank ihrer geschichtlichen Erfahrungen urteilten sie weitsichtiger über Politik und auch über Kultur.” Das erste Bildnis von Karl Kraus (Abb. 1) ist Ende September, Anfang Oktober 1909 entstanden und laut Johann Winkler und Katharina Erlings Monographie über Kokoschka von 1995 mit großer Sicherheit im Wallraf-Richartz-Museum in Köln durch Kriegseinwirkung zerstört worden.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXca_lZawOzDUMKssxfPflU6z8js0XMbKwGDdigDQuuPdlkg1hNN11pcjln2yO1hMt1SwNlafoh5lWX5h4ZZ4bNFQztKP0wJpbnM1F9HMEU9ubF1YtNukQ0qNu9lf6elq3MSItP0JYurA/s1600/Abb+2.jpeg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1076" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXca_lZawOzDUMKssxfPflU6z8js0XMbKwGDdigDQuuPdlkg1hNN11pcjln2yO1hMt1SwNlafoh5lWX5h4ZZ4bNFQztKP0wJpbnM1F9HMEU9ubF1YtNukQ0qNu9lf6elq3MSItP0JYurA/s400/Abb+2.jpeg" width="269" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 2 Oskar Kokoschka, Karl Kraus I, 1909, <br />
Feder und Pinsel in Tusche auf Papier, <br />
29,7 x 20,6 cm, Privatbesitz.</td></tr>
</tbody></table>
Es ist daher nur in einer Schwarz-Weiß-Aufnahme erhalten. Der Hintergrund wird als gelb überliefert. Leo A. Lensing vermutet, daß Kokoschka Karl Kraus aus seiner neuesten Publikation „Die chinesische Mauer” (Juli 1909) lesen gesehen haben könnte, in der die Farbe gelb die Hintergrundfolie bildete: „Der Mund der Welt steht offen und aus den Augen starrt die Ahnung, daß sich das Größte begeben hat. Ringsum ist alles gelb." Lensing weist darauf hin, daß auch noch Edith Hoffmann (London 1947) die vorherrschende Farbe in dem Portrait ein „vivid yellow” nenne und J. P. Hodin dem „aufregenden Gelb“ einen symbolischen Eigenwert zuschreibe.<br />
<br />
Kokoschka erinnert sich an das erste Portrait von Karl Kraus als eines seiner frühesten: „Das Portrait von Karl Kraus, dem Herausgeber der in Wien gefürchteten Zeitschrift <i>Die Fackel</i>, war nicht seine Entlarvung, wie die Kritik sagte, sondern die der Wiener Gesellschaft, in der seine Schriften und Vorträge wie Vitriolattentate im Lande der Phäaken wirkten.”<br />
<br />
In der Internationalen Kunstschau 1909, der Nachfolgeausstellung der Kunstschau 1908, sah Kokoschka, wie er behauptet, wie auch Loos und Kraus zum erstenmal, daß es moderne Malerei gab und er empfindet sie in der Rückschau als Beginn einer Laufbahn, die er nicht voraussehen habe können.<br />
<br />
Loos erbot sich dazu, die Bilder, die die Portraitierten nicht käuflich erwerben wollten, selber zu erwerben oder an Museen oder andere Interessenten weiterzuverkaufen. (Er soll in kurzer Zeit nach und nach 29 Portraits besessen haben). Dabei deutet er selbst an, daß es unerträglich sei, Kokoschkas Portraits in der Wohnung hängen zu haben, ja daß Kritiker, die Kokoschka ablehnen, vielleicht die sensibelsten Menschen seien. Nur die Zeichnungen seien erträglich.<br />
<br />
Alice Strobl stellt in ihrer erhellenden Arbeit über die frühen Zeichnungen Kokoschkas anhand des Œuvrekatalogs von Johann Winkler und Katharina Erling fest, daß er deshalb die zeichnerische Produktion vernachlässigen mußte, da er bis Februar 1910 nicht weniger als 33 Gemälde (31 Bildnisse, ein Stilleben und eine Landschaft) auszuführen hatte. Neben diesen Portraits in Öl seien nur zwei selbständige Bildniszeichnungen entstanden, jene von Adolf Loos und Karl Kraus (Abb. 2). Beide können nicht als Vorzeichnungen gelten. „Das gänzliche Fehlen von Bildnisstudien, die sich unmittelbar auf die Anlage eines Gemäldes beziehen, läßt darauf schließen, daß Kokoschka die Vorzeichnung unmittelbar auf die Leinwand setzte” (was durch Erica Tietze-Conrat eindeutig bezeugt wird). „Der Vergleich des Gemäldes mit der Bildniszeichnung von Karl Kraus zeigt, daß es sich hierbei um zwei völlig getrennte künstlerische Bereiche handelt.” […]<br />
<br />
Werner J. Schweiger publizierte 1983 die Kritiken der Wiener Hagenbundausstellung 1911, in der Kokoschka wie in der Kunstschau 1908 das auffallendste und anstößigste Phänomen war. Unter diesen sei die von tiefem Verständnis zeugende Kritik Hans Tietzes erwähnt, von der er später schreibt, daß sie ihn zum Schriftsteller moderner Kunst werden ließ. Anhand des Portraits Janikowsky versucht er zu zeigen, was Kokoschka will: <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg4J8sdlcD7bfF6X82z1zZSCQFIcjHz8t47QADninPrj-rrNbz4c3KLuiOF4M5bdKZLv1l6VGRDCC7xMMO-UVe-smXbuj9Nc0CqsK9HuQSyn9MRAHUpVPH3faY4bV2eJJDZ1JzRknsZRVw/s1600/Abb+3.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1157" data-original-width="1600" height="288" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg4J8sdlcD7bfF6X82z1zZSCQFIcjHz8t47QADninPrj-rrNbz4c3KLuiOF4M5bdKZLv1l6VGRDCC7xMMO-UVe-smXbuj9Nc0CqsK9HuQSyn9MRAHUpVPH3faY4bV2eJJDZ1JzRknsZRVw/s400/Abb+3.jpeg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 3 Karl Kraus am Vorlesetisch, um 1921, Photographie, <br />
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Kraus Archiv.</td></tr>
</tbody></table>
„Aber zuerst versuchen Sie einmal dem Portrait v. J. eine Minute lang in die Augen zu schauen, versuchen Sie sich dem Grauen zu entziehen, das aus diesem glanzlosen Blick eines zerstörten Intellekts spricht, der fürchterlichen Anklage gegen Gott und die Welt zu entrinnen, die Ihnen entgegentönt. Wenn Sie dann noch sagen können, daß es Kokoschka nicht bitter ernst mit seiner Kunst ist ..." Vor allem aber scheint Tietze von den Portraits Karl Kraus und Adolf Loos fasziniert gewesen zu sein: „In anderen Bildnissen ist dieselbe schonungslose Schärfe in den Dienst eines erstaunlichen psychologischen Scharfblicks gestellt. Vergleicht man die nebeneinander hängenden Bilder [Kraus und Loos] so versteht man diese Absicht, eine seelische Eigenschaft als die beherrschende herauszuhören, ihr alle anderen zu unterwerfen und von der körperlichen Erscheinung nur das Wesentliche festzuhalten. Bei dem einen Bild die kalten ganz nach außen schauenden Blicke des unerbittlichen Intellekts, bei dem anderen die einwärts blickenden, fanatischen Augen des Künstlers.”<br />
<br />
Ganz anders äußert sich der „Kollege“ und etablierte Kunsthistoriker Josef Strzygowski: „Mit diesen Koko-Strahlen seiner Psyche durchleuchtet er auch die Personen, die das Unglück haben, unter seinen Pinsel zu geraten. Welcher faule Geruch geht von dem Bilde der Frau Dr. L. Fr. aus! Welch ekelhafte Pestbeule präsentiert uns der Maler in diesem Karl Kraus! Peter Altenberg und Adolf Loos samt Frau sind Waisenknaben gegen die Abgründe geheimer Laster, die Kokoschka in diesen beiden Portraits visionär zu öffnen versteht ..."<br />
<br />
Die oben erwähnte Lotte Franzos hat sich auch über die mangelnde Ähnlichkeit ihres Portraits beklagt, wurde aber durch einen Brief Oskar Kokoschkas besänftigt: "... Ihr Gesichtsportrait hat Sie gerissen, das habe ich gesehen. Glauben Sie, daß der Mensch, so wie er mich beeinflußt, beim Hals aufhört? Haare, Hände, Kleid, Bewegungen sind mir mindestens so wichtig. Bitte, gnädige Frau, das wirklich ernst zu nehmen, gerade in dem Fall, sonst hat das Bild flecken, die es zerfressen. Ich male keine anatomischen Präparate, oder ich nehme es zurück und verbrenne es.“ Die Dargestellte zählt zu den wenigen, die ihr Bild behielten. Es ist ganz auf den Kontrast Gelb-Blau aufgebaut und eine der einfühlsamsten und zartesten Frauendarstellungen Kokoschkas überhaupt, ähnlich wie die von Erica Tietze-Conrat.<br />
<br />
Besonders beleidigend und unwissend gibt sich Arthur Rössler in der <i>Wiener Arbeiter-Zeitung</i>: „Um eines Trumpfes sicher zu sein, luden die Jüngsten Oskar Kokoschka zu Gaste. Er kam und füllte zwei Säle mit seinen aus einer Brühe von molkigem Eiter, Blutgerinnsel und salbig verdicktem Schweiß gezogenen Lemuren ..." <br />
<br />
Geradezu aggressiv wird Karl Schreder im <i>Deutschen Volksblatt</i>, Wien: „Wenn sie uns künstlerische Keulenschläge versetzen, müssen wir endlich einmal kräftig zurückhauen, und zwar unnachsichtlich. In erster Linie sollen die Schläge auf Kokoschka niederprasseln, denn er ist der entsetzlichste von allen. Er macht „Portraits", darunter solche stadtbekannter Persönlichkeiten. Wie aus Tollhäusern oder aus mephitischen Grüften emporgestiegen, erscheinen diese grauenvollen Bildnisse, deren Antlitze entweder die Entstellungen zerstörender Krankheiten oder eines zersetzenden Verwesungsprozesses zu tragen scheinen. Und wie grausig sind nur die durchwegs verkrüppelten Hände, teils angeschwollen, teils halb verfault, als hätte die Lepra ihre entsetzlichen Verwüstungen begonnen. u.v.a.m."<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhg_ERCSTlow8PbaJ5qt4k2UFc0-G364k01rejX5-j8rcz6PEmW9u1rGhqxHLgGc7OiUZYL5cfbWiVLLU8D9W51_nWqZJ-5vb36N-NOAYWzS7EBulhY25QF0ogtS-uhQt9ePuDAvtlWW-c/s1600/Abb+4.jpeg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1099" data-original-width="777" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhg_ERCSTlow8PbaJ5qt4k2UFc0-G364k01rejX5-j8rcz6PEmW9u1rGhqxHLgGc7OiUZYL5cfbWiVLLU8D9W51_nWqZJ-5vb36N-NOAYWzS7EBulhY25QF0ogtS-uhQt9ePuDAvtlWW-c/s400/Abb+4.jpeg" width="282" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 4 Karl Kraus im Alter von etwa vier Jahren, <br />
um 1878, Photographie, <br />
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Kraus Archiv.</td></tr>
</tbody></table>
Dagegen erscheinen in der Fackel würdigende, profunde Arbeiten von Ludwig Erik Tesar (der sich scharf gegen Strzygowski wendet, den er ironisch als „Kunstprofessor" seinen Katheder auf dem Franzensring verlassen und sich in die Redaktionsstube auf dem Schottenring begeben läßt) und von einem der besten Freunde von Karl Kraus, dem Kunsthistoriker Franz Grüner.<br />
<br />
Kraus selber, der sich oft photographieren ließ (Abb. 3) und die Photos zur spöttischen Häme seiner Feinde als (Reklame-)Postkarten verbreitete bzw. verteilte und verschenkte, hatte offenbar auch Probleme mit der Ähnlichkeit, war aber, wohl durch Loosens Begeisterung für die Intention des Künstlers, anfangs durchaus positiv gestimmt. Am 23. September 1909 schreibt Kraus an Herwarth Walden, den Berliner Herausgeber des „Sturm", der wichtigsten expressionistischen Zeitschrift in Deutschland, daß Peter Altenberg endgültig explodieren würde, wenn er höre, daß Oskar Kokoschka ihn male, und am 27. September: „Ich werde jetzt von Kokoschka gemalt, ich glaube, die Sache wird ganz bedeutend" und bereits am 11. Oktober: „Seit gestern hängt bei mir das Kokoschka-Portrait.”<br />
<br />
Kokoschka berichtet in seiner Autobiographie: „lch malte Karl Kraus in seiner Wohnung. Seine Augen funkelten fiebrig hinter der Nachtlampe. Er wirkte jugendlich, verschanzt hinter seinen großen Augengläsern wie hinter einem schwarzen Vorhang, lebhaft mit den nervösen, feinknochigen Händen gestikulierend.” Diese Erinnerung paßt eigentlich besser auf die kurz nachher entstandene Rohrfederzeichnung (Abb. 2) als auf das zerstörte Gemälde und vor allem die Darstellung mit Brillen und mit den nervös gestikulierenden Händen betrifft, was bei des Malers blühender Erinnerung nicht weiter verwundert.<br />
<br />
Im Juni 1910 war das Portrait im Salon Cassirer in Berlin zum erstenmal ausgestellt und wurde, wie die ganze Ausstellung, kaum beachtet, ausser naturgemäß im eigenen Organ. Else Lasker-Schüler, die erste Frau Herwarth Waldens, die Karl Kraus als einzige Frau als Dichterin gelten ließ (hauptsächlich wegen des ihm gewidmeten Gedichtes vom Tibetteppich, das er öfters erwähnt) und deren Kunstkritiken er außerdem schätzte, schreibt im Sturm über das erste Kraus-Portrait: „Das Gerippe der männlichen Hand ist ein zeitloses Blatt, seine gewaltige Blume ist des Dalai Lamas Haupt.“<br />
<br />
Kurt Hiller, Kunstkritiker im „Sturm" erwähnt das Portrait ebenfalls: „Auch Karl Kraus schaut mich an; er sitzt ruhig und gefährlich, mit schmaler, intellektueller Hand und spitzem Mündchen und unglaublichen Aquamarin-Augen; der Stoff des zu zerspottenden Universums strömt auf ihn ein; er sitzt zierlich und amüsiert-lächelnd da, irgendwie von hinten still auf dem Sprung; aber um sein Haupt tanzen blitzgelbe Tupfen."<br />
<br />
Das Foto des zerstörten Portraits (Abb. 1) zeigt einen jüngeren, scheuen, eher verletzlichen Menschen, wie ihn die Frauen schildern, denen er ein einfühlsamer Zuhörer und Vertrauter war. Der wesentlich jüngere Kokoschka hat offenbar den privaten, freundlichen Jüngling gesehen, den Dichter. Erica Tietze-Conrat erinnert sich in ihrer Autobiographie, wie sie Arnold Schönberg und Alexander von Zemlinsky, die gesellschaftlich in der Familie Conrat verkehrten, einsetzte, um Karl Kraus kennenzulernen: <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEibQnaBuBBAAdGTr6_-vND4wRVb-u3mj9qVpmA3nBtUe8zFJZ60EDY0Qe8UCLVCS6QOu95t1Fh-g7HuYUwqfRV_EAfYwOiOuL0_axgGeIQcGZJncT-5_212TZu7yO76-mZ_X2shAoKi40o/s1600/Abb+5.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1076" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEibQnaBuBBAAdGTr6_-vND4wRVb-u3mj9qVpmA3nBtUe8zFJZ60EDY0Qe8UCLVCS6QOu95t1Fh-g7HuYUwqfRV_EAfYwOiOuL0_axgGeIQcGZJncT-5_212TZu7yO76-mZ_X2shAoKi40o/s400/Abb+5.jpeg" width="269" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 5 Karl Kraus mit Schwester, um 1882, Photographie, <br />
Wiener Stadt- und Landesbibliothek, Karl Kraus Archiv.</td></tr>
</tbody></table>
„Sie stellten die Vermittlung her und eines Nachmittags kam Karl Kraus zu uns. Ich empfing ihn allein ... Karl Kraus war etwa acht Jahre älter als ich, aber ein so schüchterner Mensch, daß er mir gleichaltrig erschien. Er hatte auch Stowasser als Lehrer gehabt und wir fanden sogleich Berührungspunkte. Es entwickelte sich daraus eine Freundschaft, die eigentlich bis zu meiner Verheiratung dauerte." Leo A. Lensing, der sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen Kokoschka und Karl Kraus auseinandergesetzt hat, vermutet, daß Karl Kraus nicht einseitig nur Kokoschka beeinflußt habe, sondern daß Karl Kraus die Begegnung mit seinem Selbst, „wie es Kokoschka in den beiden ersten Bildnissen dargestellt hat, zu einer gründlicheren Auseinandersetzung mit der künstlerischen Eigenart des Malers" veranlaßt habe. In der Fackel erschienen jedoch Aphorismen von Karl Kraus, die die anfängliche Zustimmung mehr und mehr abschwächen und trotz ihrer gesuchten und offenbar freudig gefundenen Wortspiele wie „erkennen-kennen” u. ä. nicht so sehr das Interesse an der künstlerischen Eigenart des Malers als viel mehr das Unbehagen an dieser durchblicken lassen: „Kokoschka hat ein Portrait von mir gemacht. Schon möglich, daß mich die nicht erkennen werden, die mich kennen. Aber sicher werden mich die erkennen, die mich nicht kennen." Er scheint sich selber, wie fast jeder und jede Portraitierte, anders gesehen zu haben, vor allem wahrscheinlich bedeutender, dämonischer, weniger jugendlich. „Der rechte Portraitmaler benützt sein Modell nicht anders, als der schlechte Portraitmaler die Photographie seines Modells. Eine kleine Hilfe braucht man."<br />
<br />
Ob Kraus die Ähnlichkeit mit seinem Jugendphoto aufgefallen ist, kann nicht entschieden werden, aber möglich wäre es. „Oskar Kokoschka malt unähnlich. Man hat keines seiner Portraits erkannt, aber sämtliche Originale." „An einem wahren Portrait muß man erkennen, welchen Maler es vorstellt." Später in der Fackel 360, 1912, 23: „Oskar Kokoschka malt bis ins dritte und vierte Geschlecht. Er macht Fleisch zum Gallert, er verhilft dort, wo Gemüt ist, dem Schlangendreck zu seinem Rechte.” Die Ambivalenz dem Maler und der Malerei gegenüber scheint bereits ins Pejorative zu tendieren. Am auffallendsten am Kraus-Portrait sind die Jugendlichkeit und die Hände. Beides „stimmt" aber auf bemerkenswerte Weise. Kokoschka selbst stellt die Jugendlichkeit ebenso fest wie Erica Tietze-Conrat. <br />
<br />
Kokoschka scheint darauf auch ganz besonderen Wert gelegt zu haben. Er schreibt selber, wie erwähnt, daß er den Dichter in seiner Wohnung portraitiert habe. Dort kann er, hinter dem Schreibtisch im Arbeitszimmer, die Kinderphotos von Kraus und seiner Schwester gesehen haben, wie sie auf dem Photo der Wohnung aus dem Jahre 1936 zu sehen sind. Die Wohnung zeigt sehr schön den, bei aller Originalität und Unabhängigkeit in moralischen und gesellschaftlichen Fragen soliden großbürgerlich-konservativen Geschmack der Gründerzeit. Das Photo des Vierjährigen im Oval (Abb. 4) bringt schon die charakteristische, eigenartige Mundstellung, und im Photo mit der Schwester (Abb. 5) ist die Ähnlichkeit mit der Kokoschka-Darstellung frappant: der Blick, die Augenstellung, ganz im Gegensatz zur Beschreibung des Malers als hinter dunklen Brillen verschwindend, ganz klar und hell (Hillers Aquamarinblau suggerierend) und vollends die Hände! <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhgn5XNJHkCqXVVhULeaGrFvQnYj-jt5oFXilOMyJWPp-axWWOk95hR_29w_TzvydY5qzxXLCRzky-to23mqG23a59q-ioYYHkUbGXFw9z2W7FiqkD1x9MzmByaZyv0jp8kxs-fsOAOmm4/s1600/Abb+6.jpeg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="988" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhgn5XNJHkCqXVVhULeaGrFvQnYj-jt5oFXilOMyJWPp-axWWOk95hR_29w_TzvydY5qzxXLCRzky-to23mqG23a59q-ioYYHkUbGXFw9z2W7FiqkD1x9MzmByaZyv0jp8kxs-fsOAOmm4/s400/Abb+6.jpeg" width="245" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 6 Oskar Kokoschka, Karin Michaelis, 1911, <br />
Feder in Tusche, Deckweiß auf Papier, 36 x 23 cm,<br />
Museum Stiftung Oskar Reinhart, Winterthur.</td></tr>
</tbody></table>
Diese unwahrscheinliche, skelettartige, hängende Hand, wie sie befremdlich empfunden wurde, resultiert ganz natürlich aus der Stellung des Ellenbogens auf der Schulter der sitzenden Schwester, wodurch die Hand locker senkrecht herunterhängt, wobei sie noch „expressionistisch" knochig verlängert wird; sogar die rechte hat dem Maler als Vorbild gedient, rund und kindlich. Offenbar wollte der Maler die Zwiespältigkeit im Wesen dieses sanften Jünglings und Satirikers durch den Gegensatz des Kindlichen der Form und der unerhörten Aggressivität der Farbigkeit - in kräftigem Gelb - ausdrücken. Schick macht eindrücklich auf diese Ambivalenz im Wesen von Kraus aufmerksam. „Im persönlichen Umgang zog er die Unmittelbarkeit vor und hatte nie Allüren des großen Mannes (vertrug aber keine Respektlosigkeit). Er, der immer Sätze voll Antithesen schrieb, die zum Nachdenken zwangen, war im Gespräch liebenswürdig, einfach und immer bemüht, dem Partner das Verstehen zu erleichtem. Er lachte immer darüber, wenn Leute, die seine Bekanntschaft machten, enttäuscht waren, daß er keine Fackelsätze spräche.“<br />
<br />
Die damals sehr berühmte dänische Schriftstellerin Karin Michaelis schildert ihr erstes Erlebnis einer Karl Kraus-Lesung am 6. November 1911. Sie hatte gerade „Das gefährliche Alter" geschrieben und mit diesem ihrem Buch über die erotische Krise der Frau von 40 Jahren einen Welterfolg errungen. Josef Strzygowski nennt sie in der zitierten Hagenbund-Kritik verächtlich im gleichen Atem mit den von ihm gleichfalls zutiefst verabscheuten Schönberg, Richard Strauß und Strindberg. Nicht einmal diese vier Protagonisten seien fähig, die Charakteristik einer ekeligen Psyche so wie Kokoschka der Zeit als Spiegel vor Augen zu halten. <br />
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Kokoschka, immer auf der Suche nach Berühmtheiten, hat sie im Hause der Familie Schwarzwald, einem der wichtigsten Wiener Schnittpunkte zwischen Pädagogik, Literatur, Musik und Architektur, bildender Kunst und sozialer Fürsorge, alles in allem das Vorbild des Hauses Tuzzi in Robert Musils <i>Mann ohne Eigenschaften</i>, aufgestöbert und sehr zu ihrem Mißvergnügen kurz vor der Abreise (1911) portraitiert (Abb. 6): „lch packte und er zeichnete. Wenn ich mich bückte, kroch er auf dem Fußboden herum, um das Gesicht nicht aus den Augen zu verlieren! Das Bild war in zwanzig Minuten fertig — aber was für ein Bild! Drei Monate Gefängnis wären nicht zuviel gewesen für die Schädigung an gutem Namen und Ruf, die er an mir dadurch verursachte. Die Zeichnung wurde nämlich im Sturm publiziert ... ich befreundete mich mit Kokoschka, konnte ihm aber schwer das Sturm-Verbrechen verzeihen, nicht zum mindesten‚ weil er dauernd behauptete, mein inneres Gesicht sei glänzend getroffen.” Nun die beeindruckende Schilderung ihres ersten Kraus-Erlebnises: „Fast tausend Hörer strömten herbei, um zweieinhalb Stunden dem nervösen Stakkato einer einzigen Stimme zu folgen ... Der Saal ist bis zum letzten Platz voll. Die Jugend hat ihn gefüllt. Eine gährende, schöne Jugend. Nie habe ich auf einem Fleck so viele herrliche Jünglingsgesichter und so viele dunkelglühende fanatisch hingerissene junge Frauen gesehen Alle Lichter sind verlöscht. Nur da oben auf dem grünbekleideten Tisch leuchten zwei vereinzelte Kerzen. Sie funkeln unheimlich. Nun kommt Kraus. Jung (!) mit langen unbeherrschten Gliedern, scheu wie eine Fledermaus eilt er an den Tisch, verschanzt sich bang hinter ihm, kreuzt die Beine, streicht sich über die Stirn, putzt sich die Nase, sammelt sich wie ein Raubtier zum Sprunge, lauscht, wartet, öffnet den Mund wie zum Biß, klappt ihn wieder zu, wartet ... <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjtT7TqTIa28UmVTWz1uss4V0YUB9-JRiM7dqBCKPqZZXN6FPe0VHocukEywhSKoj3MThTIg44bBUN-WnWdSjJLabnn8TsVPN1F3ixPXPznDNyiQoJqY4ZJ_QCs6MlgA3nKV9Tuk0wHXRs/s1600/Abb+7.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="938" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjtT7TqTIa28UmVTWz1uss4V0YUB9-JRiM7dqBCKPqZZXN6FPe0VHocukEywhSKoj3MThTIg44bBUN-WnWdSjJLabnn8TsVPN1F3ixPXPznDNyiQoJqY4ZJ_QCs6MlgA3nKV9Tuk0wHXRs/s640/Abb+7.jpeg" width="372" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 7 Oskar Kokoschka, Karl Kraus II, 1912, <br />
Schwarze Kreide auf Papier, 45,2 x 30 cm, Privatbesitz.</td></tr>
</tbody></table>
Ein unendlich sanftes, unendlich trauriges Lächeln bebt über sein Gesicht. Eine flüchtige, vornehme, scheue Freude schmilzt alle Strenge in diesem jungen, geistvollen, verbitterten Antlitz. Seine nervösen Hände fahren über die mitgebrachten Arbeiten. Er fängt an, hart, nachdrücklich, energisch, bezwingend, durch Überzeugung bezwingend. Hätte er chinesisch oder persisch gesprochen, man wäre mit der gleichen Spannung gefolgt. Seine eigene innere Glut wirkt wie der Funke der vorbeirasenden Lokomotive auf die sommerdürre Prärie umher: alles flammt auf, während er spricht. Aber mit Beängstigung begriff ich, daß alle diese jungen Seelen viel mehr von Kraus als von seinem tiefen, selbstverzehrenden Zorn ergriffen waren. Waren sie zu jung? Oder waren sie zu sehr Wiener?" […]<br />
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Noch in Berlin 1928 staunt der damals begeisterte Kraus-Anhänger Elias Canetti über die Liebenswürdigkeit des Satirikers: „Ich war erdrückt von der Vorstellung, am Tisch eines Gottes zu sitzen Er war ganz anders, als ich ihn von den Vorlesungen her kannte. Er schleuderte keine Blitze, er verdammte niemand ... Wie ungezwungen er lächeln konnte, mir war zumute als ob er sich verstelle. Von unzähligen Rollen, in denen ich ihn gehört hatte, wußte ich, wie leicht es ihm fiel, sich zu verstellen, doch war die, in der ich ihn jetzt erlebte, die eine, die ich nie erwartet hätte, und er hielt sie durch, während einer Stunde oder länger blieb sie dieselbe. Ich erwartete Ungeheures von ihm, und es kamen Artigkeiten. Jeden am Tische behandelte er mit Zartgefühl — aber mit Liebe, als wäre er sein Sohn, behandelte er Brecht, das junge Genie — sein erwählter Sohn.” […]<br />
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Der Vergleich mit den Photos verdeutlicht den merkwürdigen Blick Kokoschkas, der nicht das gleichzeitige Aussehen, sondern das Charakteristische eines Lebewesens erfaßte, das in der Jugend oder im Alter besonders deutlich zum Ausdruck kommen kann — die meisten Portraitierten wie etwa die Tietzes wachsen allmählich in das Portrait hinein. Karl Kraus zeigt als Knabe als Charakteristikum die Sanftheit des Lyrikers am deutlichsten, die Kokoschka wohl inspiriert durch das Kinderphoto als Vision aus der Leinwand heraustauchen sah und für das erste Kraus-Portrait und vielleicht noch für die zweite Zeichnung festhalten konnte (Abb. 7). […]<br />
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Ganz anders ist Karl Kraus auf den meisten Photos „getroffen", die er offiziell verbreiten ließ, von denen er eines — das im Jahr 1908 von Madame d‘ Ora aufgenommene — wohl dem Maler Max Oppenheimer zur Verfügung gestellt hatte, der ihn 1908, ein Jahr vor Kokoschka, gemalt hat. Konventionell und bis zur disziplinierten Haltung seiner Hände dem Photo entsprechend, scheint es Kokoschka in seiner Ansicht recht zu geben, daß Mopp, wie Oppenheimer sich nannte, erst durch sein, Kokoschkas, Beispiel, „modern" zu malen, begonnen habe und ihn unverschämt nachahme, was seine Freunde Loos, Kraus, Walden, Else Lasker-Schüler usw. bewog, Mopp grausam zu verfolgen, was in der Fackel und im Sturm Niederschlag fand.<br />
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1903/04 hatte Walden in seinem „Verein für Kunst“ Vortragsabende und Konzerte zu organisieren begonnen. Er scheint großen, respektfordernden Eindruck, besonders was Kunsturteile betraf, auf Adolf Loos, Karl Kraus und Kokoschka gemacht zu haben. Er war Musiker gewesen, bevor er sich der Malerei der Avantgarde und der Zeitschrift des Expressionismus „Der Sturm” widmete. […] Herwarth Walden war seit 1909 in enger Verbindung mit Kraus und Loos. Kraus hielt im Jänner 1910 drei Lesungen in Berlin, Walden wurde im Februar 1910 von Loos in Wien mit Kokoschka und seinen Zeichnungen bekanntgemacht (Abb. 8). Die erste Nummer des <i>Sturm</i> erschien am 3. März 1910 und brachte schon damals Beiträge von Kraus und Loos. Im <i>Sturm</i> konnte Walden noch nicht eingeführte Literatur und die Kunstrichtungen vertreten, die als Expressionismus, Futurismus, Kubismus etc. seiner Propaganda bedurften. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXOFvwXqlu1bYAtHdAAsjtFyxxVSZDmvLP1GGtpO5yA35q8eT5PVCaY3vm36dOZNLhvqWSKXjZqxrSq8_GmfJi5-z-e7fLEQkXA-zk1xBU1LFavLjJe-bGCdkDh83IrnwmgAx5gVGPk5s/s1600/Abb+8.jpeg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1219" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiXOFvwXqlu1bYAtHdAAsjtFyxxVSZDmvLP1GGtpO5yA35q8eT5PVCaY3vm36dOZNLhvqWSKXjZqxrSq8_GmfJi5-z-e7fLEQkXA-zk1xBU1LFavLjJe-bGCdkDh83IrnwmgAx5gVGPk5s/s400/Abb+8.jpeg" width="304" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 8 Oskar Kokoschka, Herwarth Walden, 1910, <br />
Feder in Tusche auf Papier, 28,8 x 22,5 cm,<br />
Harvard University Art Museum.</td></tr>
</tbody></table>
Dabei war Kraus eigentlich ein dezidierter Gegner aller dieser Modernismen, als Klassiker geradezu ein Antimodernist, besonders was die Sprache betraf: „Ich bin nur einer von den Epigonen,/ die in dem alten Haus der Sprache wohnen ...". Deshalb funktionierte die Zusammenarbeit nicht lange. lm Bezug auf die Malerei und im Speziellen auf Kokoschka ließ er sich noch etwas länger von Adolf Loos beeinflussen. Dieser hatte schon im Oktober 1909 an Walden geschrieben: „Maler Oskar Kokoschka will in Berlin eine Ausstellung veranstalten, ich bürge für einen sensationellen Erfolg. Wäre bei Cassirer Platz? Kommen Sie nach Wien? Können Sie sich hier ein paar Tage aufhalten, damit Ihr Portrait auch in die Kollektion kommt?“ Kokoschka hingegen fragte bei Walden an, ob Cassirer wohl sehe, daß seine Sachen die besten auf der Welt seien. Kokoschka, der 1910 engster Sturm-Mitarbeiter in Berlin war und auch bei Walden gewohnt hat, erlebte trotz der vielen Zeichnungen, die erstmals im <i>Sturm</i> gedruckt erschienen, ein Hungerjahr, da auch Walden, außer einer kleinen Subvention von Karl Kraus, kein Geld hatte.<br />
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Noch in Wien hatte er die genannte Rohrfederzeichnung von Kraus angefertigt (Abb. 2), nach Alice Strobl Ende Oktober, Anfang November 1909, mit reich bewegten Strukturen und ständig wechselnder Strichbreite. Die auffallend expressive Gestaltung der Hände des „Vorlesers" mit zarter Brille und etwas verhaltenem Gesichtsausdruck wie vor dem Losbruch, lassen an Kokoschkas Schilderung der nächtlichen Portraitsitzungen denken. ln ihrer Expressivität ist sie deutlich auf die Verwendung im <i>Sturm</i> zugeschnitten. Als Kokoschka sie an Walden schickte, fügte Karl Kraus seinem Brief als Postskriptum die positivste Bemerkung hinzu, die er — wohlgemerkt im Beisein des Künstlers — sich abringen konnte: „Ein Meisterwerk“.<br />
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Noch einmal hat sich Kraus zumindest teilweise positiv über Kokoschka als Maler geäußert: „lch bin stolz auf das Zeugnis eines Kokoschka, weil die Wahrheit des entstellenden Genies über der Anatomie steht und weil vor der Kunst die Wirklichkeit nur eine optische Täuschung ist.“ (Fackel 374, 1913, 32)<br />
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Im Juli 1912 hatte Kokoschka eine zweite Portraitzeichnung, die wie die erste ein völlig selbständiges Werk darstellt und nicht als Vorzeichnung für ein Portrait gelten kann, vollendet (Abb. 7). Sie gilt in der Kokoschka-Forschung als Höhepunkt der Simultandarstellung, die er zu dieser Zeit zur Anwendung brachte, angeregt wohl durch romanische Fresken, beispielsweise die Profil-En face Darstellungen der Zuschauer in der Prokulus-Szene in Naturns, die er noch für das Selbstportrait-Plakat von 1923 verwendet hat. […]<br />
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Am 1. April 1916 berichtet Kraus voll Abscheu, daß Karin Michaelis, die er als neutrale Allerweltsfreundin apostrophiert, Kokoschka in verschiedene Häuser in Wien einführe: „Das Ganze beruht auf der bekannten Idee, Krieg, Spitalspflege und Maleraufträge zu verknüpfen. Diese letzten dürften kaum gefördert werden, aber wer zum ,Gesellschaftsmaler' zu gut ist, ist leider nicht zu gut, um auf Jours herumgereicht zu werden. Mir ist das alles grenzenlos zuwider, und es ist mir ganz rätselhaft, wie der gute Loos so andächtig meinen Forderungen lauschen und so unbefangen das Gegentheil thun kann.“ <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiqZPBFwaHBGl_KCQ8RKUHwsV5JmzTftQi4Kmt4jkCbg__JL1udOi4HBiyU5rBNEsEGydylv5ZTecwWvhyGwrp90EX5er840_-Esmx7ryRAp7C9iJCwBDgIQnYfq8MWw_aYdWaPcO4ED_A/s1600/Abb+9.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="721" data-original-width="1137" height="403" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiqZPBFwaHBGl_KCQ8RKUHwsV5JmzTftQi4Kmt4jkCbg__JL1udOi4HBiyU5rBNEsEGydylv5ZTecwWvhyGwrp90EX5er840_-Esmx7ryRAp7C9iJCwBDgIQnYfq8MWw_aYdWaPcO4ED_A/s640/Abb+9.jpeg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 9 Oskar Kokoschka, Karl Kraus II, 1925, Öl auf Leinwand, 65 x 100 cm, <br />
Museum moderner Kunst Stiftung Ludwig, Wien.</td></tr>
</tbody></table>
Was sich hier ankündigt, die ethische Verdammung des Malers, sollte in noch viel schärferer Form über den Dichter Kokoschka kommen. Am 29./ 30. 5. 1916 folgt der Bericht über die endgültige Verurteilung des schon durch das Gedicht <i>Allos Makar</i> (anders als glücklich, in anagrammatischer Umstellung der Namen Alma und Oskar) unliebsam aufgefallenen Delinquenten. Nach dem Bericht einiger Schmeicheleien, die ihm Loos kolportiert habe, kommt der Zornausbruch in merkwürdiger, der Harmlosigkeit des Anlasses inadäquat anmutender Heftigkeit: „aber mich selbst können sie nicht soweit blenden, daß ich von den Gedichten des Kokoschka, die jetzt in einer Zeitschrift erschienen sind, etwas hielte. Loos — es war zum Sterben — zeigte mir diese Gedichte, dazu Zeichnungen. Von diesen verstehe ich jedoch nichts, glaube aber, daß sie ein Irrthum des Loos sind, der sie übrigens zum Theil selbst preisgab. Aber von dem, was man mit der Sprache erleben oder nicht erleben kann, davon weiß ich etwas. Loos versucht, mich zur Anerkennung dieser Verse zu bringen. Es stellt sich heraus, daß er kein Wort davon versteht, sich alle möglichen Erklärungen hineinschreiben ließ, die er wieder nicht versteht. Noch wankt er nicht. Da beweise ich ihm Satz für Satz, Wort für Wort, Beistrich für Beistrich, daß er den ja nicht unsympathischen Mangel, sich nicht handwerkerlich geschickt ausdrücken zu können, für ein schöpferisches Merkmal gehalten hat. Daß es der lächerlichste Dilettantismus ist und nur dort, wo es verständlich wird, lyrischer GemeinpIatz‚ ganz banales‚ tausendmal vorhandenes Zeug. Plötzlich gehen dem guten Loos, den sicher das schlechte Gehör so vieles überschätzen läßt, die Augen über und er stimmt mir so sehr zu, daß er mich bittet, alles dem Kokoschka zu sagen, wozu ich mich natürlich bereit erklärte. Ich bewies ihm, daß er die Unbewußtheit des künstlerischen Schöpfers, der natürlich von dem weisesten Plan behütet ist, mit den Bewußtseinsstörungen des Kokoschka verwechselt hat ... Er freute sich ordentlich, daß ihm die Illusion genommen sei, daß ich sie nun auch dem Kokoschka selbst nehmen wolle, und gab zu, daß er mit seiner Propaganda das Heraufkommen des ärgsten Mistes verschulde und diesen beglaubige ..."<br />
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Es sei die „nackte Sprachschande". Am 31./1. VI. 1916 berichtet er weiter. „Heute brachte Loos den Kokoschka und die Gedichte. Ich sagte ihm alles mit der äußersten Schärfe und nahm ihm das Versprechen ab, so etwas nicht mehr zu thun. Gieng es Wort für Wort mit ihm durch, dichtete es um, und der lauschende Loos mußte erfahren, daß alles, was ihm gefallen hatte, entweder wertlos oder Druckfehler waren! Alle Einwände aber imponierten dem Dichter sehr.“ Ein Brief allerdings des so behandelten armen Dichters an Albert Ehrenstein vom 13. 6. 1916 zeigt die — zumindest vorübergehende — Wirkung: „Mein lieber alter Ehrensteindoktor ... Ich bin neugierig, wann der Zeitpunkt eintritt, da ich an Leib und Seele ganz bankrott sein werde. K. Kraus hat mein Gedicht furchtbar verrissen und mir entschieden vorn Dichten abgeraten ..." Kraus forderte, daß Sidonie Nadherny die Gedichte und Zeichnungen selber begutachten müsse, da ja über die prinzipielle Möglichkeit der Portraitierung beschlossen werden solle. Ein Kokoschka-Portrait von Sidonie de Nadherny scheitert offenbar an Karl Kraus’ Widerstand.<br />
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Umso seltsamer mutet es an, daß sich Karl Kraus 1925, offenbar als Ersatz für das nie zurückgestellte erste Portrait, von Adolf Loos überreden ließ, noch einmal für ein Portrait zu sitzen, noch dazu seltsamerweise entgegen Kokoschkas Gewohnheit im Heim des Künstlers im Liebhartstal bei Wien (Abb. 9).<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgF2Ftjl76hcyw7W6HrPeX9AvetVXghUw_pTDAl8v0vkcIpQrrsUOravg_zu3fLCEyDqvTclybB6_ClQwBv6Yzb1AsjfcdgL1FIkyTOPli2Gr4bfPdDbf6kHmcfKKGdmFBjfzKyiKJgvFM/s1600/Abb+10.jpeg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1067" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgF2Ftjl76hcyw7W6HrPeX9AvetVXghUw_pTDAl8v0vkcIpQrrsUOravg_zu3fLCEyDqvTclybB6_ClQwBv6Yzb1AsjfcdgL1FIkyTOPli2Gr4bfPdDbf6kHmcfKKGdmFBjfzKyiKJgvFM/s640/Abb+10.jpeg" width="425" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 10 Oskar Kokoschka: Ein Selbstbildnis des Künstlers ohne Haare<br />
für "Der Sturm".</td></tr>
</tbody></table>
Oskar Kokoschka berichtet in seiner Autobiographie (1971): „Er (Kraus) hat sich meiner Mutter gegenüber außerordentlich liebenswürdig entschuldigt, als fremder Eindringling zu stören ... Bei der letzten Sitzung — vielleicht eine Woche lang war er jeden Tag mit Loos in einem Fiaker zu uns hinausgefahren — war der Stuhl zusammengebrochen‚ weil er mit Loos zu heftig diskutierte. Ich notierte dies auf der Rückseite des Gemäldes mit den Worten: ‚Pro domo et mundo' (Titel der Aphorismensammlung von Kraus in der die früher in der Fackel erschienenen 5 Kokoschka-Aphorismen zusammengefaßt waren). ‚Der Sessel, auf dem Karl Kraus für das Bild gesessen ist, ist nach der letzten Sitzung zusammengefallen am 7. Feb. 25 und mußte der Tischler gerufen werden. Aus dem Schiffbruch der Welt jener, die mit Brettern oder Barrikaden vor der Stirn geboren sind, hast Du eine Planke zu einem Schreibtisch geborgen. OK’ Das hat ihm gut gefallen." Oskar Kokoschka erinnert sich: „Seine Stimme war schneidend. Loos, dessen Gehör damals schon schlechter geworden war, verstand jedes Wort. Kraus‘ Wesen war vollkommen zwingend. Im Sprung wie eine Wildkatze eines der roten Fackelhefte ergreifend, riß er einen Satz heraus wie ein Stück Fleisch, um Loos von der Treffsicherheit des Ausdrucks zu überzeugen. Beide vergaßen, daß ich malte ..." Der Diskutierende, der Vorleser ist ganz offensichtlich in aller „Lebendigkeit” dargestellt, das rote Fackelheft zwischen den gestikulierenden Händen. Die Stimmung ist nächtlich, Gesicht und Hände bleich mit violetten und weißen Höhungen, der Ausdruck des Gesichtes von tiefer Melancholie überzogen, der Saturn-geborene Künstler ist gemeint, das Vergänglichkeitssymbol des Schmetterlings wie von Pisanello im Portrait der Ginevra d’ Este beschwörend, jedoch bei der trüben Beleuchtung der Nachtlampe, wie er selber es im neunten Band der Worte in Versen (1930) imaginiert, wohl der Mahnung Kierkegaards bewußt: „Ein einzelner Mensch kann einer Zeit nicht helfen oder sie retten, er kann nur ausdrücken, daß sie untergeht" […]<br />
<br />
Scheinbar hat Kokoschka die Ablehnung von Karl Kraus unterschätzt oder nie so ernst genommen, da er ihm von Angesicht zu Angesicht wieder freundlich begegnete. Dabei wäre Kraus sogar einverstanden gewesen, seinen bösen Verriß des Dramatikers Kokoschka über sein Drama „Mörder, Hoffnung der Frauen" in der Zeitschrift <i>Tribunal</i> 1920 zu veröffentlichen. Er war gebeten worden, Kokoschka gegen eine schlechte Kritik seines Dramas „Hiob" in der <i>Frankfurter Zeitung</i> zu verteidigen, was das ungebrochene Vertrauen Kokoschkas beweist, trotz der Verachtung, die Kraus seiner Dichtung entgegengebracht hatte. Als Verlag der Schriften von Karl Kraus antwortet Kraus selbst: „Darum möchte er [Kraus] Ihnen, ob Sie nun seine Ansicht veröffentlichen wollen oder nicht, keineswegs verhehlen, daß er den Dramatiker Kokoschka zwar nicht aus dem Drama <i>Hiob</i>, wohl aber aus dem Schauspiel <i>Mörder, Hoffnung der Frauen</i> kennt und dieses, wie die ihm bekannten Verse des Dichters für einen Schmarren hält und zwar so ziemlich für den sprachlich untiefsten, den der neue Dilettantismus hervorgebracht hat. Sie mögen aber überzeugt sein, daß diese Meinung an seinen persönlichen Sympathien für Herrn Kokoschka nichts zu ändern vermocht hat, wenngleich sie ihm die Identität des Dichters mit dem gleichnamigen Maler, von dem er zwar nichts versteht, dessen hohe Anerkennung durch Fachleute ihm aber einleuchtet, zu einem psychologischen Rätsel macht. […]" Diese Stellungnahme wurde natürlich nicht gedruckt und Kokoschka hat wohl nie den Wortlaut erfahren, ebensowenig wie die Ablehnung von Karl Kraus, etwas über die Malerei Kokoschkas zu publizieren.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgTg0f2uzflOlA-bQRaF_bMx6Sf3rERSFNuFSOEPtNy6gYZa9sa2O4sRvX8ZnGSMbsgH5j7jQWikVOV6HbgEJ4M9-DuRm-_RhJDGHAd2icuJKjVS5kbqCHMKfE60BgzQucYwIWHomAxJHs/s1600/Abb+11.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="592" data-original-width="450" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgTg0f2uzflOlA-bQRaF_bMx6Sf3rERSFNuFSOEPtNy6gYZa9sa2O4sRvX8ZnGSMbsgH5j7jQWikVOV6HbgEJ4M9-DuRm-_RhJDGHAd2icuJKjVS5kbqCHMKfE60BgzQucYwIWHomAxJHs/s400/Abb+11.jpeg" width="304" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Abb. 11 Oskar Kokoschka mit kahlrasiertem Kopf, <br />
Wien 1909, Fotographie von Wenzel Weiss.</td></tr>
</tbody></table>
In einer Anfrage an die „Portraitierten" für den Katalog einer Kokoschka-Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle, die der renommierte Direktor Gustav Hartlaub 1931 veranstaltete, sollte die Frage beantwortet werden „Was Ihnen Kokoschka bedeutet". Karl Kraus schreibt, wieder als Verlag nach hartnäckigem Drängen Hartlaubs zurück: „Herr Karl Kraus würde, selbst wenn er zu einer Äußerung über Dinge der bildenden Kunst befugt wäre, es grundsätzlich ablehnen, ein Urteil auf Wunsch zu formulieren und sich an der Beantwortung einer Rundfrage zu beteiligen." Auf Hartlaubs Anfrage nach einer Möglichkeit der Vermittlung an Hans Tietze antwortet dieser: „Kraus antwortet niemals, ich weiß nicht, was man da machen könnte.”<br />
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Karl Kraus hat offenbar endgültig sein Urteil über den Maler dem über den Dichter angeglichen. Noch vor seiner Bekanntschaft mit Loos hatte er sich ja schon gegen die Fakultätsbilder von Gustav Klimt und besonders dessen Frauendarstellungen ausgesprochen — während Befürworter Klimts wie der Kraus-Gegner Felix Salten die „schöne jüdische Jourdame" in der wunderbar zarten verführerischen erotischen aber grausamen „Judith" preist, in der Nike Wagner und neuerdings zahlreiche Journalisten die junge Adele Bloch-Bauer vermuten, deren Züge Klimt verwendet zu haben scheint. Nike Wagner sieht Karl Kraus schon von Anfang an der Moderne wenig geneigt: „Im allgemeinen ist Kraus Anmerkungen zum Secessionsgeschehen zu entnehmen, daß die malerische Moderne ihm genauso wenig zusagte wie die literarische.” So steht er auch Herwarth Walden von Anfang an skeptisch gegenüber und auch Adolf Loos, mit dem er in der grundsätzlichen Haltung zu ethischen Fragen zutiefst übereinstimmt, traut er im Bezug auf die Begeisterung für den Expressionismus kein gültiges Urteil zu. Auch Gerald Stieg erwähnt diese Entwicklung: „Obwohl Kraus zu den Entdeckern und Förderern der expressionistischen Literatur und Malerei (z.B. Kokoschka) zählte, distanzierte er sich später aus formalen und ideologischen Gründen völlig von der ‚Literaturrevolution'. Er ironisierte in der Attitude des poetischen Schulmeisters die Form- und Zuchtlosigkeit der neuen, expressionistischen Dichterschule /in der Fackel 18, 544-545, 20-21/, er zweifelte aber auch das Ethos und Pathos der revolutionären Menschheitsverbrüderungspose an.“<br />
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In einigen guten Aufnahmen von J. Scherb ist die Wohnung von Karl Kraus zur Zeit seines Todes in verschiedenen Ansichten erhalten. Neben beiden Zeichnungen Kokoschkas (Reproduktionen) sind einige Aufnahmen von Portraits zu sehen (Janikowski, Karl Kraus I, Loos) und vor allem unzählige Fotos, mehrere als Kind, mit Familie und Freunden usw. Die vielen Photos, die Rahmen der Großphotos, die offensichtlich zeitgemäßer empfunden wurden als Ölgemälde, die Luster, Möbel, Stoffe, Vorhänge zeigen das Ambiente eines anspruchslosen Schreibtischarbeiters, der an der „Kunst" gar nicht interessiert ist, weil er sie nicht braucht, weder um sich auszuzeichnen noch um sich abzuheben, diese Funktionen erfüllte ausreichend die Fackel. So erscheint die Affaire Kokoschka als Mißverständnis, dem aber vier der interessantesten Portraits des Meisters zu verdanken sind. <br />
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<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Almut Krapf-Weiler: Ein Mensch ist kein Stilleben. Oskar Kokoschka portraitiert Karl Kraus. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. 12. Jahrgang, Heft 1/2006. ISNN 1025-2223. Seite 46 bis 65 (gekürzt).</i></span><br />
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<b><i>Und es hat noch mehr </i>alte<i> Musik in der Kammermusikkammer:</i></b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/06/la-frottola-eine-fast-vergessene.html" target="_blank">La Frottola - eine fast vergessene Kunstgattung des 15. und 16. Jh. | Das Fest des Fleisches: Rubens und Helene Fourment.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/03/das-gansebuch-nurnberg-1510.html" target="_blank">Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Dürers Hiob.</a></b><br />
<b><br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/01/das-lochamer-liederbuch.html" target="_blank">Das Lochamer Liederbuch (Nürnberg, 1452) | Pablo Picasso: Die Frau mit dem Haarnetz (La femme à la résille), 1949.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/12/sumer-is-icumen-in-hilliard-ensemble.html" target="_blank">Sumer is icumen in (England, 13./14. Jahrhundert) | Otto Pächt: Zur deutschen Bildauffassung der Spätgotik und Renaissance.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2014/12/giovanni-legrenzi-sonate-due-e-tre-opus.html" target="_blank">Giovanni Legrenzi: Sonate a due e tre Opus 2 (Venedig 1655) | Max Rychner: Vom deutschen Roman. Illustriert von den Präraffaeliten.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2015/02/marc-antoine-charpentier-lecons-de.html" target="_blank">Marc-Antoine Charpentier: Leçons de Ténèbres du Jeudy Sainct | Vom Doppeladler zum Bindenschild. Eine Lektion in Heraldik.</a></b><br />
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<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 11 MB <br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-18952585756904144672019-07-25T09:10:00.002+02:002019-07-25T09:10:16.490+02:00Carl Orff: «Carmina Burana» - Szenische Kantate für Soli, gemischten Chor, einstimmigen Knabenchor und Orchester<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjdXEL1H4Cnax_BuRJ_yOzvKKvxSDt-jO2-VmSV0cC4mow9DDjAm_E8ZGxHJBocq4DhLKToOQIHQIYZXUmA49Ub8wLt7NDFqvUSrvMB0XiYpzyMdLu4SJ8hL2tE641Ae1Wg28FioY1jwyU/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1372" data-original-width="1429" height="307" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjdXEL1H4Cnax_BuRJ_yOzvKKvxSDt-jO2-VmSV0cC4mow9DDjAm_E8ZGxHJBocq4DhLKToOQIHQIYZXUmA49Ub8wLt7NDFqvUSrvMB0XiYpzyMdLu4SJ8hL2tE641Ae1Wg28FioY1jwyU/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Die «Carmina Burana» haben sich als bekanntestes Werk Carl Orffs und gleichzeitig als eines der beliebtesten Stücke des 20. Jahrhunderts einen prominenten Platz im Konzertleben weltweit erobert. Der Erfolg beruht auf vielen Faktoren, an vorderster Stelle sind sicher die leichte Fasslichkeit der Musik und die phantasievollen Texte zu nennen, die dem Mittelalter in eleganter Zeitlosigkeit neues Leben einhauchen – ein Guckkasten in einer lang verblichenen Epoche.<br />
<br />
Orff wusste dank seiner jahrelangen Erfahrung im schulmusikalischen Bereich um die Wirksamkeit von einfachen Strukturen, klaren Rhythmen und welche musikalischen Hilfestellungen es brauchte, um die Hörer zu etwas «hinzuführen». Die Partitur ist ein rhythmusbetontes Musikbett und beschränkt sich auf einfache melodische und harmonische Strukturen. Interpretieren – im Sinne von «etwas daraus machen» – muss man die «Carmina Burana» sicher nicht. Die Musik verlangt dafür Präzision, Spielfreude, Authentizität und große Vorstellungskraft. Orff selbst erklärte: «Ein besonderes Stilmerkmal der Carmina Burana-Musik ist eine statische Architektonik. In ihrem strophischen Aufbau kennt sie keine Entwicklung. Eine einmal gefundene musikalische Formulierung – die Instrumentation war von Anfang an immer mit eingeschlossen – bleibt in allen ihren Wiederholungen gleich. Auf der Knappheit der Aussage beruht ihre Wiederholbarkeit und Wirkung.»<br />
<br />
Wir haben es mit drei Themengruppen oder Bildfolgen (1. Frühling und Natur, 2. In der Schenke, 3. Liebe) zu tun, die von einem Hymnus an die Schicksalsgöttin umrahmt werden. Eine Handlung gibt es nicht – einer der zahlreichen Kniffe, mit dem sich Orff zeitlose Aufmerksamkeit sicherte.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg_BU4irEyvisvK9QzTrdfUuRItw1lxWE37ilmzeU7Ppq1Jhl4fzZm-ZU6uYpwOtrimNoVHXNc52cwfXJCB7YUDQLAOHk1c8bfKrS3tCzyYkrwL1rbMUbToPUJJ85DAgIppVjxBUlbVL7s/s1600/1CB_Rad.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="705" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEg_BU4irEyvisvK9QzTrdfUuRItw1lxWE37ilmzeU7Ppq1Jhl4fzZm-ZU6uYpwOtrimNoVHXNc52cwfXJCB7YUDQLAOHk1c8bfKrS3tCzyYkrwL1rbMUbToPUJJ85DAgIppVjxBUlbVL7s/s400/1CB_Rad.jpg" width="275" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;"><a href="http://kammermusikkammer.blogspot.com/2012/12/carmina-burana-das-benediktbeuren.html" target="_blank">Bayerische Staatsbibliothek, Clm 4660, </a><br />
<a href="http://kammermusikkammer.blogspot.com/2012/12/carmina-burana-das-benediktbeuren.html" target="_blank">Codex Buranus (Carmina Burana); </a><br />
<a href="http://kammermusikkammer.blogspot.com/2012/12/carmina-burana-das-benediktbeuren.html" target="_blank">fol. 1r mit Schicksalsrad. circa 1230 </a></td></tr>
</tbody></table>
Alles beginnt mit dem berühmten Chor «O Fortuna», in dem die Glücks- und Schicksalsgöttin als Lenkerin der Welt angerufen wird. Das grandiose Eröffnungsstück offenbart trotz allen Kummers über das wechselnde Glück ungeheure Lebenslust. Das Bild des sich ewig drehenden Schicksalsrades wird im folgenden «Fortune plange vulnera» («Die Wunden, die Fortuna schlug») weiter ausgesponnen.<br />
<br />
Es folgt «Primo vere», das mit «Ûf dem anger» gepaart, den herannahenden Frühling und seine Schönheit besingt. In «Veris leta facies» («Frühlings heiteres Gesicht») wird hymnisch das Aufblühen der Welt besungen. Der Gedanke wird solistisch in «Omnia sol temperat» («Alles macht die Sonne mild») entwickelt, die Sonne weckt Frühlingsgefühle im wörtlichen und übertragenen Sinn. Der Chor «Ecce gratum» («Sieh, der Holde») schließt mit einer Zwischenbilanz diese erste Abteilung («Primo vere») und unterstreicht abermals die Wichtigkeit des Frühlings.<br />
<br />
«Ûf dem anger» hebt mit einem heiteren Tanz an, der weiter in die frühlingshafte Szenerie führt. «Floret silva nobilis» («Es grünt der edle Wald») ist das Lied einer Frau, die sich beim Anblick des grünenden Waldes schmerzlich des Verlusts ihres Liebhabers und ihrer Sehnsucht nach Liebe bewusst wird. Mit «Chramer, gip die varwe mir» («Kramer gib die Farbe mir») hören wir nun den ersten mittelhochdeutschen Text, der unmittelbar auf das vorangegangene Stück reagiert. Die Frau ergreift die Initiative und bereitet sich darauf vor, wieder einen Mann für sich zu gewinnen – nach allen Regeln der Minne, versteht sich. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiBMl08H-Yhbahm9f14RSKW8Y_tm9pojj3fD8elkaq3koJrouPahAmon0VVJMRNVZWPpUC30NBfPgXzd37Kt9bE7aFsfqLLYNjVPO4_1U6ighc0xvfxK-ZRC2kb5gTLXt2Z8tkoKqCnWPA/s1600/2Bocchaccio.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1291" data-original-width="914" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiBMl08H-Yhbahm9f14RSKW8Y_tm9pojj3fD8elkaq3koJrouPahAmon0VVJMRNVZWPpUC30NBfPgXzd37Kt9bE7aFsfqLLYNjVPO4_1U6ighc0xvfxK-ZRC2kb5gTLXt2Z8tkoKqCnWPA/s400/2Bocchaccio.jpg" width="282" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Boccaccio, "De Casibus Virorum Illustrium" (Paris, 1467)<br />
MSS Hunter 371-372 (V.1.8-9). Image (vol. 1: folio 1r)<br />
(Glasgow University Library) </td></tr>
</tbody></table>
Auf die Vorbereitungen folgt sogleich das neckische Spiel zwischen Frauen und Männern: einem Reigen («Reie») folgt ein Spottlied der Burschen über die tanzenden Mädchen («Swaz hie gat umbe», «Was hier im Reigen geht»), denen es nicht schnell genug geht. Dieses Missverständnis klärt sich bei «Chume, chume geselle min» («Komm, Geselle mein») schnell auf, worauf wieder das Spottlied folgt. Mit «Were diu werlt alle min» («Wäre auch die Welt ganz mein») wird schließlich versichert, dass die Dame des Herzens schon den Verzicht auf Krone und Land wert wäre. Es ist nach wie vor umstritten, ob mit den Worten «daz diu chünegin von Engellant lege an minen armen» eine konkrete Person gemeint ist – womöglich ist von Eleonore von Poitou die Rede, die sich 1152 von ihrem Mann, dem französischen König, trennte, um den englischen König zu heiraten.<br />
<br />
Um kulinarische Genüsse und unbekümmerte Lebenslust geht es im folgenden Teil «In taberna» («In der Schenke»). Die Botschaft des ersten Stücks ist unmissverständlich: «Estuans interius» («Glühend in mir») tritt als erste offen zur Schau getragene Ich-Botschaft im gesamten Stück hervor. Es ist eine rotzfreche Parodie auf die christliche Beichte in Strophenform. Sprachgewaltig und satirisch geht es in «Olim lacus colueram» («Einst schwamm ich auf dem See umher») weiter, wenn der über dem Feuer bratende Schwan sein trauriges Los bejammert. Nahtlos daran schließt «Ego sum abbas» («Ich bin der Abt») an, in dem sich ein namenloser Zecher zum Abt des Schlaraffenlandes erklärt und jeden warnt, der sich mit ihm auf das Würfelspiel einlässt. «In taberna quando sumus» («Wenn wir sitzen in der Schenke») enthält liturgische Anspielungen, verunglimpft die Fürbitten zum Karfreitag und schließt den zünftigen Fress- und Saufteil der «Carmina Burana» ab.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjPO2Ungm4iswWpm7ozPsRlKIscJa7uxE8eTyS_UUYPnVfdYDHPC_tHrhfSiSTC-4Ho__iL68Rpiiv6lqmwhvVeJXkq6YS2aaFhNTjNI1Fz_lb2RmdG97TGdjgy3IQaIsGimfdPYcivFGA/s1600/3Pizan.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1080" data-original-width="1313" height="328" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjPO2Ungm4iswWpm7ozPsRlKIscJa7uxE8eTyS_UUYPnVfdYDHPC_tHrhfSiSTC-4Ho__iL68Rpiiv6lqmwhvVeJXkq6YS2aaFhNTjNI1Fz_lb2RmdG97TGdjgy3IQaIsGimfdPYcivFGA/s400/3Pizan.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Christine de Pizan, Folio 41r 'Wheel of Fortune' from Epitre d'Othéa;<br />
Les Sept Sacrements de l'Eglise, c. 1455 (Waddesdon Manor, National Trust)</td></tr>
</tbody></table>
Der dritte und letzte Teil, «Cours d’amour» («Hof der Liebe»), eröffnet mit «Amor volat undique» («Amor fliegt überall»). Hier stellt sich der kleine Liebesbote vor und beklagt alle Frauen, die ohne Liebe sind. Aber auch den Männern kann es schlecht gehen, wie in «Dies, nox et omnia» («Tag, Nacht und alles») zu hören ist: das Werbelied eines Liebenden, der bis jetzt noch nicht erhört wurde. Das folgende Stück erzählt über das erfolgreiche Zustandekommen einer Beziehung zwischen Mann und Frau: «Stetit puella» («Stand ein Mädchen») changiert zwischen gespielter Unschuld und Raffinesse. In «Circa mea pectora» («In meinem Herzen») geht es um die Gefühle beim Sex, aber auch die praktischen Probleme, die sich dabei ergeben können. Eine hypothetische Erörterung unter unerfahrenen Burschen ist dann «Si puer cum puellula» («Wenn Knabe und Mädchen»). <br />
<br />
Handfest und gar nicht hypothetisch geht es dann aber mit «Veni, veni, venias» («Komm, komm, komm zu mir»), wenn ein Mann eine Frau anfleht, mit ihm ins Bett zu gehen. Dieser lüsterne Ausruf wird von einem Blick in das Innere der Angebeteten gefolgt, «In trutina» («Auf der Waage»). Sie überlegt nun bei sich, ob sie sich dem Mann hingeben soll oder nicht, entscheidet sich letztlich aber für die Lust. «Tempus est iocundum» («Lieblich ist die Zeit») heißt der lyrische Hymnus auf die Freuden der Liebe, in dem Männer und Frauen danach drängen, Frühlingsgefühle miteinander auszuleben. Mit dem innigen «Dulcissime» («Süßester») gibt sich nicht nur die Frau ihrem Mann endgültig hin, der amouröse Teil der «Carmina Burana» gipfelt hier in einem Höhepunkt, einer musikalisch-orgasmischen Eruption. Der Epilog mit dem Titel «Blanziflor et Helena» setzt stellvertretend für alle Liebenden den Ritter Blanziflor (eine beliebte Sagenfigur) und Helena, die schönste Frau der Antike, als Überbringer der Dankbarkeit für leibliche Freuden ein. «Ave formosissima» («Heil dir, Schönste») bejubelt in ekstatischer Verzückung die göttliche Jungfrau.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj2KTIZZ6K3nsZfWzHO_fCpZGaQ2daOgfK5jUYJashnttHjAGajUa70d3qrFbot5rODD-XLV7qiSusWAhqvfx1yDhtQpMrGI1LMicbp1qk72OioJNl7uiLZ6mS8vwqJDNbRbeedIYrJDJs/s1600/4Brant.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1406" data-original-width="1046" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj2KTIZZ6K3nsZfWzHO_fCpZGaQ2daOgfK5jUYJashnttHjAGajUa70d3qrFbot5rODD-XLV7qiSusWAhqvfx1yDhtQpMrGI1LMicbp1qk72OioJNl7uiLZ6mS8vwqJDNbRbeedIYrJDJs/s400/4Brant.jpg" width="297" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Sebastian Brant, "Das Narrenschiff", Basel 1499.<br />
Holzschnitt von Albrecht Dürer.</td></tr>
</tbody></table>
Nahtlos an die letzten Akkorde des Hymnus auf die Liebe schließt sich der Kreis wieder zu «O Fortuna». Mit der Beschwörungsformel des Eingangschors wird der Kreis geschlossen, die Rundumbewegung um das Schicksalsrad ist vollendet.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: <a href="https://www.tonkuenstler.at/de/tickets/opus/carmina-burana-fur-soli-gemischten-chor-einstimmigen-knabenchor-und-orchester-58" target="_blank">Alexander Moore, Grafenegg Kulturbetriebsgesellschaft,</a> auf dem Webauftritt des <a href="https://www.tonkuenstler.at/de" target="_blank">Tonkünstler Orchester</a></i></span><br />
<br />
<br />
<b><i>Linktipps:</i></b><br />
<br />
<b><a href="https://www.br-klassik.de/themen/klassik-entdecken/carmina-burana-carl-orff-urauffuehrung-was-heute-geschah-1937-100.html" target="_blank">Ein Bericht von der Uraufführung 1937.</a><br />
<br />
<a href="https://www.emmaus.de/ingos_texte/carmina.html" target="_blank">Carl Orff und das Dritte Reich.</a><br />
<br />
<a href="http://kammermusikkammer.blogspot.com/2012/12/carmina-burana-das-benediktbeuren.html" target="_blank">Ein Versuch einer authentischen Aufführung des Manuskripts «Carmina Burana».</a><br />
<br />
<a href="http://www.carmina-burana-in-benediktbeuern.de/meinungen.html" target="_blank">Gehören die Carmina Burana ins Kloster Benediktbeuren? Meinungen.</a></b><br />
<br />
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<pre>TRACKLIST
Carl Orff
<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Carmina_Burana_(Orff)" target="_blank">Carmina Burana</a>
<a href="https://de.wikipedia.org/wiki/Carmina_Burana_(Orff)" target="_blank">(Cantiones profanes)</a>
Fortuna Imperatrix Mundi
<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Rota_Fortunae" target="_blank">01 O Fortuna 2.49</a>
02 Fortune plango vulnera 2.51
I Primo vere
03 Veris leta facies 3.53
04 Omnia sol temperat 1.43
05 Ecce gratum 2.54
Uf dem Anger
06 Tanz 1.59
07 Floret Silvia 3.31
08 Chramer, gip die varwe mir 3.36
09 Reie ... Swaz hie gat umbe ... 5.12
Chume, chum geselle min
10 Were diu werlt alle min 0.54
II In taberna
11 Estuans interius 2.24
12 Olim lacus colueram 3.24
13 Ego sum abbas 1.16
14 In taberna quando sumus 3.22
III Cours d'amour
15 Amor volat undique 3.16
16 Dies, nox et omnia 2.07
17 Stetit puella 2.01
18 Circa mea pectora 2.11
19 Si puer cum puellula 0.57
20 Veni, veni, venias 0.55
21 In trutina 2.07
22 Tempus est iocundum 2.25
23 Dulcissime 0.32
Blanziflor et Helena
24 Ave formosissima 1.43
Fortuna Imperatrix Mundi
<a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Rota_Fortunae" target="_blank">25 O Fortuna 2.48</a>
Gesamte Spieldauer: 60.58
Sopran: Lucia Popp
Tenor: Gerhard Ungar
Bariton: Raymond Wo1anksy, John Noble
New Philharmonia Chorus, Leitung: Wilhelm Pitz
Wandsworth School Boy's Choir, Leitung: Russel Burgess
New Philharmonia Orchestra
Rafael Frühbeck de Burgos
(P) 1987 (C) 2003
</pre>
<br />
<br />
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<h1>
<span style="color: red;">Der Bücherwurm</span></h1>
<i>Einige Bücher soll man schmecken, andere verschlucken, und einige zuwenige kauen und verdauen.</i><br />
(Francis Bacon)<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgJC2Bi_iXQdSD50wLlTI57MzW7s-0Qva9LE7jcBVq2sxacYVEwFVokPvPw3kRgE_68WVvWuy43OtAiMZXv72RXjNysZPO4pUi7XSv9saB7kZE3Zz3U8duFiXIMLa8ZRnC_3zV_ygUzSUo/s1600/Abb+16.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="788" data-original-width="731" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgJC2Bi_iXQdSD50wLlTI57MzW7s-0Qva9LE7jcBVq2sxacYVEwFVokPvPw3kRgE_68WVvWuy43OtAiMZXv72RXjNysZPO4pUi7XSv9saB7kZE3Zz3U8duFiXIMLa8ZRnC_3zV_ygUzSUo/s400/Abb+16.jpg" width="370" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Das Mikroskop von Sir Robert Hooke -<br />
damit kam er dem Wurm auf die Spur.</td></tr>
</tbody></table>
Im Buch begegnet der Bücherwurm, seit es Bücher gibt. Schon die Papyri der alten Ägypter, die Schriftrollen der Griechen und Römer wurden zur Nahrung des ungebildeten Untiers. Erste explizite urkundliche Erwähnung findet der Bücherwurm, wie sollte es anders sein, in einem Buch des griechischen Philosophen Aristoteles, der ihn als kleinstes aller Tiere und als skorpionähnlichen Wurm ohne Stachel beschreibt. Der römische Dichter Horaz befürchtete, dass seine Werke zum Futter gefräßiger Raupen werden könnten, und schlug vor, die Schriftrollen in Zedernöl zu tränken. Ovid fühlte im Exil »das dauernde Nagen der Sorge an seinem Herzen, wie das Nagen des Bücherwurmes an einer abgelegten Buchrolle«. Und Vitruv in seiner Schrift <i>De architectura</i>, dem einzigen erhaltenen Architekturbuch der Antike, empfahl, dass Schlafräume und Bibliotheken nach Osten ausgerichtet sein sollten, da in nach Süden ausgerichteten Zimmern die Bücher von Würmern und Feuchtigkeit verdorben würden. Mit dem Ende der lateinischen Antike kehrt für den Bücherwurm aber wieder Ruhe ein und er kann unbehelligt die Stille der Bibliotheken genießen, bis in die Neuzeit hinein. Erst im 17.jahrhundert interessiert man sich erneut für ihn. Denn um mehr über das Gewürm zu erfahren, musste man es unter die Lupe nehmen. Das war schwierig, denn erst musste die Lupe erfunden werden.<br />
<br />
Die moderne Forschungsgeschichte des Bücherwurms beginnt just bei der Frankfurter Buchmesse 1608. Es ist die Zeit des Fern-Sehens: Der Holländer Hans Lippershey meldet ein Patent auf eine sensationelle Erfindung an, das Fernrohr. Nirgends anders als ausgerechnet auf der Buchmesse stellt er sein neues Instrument der staunenden Öffentlichkeit vor. Die Geschichte des Fernrohrs ist auch die Geschichte des Bücherwurms. Denn erst mit der Idee, durch mechanisch miteinander verbundene, geschliffene Linsen die Sehkraft des Menschen exponentiell zu verstärken, konnte auch so kleinen Lebewesen wie den Bücherwürmern auf die Schliche gekommen werden. […]<br />
<br />
Die Mikroskopie, die als Nebenprodukt der Teleskopie erfunden wurde, war anfangs nur ein Hobby für Laien und diente dem Amüsement im Salon. <i>Insecten-Belustigungen</i> nannte der Kupferstecher und Miniaturmaler August Johann Rösel von Rosenhof sein zwischen 1740 und 1759 entstandenes Werk, das überaus erfolgreich in vier Bänden erschien. Die Erkenntnis, dass durch das Mikroskop auch dem wissenschaftlichen Fortschritt gedient werden könnte, brauchte noch eine kleine Weile. Die Erforschung des Bücherwurms hatte daran ihren Anteil.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjfH7d70cf1QroFQHq-ocMUwBgwYf-X9tzkd9J57iUcbCTA66vVXJkjzjXie-VKYjhCrwfk807ezNO5iMC671JJKFiY6ikDZUARBRfJgyaAp8hUTZXu2nS8GeC0OjPmyk_19eV0XcgOHkc/s1600/Abb+18.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="835" data-original-width="307" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjfH7d70cf1QroFQHq-ocMUwBgwYf-X9tzkd9J57iUcbCTA66vVXJkjzjXie-VKYjhCrwfk807ezNO5iMC671JJKFiY6ikDZUARBRfJgyaAp8hUTZXu2nS8GeC0OjPmyk_19eV0XcgOHkc/s400/Abb+18.jpg" width="145" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Der »book-worm« aus<br />
Hookes<i> Micrographia</i>.</td></tr>
</tbody></table>
Der Delfter Tuchhändler Leeuwenhoek etwa begeisterte sich unter den selbstgeschliffenen Lupenlinsen für die Facettenaugen der Insekten und beschrieb sie in seinen <i>Arcana naturae detecta.</i> Der Italiener Malpighi studierte unter dem »Flohgucker« die Anatomie der Seidenraupe. Swammerdam entdeckte die Ovarien der Bienenkönigin, die Genitalien der Drohnen. In Middelburg erschien die dreibändige illustrierte <i>Geschichte der Metamorphose der Insekten</i> des Malers Johannes Goedaert. Wissenschaftlich geadelt wurde die neue Technik durch einen Auftrag, den der Engländer Robert Hooke im Jahr 1665 von der Royal Society erhielt. Hooke sollte eine wahllose Sammlung von Gegenständen unters Mikroskop legen, zeichnen und beschreiben. Das Buch, das er veröffentlichte, hieß <i>Micrographia</i> und wurde vom Fleck weg ein Bestseller. Bleibende Bewunderung erwarb Hooke sich der mikroskopischen Beschreibung des Flaschenkorkens. Er erkannte in 50-facher Vergrößerung eine honigwabenähnliche Struktur. Sie erinnerte Hooke, der im Nebenberuf Architekt war und unter anderem nach dem großen Brand von 1666 die City of London wiederaufgebaut hatte, an die Anordnung der mönchischen Schlafräume in einem Kloster, weswegen er sie »Zellen« nannte. Seitdem wird die kleinste lebensfähige Einheit in der Biologie als Zelle bezeichnet. Am Ende seiner Versuchsreihe unterzog Robert Hooke auch ein Tierchen eingehender Betrachtung, das er zwischen den Büchern seiner Bibliothek gefunden hatte. Er nennt in seiner <i>Micrographia</i>, der wir auch die erste holzstichige Abbildung der Kreatur verdanken, dieses Tier »book-worm« und bezeichnet es als »kleine perlfarbene Motte«. Sie habe einen konischen Körper, der in 14 Teile geteilt sei, die wiederum von einer großen Zahl durchsichtiger Schuppen bedeckt seien.<br />
<br />
Die Jagd auf den Bücherwurm war eröffnet. Denn mit Hookes Erkenntnissen fing der Streit der Fakultäten über das Wesen des Bücherwurms erst an. Besonders eine Frage durchzieht seit Hookes Veröffentlichung die bücherschwere Debatte wie die Gänge, die der Parasit durch sein Element gräbt: Handelt es sich überhaupt um einen Wurm oder ist der Bücher-»wurm« nicht vielmehr ein Insekt? […]<br />
<br />
Es war der Berliner Schulrektor Johann Leonhard Frisch, der 1736 in einem Stück Brot die Larve eines Insekts fand, das auch Zeichnungen, Gemälde und Manuskripte angriff und selbst die dicksten Bücher durchbohrte. In seiner <i>Beschreibung von allerley Insekten in Teutschland</i> gibt Frisch die erste wissenschaftliche Beschreibung eines Buchschädlings. Im Jahr 1774 schreibt in ihrer Not die angesehene Königliche Societät der Wissenschaften zu Göttingen eine Preisfrage aus, um endlich Antwort zu erhalten:<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiFXENKrWJWKEjIPv1aHUQWJsbGFCLDkrzIgVjketvcqc6LJWJhcSsdhn_4Z5KBecJu_qNSuyi3kKs3EcrvTUVLY0qzavLW0zTGqGo-v74VwUmCNQ0khbImPUO6IIvv1m3Ad-poroc2-RY/s1600/Abb+21.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="871" data-original-width="690" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiFXENKrWJWKEjIPv1aHUQWJsbGFCLDkrzIgVjketvcqc6LJWJhcSsdhn_4Z5KBecJu_qNSuyi3kKs3EcrvTUVLY0qzavLW0zTGqGo-v74VwUmCNQ0khbImPUO6IIvv1m3Ad-poroc2-RY/s400/Abb+21.jpg" width="316" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ein Preis für die Wurmkunde — in diesem Magazin <br />
erschien die Preisschrift der Göttinger Akademie.</td></tr>
</tbody></table>
Wie vielerley Arten von Insekten giebt es, die den Urkunden und Büchern in Archiven und Bibliotheken schädlich sind? Welchem Stücke der Materialien, als Kleister, Leder, Pappe, u.s.w. geht jede Gattung besonders nach? und welches sind die thunlichsten und durch die Erfahrung bewährtesten Mittel, diese Insecten von Bücher- und Urkundensammlungen theils abzuhalten, theils zu vertilgen?<br />
<br />
Drei Abhandlungen haben sich als Antworten erhalten, darunter die preisgekrönte von Johann Hermann, seines Zeichens Doktor der Medizin und außerordentlicher Professor zu Straßbur. Bleibende Meriten hat die Preisschrift sich verdient, indem sie zum ersten Mal schriftlich festhielt, dass »der« Bücherwurm wahrscheinlich gar nicht nur <i>eine</i> Spezies sei, sondern eine Art Sammelbezeichnung, unter der sich verschiedene Tiere verbergen können. Was den Göttinger Preisrichtern vermutlich außerdem wohlgefällig angekommen sein muss und vielleicht letztlich für die Preisvergabe an den Straßburger Forscher ausschlaggebend gewesen sein könnte, war die kreative Strategie des Professors. In einer Art Ausschlussverfahren versuchte er die Unschuld all jener Tierchen zu beweisen, »die man in Verdacht haben könnte, weil sie öfters bey Büchern gefunden werden«. […]<br />
<br />
Erst William Kirby, der mit einer Beschreibung der englischen Bienen berühmt wurde und als Gründer der Insektenkunde bezeichnet wird, war in Sacher Bücherwurmforschung vorbildlich. Auch Kirby ging davon aus, dass der Bücherwurm nicht ein einziges spezifisches Tier ist, sondern eine Sammelbezeichnung für verschiedene Schädlinge. Neben den Milbenarten Crambus pinguinalis und Acarus eruditus hatte er besonders die Holzwürmer (Anobium pertinax und Anobium striatum) in Verdacht, von den hölzernen Bücherregalen und Buchdeckeln zu den Büchern selbst migriert zu sein und dort einen Schaden angerichtet zu haben, der »das Gewicht der geschädigten Bücher in Gold aufwiegen ließe«.<br />
<br />
Der Bücherwurm erwies sich als außerordentlich undankbares Forschungsobjekt, weil es (was ihn irgendwie sympathisch macht) nahezu ausgeschlossen ist, ihn in Gefangenschaft zu halten. Alle empirischen Untersuchungen des Tiers beschränkten sich darum auf Zufallsfunde in Bibliotheken. Erschwerend kommt hinzu, dass Insekten und besonders Käfer eine Metamorphose durchmachen und den größeren Teil ihres Daseins, oft viele Jahre, als Raupen oder Larven verbringen. In diesem Larvenzustand, der dem Geschöpf vermutlich den Namen Wurm (lat. vermis) einbrachte, ist es für den nicht insektenkundlich Versierten nahezu unmöglich, die Spezies zu bestimmen. Selbst William Kirby gesteht, er habe hinter »staubigen alten Büchern« auch die Raupen von Motten gefunden, sie aber nicht identifizieren können. Erst dem englischen Buchdrucker William Blades gelang es, eines der Tiere zu isolieren und zu beschreiben. […]<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEisFEh-7CqWICudXI-OMIDpbRoA1gLpmvGSV9S5l5AklwVQAW99CBZ637FdYrv309H3cYVzzAdydJo5JVX8dhlVyOCVDKbJl7fBs4941sQmI5ieaS6S5LOODhtDAN6a_sYf0ZRZfMr6VYw/s1600/Abb+30.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="553" data-original-width="641" height="276" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEisFEh-7CqWICudXI-OMIDpbRoA1gLpmvGSV9S5l5AklwVQAW99CBZ637FdYrv309H3cYVzzAdydJo5JVX8dhlVyOCVDKbJl7fBs4941sQmI5ieaS6S5LOODhtDAN6a_sYf0ZRZfMr6VYw/s320/Abb+30.jpg" width="320" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Larve des Holzwurms — ein notorischer Bücherwurm.</td></tr>
</tbody></table>
Im Dezember 1879 bekam Blades von einem Buchbinder aus Northampton einen »fetten kleinen Wurm« geschickt. Der Wurm hatte die Reise gut überstanden, und Blades steckte ihn in eine warme Kiste. Das Ernährungsprogramm für den Wurm hatte Feinschmeckerqualität, es gab Boethius-Fragmente vom englischen Frühdrucker Caxton und eine Seite eines Druckwerks aus dem 17. Jahrhundert. Der Wurm aß ein kleines Stück dieses Blattes, aber dann, »sei es wegen zu vieler frischer Luft, sei es von der ungewohnten Freiheit, sei es von der Ernährungsumstellung«, wurde er schwächer und verstarb nach drei Wochen. <br />
<br />
Erst im dritten Anlauf gelang es, einen Bücherwurm am Leben zu halten. Blades konnte ein Exemplar 18 Monate lang beobachten, das im British Museum aus einem frisch aus Athen eingetroffenen hebräischen Kommentar gefischt worden war. Dieser »griechische Bücherwurm« war beinahe so transparent »wie dünnes Elfenbein« und hatte eine dunkle Linie quer durch den Körper, die Blades als Verdauungsorgan identifizierte. Anderthalb Jahre lebte Blades mit dem Wurm zusammen, bis dieser in einem langen Todeskampf verstarb, »tief betrauert« von seinem Besitzer und bevor die Larve sich verpuppt hatte.<br />
<br />
Die Schwierigkeiten der Wurmzucht beruhten, so Blades, auf dem Körperbau. Im natürlichen Zustand, also eingeschlossen im Buch, können die Würmer durch Expansion und Kontraktion ihres Körpers die Mundwerkzeuge gegen die sich ihnen entgegenstemmenden Papiermassen schieben. Befreit aus dieser Umklammerung, die für die Bücherwürmer die normale Lebensbedingung ist, können sie nicht mehr richtig essen, auch wenn sie von Nahrung umgeben sind, weil ihnen der Widerstand aus dem Buch fehlt. In der Materie ganz tief drin zu stecken, ist für den Bücherwurm also lebenserhaltend.<br />
<br />
Blades konnte noch einige andere Untersuchungen in der Bücherwurmkunde anstellen, bei denen er auf den Wurm nicht angewiesen war, sondern sich auf seine Lieblingsobjekte kaprizieren konnte, die Bücher. Er analysierte, wie weit ein Bücherwurm bei seinem schä(n)dlichen Treiben im Buch überhaupt kommt. Corpus Delicti war ein Frühdruck von Schöffer aus dem Jahr 1477. Die Würmer hatten das Buch von beiden Seiten angegriffen. Im vorderen Einband waren 212 Wurmlöcher. Deren Größe variierte von stecknadel- bis stricknadelkopfgroß. Von hier aus bewegten sich fast alle Wurmgänge im lotrechten Winkel vom Einband ins Innere des Buchblocks. Nur einige wenige hatten sich längs der Papierkante verirrt und waren auf Seite 4 steckengeblieben. Die restliche Armada von Bücherwürmern hatte sich in das wertvolle Buch hineingefressen, »als ob ein Wettrennen stattgefunden hätte«. Bis Seite 11 kamen 57 Würmer. Auf Seite 41 kamen noch 18 Würmer an. Sechs Tierchen schafften es bis Seite 51. Vier von ihnen gaben bis Seite 81 auf. Der längste Wurmkanal endete erst auf Seite 90. Eine kleine Gruppe von Würmern fing beim hinteren Deckel an und fraß sich von hinten nach vorne durchs Buch. Der hungrigste aus diesem Rudel schaffte aber nur 69 Seiten. <br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh2KC97hkqOmPZWxj8mVC_GpYyLGLvjtInDO7TaKSV6aWNrzqHMsM657oy34R0QMjEbf8Ax-wGv1oycPm6SqV086rM7JanNC8dymZm3ypixZg5ldApXHpaEUrtm1I2-VSCxP-Rd92Kjc2k/s1600/Abb+31.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="288" data-original-width="384" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh2KC97hkqOmPZWxj8mVC_GpYyLGLvjtInDO7TaKSV6aWNrzqHMsM657oy34R0QMjEbf8Ax-wGv1oycPm6SqV086rM7JanNC8dymZm3ypixZg5ldApXHpaEUrtm1I2-VSCxP-Rd92Kjc2k/s400/Abb+31.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Die »Hamburger Gerichtstermite« verwischte ihre eigenen Spuren.</td></tr>
</tbody></table>
Die Meute, die sich um den Schöffer riss, war aber wahrlich nicht die effektivste. Blades selbst will Fraßkanäle gesehen haben,die quer durch mehrere Bände inklusive Einband führten. Andernorts wird von einem Wurm berichtet, der sich durch die komplette fünfbändige Ausgabe von Hanys <i>Mineralogy</i> gefressen haben soll. Schließlich berichtet der französische Bibliograph Gabriel Peignot, ein einziger Wurm habe sich in gerader Linie durch 27 Folio-Bände gebissen, und zwar so, dass, wenn man durch das Wurmloch eine Kordel spannte, nun alle Bände gleichzeitig hochheben könnte. Einen Beleg für seine wagemutige Behauptung liefert Peignot nicht. Allerdings findet sie sich in 26 anderen Werken, die sich mit Bücherwürmern beschäftigen, zitiert. Selbst wenn also in Wahrheit das Tierchen jenen Fabelrekord nicht geschafft haben sollte, hat es mit vorliegendem Buch dennoch 27 Bände durchdrungen. <br />
<br />
Ein Bibliothekar der weltberühmten Stiftsbibliothek von St. Gallen in der Schweiz wiederum erzählte, welchen Nutzen Wurmlöcher haben können. Denn anhand durchgehender Kanalverbindungen kann auch bei mittelalterlichen Schriften ermittelt werden, wie Schriften einst im Regal nebeneinander oder, was früher eher die Regel war, übereinander gestapelt waren. Sogar ein veritabler Kriminalfall wurde aufgrund eines Wurmlochs gelöst. Ein Fälscher mit dem bezeichnenden Namen Hermann Kyrieleis hatte von 1894 bis 1896 Bücher mit angeblich handschriftlichen Eintragungen von Martin Luther verkauft. Um die Echtheit dieser Autographen zu unterstreichen, benutzte der Fälscher wurmstichiges Papier. Dem Philologen Max Hermann indes fiel auf, dass die Tinte am Rand solcher Wurmlöcher ausgelaufen war. Also mussten die Würmer vor den Eintragungen tätig gewesen sein.<br />
<br />
Trotz all dieser Einsichten kam es immer noch nicht zu einer Bestimmung des Bücherwurms. Selbst William Blades, der doch so weit gekommen war, konnte nie einen »Bücherwurm« bis zum Schlüpfen und zur Ausflugphase beobachten. Letztlich blieb auch Blades darum nur die etwas nüchterne Feststellung, es gebe Würmer mit hellen Köpfen und solche mit dunklen Köpfen. Vor allem ließ sich die seiner Ansicht nach entscheidende Frage nicht lösen: Ist der Bücher-»wurm« ein Käfer oder eine Schmetterlingsart? Kurz: Sprechen wir 1.) von Nagekäfern, lateinisch Anobium mit den Unterarten a) A. pertinax, b) A. eruditus oder c) A. paniceum oder sprechen wir 2.) von Motten, lateinisch Aecophora, insbesondere der Unterart Ae. pseudospretella? <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjGWRzU2Rry2woFKXcfewDGRT_gqZ6Crl4494-AE2_U8vxueT_WaH4KH0jdXPlibEkulcRsli7qlT_eLeuIPWs9Sny5cg2hGsUkcNcDMfTwxJywAecVagV6q8ezxRi_1bjlc7E7WRhTtoM/s1600/Abb+32+Book_louse.JPG" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="731" data-original-width="1024" height="285" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjGWRzU2Rry2woFKXcfewDGRT_gqZ6Crl4494-AE2_U8vxueT_WaH4KH0jdXPlibEkulcRsli7qlT_eLeuIPWs9Sny5cg2hGsUkcNcDMfTwxJywAecVagV6q8ezxRi_1bjlc7E7WRhTtoM/s400/Abb+32+Book_louse.JPG" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Eine Bücherlaus (Trogium pulsatorium) unter dem <br />
Mikroskop in Wellington, Neuseeland. <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Book_louse_03.JPG" target="_blank">[Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Dies gelang ansatzweise erst dem Pater John O’Conor am Ende des 19.jahrhunderts, und er gab darüber faktenbasiert Auskunft in seiner aufsehenerregenden Studie <i>Facts About Bookworms</i>. Ganz im Stil des damals neuen, positivistischen Wissenschaftsideals schaffte es O’Conor‚ 72 verschiedene Exemplare von diversen Lebewesen zu isolieren, die sich in Büchern fanden und gemeinhin als »Bücherwürmer« klassifiziert wurden. Er beobachtete sie in verschiedenen Entwicklungsstufen beim Aufessen von Büchern und konstatierte, dass es sich tatsächlich hauptsächlich um Larven von Käfern handelte, den Coleoptera. Im Larvenstadium konnte O'Conor sie identifizieren als Sitodrepa panicea, Attagenus pellio und Anthrenus varius. Er fand aber auch ausgewachsene Tiere‚ und zwar Lepisma saccharina, Ptinus fur und Dermestes lardarius. […]<br />
<br />
Fausta und Piero Gallo vom römischen Istituto di Patologia del Libro haben den Vorschlag gemacht, die Bücherfeinde zu unterteilen in »gewöhnliche Gäste«, die ihren Wohnsitz in Büchern haben, und »gelegentliche Gäste«‚ die nur unregelmäßig Bücher heimsuchen. Ob das Buch allerdings ein bereitwilliger und vor allem freiwilliger Gastgeber ist, sei dahingestellt. Unter den gewöhnlichen Gästen des Buches nehmen, wie ihr Name bereits andeutet, die Tiere der Familie der Nagekäfer (Anobium) einen hervorragenden Platz ein. Besonders die Art Anobium punctatum, der Gewöhnliche Nagekäfer, steht im Ruf, ein notorischer Bücherwurm zu sein. Anobium punctatum wird auch als »der« Holzwurm bezeichnet, wobei andererseits gerne alle Arten von im Holz bohrenden Käfern so genannt werden. Der Gemeine Nagekäfer gilt als der am weitesten verbreitete Schädling in ganz Europa. Der Entomologe Günther Becker geht so weit zu behaupten, dass er in praktisch jedem Haus in Deutschland zu finden ist. Seine destruktive Wirkung ist so enorm, dass er komplette Möbelstücke (bevorzugt: Antiquitäten) und Dachstühle zerstören kann. Dass er sich auch über Bücher hermacht‚ ist eigentlich ein Missverständnis. Bis ins 18. Jahrhundert waren die Einbände von Büchern aus Holz. […]<br />
<br />
In die Spalten des hölzernen Buchblocks legt der Käfer 30 bis 40 zitronenförmige Eier ab. Die Larven haben eine weiche, von creme-weiß bis gräulich-weiß changierende Haut. Ihr Kopf ist von gelblichem Braun, die Mandiblen (also Esswerkzeuge) sind haselnussfarben. Nach dem Schlüpfen beginnen die »Würmer« direkt mit ihrer speziellen Art der »Lektüre« und fressen sich vom Einband in den Buchblock. Da die Adoleszenz dieser Tiere bis zu drei Jahre betragen kann, ist die zerstörerische Kraft ihrer »Lektüre« enorm. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjZuRnSzsx29AIIPcVtpjM3GhHWNgTkaR_-rOvyr5llvuqo6rL8PuB4xBztlCodsz2yAMnSFn_CYrlo0wQhNrAVctqJ-nCIMITr7RTp07u_EFjmiN0mqHuqFJ9jO3KDMiBlTFLDkAyk9Rs/s1600/Abb+33+Papierfischchen.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="461" data-original-width="820" height="223" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjZuRnSzsx29AIIPcVtpjM3GhHWNgTkaR_-rOvyr5llvuqo6rL8PuB4xBztlCodsz2yAMnSFn_CYrlo0wQhNrAVctqJ-nCIMITr7RTp07u_EFjmiN0mqHuqFJ9jO3KDMiBlTFLDkAyk9Rs/s400/Abb+33+Papierfischchen.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Papierfischchen ("Ctenolepisma longicaudata")</td></tr>
</tbody></table>
Ein Bücherwurm, der in Deutschland nicht sehr verbreitet ist, aber in südlichen Ländern wie der Mittelmeerregion immensen Schaden in Bibliotheken anrichtet, ist die Termite. Ein legendärer Fall von Termitenbefall wurde aber auch hierzulande aktenkundig: In der Hafenstadt Hamburg wurde um das Jahr 1930 mit Ballasthölzern die nordamerikanische Termitenart Reticulitermes flavipes eingeschleppt. Da das Transportholz teilweise als billiges Bauholz weiterverwendet wurde, konnte das Untier sich im Hamburger Gerichtsviertel und im Justizquartier festsetzen und ist dort bis heute aktiv. Die Bekämpfung der sogenannten Hamburger Gerichtstermite scheiterte nicht nur am eisemen Sparwillen des Hamburger Senats, sondern auch daran, dass das Tier schlauerweise sämtliche historische Bestandspläne der Gerichtsbauwerke vertilgt hat und darum nur schwer zu lokalisieren ist.<br />
<br />
Der Gewöhnliche Nagekäfer (es gibt übrigens auch noch den Weichen, den Gescheckten und sogar den Gekämmten Nagekäfer, allesamt sondergleichen Buchschädlinge) wird fälschlicherweise auch als »Totenuhr« bezeichnet. Durch Aufschlagen des Kopfes auf Holz verursachen Nagekäfer nämlich zur Paarungszeit ein klopfendes Geräusch, das Geschlechtspartner anlocken soll und Benutzer von Bibliotheken um jede Konzentration bringen kann. […] Der Name Totenuhr entstammt dem Volksglauben, dass es sich bei dem Klopfen um die Uhr des nahenden Sensenmanns handle. Die Totenuhr fand darum nicht nur als Insekt, sondern auch in literalem Sinne Eingang in Kunst und Literatur. Bei Hölty und Mörike‚ bei Büchner und Rückert wurde die Totenuhr besungen und besprochen. Andreas Gryphius schrieb: »Sei, wenn die Todten-Uhr wird schlagen, mein Schutzherr, Leitsmann, Weg und Licht«. Anton Bruckner soll den ersterbenden Ausklang des Kopfsatzes seiner achten Symphonie in c-Moll mit dem Klopfen der Totenuhr verglichen haben. <br />
<br />
Zeigt uns der Bücherwurm hier die enge Verbindung von Buch und Tod und den Weg, den alles Fleischliche einst gehen muss, so mag das seinen Grund auch darin haben, dass er als Vegetarier gilt. Aber wie alle Vegetarier (auch die menschlichen) haben die pflanzenfressenden Insekten eine Reihe von gravierenden Problemen. Zu den größten Nachteilen vegetarischer Ernährung nicht nur für Bücherwürmer zählt der niedrige Eiweißgehalt pflanzlicher Nahrung wie etwa Papier, das ja nichts anderes ist als zu Blättern verfilzte Pflanzenfasern. Außerdem ist der Anteil an lebenswichtigen Vitaminen und Mineralien in Pflanzen, entgegen einem auch in Ernährungsbüchern weit verbreiteten Vorurteil, oft unzureichend. Schließlich ist pflanzliche Nahrung vollgepackt mit unverdaulichen Substanzen. So sind zum Beispiel die Moleküle, die Cellulose bilden, »in einer Weise verknüpft, dass die Enzyme der meisten Insekten (ausgenommen die der Borstenschwänze und einiger höher entwickelter Termiten und anderer Tiere sie nicht aufzuschließen vermögen«. Aus dieser Perspektive wäre es für den Bücherwurm darum praktisch‚ wenn Bücher auch Fleisch enthalten würden. Und das tun sie!<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgeDgVuDkGMJQN22TmSl_J5EOH2WgnlMfmp2OYM04PPzPMRfK5WaCI4D0bUC6XpbBH3oDCZoKkjxonBk5WYQwjhNCJLXPgJ73Bf7Ra12gW_3zYppGPnyc1RlIqhppKlMXmR3BbFyh8rJo0/s1600/Abb+34.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="924" data-original-width="556" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgeDgVuDkGMJQN22TmSl_J5EOH2WgnlMfmp2OYM04PPzPMRfK5WaCI4D0bUC6XpbBH3oDCZoKkjxonBk5WYQwjhNCJLXPgJ73Bf7Ra12gW_3zYppGPnyc1RlIqhppKlMXmR3BbFyh8rJo0/s400/Abb+34.jpg" width="240" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Der Weg des Buches durch den Wurm<br />
—Verdauungskanal von Larven.</td></tr>
</tbody></table>
Denn bis ins 12. Jahrhundert wurden Bücher nicht aus Papier‚ sondern aus Pergament hergestellt. Und dessen Rohstoff sind getrocknete Schafshäute.<br />
<br />
Ledereinbände sind ebenfalls, kulinarisch betrachtet, nichts anderes als fleischliche Lebensmittel. Auch Fleischfresser werden darum von Bibliotheken magisch angezogen und richten herben Schaden an. Da ist in erster Linie, wie schon sein Name nahelegt, der Speckkäfer (Dermestes lardarius) zu erwähnen. Ein wirklicher Feinschmecker ist er allerdings nicht. In Freilandhaltung ernährt er sich überwiegend von Aas. Man könnte ihn darum als biologische Tierkadaververwertung bezeichnen. In Bibliotheken ist er ebenfalls nicht sehr wählerisch: Horn, Leder, Fell, Pergament und sogar andere tote Insekten verzehrt er ohne Unterschied. Seinem Speiseplan kommt die Eigenschaft zugute, dass der Speckkäfer Keratin verdauen kann. Das ist die Hornsubstanz, aus der Federn, Wolle, Felle oder auch das Exoskelett von Insekten bestehen. Besonders in Insektensammlungen und Naturkundemuseen können die Larven des Speckkäfers darum großen Schaden anrichten. Der Bücherwurm: ein Kannibale?<br />
<br />
Dem Brotkäfer, Stegobium paniceum, ist das tägliche Brot beileibe nicht genug. Er ist ein echter Vielfraß‚ der sich neben Backwaren auch von Gewürzen, Suppenwürfeln, Schokolade, Tiernahrung, Trockenfisch oder eben Büchern ernährt. Eine Generationenfolge dauert bei ihm nur drei Monate, weshalb er sich unter guten Bedingungen rasch vermehren kann. Als ebenso verfressen gilt der Kräuterdieb, Ptinus fur. Seine weißlichen Larven haben eine gedrungene, engerlingsartige Gestalt und sind mit mäßit gelblichen Haaren besetzt. Larven und Käfer fressen, was ihnen zwischen die Kauwerkzeuge kommt: Getreideprodukte, Tabak, Tee, Kakao, Leder, Federn, Pelze sowie geräucherte Wurst- und Fleischwaren. In Bibliotheken ist schlimmer noch als seine Fraßtätigkeit die Verunreinigung durch Kot und bandförmige Spinnfäden, mit denen sich die Puppe umgibt. Ähnlich Böses sagt man auch dem Messingkäfer, Niptus hololeucus, nach. Ganz davon abgesehen, dass er in ausgewachsenem Zustand ausgesprochen hässlich ist, da er über und über mit Runzeln und messing-gelben Haaren bedeckt ist, frisst er nicht nur Bücher ohne Ansehen der Autorenperson, sondern hinterlässt danach auch noch seine Exkremente darauf. Zu den bandenmäßigen Fleischfressern unter den Bücherwürmern zählt schließlich noch eine ganze Reihe von Lepidoptera. Das sind Schmetterlinge, die wir gemeinhin zu den sympathischsten Vertretern des Insektenreichs rechnen. Die weniger freundlichen Mitglieder dieser Art sind die Motten, insbesondere aus den Familien der Faulholzmotten und der Echten Motten. Letztere sind ausgesprochene Aasfresser, weswegen eine Diät aus Pergament ihnen sehr zupass kommt. Auch die Lepidoptera haben es auf mehr als nur eine Art ins Innere des Buches geschafft: Sie stehen für den am schwierigsten auszusprechenden Romantitel deutscher Sprache, Urs Widmers <i>Der Kongress der Paläolepidoptereologen.</i><br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIEt69lfWZJJgdsT0q5pXkCGBy6BvJ3ZCxK46-FvjEtth4M8gwOIMFfVFu3asANXpKZlZlbr7chVvCK9cZToUrF_1Q7op0PyngN3spGU1MWTBatyZv35KKXnIXUUVIDAhKeRqZ7ar_Wpk/s1600/Abb+35.JPG" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="960" data-original-width="1280" height="300" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiIEt69lfWZJJgdsT0q5pXkCGBy6BvJ3ZCxK46-FvjEtth4M8gwOIMFfVFu3asANXpKZlZlbr7chVvCK9cZToUrF_1Q7op0PyngN3spGU1MWTBatyZv35KKXnIXUUVIDAhKeRqZ7ar_Wpk/s400/Abb+35.JPG" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Spuren eines »Bücherwurms« <a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bookworm_traces.JPG" target="_blank">[Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Als eines der wenigen Tiere, die selbst Cellulase, ein cellulose-aufspaltendes Enzym, produzieren können, gilt das Silberfischchen, Lepisma saccharina. Der nicht zufällig nach dem Zuckerersatzstoff Saccharin klingende Name kommt daher, dass dieses Fischchen kohlehydrathaltige Kost bevorzugt und darum auch Zuckergast genannt wird. Hielt man das Silberfischchen lange Zeit nur für einen zufälligen Kohabitanten in den Bibliotheken, weil es sich als lichtscheuer und nachtaktiver Geselle gerne in Ritzen von Regalen verbarg, ist es heute als einer der gewalttätigsten Bücherschädlinge identifiziert. Hookes berühmte Darstellung des »book-work« in der <i>Micrographia</i> stellt vermutlich genau einen solchen Vertreter der Lepismae dar. Silberfischchen sind sogenannte Ur-Insekten, das heißt, sie machen keine Metamorphose durch. Entsprechend sind die geschlüpften Jungtiere keine Larven, die sich in Bohrgängen im Buch selbst aufhalten. Vielmehr greifen sie die Bücher von außen an — man nennt das abrasiv — und ziehen sich nach der Attacke wieder in ihre Ritzen zurück. […]<br />
<br />
Der Bücherwurm scheint, wie ein Gelehrter festgestellt hat »Sinn für Qualität« zu haben: »In erstklassig ausgestatteten Büchern sind seine Spuren leider häufiger als in Drucken auf schlechtem Papier oder mit Ersatzdruckfarben.« Andere Forschen mutmaßten, dass Bleichmittel, Sulfate und andere Chemikalien, die heute im Papier enthalten sind, dem Bücherwurm den Appetit verdürben. Moderne Literatur ist unbekömmlich? Wenn noch O’Conor feststellte, eine rein belletristische Bibliothek sei relativ sicher, weil kein echter Bücherwurm sich dazu herablasse‚ einen populären Roman zu verspeisen, rekurrierte er wohl eher auf den Umstand, dass moderne Romane aus modernem Material und darum für unseren Wurm unter Umständen nur schwer verdaulich sind. Andererseits hat der Lauf der Zeit gelehrt: Vor nichts, was büchern ist, schreckt der Bücherwurm zurück. Seine nicht-diskriminierende Art, unterschiedslos jede Art von Buch sich zum Fraß zu machen, lässt ihn auch als Musterbeispiel für Toleranz gelten. Papier, Tinte, Leinen- und Ledereinbände, ja selbst die hölzernen Regale, auf denen Bücher thronen, wurden zur Speise des Parasiten. Es wurde sogar gemutmaßt, ob der Schädling vielleicht vom Geruch des Buchbinderleims angezogen würde. Der Bücherwurm — ein Schnüffler?<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj270bcmyvKCj2vzbBFBb_gbLLyooizY3yUjTdLF5_38YefZoJTeYOe23DigyA0gQory4gBLYZnOJlE_Cw_pn-Mah6FJwrJO6jDWhhbCrtugHcIcRaSLVb7NkEbKtiRzBBN_1nfKmg2YfI/s1600/Abb+36+Yale.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="688" data-original-width="1280" height="215" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj270bcmyvKCj2vzbBFBb_gbLLyooizY3yUjTdLF5_38YefZoJTeYOe23DigyA0gQory4gBLYZnOJlE_Cw_pn-Mah6FJwrJO6jDWhhbCrtugHcIcRaSLVb7NkEbKtiRzBBN_1nfKmg2YfI/s400/Abb+36+Yale.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ein Buch aus der Yale Medical School Library<a href="https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Bookworm_damage_on_Errata_page.jpg" target="_blank"> [Quelle]</a></td></tr>
</tbody></table>
Der Straßburger Wurmforscher Johann Hermann, der 1771 mit seinem Bücherwurm-Aufsatz preisgekrönt worden war, fand eine sehr kreative Lösung, nachgerade ein aufklärerisches Outsourcing im Kampf gegen den Bücherwurm, wenn er der Göttinger Akademie ins Stammbuch schrieb, man<br />
»suche durch allerhand Mittel die Liebhaber anzulocken, so wird man unentgeldlich eine Menge Diener haben, welche die Bücher durch Umblättern vor dem Einnisten der Insekten bewahren werden. Man vermehre die Sammlung fleißig, so wird durch öfteres Umstellen und Verrücken der alten Bücher, und Einschieben der neuen, der nemliche Endzweck erhalten werden.« <br />
<br />
Wenn es im Universum der Bücher zwei sich ausschließende Tatbestände gibt, dann Lesen und Essen. Ein Buch, das gelesen wird, ist für den Moment vor allen gefräßigen Attacken geschützt. So bemerkt auch Holbrook Jackson: »Ich für meinen Teil rate anstelle von allen möglichen Patentlösungen zu nichts als Sauberkeit, frischer Luft und Lesen.« Und er fährt fort: »Wenn ein Bücherwurm bereits in dein Buch eingedrungen ist, wirst du ihn am besten dadurch los, das du selbst ein Bücherwurm wirst.« <br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Hektor Haarkötter: Der Bücherwurm. Vergnügliches für den besonderen Leser. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 2010. ISBN 978-3-89678-662-3. Seite 13 bis 44 (gekürzt).</i></span><br />
<br />
<br />
<b><i>Und es hat noch mehr </i>moderne<i> Musik in der Kammermusikkammer:</i></b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/03/franz-schmidt-das-buch-mit-sieben.html" target="_blank">Franz Schmidt: Das Buch mit sieben Siegeln | Baumeister und Bildhauer der Medici: Michelangelos manieristisches Meisterwerk.</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/08/susie-ibarra-trio-songbird-suite-2002.html" target="_blank">Susie Ibarra Trio: Songbird Suite (2002) | Bild und Ähnlichkeit: Aus Manlio Brusatin's "Geschichte der Bilder".</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/02/ernst-krenek-reisebuch-aus-den.html" target="_blank">Ernst Krenek: Reisebuch aus den österreichischen Alpen | Das bewohnte Tuch und das Kleid der Erde: Joachim Patinir: Ruhe auf der Flucht. </a></b><br />
<b><br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2013/11/krzysztof-penderecki-sextett-2000.html" target="_blank">Krzysztof Penderecki: Sextett (2000) - Klarinettenquartett (1993) | "Er war einer der berühmtesten Dichter Englands." (Sagt Jay in seinen Silvae, und er meint wedér Shakespeare noch T.S.Eliot).</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2013/11/heinz-holliger-streichquartett-die.html" target="_blank">Heinz Holliger: Streichquartett - Die Jahreszeiten - Chaconne | Samuel Herzog: Was Kunst-Grossanlässe und Filet-Vegetarier mit einander gemein haben.</a></b><br />
<br />
<br />
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Die selbe Aufnahme in einer anderen Pressung (vermehrt um Ravels Ohrwurm)<b><br /> </b> <br />
<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 6 MB </b><br />
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<span style="background-color: #b6d7a8;">Unpack x367.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+LOG files [60:58] 4 parts 314 MB </span><br />
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<br />
<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-32893614596312910962019-07-15T11:08:00.005+02:002019-07-15T11:08:35.149+02:00Lili Boulanger: Clairières dans le ciel <div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjBRbYJJoVLzmmKSEdJyc2XCVSjD3GdO4yOS_0TmJBPnTzMDWT-0NqsJqZVxVtsOcJqPro6AOfXg6tP9-cKBdLiiH4cgGzBqtxepi-D2i9yBnammcqaqx7VfulSFEbVYnhb7n22BYiG7Yc/s1600/Cover.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1412" data-original-width="1419" height="318" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjBRbYJJoVLzmmKSEdJyc2XCVSjD3GdO4yOS_0TmJBPnTzMDWT-0NqsJqZVxVtsOcJqPro6AOfXg6tP9-cKBdLiiH4cgGzBqtxepi-D2i9yBnammcqaqx7VfulSFEbVYnhb7n22BYiG7Yc/s320/Cover.jpg" width="320" /></a></div>
Es muß wohl an die dreißig Jahre her sein, daß ich als Student das erste Mal auf die Musik von Lili Boulanger stieß, nämlich auf der klassischen Markevich—Schallplatte, die ursprünglich unter dem Label Everest in den USA herausgebracht worden war. Ich war vom Gehörten zutiefst bewegt und schrieb umgehend an ihre Schwester Nadia, die bereits achtzig war, doch immer noch unterrichtete und die gleiche ungebremste Energie besaß, mit der sie mehr als fünfzig Jahre zuvor ihre Schüler und Bewunderer im Sturm gewonnen hatte. <br />
<br />
Jene Musik — und jener Brief — haben in der Tat mein Leben verändert. Nachdem ich den Sommer des Jahres 1967 mit dem Studium bei Nadia am Konservatorium von Fontainebleau verbracht hatte, hatte ich im darauffolgenden Jahr meine erste Musiksendung und veröffentlichte meinen ersten Artikel — beide hatten Lili zum Gegenstand (1968 jährte sich ihr Tod zum fünfzigsten Mal). Seitdem sind Biographien über Nadia und auch Lili erschienen, die eine Fülle faszinierenden Stoffes zum Nachdenken enthalten. Doch keine bietet eine rationale Erklärung dafür, wie Lili im Alter von vierundzwanzig Jahren als die große Komponistin, die sie meiner Einschätzung nach war, gestorben ist. Das gesamte Phänomen Boulanger ist in der Musikgeschichte einzigartig.<br />
<br />
Jeder weiß von den Beiträgen, die Nadia Boulanger in erster Linie als Lehrerin zur Musik unserer Zeit geleistet hat. Ich bin nun überzeugt, daß das gesamte Muster und der Zweck ihres Lebens voller reifer Leistungen von der Beziehung mit ihrer Schwester bestimmt waren. In ihrem ersten Brief an mich im November 1967 schrieb sie: „Sie [Lili] starb 1918, doch ihre Worte sind mir immer noch Führung und Hilfe.“ Sicher war es die Erkenntnis, daß Lili die größere Begabung als Komponistin besaß, die sie dazu geführt hatte, selbst das Komponieren aufzugeben; mit der gleichen Sicherheit hat Lilis verfrühter Tod zu einem besonderen, in der Tat einzigartigen, fast mütterlichen Verhältnis geführt, das sie mit jedem Mitglied ihrer internationalen Studentenfamilie aufzubauen versuchte. […]<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhjEBW7cBMNSbtZ_S9dmzAOwnqjvc87RU04dmecoL1wacZ7kWV9pADqP1Qqe1kMovssDQrxNKyeeOwQVFvTMOL7JiroDVFsOYAg13SzTJIyh0INBgJwxF4mpTeiE2hMxuhICj9MulhGELQ/s1600/1Lili.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1354" data-original-width="1054" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhjEBW7cBMNSbtZ_S9dmzAOwnqjvc87RU04dmecoL1wacZ7kWV9pADqP1Qqe1kMovssDQrxNKyeeOwQVFvTMOL7JiroDVFsOYAg13SzTJIyh0INBgJwxF4mpTeiE2hMxuhICj9MulhGELQ/s400/1Lili.jpg" width="311" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Lili Boulanger (1893-1918), Komponistin</td></tr>
</tbody></table>
Die beiden Boulanger-Schwestern waren attraktive und begabte Frauen, obwohl Lili vielleicht mehr Anspruch auf dem orthodoxen Schönheitsideal entsprechende Züge erheben konnte. Beide waren sie sehr fotogen, besonders Lili mit ihren schönen, tiefen, dunklen Augen. (Nadias Persönlichkeit ermöglichte es ihr, gegen Ende ihres Lebens, das Publikum mit dem Klang ihrer Stimme allein in ihrem Bann zu halten.) Eine Reihe von zeitgenössischen Berichten über Lilis Charakterstärke sind uns erhalten geblieben; doch der beste Beweis von allen wird natürlich in ihrer Musik erbracht, in der maskuline und feminine Elemente überraschend nebeneinandergestellt werden. <br />
<br />
Roy Harris bemerkte einmal, daß Nadia „das Urteilsvermögen eines starken Mannes vereint mit der Intuition einer großen Frau“ besaß, und das gleiche konnte man auch von Lili behaupten. Tatsächlich sind alle Qualitäten, die für Nadia in der Musik ungeheuer wichtig wurden und deren Förderung in ihren Schülern ihr unermüdliches Bestreben war, auch in Lili sichtbar. Sie hatte Starqualität, besaß ein leidenschaftliches Innenleben, innere Energie, Enthusiasmus, ein waches Gespür, starkes Denken, poetische Sensibilität, Engagement, zweckhafte Ernsthaftigkeit, Disziplin, Konzentration — ihr Leben und ihre Musik bezeugen all dies, und ich könnte mir denken, daß sie die vierundzwanzig Jahre ihres Lebens so intensiv lebte wie jene, denen ihre biblischen siebzig Jahre und mehr vergönnt sind. Ihr Meisterstück <i>Du fond de l’abîme</i> („De profundis“) ist ein Werk vollkommener technischer und geistiger Reife: In ihm scheint sie den emotionellen Erfahrungsschatz und das tiefgehende Verständnis für Probleme eines ganzen Lebens zu komprimieren.<br />
<br />
Die Frage ist: Wie hat Lili das gemacht? Im Alter von zwei Jahren erkrankte sie an einer Lungenentzündung, von der sie sich erholte, doch zeit ihres Lebens besaß sie eine erhöhte Krankheitsanfälligkeit. Letzten Endes war es eine Form von Darmkrebs, die sie zerstörte — eine langwierige und schmerzhafte Angelegenheit. Doch sie kämpfte mit erstaunlicher Kraft gegen das Leiden an und war entschlossen, alles, was sie zu sagen hatte zu sagen, solange noch Zeit dafür war. […] <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhByGK1eIVs5a7T53YirqgbXhI0br45SiMmRB8FGXEE4cWZzuf0a72JUjDNMQQpyI9eUjX9jcWbczqyJVb7It6oTLg_QzObmt46rATOTZgPhIiD4VCHlFLT3hCF5t5nKaYRtTuygy8gYJU/s1600/2Lili.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1092" data-original-width="1496" height="291" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhByGK1eIVs5a7T53YirqgbXhI0br45SiMmRB8FGXEE4cWZzuf0a72JUjDNMQQpyI9eUjX9jcWbczqyJVb7It6oTLg_QzObmt46rATOTZgPhIiD4VCHlFLT3hCF5t5nKaYRtTuygy8gYJU/s400/2Lili.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Lili Boulanger (1893-1918), Komponistin</td></tr>
</tbody></table>
Es gelang ihr beinahe: Die einzige größere Partitur, die unvollendet blieb war eine Opernvertonung von Maeterlincks <i>La Princesse Maleine</i>. Sie lernte das, was sie brauchte, so schnell und so gründlich, daß es sich nur schwer erklären läßt. Vermutlich war es hilfreich, daß ihre Mutter auf intensiver Konzentration bestand, und außerdem war da noch Vater Boulanger, der bereits siebzig war, als Nadia 1887 geboren wurde und siebenundsiebzig, als Lili das Licht der Welt erblickte; die Schwestern müssen wohl schon bald ein Erwachsenenleben geführt haben. Lili muß sich — auf welche Weise auch immer — mit unglaublicher Geschwindigkeit und Leichtigkeit eine vollkommen professionelle Technik angeeignet haben. Ihre Orchestrierung beispielsweise ist meisterhaft. Sie war im wesentlichen eine Klangpoetin, mit dem Gespür eines Künstlers für Schönheit von Farbe und Struktur. <br />
<br />
Doch Lilis Gelegenheiten, zu hören, wie ihre Orchestrierungen tatsächlich klangen, waren im Grunde genommen auf ein paar Aufführungen von <i>Faust et Hélène</i> beschränkt. Ihre besten Partituren - <i>Du fond de l’abîme</i>, <i>Psaume 129</i>, das <i>Vieille prière bouddhique</i>, das <i>Pie Jesu</i> - wurden niemals zu ihren Lebzeiten aufgeführt; doch als es so weit war, waren, abgesehen von einigen Modifikationen der Dynamik, keine Anderungen nötig. Die Intuition einer Frau vielleicht? <i>Du fond de l’abîme</i> zeigt auch, daß was die Form anging, Lili die technischen Ressourcen, die sie benötigte, voll und ganz beherrschte. Der Aufbau zeigt das meisterhafte Bewußtsein der Praxis der Symphonie. […]<br />
<br />
Die meisten von Lilis veröffentlichten Kompositionen sind Vokalstücke. Dies spiegelt nicht nur die Traditionen wider, mit denen sie im Kreise der Familie, Freunde und Lehrer aufwuchs - Sologesang, Oper, Vokal- oder Chorensemble, Kirchenmusik — sondern auch die Notwendigkeit, sich technisch für den kommenden <i>Prix de Rome</i> vorzubereiten, den sie 1913 (dem ersten Mal, daß er einer Frau verliehen werden sollte) gewann. Von den fünf Chorstücken dieser Einspielung, stammen alle außer <i>Hymne au soleil</i> mit Orchesterbegleitung (unveröffentlicht und schwer zu finden) von Lili; Sie schrieb auch Orchesterversionen von mehreren Liedern des Liederzyklus <i>Clairières dans le ciel</i>. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgUa_H1C1dyhshngIWUJuKo6rnFwZ-1pMsuISELUt6t4v7qTHHTcaNbT63V2doRosNk8QKN4URgevOIdUi7WqEvYZsnJoSWbLka40nTIJ1SR8PJrpHesiPro5vUgsWHefhvmc1NaPVy-ro/s1600/3Nadia_1925.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1280" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgUa_H1C1dyhshngIWUJuKo6rnFwZ-1pMsuISELUt6t4v7qTHHTcaNbT63V2doRosNk8QKN4URgevOIdUi7WqEvYZsnJoSWbLka40nTIJ1SR8PJrpHesiPro5vUgsWHefhvmc1NaPVy-ro/s400/3Nadia_1925.jpg" width="320" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Nadia Boulanger (1887-1979), Musikpädagogin. <br />
Aufgenommen 1925.</td></tr>
</tbody></table>
Als erstes wurden <i>Les sirènes</i> and <i>Renouveau</i> geschrieben, die beide gegen Ende des Jahres 1911, als Lili achtzehn Jahre alt war, vollendet wurden; beides sind impressionistische Naturstücke, die sie wie Nadia es ausdrückte in „der Sprache ihrer Zeit“ („le langage de son époque“) geschrieben hatte. Was sofort auffällt, ist die poetische Sensibilität des Kompositionslehrlings im allgemeinen, und im besonderen ihr Gespür für die stimmliche Anordnung. 1913 - dem Jahr, in dem sie mit ihrer Kantate <i>Faust et Hélène</i> den <i>Prix de Rome</i> gewann — reifte ihre Technik rapide. Tatsächlich war <i>Renouveau</i> für die Vorrunde — den <i>concours d’essai</i> — in diesem Wettbewerb geschrieben worden.<br />
<br />
Wie <i>Renouveau</i> und <i>Les sirènes</i> ist <i>Soir sur la plaine</i> (1913) ein Naturgedicht; doch waren die ersten beiden frisch inspririerte Aquarelle, so malt Lili hier mit kräftigen Ölfarben. Sie verwendet noch immer ein impressionistisches Vokabular, verleiht ihm jedoch mehr als einen Hauch ihres eigenen Charakters. <i>Hymne au soleil</i> gehört ins Vorjahr (1912) und verzeichnet deutlich die Einwirkung von Debussys <i>Martyre de Saint Sébastien</i>, der zu jenem Zeitpunkt ganz aktuell war; doch es bietet in seiner stämmigen Maskulinität auch eine Vorschau auf eines der ersten Werke mit Lilis wahrer Reife, die Vertonung von Psalm 24 („Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist“).<br />
<br />
Für Lili ist B-Moll die Tonart des Abgrunds, der Trauer und Verzweiflung. Ihre stygische Düsternis umgibt nicht nur <i>Du fond de l’abîme</i> sondern auch <i>Pour les funérailles d’un soldat</i>, die Vertonung eines Gedichts von de Musset für Solobariton, Chor und Orchester, das im gleichsam objektiven Rahmen von Begräbnisförmlichkeiten und eines Rituals, der Voraussicht der jungen Komponistin auf menschliches Leid Ausdruck verleiht. Der Anfangs- und der Schlußabschnitt mit ihrer anregenden Besetzung mit Blech- und Holzblasinstrumenten und Schlagzeug auf der einen Seite und dem wortlosen chromatischen Klagen des Chores auf der anderen, zählt mit Sicherheit zu ihren besten Erfindungen. Die Pizzikato-Figuren für Doppelbaß, die nach Brittens Art den Schlag gedämpfter Marschtrommeln imitieren, halten bis zum Ende unerbittlich die Tonart B-Moll. Diese Einspielung ist die eigene Version der Komponistin mit Klavierbegleitung; es ist bemerkenswert, wie die Tonart B-Moll über die Klaviatur in alle Richtungen nachklingt.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhZWMl-jg0TjM0GHtXEKRNOQ_qFE_bAcIDbDq4InvJnOin4N9xUA_J5cwxsW4qT4xl8knjv28TiEav-KLrrrjAnL5k7kdiYOy-UHcjVsBsjaVJGIoliQs0lvo8C_8qPu27XZEiFF_qQtxs/s1600/4ErnestB.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1600" data-original-width="1068" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhZWMl-jg0TjM0GHtXEKRNOQ_qFE_bAcIDbDq4InvJnOin4N9xUA_J5cwxsW4qT4xl8knjv28TiEav-KLrrrjAnL5k7kdiYOy-UHcjVsBsjaVJGIoliQs0lvo8C_8qPu27XZEiFF_qQtxs/s400/4ErnestB.jpg" width="267" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Ernest Boulanger (1815-1900), Komponist, <br />
Vater von Lili und Nadia</td></tr>
</tbody></table>
<i>Clairières dans le ciel</i> („Himmelslichtungen“) ist vielleicht das wichtigste von Lilis säkularen Werken. Seitdem sie sich eine Ausgabe von Francis Jammes’ Gedichtsammlung mit dem Titel <i>Tristesses</i> zugelegt hatte, hatte sie den Wunsch, sie zu vertonen. Jammes wird aufgrund seiner Versbildung und Syntax als symbolistischer Dichter eingestuft; andererseits ist sein Anliegen für Klarheit und Einfachheit ganz entschieden unsymbolistisch. Nachdem sie sowohl die Erlaubnis des Dichters, die Verse zu vertonen als auch seine Zustimmung zur Änderung des Titels eingeholt hatte, wählte Lili dreizehn der vierundzwanzig Gedichte des Zyklus. <br />
<br />
Wie ihre Biographin Leonie Rosenstiel bemerkt, identifizierte sich Lili fast mit Sicherheit mit der Heldin der Gedichte — einem hochgewachsenen, etwas mysteriösen jungen Mädchen, das plötzlich aus dem Leben des Dichters verschwunden war, und man weiß nicht wie oder warum. Jammes erinnert sich an seine Emotionen mehr oder weniger in Ruhe; zum größten Teil werden sie von vorbeiziehenden Naturphänomenen hervorgerufen — zwei Akeleien an einem Hang, der Anblick einer ruralen Landschaft, die Erinnerung an den Flieder des vergangenen Jahres, plötzliche schwere Regenfälle. Materielle Gegenstände — ein Medaillon, das ihm als Andenken von seiner Liebsten geschenkt worden war, eine schwarze Madonna am Fuße seines Bettes. […] Die Musik von <i>Clairières</i> fängt den lyrischen Duft und die Unschuld von <i>Pelléas et Mélisande</i> in einer Folge von Selbstportraits ein, die von Sentimentalität ungetrübt sind. Eine scheinbare Naivität wird von einem gelegentlichen Aufflackern von Gewalt widerlegt, insbesondere im letzten Lied (abgesehen vom Namen ein Epilog), das nostalgisch auf frühere Lieder Bezug nimmt und dem man mit der Zeit anhört, das es die Gefühlslast des ganzen Zyklus’ auf sich nimmt.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEho9t-m2i864xE6dMmPnmZbb9VXmGBtriYGfn0ENWcgpOqf05cgffa89-rpRlHmpUDzTscQixOPppxokAuBcGfyBawYdKOCio8YQPFGP5XfHmgv7NRwIeBLUFUrviPaaw-eLEtvBG0nwHs/s1600/5Raissa.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="341" data-original-width="241" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEho9t-m2i864xE6dMmPnmZbb9VXmGBtriYGfn0ENWcgpOqf05cgffa89-rpRlHmpUDzTscQixOPppxokAuBcGfyBawYdKOCio8YQPFGP5XfHmgv7NRwIeBLUFUrviPaaw-eLEtvBG0nwHs/s1600/5Raissa.jpg" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Raissa Boulanger, geb. Myschezkaja (1854-1935)<br />
Sängerin, Mutter von Lili und Nadia</td></tr>
</tbody></table>
Jede Beschreibung von Lili Boulangers Leben und Werk muß notgedrungen eine Reihe von äußerst wichtigen Fragen unbeantwortet lassen: Die genaue Beziehung zwischen Krankheit und Kreativität zum Beispiel. Verliehen Lilis Krankheit und nahender Tod ihrer Musik eine Schärfe und Tiefe, die bei einer normalen Laufbahn oder Gesundheitszustand niemals dagewesen wären? Oder war es eher der Zwang, die unwiderstehliche Berufung zum Komponieren, die ihre spärlichen körperlichen Reserven aufzehrte und zu ihrem Tod führte? War Lili so abgeschirmt und beschützt, daß sie von den normalen Stürmen und Drängen der Pubertät und des frühen Erwachsenenalters gefühlsmäßig unberührt blieb, wie Nadia fest behauptete? <br />
<br />
Ich kann dies nur schwer glauben, insbesondere in Anbetracht ihrer Musik, die alles andere als fade ist. Hatte Nadia, so wie Léonie Rosenstiel behauptet, tatsächlich Ressentiments gegen Lili, weil diese sie was unmittelbare, erstklassige musikalische Kreativität betraf, in den Hintergrund gedrängt hatte? Zu welchem Grad erschwerte es ihre natürlichen Schuldgefühle, daß sie — die geringere der beiden Koryphäen — überlebte, während Lili starb? Hatte sie genug für Lili getan — oder hat sie, wie manche denken, zu viel getan? Roger Nichols ist eindeutig der Ansicht, daß der Kult, den Nadia um Lilis Person schuf, in gewissem Maße die wirkliche Person verschleierte. Was wirklich zählte war nicht Lili, „die Feministin“, nicht Lili, „die Märtyrerin“, sondern Lili, „die Komponistin“, und keine Komponistin „aus der etwas hätte werden können“, sondern eine, die ganz sicher „jemand war“.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: <a href="https://en.wikipedia.org/wiki/Christopher_Palmer">Christopher Palmer,</a> im Booklet. Übersetzung: Anke Vogelhuber</i></span><br />
<br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEheibqww7alCb9kQ_cjwtGSrZZ3dpGNC0AGhLSd0BZtWsJ_ToFwlalDgjd0oKxwsMR0nahSQamzDO1xT6rOrFWgzdfmQINubVGTVXO5D6jjE1QeCkjca03XCeaaZ1xHe5E3kifMkkJggkY/s1600/Lark.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1091" data-original-width="843" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEheibqww7alCb9kQ_cjwtGSrZZ3dpGNC0AGhLSd0BZtWsJ_ToFwlalDgjd0oKxwsMR0nahSQamzDO1xT6rOrFWgzdfmQINubVGTVXO5D6jjE1QeCkjca03XCeaaZ1xHe5E3kifMkkJggkY/s400/Lark.jpg" width="308" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Jules Breton (1827-1906): The song of the Lark. 1884.<br />
<a href="https://www.artic.edu/artworks/94841/the-song-of-the-lark">The Art Institute of Chicago</a>.</td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<pre>TRACKLIST
LILI BOULANGER
(1893-1918)
Clairières dans le ciel
tenor and piano 1914 [35'03]
01 Elle était descendue au bas de la prairie [2'08]
02 Elle est gravement gaie [1'46]
03 Parfois, je suis triste [3'06]
04 Un poète disait [1'48]
05 Au pied de mon lit [2'04]
06 Si tout ceci n'est qu’un pauvre rêve [2'32]
07 Nous nous aimerons tant [2'50]
08 Vous m'avez regardé avec toute votre âme [1'20]
09 Les lilas qui avaient fleuri [2'37]
10 Deux ancolies [1'30]
11 Par ce que j'ai souffert [3'05]
12 Je garde une médaille d'elie [1'33]
13 Demain fera un an [8'51]
14 Les sirènes
soprano, chorus and piano 1911 [5'49]
15 Renouveau
three solo voices and piano 1911 [4'56]
16 Hymne au soleil
mezzo soprano, chorus and piano three hands 1912 [3'59]
17 Pour les funérailles d'un soldat
baritone, chorus and piano three hands 1912 [7'51]
18 Soir sur la plaine
soprano, tenor, baritone, chorus and piano 1913 [8'42]
Duration: [67'02]
Martyn Hill, Tenor
Andrew Ball, Piano
New London Chamber Choir:
14, 15, 18 Amanda Pitt, Soprano
15, 16 Jeanette Ager, Mezzo Soprano
15, 18 Martyn Hill, Tenor
17, 18 Peter Johnson, Baritone
16, 17 Ian Townsend, Piano Third Hand
James Wood Conductor
Recorded on 4-6 February 1994
Recording Engineer and Producer Gary Cole
Front Illustration: Jules Breton (1827-1906): The song of the Lark [detail] (1884)
(P) 1994 (C) 2004
</pre>
<br />
<br />
<span style="color: red;"><b><span style="font-size: x-large;">La Bruyère</span></b></span><br />
<br />
<h1>
<span style="font-size: large;">Vom Menschen</span></h1>
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhqcGFshvh8G-nt9iCps_v9rgXkhwOrYTWXi5SmBUL5eEvETMxG172G2xsp0ufl3-cZypcDnCAAC8WsLCjC9iOEC97jCADmigK42ZxxDP_XqRzcCaMkqoQpE7E3LDH-6QmSRPkdyFJw9ro/s1600/00JeandelaBruyere.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1215" data-original-width="867" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhqcGFshvh8G-nt9iCps_v9rgXkhwOrYTWXi5SmBUL5eEvETMxG172G2xsp0ufl3-cZypcDnCAAC8WsLCjC9iOEC97jCADmigK42ZxxDP_XqRzcCaMkqoQpE7E3LDH-6QmSRPkdyFJw9ro/s640/00JeandelaBruyere.jpg" width="456" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Jean de La Bruyère (1645-1696)</td></tr>
</tbody></table>
Ereifern wir uns nicht gegen die Menschen, wenn wir ihre Gefühllosigkeit, ihre Undankbarkeit, ihre Ungerechtigkeiit, ihren Hochmut, ihre Eigenliebe und ihre Gleichgültigkeit gegen andre sehen: sie sind einmal so geartet, das ist ihre Natur; ebensogut könnte man sich dagegen auflehnen, daß der Stein fällt und das Feuer emporsteigt.<br />
<br />
Die Menschen sind eigentlich nicht unbeständig oder sind es nur in kleinen Dingen; sie wechseln ihre Kleider, ihre Sprache, das gesellschaftliche Gehaben; sie ändern bisweilen auch ihren Geschmack: aber sie bewahren ihre ewig schlechten Sitten, beharrlich und beständig im Übel und in der Nichtachtung der Tugend. […]<br />
<br />
Unhöflichkeit ist kein ursprüngliches Gebrechen der Seele, sondern die Wirkung verschiedener Laster: törichter Eitelkeit, Unkenntnis seiner Pflichten, Trägheit, Stumpfheit, Zerstreutheit, Verachtung der andern, Mißgunst. Wenn sie auch nicht in die Tiefe dringt, ist sie darum nicht weniger hassenswert; denn sie ist stets ein sichtbarer, offenkundiger Fehler. Man wird freilich zugeben müssen, daß sie, je nach der Ursache, bald mehr, bald weniger verletzt.<br />
<br />
Wenn man von einem zornigen, unbeständigen, zänkischen, mürrischen, krittelnden, launischen Menschen sagt: »Das ist seine Gemütsart«, so ist das keine Entschuldigung, wie man gewöhnlich annimmt, sondern das unbeabsichtigte Eingeständnis, daß diese großen Fehler unheilbar sind.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjU8HjCja6t_N0CbArZzhyphenhyphenAyBWF9t9Iyhox-_gwtXXt3Szkg5bIW6rePj6DuJLUPEuaEABwjMDY-UJeP0oGzLY4KYmTsxdMskXt4zVy0yjojssZ1-vruKRLZLtARohCLzMMGgbIajOWOXY/s1600/01.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="860" data-original-width="501" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjU8HjCja6t_N0CbArZzhyphenhyphenAyBWF9t9Iyhox-_gwtXXt3Szkg5bIW6rePj6DuJLUPEuaEABwjMDY-UJeP0oGzLY4KYmTsxdMskXt4zVy0yjojssZ1-vruKRLZLtARohCLzMMGgbIajOWOXY/s400/01.jpg" width="232" /></a></div>
Die Menschen achten viel zuwenig auf das, was man Laune oder Stimmung nennt; sie sollten begreifen lernen, daß es nicht genügt, gut zu sein, sondern daß sie auch gut scheinen müssen, wenn ihnen überhaupt daran liegt, mit andern gesellig und einträchtig zu verkehren, das heißt, Menschen zu sein. Von boshaften Gemütern braucht man Sanftmut und Nachgiebigkeit nicht erst zu fordern; sie fehlt ihnen nie, sie dient ihnen als Falle, die Einfältigen zu fangen, und gestattet ihnen, ihre Schliche um so wirksamer zu üben: man wünschte aber gerade von gütigen Menschen, sie möchten auch nach außen hin stets willfährig und gefällig sein, damit es nicht mehr heißt: die Bösen fügen uns Schaden zu und unter den Guten haben wir zu leiden.<br />
<br />
Die meisten Menschen reißt erst der Zorn zu Beleidigungen hin; bei einigen ist es umgekehrt: sie beleidigen, und dann erzürnen sie sich; davon sind wir jedesmal so überrascht, daß wir ihnen gar nicht grollen können.<br />
<br />
Die Menschen denken zuwenig daran, Gelegenheiten zu nutzen, wo sie gefällig sein können: wer ein neues Amt antritt, scheint die beste Möglichkeit zu haben, andere zu Dank zu verpflichten, und er tut nichts für sie; das Bequemste und Nächstliegende ist immer die Weigerung, und nur aus Berechnung wird eine Bitte gewährt.<br />
<br />
Wer genau weiß, was er von den Menschen im allgemeinen und von jedem von ihnen im besonderen erwarten darf, kann sich getrost ins Getriebe der Welt stürzen.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEixCY-zAE9Orbgom5DkswzvkUsJDjOFMqfQzj-rAO0R2fvqzs9GJxzS5f18JQXI3GNb4UNB5mAnI5QHPRuXpe048YsfsuA_TH-ohyFuG-jTyEM_Na8Z6398v6mGhZXRjaX80TA-TAiulWE/s1600/02.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="888" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEixCY-zAE9Orbgom5DkswzvkUsJDjOFMqfQzj-rAO0R2fvqzs9GJxzS5f18JQXI3GNb4UNB5mAnI5QHPRuXpe048YsfsuA_TH-ohyFuG-jTyEM_Na8Z6398v6mGhZXRjaX80TA-TAiulWE/s400/02.jpg" width="225" /></a></div>
Ist Armut die Mutter der Verbrechen, dann ist Mangel an Verstand ihr Vater.<br />
<br />
Es kommt kaum vor, daß ein Mensch ohne Anstand und Ehre Geist besitzt: ein gerader, durchdringender Verstand führt zuletzt immer zu Ordnung, Rechtschaffenheit und Tugend: Einsicht und Scharfsinn fehlen aber dem, der starrköpfig im Schlechten wie im Falschen beharrt; vergeblich sucht man ihn durch spöttische Reden zu bessern: die andern merken, daß man ihn damit meint, er selbst erkennt sich nicht darin; es ist, als wenn man einem Tauben Beleidigungen sagte. Zum Besten der Menschen von Ehre und zum Nutzen der Allgemeinheit möchte man jedem Schurken ein wenig Einsicht und Verstand wünschen.<br />
<br />
Es gibt Fehler, die wir nicht durch Schuld der andern haben, die uns angeboren sind und durch Gewohnheit schlimmer werden; andere wieder waren uns ursprünglich fremd und wir haben sie erst angenommen. Bisweilen hat man von Natur einen umgänglichen Charakter, eine zuvorkommende Art und ein ausgesprochenes Verlangen zu gefallen; aber die Behandlung, die man von denen erfährt, mit denen man lebt oder von denen man abhängt, drängt einen bald aus den natürlichen Maßen und Verhältnissen, ja aus seinem eigenen Wesen heraus: man zeigt sich unwirsch und gallig‚ wie man sich vordem nicht kannte, die ganze Anlage verändert sich, und man bemerkt schließlich zu seinem Erstaunen, daß man mürrisch und griesgrämig geworden ist.<br />
<br />
Man kann die Frage hören, warum nicht alle Menschen zusammen gleichsam eine einzige Nation bilden, warum sie nicht die gleiche Sprache sprechen, unter den gleichen Gesetzen leben, dieselben Gebräuche und dieselbe Religion angenommen haben; wenn ich aber an den Widerstreit der Geister, Neigungen und Gefühle denke, so wundere ich mich, daß sich auch nur sieben oder acht Personen unter einem Dach, in einem Raum zu einer Familie zusammenfinden. <br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjzYvv91cH0jaThK-KPb3p2S5x8siaXYWh7AAqEnD_PQEYcfri7ENxUFGACo3mkNeoQYjmY6sv0Y2qeEvGGO0tOzJHajev5OADnxuGkUbB2yIRBMKj7IAcO16BftjiH9hm0ucE6blFyRmk/s1600/03.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="868" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjzYvv91cH0jaThK-KPb3p2S5x8siaXYWh7AAqEnD_PQEYcfri7ENxUFGACo3mkNeoQYjmY6sv0Y2qeEvGGO0tOzJHajev5OADnxuGkUbB2yIRBMKj7IAcO16BftjiH9hm0ucE6blFyRmk/s400/03.jpg" width="230" /></a></div>
Sonderbare Väter, die ihr Leben lang damit beschäftigt scheinen, ihren Kindern Gründe zu liefern, sich über ihren Tod zu trösten!<br />
<br />
Alles ist befremdlich in Laune, Sitten und Betragen der meisten Menschen; manch einer hat sein ganzes Leben verdrießlich, aufgeregt, geizig, kriechend‚ unterwürfig‚ mühselig, eigensüchtig zugebracht, dem die Natur ein heiteres, friedliches, genießerisches Gemüt und ein stolzes Herz, frei jeder Niedrigkeit, beschert hatte: Bedürfnisse und Umstände, das Gesetz der Notwendigkeit tun der Natur Gewalt an und verursachen solche Wandlungen. So läßt sich nicht sagen, was solch ein Mensch an sich in seinem Wesen ist; zu vieles Äußere entstellt ihn, verändert ihn, stürzt ihn um; er ist genau das nicht, was er ist oder zu sein scheint.<br />
<br />
Das Leben ist kurz und voll Verdruß: es vergeht unter lauter Wünschen; man verspart sich Ruhe und Freuden für die Zukunft, für ein Alter, wo die besten Güter dahin sind, Gesundheit und Jugend. Und wenn diese Zeit naht findet sie uns noch in Wünschen: wir sind nicht weitergekommen, wenn das Fieber uns ergreift und unserem Leben ein Ende macht; wären wir genesen, hätten wir nur immer weiter gewünscht.<br />
<br />
Wenn man etwas begehrt, so ergibt man sich auf Gnade und Ungnade dem, von dem man es erhofft: ist man der Gewährung sicher, so sucht man Zeit zu gewinnen, unterhandelt, macht Bedingungen. <br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgG2zaqDZEW7IRlHq9f7ri5dxIZIxDH-1Qb3fHf2Z7lAAzRtmGL8Y45TCwVAi4F2OtN1o0TlVeYXZtTMERUcnzG6CAerwhM1a5-qwH26kt7z-PIIyCVhpslqyVPdANa85oUlipFTYenEwU/s1600/04.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="896" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgG2zaqDZEW7IRlHq9f7ri5dxIZIxDH-1Qb3fHf2Z7lAAzRtmGL8Y45TCwVAi4F2OtN1o0TlVeYXZtTMERUcnzG6CAerwhM1a5-qwH26kt7z-PIIyCVhpslqyVPdANa85oUlipFTYenEwU/s400/04.jpg" width="222" /></a></div>
Der Mensch hat sich so sehr daran gewöhnt, nicht glücklich zu sein, und es scheint uns so natürlich, alles, was uns wertvoll ist, durch tausend Mühsale zu erkaufen, daß uns verdächtig vorkommt, was sich leicht macht: wir vermögen es nicht zu fassen, daß etwas, was so wenig Anstrengung kostet, für uns von großem Vorteil sei oder daß man mit richtigem Planen so rasch ans Ziel gelangen könne: man glaubt wohl, den glücklichen Erfolg zu verdienen, wagt aber selten einmal damit zu rechnen.<br />
<br />
Wer meint, er sei nicht zum Glück geboren, könnte doch wenigstens am Glück seiner Freunde oder Angehörigen teilhaben. Aber Mißgunst raubt ihm auch diese letzte Möglichkeit.<br />
<br />
Mag ich vielleicht auch an anderer Stelle gesagt haben, daß die Betrübten unrecht hätten: die Menschen scheinen wirklich zu Unglück, Schmerz und Armut geboren, wenige bleiben verschont; und da ihnen jedes Mißgeschick begegnen kann, sollten sie sich auf jedes Mißgeschick gefaßt machen. <br />
<br />
Den Menschen fällt es so schwer, sich in Handelsgeschäften zu einigen, sie wachen so argwöhnisch über ihre kleinsten Interessen, strotzen so vor Streitsucht, möchten so gerne täuschen und so ungern hintergangen werden, schätzen ihren Besitz so hoch, den der andern so niedrig ein, daß ich wahrhaftig nicht begreifen kann, wie überhaupt Ehen, Verträge, Friedensschlüsse, Waffenstillstand, Abmachungen und Bündnisse zustande kommen.<br />
<br />
Bei manchen Leuten muß Anmaßung die Größe, Unmenschlichkeit die Festigkeit des Charakters, Arglist den Geist ersetzen.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjDXnJckIv1rvlGtKM7Pld1A_A6TGBurJbjdngefEaJ2qiZ0y9yI8ox_6k3-gdYZkpNYuTLBbrFMgKUZ26muNjSxFUBezBFGhyphenhyphenvbZOUYcOYO_1Ex6IfzALPrzNkbbEbTUilRb_8zRC7vVk/s1600/05.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="892" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjDXnJckIv1rvlGtKM7Pld1A_A6TGBurJbjdngefEaJ2qiZ0y9yI8ox_6k3-gdYZkpNYuTLBbrFMgKUZ26muNjSxFUBezBFGhyphenhyphenvbZOUYcOYO_1Ex6IfzALPrzNkbbEbTUilRb_8zRC7vVk/s400/05.jpg" width="223" /></a></div>
Spitzbuben halten die andern gern für ihresgleichen; man kann sie schwer hintergehen, aber sie täuschen selbst nicht lange.<br />
<br />
Lieber will ich ein Dummkopf sein und dafür gelten als ein Schurke.<br />
<br />
Man betrügt niemals gutwillig; die Schurkerei fügt zur Lüge stets noch die Bosheit hinzu.<br />
<br />
Wenn es weniger Leichtgläubige gäbe, so würde es auch weniger pfiffige, gewitzte Schlauköpfe geben, die dadurch ihre Eitelkeit befriedigen und ihr Ansehen erhöhen, daß sie ihr Leben lang andere zu betrügen pflegten: warum sollte also <i>Erophil</i>, dem Wortbruch, verlogene Dienstleistungen und Schurkerei nicht etwa Schaden gebracht, sondern Gunst und Wohltaten selbst von denen eingetragen haben, die er im Stich gelassen oder verraten hat, sich nicht unendlich viel auf sich und seine Geschicklichkeit einbilden? […]<br />
<br />
Nichts macht es einem einsichtigen Menschen so leicht, das Unrecht, das Angehörige und Freunde im antun, ruhig zu ertragen, als die Betrachtung der menschlichen Gebrechen, die Überlegung, wie schwer es den Menschen fällt, beständig, großmütig, treu und einer Freundschaft fähig zu sein, die stärker ist als die Ichsucht; da er erkennt, was sie vermögen, verlangt er nicht von ihnen, daß sie feste Körper durchdringen, sich in die Luft erheben, gerechten Sinn besitzen. Er mag die Menschheit im allgemeinen hassen, da Tugend so selten ist; aber er wird die einzelnen entschuldigen, ja sie sogar aus höherer Einsicht lieben und bestrebt sein, selber sowenig wie möglich die gleiche Nachsicht zu verdienen. <br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEimHdA9vscgm684r2RvHi_rpHVQ_oWdvGYbHafPq0RjvrKkXEcApcuS3UMQMwFQvC55U6bm4Cl4jWAnh7PB16b7B_vyJTM_q990LPRPfbhxTQPSPi1ay52KJWgbkqaSw2WcFQrdeiLDLUU/s1600/06.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="890" data-original-width="501" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEimHdA9vscgm684r2RvHi_rpHVQ_oWdvGYbHafPq0RjvrKkXEcApcuS3UMQMwFQvC55U6bm4Cl4jWAnh7PB16b7B_vyJTM_q990LPRPfbhxTQPSPi1ay52KJWgbkqaSw2WcFQrdeiLDLUU/s400/06.jpg" width="223" /></a></div>
Es gibt Güter, die wir leidenschaftlich begehren und deren bloße Vorstellung uns schon hinreißt und entzückt; haben wir das Glück, sie zu erlangen, so nehmen wir sie gelassener auf, als wir gedacht hätten; wir erfreuen uns kaum an ihnen und verlangen sogleich nach größeren.<br />
<br />
Wiederum gibt es furchtbares Unglück und entsetzliche Leiden, an die wir nicht zu denken wagen und bei deren bloßem Anblick wir erschaudern; kommen sie über einen, so entdeckt man Kräfte in sich, die man nicht vermutete, wappnet sich gegen sein Mißgeschick und findet sich besser damit ab, als man erwartete.<br />
<br />
Bisweilen braucht man bloß ein schönes Haus zu erben, in den Besitz eines guten Pferdes, eines hübschen Hundes, eines Gobelins, einer Wanduhr zu gelangen: und gleich ist ein tiefer Schmerz gelindert und ein großer Verlust leichter zu tragen.<br />
<br />
Ich stelle mir vor, daß die Menschen ewig auf Erden lebten, und überlege, ob sie sich dann wohl noch angestrengter und noch geschäftiger um ihr Fortkommen bemühen würden als heute.<br />
<br />
Ein elendes Leben zu ertragen ist eine Pein; ein glückliches zu verlieren eine Qual: beides kommt auf eins hinaus.<br />
<br />
Nichts möchten die Menschen lieber erhalten und nichts schonen sie weniger als ihr Leben. […]<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj9ZPa-hCjeRo0QLJjjaypYZZXN5eeirqleZ-Psr9Ids5VbBrYaV4cX6xTyaSu4wgyp5lhXxyURIYBYncAR-mJmg_8dKo00Qq4hGeVM907C6Z3eSSTzPO_H_yzWmSiMM5gKyYRpBmYcKrw/s1600/07.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="850" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj9ZPa-hCjeRo0QLJjjaypYZZXN5eeirqleZ-Psr9Ids5VbBrYaV4cX6xTyaSu4wgyp5lhXxyURIYBYncAR-mJmg_8dKo00Qq4hGeVM907C6Z3eSSTzPO_H_yzWmSiMM5gKyYRpBmYcKrw/s400/07.jpg" width="235" /></a></div>
Man stirbt nur einmal, und doch spüren wir die Gegenwart des Todes in jedem Augenblick unseres Lebens; ihn fürchten ist schlimmer, als ihn erleiden.<br />
<br />
Unruhe, Furcht, Niedergeschlagenheit halten den Tod nicht fern, im Gegenteil: und doch möchte ich bezweifeln, daß den Sterblichen übermäßiges Lachen anstehe.<br />
<br />
Die Gewißheit des Todes wird etwas gemildert durch die Ungewißheit seines Erscheinens; er ist eine unbestimmte Größe in der Zeit, die etwas vom Unendlichen an sich hat und von dem, was man die Ewigkeit nennt.<br />
<br />
Laßt uns bedenken, daß wir uns, wie wir gegenwärtig nach der blühenden Jugend zurückseufzen, die nicht mehr ist und nimmer wiederkehren wird, in der Zeit der Hinfälligkeit, die uns erwartet, nach dem Mannesalter sehnen werden, in dem wir jetzt noch stehen und das wir nicht genug schätzen.<br />
<br />
Man fürchtet das Alter, ohne daß man weiß, ob man alt werden wird.<br />
<br />
Man hofft alt zu werden und fürchtet sich doch davor: das heißt, man liebt das Leben und flieht den Tod.<br />
<br />
Es ist einfacher, der Natur nachzugeben und den Tod zu fürchten, als sich dagegen zu wehren, sich mit Vernunftgründen und Betrachtungen zu wappnen und beständig mit sich selbst gegen die Todesfurcht zu ringen.<br />
<br />
Wenn ein Teil der Menschen stürbe, der andere nicht, wäre das Sterben eine unerträgliche Trübsal.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj7R-9JMBANW8mPP5iwNcGYawmCMDE0SwqpqeLd08HRIcPorWCfqaZHvo7noS2i5UQx5xlPWOpD0zvxw0iKumaR9laUPu0IcvJXtgZNEi24g4jfJWy-RWsO_epQvpVwh86_kIPVtjTW0V0/s1600/08.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="864" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEj7R-9JMBANW8mPP5iwNcGYawmCMDE0SwqpqeLd08HRIcPorWCfqaZHvo7noS2i5UQx5xlPWOpD0zvxw0iKumaR9laUPu0IcvJXtgZNEi24g4jfJWy-RWsO_epQvpVwh86_kIPVtjTW0V0/s400/08.jpg" width="231" /></a></div>
Langes Siechtum scheint zwischen Leben und Sterben gestellt, damit der Tod für die Sterbenden und für die Zurückbleibenden eine Erlösung bedeute.<br />
<br />
Menschlich gesprochen hat auch der Tod sein Gutes: er setzt dem Alter ein Ziel.<br />
<br />
Der Tod, welcher der Hinfälligkeit zuvorkommt‚ erscheint zu günstigerer Zeit als der, welcher sie beendet.<br />
<br />
Die Reue über die schlechte Anwendung des verflossenen Lebens führt die Menschen nicht immer dahin, die Zeit, die ihnen noch zu leben vergönnt ist, besser zu nutzen. […]<br />
<br />
Man lebt nicht lange genug, um aus seinen Fehlern zu lernen. Sie begleiten uns das ganze Leben hindurch; und nach allem Irren bleibt uns schließlich nur übrig, gebessert zu sterben. <br />
<br />
Nichts frischt so das Blut auf wie eine vermiedene Torheit.<br />
<br />
Seine Fehler gestehen ist peinlich; man möchte sie geheimhalten und doch einem andern aufbürden: darum zieht man den geistlichen Berater dem Beichtiger vor.<br />
<br />
Die Fehler der Toren sind oft so plump und so schwer vorauszusehen, daß sie die Klugen irreleiten und nur denen Vorteil bringen, die sie begehen.<br />
<br />
Die größten Menschen zieht der Parteigeist zu den niederen Handlungen des Pöbels herab.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhYNmSpDxNIhtaqxEDSr2pVINzm3ebhsaPq3-StVxfNMktta6K82q0ihvjrIyvfP2xaxkELw6aiiG95zUlg9P-W0z8XwK6GBS8pD49kG3rKHyHaH7UPLTowxChvTt9IObOVE0zDnSi2oCA/s1600/09.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="857" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhYNmSpDxNIhtaqxEDSr2pVINzm3ebhsaPq3-StVxfNMktta6K82q0ihvjrIyvfP2xaxkELw6aiiG95zUlg9P-W0z8XwK6GBS8pD49kG3rKHyHaH7UPLTowxChvTt9IObOVE0zDnSi2oCA/s400/09.jpg" width="232" /></a></div>
Aus Eitelkeit oder Rücksicht auf den Anstand tun wir oft, was wir aus Neigung oder Pflicht tun sollten, und tragen nach außen das gleiche Benehmen zur Schau. Mancher ist am Fieber gestorben, das er sich durch Nachtwachen am Krankenlager seiner Frau geholt hatte, die er gar nicht liebte.<br />
<br />
Im Grunde ihres Herzens verlangen die Menschen nach Achtung, und doch verbergen sie sorgfältig das Verlangen; denn sie möchten für tugendhaft gehalten werden, und aus der Tugend andern Vorteil ziehen als Tugend, eben Hochschätzung und Lob, wäre nicht mehr Tugend, sondern Sucht nach Hochschätzung und Lob, also Eitelkeit: die Menschen sind sehr eitel und hassen doch nlchts mehr, als dafür zu gelten.<br />
<br />
Der Eitle kommt auf seine Rechnung, ob er Gutes oder Schlechtes von sich redet: der Bescheidene spricht nicht von sich. <br />
<br />
Wie lächerlich die Eitelkeit ist und welch ein schimpfliches Laster, erkennt man am besten daran, daß sie sich nicht zu zeigen wagt und sich oft unter der Maske der Bescheidenheit verbirgt.<br />
<br />
Falsche Bescheidenheit ist die ausgeklügeltste Form der Eitelkeit; sie bewirkt, daß der Eitle nicht als eitel erscheint, sich vielmehr durch die seinem angeborenen Laster entgegengesetzte Tugend in Ansehen setzt: sie ist also eine Lüge. Falscher Ruhm ist die Klippe der Eitelkeit; er verführt uns dazu, daß wir wegen Eigenschaften geschätzt werden möchten, die zwar in uns liegen, die aber zu nichtig und wertlos sind, um Aufhebens davon zu machen: er beruht auf einem Irrtum.<br />
<br />
<div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiKYWgg7DOtQxxlIUpM0MPw0GfKPPlKsnbRtHH-m_A7_K89OENuJFDlIzbqhUCNQMxooLh7J459LosTJbo6xjlKDdo60H6KhzOXjSTwp4XCgNjWe1R5avsN6kDSuHfWS0Rvp4SbeLAJHAw/s1600/10.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="869" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiKYWgg7DOtQxxlIUpM0MPw0GfKPPlKsnbRtHH-m_A7_K89OENuJFDlIzbqhUCNQMxooLh7J459LosTJbo6xjlKDdo60H6KhzOXjSTwp4XCgNjWe1R5avsN6kDSuHfWS0Rvp4SbeLAJHAw/s400/10.jpg" width="230" /></a></div>
Die Menschen sprechen über ihre eigene Person immer derart, daß sie nur kleine Fehler zugeben, deren Geständnis die Aufmerksamkeit auf ihre bedeutenden Gaber oder trefflichen Eigenschaften hinlenkt. So beklagt man sich wohl über sein schlechtes Gedächtnis, höchst befriedigt von seinem tiefen Verstand und guten Urteil; man läßt sich den Vorwurf der Zerstreutheit und der Träumerei gefallen, als wenn man damit für einen Schöngeist erklärt würde; man sagt von sich, daß man zu Handarbeiten ungeschickt sei und tröstet sich über den Mangel so belangloser Talente mit seinen allseits bekannten Geistesgaben; man schilt sich selber bequem und will damit sagen, daß man uneigennützig und vom Ehrgeiz geheilt sei; man errötet nicht über seine Unsauberkeit, denn sie beruht ja auf Gleichgültigkeit gegenüber Nebensächlichem und ist ein Hinweis darauf, daß man sich nur mit Wesentlichem abgibt. Ein Offizier erzählt gern davon, wie er sich eines Tages aus Tatendrang oder Neugier, ohne Dienst und Befehl, in den vordersten Graben oder an eine andere gefahrvolle Stelle begeben habe, und er fügt hinzu, ihm sei von seinem General deshalb ein Verweis erteilt worden. So kann auch ein Mann von hohem Verstand und zielbewußtem Willen, der von Natur mit jener Klugheit bedacht ist, die andere Menschen vergeblich zu erwerben suchen; der seinen Geist durch eine große Erfahrung gestählt hat; den die Menge und Last, die Mannigfaltigkeit, Schwierigkeit und Wichtigkeit der Geschäfte wohl in Anspruch nehmen, doch nicht erdrücken; der mit der Weite seiner Einsicht und seinem Scharfblick alle Ereignisse meistert; der, weit entfernt, die Vorschriften zu Rate zu ziehen, die sich in Büchern über die Staatskunst finden, vielleicht zu jenen überragenden Geistern gehört, die von Natur zur Herrschaft über die andern begabt sind und jenen Regeln zum Vorbild gedient haben; den große Taten vom Schönen und Angenehmen abhalten, das er lesen könnte, und der Gewinn genug daraus zieht, sein eigenes Leben und Handeln, wenn ich so sagen darf, nachzuzeichnen und durchzublättern: ein solcher Mann kann leicht und ohne sich bloßzustellen sagen, daß er kein Buch kennt und niemals liest.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjnpHEhyphenhyphenKRmZgeM36-gnRaICuK3z2LWAIwD47fFvKKgAZp68yHbGoMd0QjhvPjY31SgGDzVZG7-chmqR8gzbmnlS7O3JbGziZksLC8fQ-qtmEKI8fXlDaGuvFHvLrWwBNnEhOwyQCfrfGU/s1600/11.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="864" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjnpHEhyphenhyphenKRmZgeM36-gnRaICuK3z2LWAIwD47fFvKKgAZp68yHbGoMd0QjhvPjY31SgGDzVZG7-chmqR8gzbmnlS7O3JbGziZksLC8fQ-qtmEKI8fXlDaGuvFHvLrWwBNnEhOwyQCfrfGU/s400/11.jpg" width="231" /></a></div>
Man will bisweilen seine schwachen Seiten verbergen oder die Meinung, die andre darüber haben, abmildern, indem man sie offen eingesteht. Mancher sagt: »Ich weiß nichts«, der wirklich unwissend ist; einer bekennt: »Ich bin ein alter Mann«‚ und er hat die Sechzig in der Tat überschritten; und ein anderer: »Ich bin nicht reich« und ist ein armer Teufel.<br />
<br />
Man meint nicht Bescheidenheit oder verwechselt sie mit etwas grundsätzlich anderem, wenn man sie für ein inneres Gefühl hält, das den Menschen in seinen eigenen Augen erniedrigt, und damit der übernatürlichen Tugend der Demut gleichsetzt. Von Natur denkt der Mensch hoch und stolz von sich selbst, aber nur von sich selbst: die Bescheidenheit verfolgt bloß den Zweck, daß niemand darunter leide; sie ist eine Tugend der Umgangsform, die Blick, Gang, Worte und Stimme zügelt und den Menschen die andern nach außen so behandeln läßt, als wenn er sie wirklich achtete. <br />
<br />
Die Welt ist voll von Leuten, die beim Vergleich, den sie bei sich selbst zwischen sich und andern anzustellen pflegen, stets zugunsten ihres eigenen Verdienstes entscheiden und demgemäß handeln.<br />
<br />
Ihr sagt, man solle bescheiden sein; wohlgeartete Menschen werden gerne damit einverstanden sein: sorgt nur dafür, daß man die nicht ausnutzt, die aus Bescheidenheit nachgeben, und die nicht niedertritt, die fügsam sind. <br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgxtrZnoHDPh6EovSB2tdXV00BTCyt7KRVM6qRGyvmysJ65LyjN2xFWtLxNepIOG3CtzumyoYsIbAuKeSRXhpMVR_N4g170GPcKvFk9_GEFi0IQE58XW4RsE6BDM1_bZ34g2Z5cVpl7-AQ/s1600/12.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="890" data-original-width="501" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgxtrZnoHDPh6EovSB2tdXV00BTCyt7KRVM6qRGyvmysJ65LyjN2xFWtLxNepIOG3CtzumyoYsIbAuKeSRXhpMVR_N4g170GPcKvFk9_GEFi0IQE58XW4RsE6BDM1_bZ34g2Z5cVpl7-AQ/s400/12.jpg" width="223" /></a></div>
Ebenso sagt man: »Man muß sich bescheiden kleiden.« Nichts ist Leuten von Verdienst willkommener; aber die Welt verlangt Putz, und man tut ihr den Gefallen; sie fordert überflüssigen Tand, und man weist ihn vor. Manche schätzen ihre Mitmenschen nur nach feiner Wäsche und reichen Gewändern ein; man kann nicht immer darauf verzichten, um solchen Preis geachtet zu werden. Bei gewissen Gelegenheiten ist man gezwungen, sich zu zeigen: eine breitere oder schmalere Goldborte entscheidet über Zutritt oder Abweisung.<br />
<br />
Eitelkeit und übertriebenes Selbstgefühl lassen uns bei andern einen Stolz uns gegenüber vermuten, der bisweilen vorhanden sein mag, ihnen oft aber fremd ist: ein bescheidener Mensch leidet nicht an dieser Empfindlichkeit.<br />
<br />
Wie man sich vor der Eitelkeit hüten muß, zu denken, daß andere uns mit Neugierde und Hochschätzung betrachten und sich nur von unseren Verdiensten unterhalten, so müssen wir auch ein gewisses Selbstvertrauen haben und nicht gleich glauben, man flüstere sich etwas ins Ohr, nur um uns Übles nachzureden, oder lache, um sich über uns lustig zu machen.<br />
<br />
Wie kommt es nur, daß <i>Alcipp</i> mich heute grüßt, mir zulächelt und sich aus der Kutsche stürzt, um mich ja nicht zu verfehlen? Ich bin doch nicht reich und gehe zu Fuß: er dürfte mich eigentlich nicht sehen. Ach, er will selbst gesehen werden, ich soll bemerken, daß er bei einem hohen Herrn im Wagen sitzt!<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhwkzdrS2B69vkd-EOs-TXyhiAZ8wba6gl3ok30yvYGtjJBUBbLFyJzgNRTUVwP03229y3DGXsxfvd7YtqCQbqWiMbfMDqtifdDIfHFuRShdtrRlrdVZJpG7QF_ZLq3Wibv309fgEBVvWQ/s1600/13.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; float: right; margin-bottom: 1em; margin-left: 1em;"><img border="0" data-original-height="855" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhwkzdrS2B69vkd-EOs-TXyhiAZ8wba6gl3ok30yvYGtjJBUBbLFyJzgNRTUVwP03229y3DGXsxfvd7YtqCQbqWiMbfMDqtifdDIfHFuRShdtrRlrdVZJpG7QF_ZLq3Wibv309fgEBVvWQ/s400/13.jpg" width="233" /></a></div>
Wir sind so von uns selbst erfüllt, daß alles sich auf uns beziehen muß: wir möchten gesehen und gegrüßt werden, selbst von Unbekannten: tun sie es nicht, so sind sie stolz; sie haben zu erraten, wer wir sind.<br />
<br />
Wir suchen unser Glück außer uns selbst in der Meinung der Menschen, die uns doch als schmeichlerisch, unaufrichtig, ungerecht, neidisch, Iaunisch und voreingenommen bekannt sind: welche Wunderlichkeit!<br />
<br />
Man sollte meinen, daß man eigentlich nur über lächerliche Dinge lachen könne: gleichwohl trifft man Leute, die über lächerliche wie ernste Dinge lachen. Seid ihr töricht und unüberlegt und entschlüpft euch in ihrer Gegenwart irgendeine Ungereimtheit, so lachen sie über euch; seid ihr verständig, sagt lauter gescheite Dinge und bringt sie im richtigen Ton vor, so lachen sie ebenfalls.<br />
<br />
Menschen, die uns unser Gut durch Gewalttat oder ungerechte Machenschaften rauben oder durch Verleumdung die Ehre abschneiden, geben gewiß deutlich zu erkennen, daß sie uns hassen; doch das heißt noch keineswegs, daß sie jede Achtung vor uns verloren haben: darum ist es wohl möglich, daß wir uns einmal mit ihnen aussöhnen und sie sogar unserer Freundschaft würdigen. Spott dagegen kann man von allen Beleidigungen am wenigsten verzeihen; denn er ist die Sprache der Verachtung und ihr unmißverständlichster Ausdruck; er greift die Menschen in ihrer innersten Verschanzung an, in ihrem Selbstgefühl; er sucht sie in ihren eigenen Augen lächerlich zu machen; und so kommt ihnen zum Bewußtsein, daß der andere die denkbar schlechteste Meinung von ihnen hat, und sie werden unversöhnlich.<br />
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<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjejWOyr7LJ4Nxlib7UucpjJyxd4Lek57VCQvAPQ0Xf3VDqQmtdxMauMScQnmLCsLqSqxXXqNMm6hCB7WULs8sLujwef5MeOirwQNrNcFXm0ANNFx_7zxLn8RntoSHzmCEW-AESexmHCc8/s1600/14.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="889" data-original-width="500" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjejWOyr7LJ4Nxlib7UucpjJyxd4Lek57VCQvAPQ0Xf3VDqQmtdxMauMScQnmLCsLqSqxXXqNMm6hCB7WULs8sLujwef5MeOirwQNrNcFXm0ANNFx_7zxLn8RntoSHzmCEW-AESexmHCc8/s400/14.jpg" width="223" /></a></div>
Unser Hang, über andre zu spotten, die Leichtfertigkeit, mit der wir sie herabsetzen und verachten, ist eine Ungeheuerlichkeit; genau wie unser Zorn gegen die, welche uns verspotten, tadeln und verachten. […]<br />
<br />
Ein Mann von Geist kennt keine Eifersucht gegenüber einem Handwerker, der einen guten Degen verfertigt, oder gegenüber einem Bildhauer, der eine schöne Statue vollendet hat: er weiß, daß es in diesen Künsten Regeln und Verfahren gibt, die sich nicht erraten lassen, daß man mit Werkzeugen muß umgehen können, deren Verwendung, Benennung und Aussehen ihm unbekannt sind; und der Gedanke, daß er ein bestimmtes Handwerk nicht gelernt hat, tröstet ihn schon, darin kein Meister zu sein. Wohl aber ist er des Neides‚ ja der Eifersucht gegenüber Ministern oder regierenden Herren fähig, als ob Vernunft und gesunder Verstand, die ihm mit jenen gemein sind, die einzigen Werkzeuge wären, mit denen man ein Land regiert und den Staatsgeschäften vorsteht, und als ob sie Regeln, Vorschriften und Erfahrung ersetzen könnten.<br />
<br />
Man begegnet selten völlig stumpfen und beschränkten Geistern, noch seltener überragenden und außergewöhnlichen. Die Mehrheit der Menschen schwebt zwischen diesen beiden Extremen. Der Zwischenraum wird ausgefüllt durch eine große Zahl durchschnittlicher Talente, die aber sehr brauchbar sind, dem Staat Dienste leisten und das Nützliche und Angenehme verkörpern: wie Handel, Finanzen, Kriegsdienst, Schiffahrt, Kunst und Handwerk, gutes Gedächtnis, Sinn für Spiel, für Gesellschaft und Unterhaltung. […]<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: Jean de La Bruyère: Die Charaktere oder Die Sitten des Jahrhunderts. Übertragen von Gerhard Hess. (Sammlung Dieterich, Band 43.) Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Leipzig, ohne Jahr (ca. 1962) Zitiert wurden Auszüge aus dem Kapitel "Vom Menschen".</i></span><br />
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<b>Link-Tipp</b><br />
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Die Abbildungen stammen aus<a href="http://www.bvh.univ-tours.fr/Consult/consult.asp?numtable=B372616101%5F3540%5F2&numfiche=62&mode=3&ecran=0&offset=10"> Desprez, François: Les Songes drolatiques de Pantagruel. A Paris, Par Richard Breton 1565</a> und sind online verfügbar. <a href="http://bibliodyssey.blogspot.com/2006/06/pantagruel-ii.html">Den Tipp verdanke ich dem sensationellen Blog BiblOdyssey</a>, das ich schon des öfteren durchsucht habe, wenn es mir an geeigneten Bildern mangelte. Ich wurde noch immer fündig - Beispiele hier: <a href="http://bibliodyssey.blogspot.com/2005/12/physiognomy-of-trade.html">2005-12</a> <a href="http://bibliodyssey.blogspot.com/2006/11/mirror-of-folly.html">2006-11</a> <a href="http://bibliodyssey.blogspot.com/2009/09/waiter-theres-hair-in-my-satire.html">2009-09</a> <a href="http://bibliodyssey.blogspot.com/2012/07/the-fairy-ballet-carnival.html">2012-07</a><br />
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<b><i>Und es hat noch mehr ausgewählte Musik in der Kammermusikkammer:</i></b> <br />
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<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/09/chausson-poeme-de-lamour-et-de-la-mer.html">Chausson: Poème de l’amour et de la mer – Chanson perpétuelle - Mélodies | Ambrose Bierce: Aus dem Wörterbuch des Teufels.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/09/henri-duparc-1848-1933-lieder.html">Henri Duparc (1848-1933): Lieder | "A cold coming we had of it, Just the worst time of the year..." Heines andere Winterreise.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/07/gabriel-faure-integrale-des-melodies.html">Gabriel Fauré: Intégrale des Mélodies | Marcus Aurelius Antoninus: Lehrjahre eines Philosophen.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2015/01/jesous-ahatonhia-charpentiers.html">»Jesous ahatonhia« - Charpentiers Christmette von 1694 mit huronischem Noël | Ernst Haas: Wien, 1947.</a><br />
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<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/04/brahms-ein-deutsches-requiem-klemperer.html">Brahms: Ein deutsches Requiem (Klemperer, Schwarzkopf, Fischer-Dieskau) | Karl Vossler: Puristische und Fragmentarische Kunstkritik.</a></b><br />
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<a href="https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Lili-Boulanger-1893-1918-Clairieres-dans-le-Ciel/hnum/4225290"><b>CD bestellen bei JPC</b></a> <br />
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<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 18 MB </b><br />
<b><a href="http://www.embedupload.com/?d=0IDICRHRQI" rel="nofollow">embedupload</a> --- <a href="https://mega.nz/#!voZxzYha!xyvxEe5EEsPqaK2G32aaLQaz-sS46aqdE55L0TjjMz8" rel="nofollow">MEGA</a> --- <a href="http://depositfiles.com/files/sdhukpf65" rel="nofollow">Depositfile</a> </b><br />
<span style="background-color: #b6d7a8;">Unpack x366.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+CUE+LOG files [67:10] 3 parts 201 MB </span><br />
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<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com1tag:blogger.com,1999:blog-8423902197177347289.post-82395297936832364752019-07-05T11:03:00.002+02:002019-07-05T11:03:22.369+02:00Adolf Busch: Violinsonate op. 56, Klaviertrio op. 15 <div class="separator" style="clear: both; text-align: center;">
<a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgVacL_qIvQt-KSfdwtpMCl8mu2tIkEC7rlj5OLv11JnILaWTuOnpogYWnZUog2i_pKtA_5O_Xmgiksw2806J9tQwIn-5mm6aSwb6gYt-rmXP1_pN1o-ntdKeThOYUX5zwaNM5pEHSz_tU/s1600/Cover.jpeg" imageanchor="1" style="clear: left; float: left; margin-bottom: 1em; margin-right: 1em;"><img border="0" data-original-height="1404" data-original-width="1408" height="319" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgVacL_qIvQt-KSfdwtpMCl8mu2tIkEC7rlj5OLv11JnILaWTuOnpogYWnZUog2i_pKtA_5O_Xmgiksw2806J9tQwIn-5mm6aSwb6gYt-rmXP1_pN1o-ntdKeThOYUX5zwaNM5pEHSz_tU/s320/Cover.jpeg" width="320" /></a></div>
„Es sieht wirklich so aus, dass ich nicht mehr daran denken kann, wie bisher in der Welt herumzureisen und Konzerte zu geben. Das ist ja nun weiter nicht so schlimm, denn ich habe es ja 43 Jahre lang getan und kann nun (endlich) das einmal tun, was ich mir immer gewünscht habe: nach Herzenslust Noten schreiben.“<br />
<br />
1952 schrieb Adolf Busch diese Worte, sein Wunsch sollte sich jedoch nicht mehr erfüllen. Zwar vermochte er noch, die Komposition und Reinschrift des <i>Sechsten Psalm für Chor, Orchester und Orgel op. 70</i> abzuschließen. Doch drei Tage nach der Fertigstellung der Partitur starb der 61jährige in Guilford im US-Staate Vermont.<br />
<br />
An diesem 9. Juni 1952 endete eine glanzvolle Karriere, der man das Attribut schillernd nur deshalb verweigern möchte, weil es zu sehr mit dem Beigeschmack des Virtuosentums und der Starallüren gewürzt ist. Selbst bei großzügigster Auslegung hätte man nichts von alledem auf Adolf Busch anwenden können. Er beherrschte sein geigerisches Handwerk mit einer solchen Brillanz, dass er sogar das überdimensionierte und auch heute noch weithin unverstandene <i>Violinkonzert A-dur op. 101</i> von Max Reger im Repertoire hatte und als Gründer des legendären Busch-Quartetts die interpretatorischen Zügel so fest in der Hand hielt, wie es sich für einen Primarius schickt: mit dem Pianisten Rudolf Serkin, der 1939 sein Schwiegersohn wurde, verband ihn eine jener Traumpartnerschaften, die Musikgeschichte schrieben; sogar als Leiter eigener Kammerensembles konnte er seine künstlerischen Vorstellungen auf eine Weise realisieren, die allgemeine Anerkennung fanden. <br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEicn03FiZau7ZZ0dORWQUQ4oTJOxZ2HqPQ1fyrYcc1infFafawsu60ev-_EOT0603ZuICLNjqS4hdb62ZmAF8zNC_YDVCC1ii7wjx8mKmzVH2cN3uYSZFwJHjq6yFp015tD-IZ1xF1VGf8/s1600/1.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="720" data-original-width="1280" height="225" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEicn03FiZau7ZZ0dORWQUQ4oTJOxZ2HqPQ1fyrYcc1infFafawsu60ev-_EOT0603ZuICLNjqS4hdb62ZmAF8zNC_YDVCC1ii7wjx8mKmzVH2cN3uYSZFwJHjq6yFp015tD-IZ1xF1VGf8/s400/1.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Adolf Busch in jugendlichen Jahren</td></tr>
</tbody></table>
Bei all dieser erstaunlichen Vielseitigkeit kommt man aber nicht umhin, eine Qualität besonders herauszustellen, die zwar keine zuvorderst musikalische ist, die aber vielleicht erklärt, warum Busch sich auf seinem ureigensten Gebiet so überzeugend behaupten konnte: Seine menschliche Integrität (eine Eigenschaft, die je nach dem Naturell kritischer Zeitgenossen entweder als „Kompromisslosigkeit“ oder als „Egoismus“ bezeichnet wird). Diese Integrität war so bewundernswert, nein, beneidenswert ausgeprägt, dass ein Abweichen vom selbst gewählten Weg ebenso wenig möglich war wie vordergründig publikumswirksamer Glitzerschmuck.<br />
<br />
Man bedenke, dass Adolf Busch schon im April 1933 aufgrund der einsetzenden Judenverfolgungen sämtliche deutschen Konzertverpflichtungen absagte und allen Lockrufen des Nazi-Regimes widerstand. dem natürlich daran gelegen war, den prominenten Musiker für ihre Propaganda-Maschinerie zu missbrauchen.<br />
<br />
Busch, der bereits 1927 seinen Wohnsitz nach Basel verlegt hatte, ließ sich nicht fangen. Vielmehr gab er fünfeinhalb Jahre nach der Machtergreifung in Deutschland auch den Italienern den Abschied, zu dem er sich „durch die unwürdige Nachahmung der barbarischen Judengesetze des Dritten Reiches“ veranlasst sah. Und wieder ein Jahr später (1939) wanderte die Familie Busch-Serkin nach Amerika aus.<br />
<br />
Diesen spektakulären Maßnahmen eines unbeugsamen Geistes stehen zahllose Beispiele des Musikers zur Seite. Nachdem Adolf Busch als Schüler des Kölner Konservatoriums 1909 Max Reger kennen gelernt und ein Jahr später unter dessen Leitung das vermeintlich kaum aufführbare Violinkonzert in Berlin gespielt hatte, veranstalteten der Komponist und sein Interpret immer wieder kammermusikalische Konzerte, die um die gemeinsamen Favoriten Bach und Brahms kreisten. Während sich aber Reger im Umgang mit dem Originaltext „schöpferische“ Freiheiten nahm, bestand Busch so nachdrücklich auf der Beachtung der Noten, dass es zwischen schwächeren Gemütern wohl zum endgültigen Bruch gekommen wäre.<br />
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<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: left; margin-right: 1em; text-align: left;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh23CoEYEdBUwcG2-OAjf0axbWN76SfEVdOoAX_SATUjL8c2plixT_y2rlqmnMM9DBusbnZ0bUN7p39D3jsJFgUcwca7pAlDKKe0fpjLJDA3H813M_QL9swZiHuPGhogtLguXdb1EF7swg/s1600/2.jpg" imageanchor="1" style="clear: left; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1260" data-original-width="1000" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh23CoEYEdBUwcG2-OAjf0axbWN76SfEVdOoAX_SATUjL8c2plixT_y2rlqmnMM9DBusbnZ0bUN7p39D3jsJFgUcwca7pAlDKKe0fpjLJDA3H813M_QL9swZiHuPGhogtLguXdb1EF7swg/s400/2.jpg" width="316" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Adolf Busch (1891-1952)</td></tr>
</tbody></table>
Als Franz Schreker 1922 zum Direktor der Berliner Musikhochschule ernannt wurde, legte Adolf Busch, der 1918 als Professor an das renommierte Institut berufen worden war, sein Amt nieder - wie es heißt, weil er mit der kompositorischen Ästhetik des neuen Vorgesetzten nichts anfangen konnte. Sollte das tatsächlich der Grund für den vorzeitigen Abschied des damals 31-jährigen aus dem Hochschuldienst gewesen sein, so wäre auch dieser Schritt zwar ein Ausdruck seiner konsequent gewährten Integrität gewesen; gleichwohl müsste man fragen, ob er hier nicht einer „Stimmungsmache“ aufgesessen ist: Denn der damalige Erfolg des Opernkomponisten Schreker war etlichen Kollegen ein Dorn im Auge, und hatte offenbar genügt, ihn fälschlicherweise als „Neutöner“ à la Schönberg zu verteufeln und das Schreckgespenst der „Neuen Musik“ an die Wände der Unterrichtsräume zu malen, um das gewünschte Klima zu erzeugen.<br />
<br />
Adolf Buschs prophylaktische Ablehnung Schrekers wäre - sofern sie denn der Wahrheit entspricht - desto verwunderlicher, als er selbst in seinen Kompositionen nicht eben ein Kind tonaler Traurigkeit war. Gewiss, seine eigenen schöpferischen Wurzeln hatte er in einen anderen, scheinbar traditionelleren Boden geschlagen. Doch wer wollte behaupten, dass das Vorbild Max Reger, das auf Buschs Schaffen einen erheblichen Einfluss ausgeübt hat, sich noch unterwürfig an die althergebrachten harmonischen Gesetze gehalten habe - nur weil er sich als Kontrapunktiker und nicht als Farbenkünstler des Fin de siècle gebärdete?<br />
<br />
Ein geradezu rigoroser Kontrapunktiker war auch Adolf Busch. Der Kompositionsschüler von Fritz Steinbach und Hugo Grüters (seinem späteren Schwiegervater) präsentierte sich schon früh auf Max Regers Spuren - so in seinen <i>Variationen und Fuge über ein Thema von Franz Schubert für zwei Klaviere op. 2</i> (1909) oder mit <i>Praeludium und Passacaglia für zwei Violinen und Klavier op. 4</i> (1912).<br />
<br />
Das in den Jahren 1918 und 1919 entstandene, äußerlich traditionell viersätzige <i><b>Klaviertrio op. 15</b></i> enthält sich nun ebenso wenig der radikalen Linienführung wie jener tonalen Ausflüge, die eine Fülle zusätzlicher Vorzeichen erforderlich machen, weil sie - kaum dass die Musik begonnen hat - mit unbändiger Kraft aus dem Rahmen des vorab umrissenen Tonraumes hinausdrängt, ganz so, als ob die Wahrung der Einzelstimmen wiederum eine Frage der persönlichen lntegrität sei. Dabei sind die grundlegenden Motive der Entwicklung durchaus einfacher Natur; ihre Schichtung aber und komplexe assoziative Verflechtung resultieren in Gebilden, die ihre eigene Modernität nicht verbergen können.<br />
<br />
<table cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="float: right; margin-left: 1em; text-align: right;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEguf519Xo4jThmN8eYUwabqnXZg0s5XcN_bTMdK5l10-LcMECoKDqAORH2v6Ooc2nxg_2AmUbgWkgVYmCFWAgpAqNAWX16HMgJd01WA_G3THcdbKTak-OlwWJ93o_Jd-D9BSq8vU-zrbcg/s1600/3.jpg" imageanchor="1" style="clear: right; margin-bottom: 1em; margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="558" data-original-width="994" height="223" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEguf519Xo4jThmN8eYUwabqnXZg0s5XcN_bTMdK5l10-LcMECoKDqAORH2v6Ooc2nxg_2AmUbgWkgVYmCFWAgpAqNAWX16HMgJd01WA_G3THcdbKTak-OlwWJ93o_Jd-D9BSq8vU-zrbcg/s400/3.jpg" width="400" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Das Busch-Quartett: Adolf Busch (1.Violine), Gösta Andreasson (2.Violine),<br />
Hermann Busch (Cello), Karl Doktor (Viola).</td></tr>
</tbody></table>
An seinen persönlichen Vorstellungen von der Tonalität hat Adolf Busch augenscheinlich bis zuletzt festgehalten, wie die in Klammern vermerkte Tonart a—moll der <i><b>zweiten Violinsonate</b></i> (1941) verrät. Zugleich aber zeigt sich in dieser - wiederum viersätzigen - Partitur eine gewisse kontrapunktische Ausdünnung, ein über weitere Strecken quasi akkordischer Klaviersatz, der freilich auf geradezu virtuose Eskapaden namentlich im variationshaltigen <i>Adagio ed espressivo</i> und im <i>Finale Allegretto amabile</i> nicht verzichtet. Zwischen diesen beiden Sätzen steht ein <i>Scherzo in Des</i>, das als Muster inspirierter Einfachheit demonstriert, wie weit sich Adolf Busch aus dem kontrapunktischen Dickicht seines Vorbildes gelöst hatte. <br />
<br />
Dazu passt auch. dass er just zur Zeit der zweiten Violinsonate mit seinem Bruder Fritz die Aufführung des Regerschen Violinkonzertes plante und zu diesem Zwecke eine Bearbeitung herstellte‚ die nicht auf die sonst üblichen Kürzungsversuche setzte, sondern statt dessen die Auflichtung der polyphonen Geflechte zum Ziele hatte. Und erneut zeigt sich der integre Umgang mit den Noten anderer: Busch ließ sich von den Tempoangaben des Komponisten leiten, die - wären sie in der Originalfassung realisierbar gewesen - das Werk beinahe 15 Minuten „kürzer“ gemacht hätten und jetzt, nach der Ausforstung des instrumentalen „Unterholzes“ tatsächlich zu verwirklichen waren: Ohne einen Schnitt in die Erfindung zu führen, vollbrachte er das Kunststück, die Partitur, die Reger selbst gegen Ende seines Lebens verleidet war, im Sinne ihres Erfinders zu durchleuchten.<br />
<br />
So profitierte posthum der Ältere von der Entwicklung, die der Jüngere im Laufe seiner eigenen Entwicklung genommen hatte. Umgekehrt dürfte Buschs Schaffen heute seinen Nutzen aus der Reger-Renaissance der jüngsten Zeit ziehen und posthum zumindest zu einigen Ehren kommen. Zu entdecken gäbe es wahrlich genug.<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;"><i>Quelle: EvH, im Booklet</i></span><br />
<br />
<br />
<pre>TRACKLIST
Adolf Busch (1891-1952)
Trio for Piano; Violin and Cello in A minor (a-moll) op. 15
1 Allegro agitato 9'00
2 Scherzo. Vivace - Molto meno mosso 4'35
3 Largo 6'47
4 Finale. Allegro moderato, ma con fuoco 6'42
Violin Sonata No.2 in A minor (a-moll) op. 56
5 Allegro ma non troppo 9'08
6 Adagio ed espressivo 5'30
7 Molto vivace. quasi Presto 2'13
8 Allegretto amabile 9'13
Total Time: 53'50
Gottfried Schneider Violin
Christian Brunnert, Cello
Dieter Lallinger, Piano (1-4)
Alfons Kontarsky, Piano (5-8)
Recorded: V. 1993 (1-4) | V. 1990 (5-8), Studio 3 BR
Producer/Tonmeister: Michael Kempff (1-4) | Jörg Moser (5-8)
Balance Engineer/Toningenieur: Peter Jütte (1-4) | Alfons Seebacher (5-8)
(P)+(C) 2003
</pre>
<br />
<br />
<b><span style="color: red;"><span style="font-size: x-large;">Emily Dickinson</span></span></b><br />
<br />
<b><span style="font-size: large;">17 Gedichte - und eines</span></b><br />
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh71jsfmu2ExdGCdajSYvSq08s4coyc5BgR2ycM4UQyy0zgqrjT3gEQ_dBsz00ES34TpfzLRB30yP1Ziq53CT86UsrdHZDNYUqWn4vueDlpNLEjqTVtc8lTU_t_bzfxod0RIMLCQ3pXLzk/s1600/1.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="980" data-original-width="800" height="640" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEh71jsfmu2ExdGCdajSYvSq08s4coyc5BgR2ycM4UQyy0zgqrjT3gEQ_dBsz00ES34TpfzLRB30yP1Ziq53CT86UsrdHZDNYUqWn4vueDlpNLEjqTVtc8lTU_t_bzfxod0RIMLCQ3pXLzk/s640/1.jpg" width="521" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Daguerreotype taken at Mount Holyoke, December 1846 or early 1847;<br />
the only authenticated portrait of Emily Dickinson after childhood</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>I never lost as much but twice -
And that was in the sod.
Twice have I stood a beggar
Before the door of God!
Angels - twice descending
Reimbursed my store -
Burglar! Banker - Father!
I am poor once more!
</pre>
</td><td><pre>Schon zweimal nahm das Grab mir
So viel wie nie zuvor.
Schon zweimal stand ich bettelnd
Vor Gottes Himmelstor!
Schon zweimal haben Engel
Mich wieder ausstaffiert -
Räuber! Banker - Vater!
Bin wieder ruiniert!
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[39]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>I’ll tell you how the Sun rose -
A Ribbon at a time -
The Steeples swam in Amethyst -
The news, like Squirrels, ran -
The Hills untied their Bonnets -
The Bobolinks - begun -
Then I said softly to myself -
»That must have been the Sun«!
But how he set - I know not -
There seemed a purple Stile
That little Yellow boys and girls
Were climbing all the while -
Till when they reached the other side -
A Dominie in Gray -
Put gently up the evening Bars -
And led the flock away -
</pre>
</td><td><pre>Ich sag dir wie die Sonne aufging -
Ein Band jeweils erschien -
In Amethyst die Türme schwammen -
Die Kunde davon sprang
Wie Eichkätzchen - die Berge
Nun barhaupt - Vogelsang -
Da sagte ich mir leis - »Das muss
Das Werk der Sonne sein!«
Doch wie sie sank - Ich weiß nicht -
Da war ein Purpurzaun
Wo Jungen, Mädchen, klein und gelb
Wild kletterten herum -
Bis sie hinüber fanden -
Ein Grauer Pastor kam -
Sacht Abendschranken setzte - und
Die Herde mit sich nahm -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[204]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhFld1fD-6dv7rSF-9ukTiQf9rBXE7nf-aFF3BIS5EzSIsPBzIEYpYWinYLU9y-3ehdsGmZLUL-gpgMdibE-nh6Aano5zooGRwbyWY5k4TNVYRSzfrB7yeT_D0zhmoxcB0HFuTYK40kgTs/s1600/2children_painting.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="600" data-original-width="502" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhFld1fD-6dv7rSF-9ukTiQf9rBXE7nf-aFF3BIS5EzSIsPBzIEYpYWinYLU9y-3ehdsGmZLUL-gpgMdibE-nh6Aano5zooGRwbyWY5k4TNVYRSzfrB7yeT_D0zhmoxcB0HFuTYK40kgTs/s400/2children_painting.jpg" width="334" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Emily Elizabeth, Austin, and Lavoinia Dickinson <br />
by Otis Allen Bullard, oil on canvas, ca. 1840, <br />
Houghton Library, Harvard University</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>How the old Mountains drip with Sunset
How the Hemlocks burn -
How the Dun Braked is draped in Cinder
By the Wizard Sun -
How the old Steeples hand the Scarlet
Till the Ball is full -
Have I the lip of the Flamingo
That I dare to tell?
Then, how the Fire ebbs like Billows -
Touching all the Grass
With a departing - Sapphire - feature -
As a Duchess passed -
How a small Dusk crawls on the Village
Till the Houses blot
And the odd Flambeau, no men carry
Glimmer on the Street -
How it is Night - in Nest and Kennel -
And where was the Wood -
Just a Dome of Abyss is Bowing
Into Solitude -
These are the Visions flitted Guido -
Titian - never told -
Domenichino dropped his pencil -
Paralyzed, with Gold -
</pre>
</td><td><pre>Wie Abendrot die Berge badet
Wie der Tann erglüht -
Wie Magier Sonne Unterholz
Mit Zunder überzieht -
Wie alte Türme Scharlach schenken
Bis der Ball ist voll -
Hab ich die Lippen des Flamingo
Dass ich davon erzähl?
Dann‚ wie das Feuer wogt und ebbend
Hinwellt übers Grün
Mit einem letzten - Saphirzeichen -
Wie eine Herzogin -
Wie leichtes Düstern übers Dorf zieht
Bis Häuser sind ein Fleck
Und in den Straßen Fackeln schimmern,
Die keine Hand dort trägt -
Wie’s nachtet jetzt - in Heim und Höhle -
Und wo der Wald stand einst -
Sich rundgewölbt ein Abgrund öffnet
In die Einsamkeit -
Diese Bilder flohen Guido -
Tizian - schwieg davon -
Domenichino warf den Stift hin -
War gelähmt, von Gold -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[327]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>How noteless Men, and Pleiads, stand
Until a sudden sky
Reveals the fact that One is rapt
Forever from the eye -
Memhers of the Invisible,
Existing, while we stare,
In Leagueless Opportunity,
O’ertakeless, as the Air -
Why did’nt we detain Them?
The Heavens with a smile,
Sweep by our disappointed Heads,
Without a syllable -
</pre>
</td><td><pre>Wie unbemerkt stehn Mensch, und Stern
Da offenbart der Himmel
Per Handstreich, dass uns Einer fehlt
Dem Aug geraubt für immer -
Die Mitglieder des Unsichtbaren,
Sind, wie wir starren, da
In Meilenloser Möglichkeit
Wie Luft, nicht einholbar -
Wir hielten sie nicht auf - warum?
Die Himmel lächeln milde,
Wehn uns um die enttäuschten Köpfe,
Ohne eine Silbe -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[342]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhHRj9UmWst3_2GWrjSyboybe0v5T5mR85fM3Nsv2t8rgcm4Ztg_vn15uP5cUC29xe8C2TlreLjjwkLmT2GI4doWA9r7erKAgR0QY237Ixo8ItyMRIj5pu-YZe3w6kXuOoJJ5xo_CxZ010/s1600/3.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1152" data-original-width="768" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhHRj9UmWst3_2GWrjSyboybe0v5T5mR85fM3Nsv2t8rgcm4Ztg_vn15uP5cUC29xe8C2TlreLjjwkLmT2GI4doWA9r7erKAgR0QY237Ixo8ItyMRIj5pu-YZe3w6kXuOoJJ5xo_CxZ010/s400/3.jpg" width="266" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">A possible portrait of Emily Dickinson</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>This World is not conclusion.
A Species stands beyond -
Invisible, as Music -
But positive, as Sound -
It beckons‚ and it baffles -
Philosophy, dont know -
And through a Riddle, at the last -
Sagacity, must go -
To guess it‚ puzzles scholars -
To gain lt, Men have borne
Contempt of Generations
And Crucifixion, shown -
Faith slips - and laughs, and rallies -
Blushes, lf any see -
Plucks at a twig of Evidence -
And asks a Vane, the way -
Much Gesture, from the Pulpit -
Strong Hallelujahs roll -
Narcotics cannot still the Tooth
Than nibbles at the soul -
</pre>
</td><td><pre>Die Welt ist nicht der Schluss.
Weil drüben Etwas wohnt
Unsichtbar, wie Musik -
So wirklich, wie ein Ton -
Das winkt und nasführt uns -
Philosophie, weiß nichts -
Und durch ein Rätsel muss hindurch
Am Ende - auch der Witz -
Es raten, macht Gelehrte wirr -
Es zu ergreifen, trug
So mancher der Geschlechter Hohn
Das Mal der Kreuzigung -
Der Glaube rutscht - lacht, sammelt sich -
Wird rot, wenn’s einer sah -
Zupft an dem Zweig der Evidenz -
Geht nach der Wetterfahn -
Gefuchtel, von der Kanzel -
Macht Hallelujas stark -
Kein Opium bringt den Zahn zur Ruh
Der an der Seele nagt -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[373]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>I had been hungry, all the Years -
My Noon had Come - to dine -
I trembling drew the Table near -
And touched the Curious Wine -
'Twas this on Tables I had seen -
When turning, hungry, Home
I looked in Windows, for the Wealth
I could not hope - for Mine -
I did not know the ample Bread -
'Twas so unlike the Crumb
The Birds and I, had often shared
In Nature’s - Dining Room -
The Plenty hurt me - ’twas so new -
Myself felt ill - and odd -
As Berry - of a Mountain Bush -
Transplanted - to the Road -
Nor was I hungry - so I found
That Hunger - was a way
Of persons Outside Windows -
The entering - takes away -
</pre>
</td><td><pre>Ich hatte Hunger, all die Jahre -
Doch nun - mein Mittag kam -
Den Tisch zog bebend ich heran
Nahm vom Speziellen Wein -
’s war der, den aufgetischt ich sah -
Wenn ich ging hungrig Heim
In Fenster spähend, nach dem Reichtum
Der niemals würde - Mein -
Brotüberfluss - das kannt ich nicht
Ich kannte Krümel nur
Die mit den Vögeln ich geteilt
Am Esstisch - der Natur -
Die Fülle tat mir weh - war neu -
Krank fühlt ich mich - bizarr -
Verpflanzt auf Straßen wie die Beere
Die einst Gebirgsbusch war -
War auch nicht hungrig - und ich fand
Dass Hunger etwas war
Das Leute nur vor Fenstern kriegen -
Beim Reingehn - nicht mehr da -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[439]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgsHpOi8l-H6h6YSHGcJigf9Tl6r3fHC0hXyMJZTFoFu7QfhzJXJbg4KEFEAp1iIUvGL9oo2E10v3SHBx6qJHrcjqWDtihHb6h-Dk5SCgXE9-w6ScY7H5NDZI7htphmeG-IzaBfL0VzHXQ/s1600/4.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="515" data-original-width="330" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgsHpOi8l-H6h6YSHGcJigf9Tl6r3fHC0hXyMJZTFoFu7QfhzJXJbg4KEFEAp1iIUvGL9oo2E10v3SHBx6qJHrcjqWDtihHb6h-Dk5SCgXE9-w6ScY7H5NDZI7htphmeG-IzaBfL0VzHXQ/s400/4.jpg" width="256" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Another possible portrait of Emily Dickinson</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>I dwell in Possibility -
A fairer House than Prose -
More numerous of Windows -
Superior - for Doors -
Of Chambers as the Cedars -
Impregnable of eye -
And for an everlasting Roof
The Gambrels of the Sky -
Of Visitors - the fairest -
For Occupation - This -
The spreading wide my narrow Hands
to gather Paradise -
</pre>
</td><td><pre>Ich wohne in der Möglichkeit -
Und nicht im Prosahaus -
Sie ist an Fenstern reicher -
Hat Türen - übergroß -
Und Zimmer wie die Zedern -
Von keinem Blick durchschaut -
Als ewges Dach der Himmel
Die Giebel drüber baut -
Besuch - der allerschönste -
Beschäftigung - nur Dies -
Ich spreiz die schmalen Hände weit
Und fass das Paradies -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[466]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>Because I could not stop for Death -
He kindly stopped for me -
The Carriage held but just Ourselves -
And Immortality.
We slowly drove - He knew no haste
And I had put away
My labor and my Ieisure too,
For His Civility -
We passed the School, where Children strove
At Recess - in the Ring -
We passed the Fields of Gazing Grain -
We passed the Setting Sun -
Or rather - He passed Us -
The Dews drew quivering and Chill -
For only Gossamer, my Gown -
My Tippet - only Tulle -
We paused before a House that seemed
A Swelling of the Ground -
The Roof was scarcely visible -
The Cornice - in the Ground -
Since then - ’tis Centuries - and yet
Feels shorter than the Day
I first surmised the Horses’ Heads
Were toward Eternity -
</pre>
</td><td><pre>Weil ich belm Tod nicht halten konnt -
Stand freundlich er bereit -
Die Kutsche trug Uns beide nur -
Und die Unsterblichkeit -
Gemächlich ging's - Ihm eilt es nicht -
Und ich tat ab von mir
Mein Mühen und mein Müßiggehn,
Da Er so höflich war -
Am Schulhof, wo die Kinderschar
In Pausenspielen - rang -
Vorbei - es Starrt das Korn - vorbei -
Am Sonnenuntergang -
Vielmehr - Der ging an Uns vorbei -
Der Tau ?el schaudernd Kühl -
Nur ein Gespinst war mein Gewand -
Mein Umhang - bloß aus Tüll -
Wir machten Halt vor einem Haus
Das wölbte sich im Grund -
Das Dach war kaum zu sehn - Gesims -
Lag tief schon unterm Grund -
Jahrhunderte ist’s her - und scheint
Doch kürzer als die Zeit
Da ich drauf kam - die Pferdeköpfe
Sehn Richtung Ewigkeit -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[479]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjMn-dzHwG7-ysAMaLZWybtjyQ6J446Phd8D0fLcEeu7PJ8VaSJMwP2CFFFGSzkMXKMuKqNhptktDjEM40SxWFrzEjkGVytBAxBnUL178n2ek9YDR1oveaTRqnfOUBu4Dgs-0Zf0SKxoHA/s1600/5Wild_nights.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1024" data-original-width="724" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjMn-dzHwG7-ysAMaLZWybtjyQ6J446Phd8D0fLcEeu7PJ8VaSJMwP2CFFFGSzkMXKMuKqNhptktDjEM40SxWFrzEjkGVytBAxBnUL178n2ek9YDR1oveaTRqnfOUBu4Dgs-0Zf0SKxoHA/s400/5Wild_nights.jpg" width="282" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Handwriting manuscript of Emily Dickinson<br />
of her poem "Wild nights, wild nights". </td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>A precious - mouldering pleasure - ’tis -
To meet an Antique Book -
In just the Dress his Century wore -
A privilege - I think -
His venerable Hand to take -
And Warming in our own -
A passage back - or two - to make -
To Times when he - was young -
His quaint opinions - to inspect -
His thought to ascertain
On Themes concern our mutual mind -
The Literature of Man -
What interested Scholars - most -
What Competitions ran -
When Plato - was a Certainty -
And Sophocles - a Man -
When Sappho - was a living Girl -
And Beatrice wore
The Gown that Dante - deified -
Facts Centuries before
He traverses - familiar -
As One should come to Town -
And tell you all your Dreams - were true -
He lived - where Dreams were born -
His presence is enchantment -
You beg him not to go -
Old Volumes shake their Vellum Heads
And tantalize - just so -
</pre>
</td><td><pre>Ein kostbar - modriges Vergnügen -
Zu sehn ein Altes Buch -
Im Kleid seines Jahrhunderts -
Ein Privileg - denk ich -
Die ehrwürdige Hand zu fassen -
Dass unsre sie erwärmt -
Und ein - zwei Rückreisen zu tun -
In seine Jugendzeit -
Sein kurioses Urteil - prüfen -
Sein Denken zu erkunden
Zu Themen die uns alle angehn -
Die Literatur des Menschen -
Was die Gelehrten fesselte -
Was für ein Wettkampf lief -
Als Plato sichre Größe - und
Ein Mann war - Sophokles -
Als Sappho - junges Mädchen war -
Und Beatrice getragen
Das Kleid das Dante - heilig sprach -
Stoff von viel hundert Jahren
Durchquert das Buch - vertraut -
Als käme Einer her -
Der lebte - als das Träumen aufkam -
Und nennt dein Träumen - wahr -
Seine Präsenz ist magisch -
Du bittest ihn - so bleib -
Den Pergamentkopf schütteln Bücher
So - foltert uns ihr Reiz -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[569]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>The Way l read a Letter's - this -
'Tis first - I lock the Door -
And push it with my fingers - next -
For transport it be sure -
And then I go the furthest off
To counteract a knock -
Then draw my little Letter forth
And slowly pick the lock -
Then - glancing narrow, at the Wall -
And narrow at the floor
For firm Conviction of a Mouse
Not exorcised before -
Peruse how infinite I am
To no one that You - know -
And sigh for lack of Heaven - but not
The Heaven God bestow -
</pre>
</td><td><pre>Auf <i>die</i> Art les ich einen Brief -
Den Riegel schieb ich erst -
Dann - um Transport und Rausch zu sichern -
Wird nochmals nachgefasst -
Dann lauf ich fort so weit es geht -
Vergeblich einer klopft -
Zieh meinen Brief vor, langsam wird
Das Siegel aufgezupft -
Dann - inspiziere ich den Boden -
Erforsche auch die Wand -
Und bin gewiss - hier hat man eine
Maus noch nicht verbannt -
Dann les ich, les wie grenzenlos
Ich bin für - Unbekannt -
Dem Himmel seufz ich nach - doch nicht
Nach dem, den Gott bewohnt -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[700]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjW5PINfDKHm2DKJb1ICFQfJmWuBaaH_zA1dpJwl_wvcLblhDV7z6z2_C3Ybox9nzPK9ilZfWFXO6pF8hnxV1CkOZ9P2NejkHqD_8t8iVTnpQqYdV6i8727RiTctolwHHBvtpGSeQbl8TY/s1600/6onaletter.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="573" data-original-width="411" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEjW5PINfDKHm2DKJb1ICFQfJmWuBaaH_zA1dpJwl_wvcLblhDV7z6z2_C3Ybox9nzPK9ilZfWFXO6pF8hnxV1CkOZ9P2NejkHqD_8t8iVTnpQqYdV6i8727RiTctolwHHBvtpGSeQbl8TY/s400/6onaletter.jpg" width="285" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">One of Emily Dickinson's poems<br />
written on an envelope.</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>As imperceptibly as Grief
The Summer lapsed away -
Too imperceptible at last
To seem like Perfidy -
A Quietness distilled
As Twilight long begun,
Or Nature spending with herself
Sequestered Afternoon -
The Dusk drew earlier in -
The Morning foreign shone -
A courteous, yet harrowing Grace,
As Guest, that would be gone -
And thus, without a Wing
Or Service of a Keel
Our Summer made her light escape
Into the Beautiful -
</pre>
</td><td><pre>Unmerklich wie ein Kummer
Schlich sich der Sommer fort -
Zu unmerklich zuletzt als dass
Es aussah wie Verrat -
Ruh tröpfelte herab
Diffus war längst das Licht,
Eh die Natur den Nachmittag
Beschlagnahmte für sich -
Die Dämmerung kam früher -
Fremd schien die Morgenhelle -
Anmutig höflich, quälerisch,
Ein Gast, schon auf der Schwelle
Und so, ganz ohne Kiel
Und ohne eine Schwinge
Entwischte uns der Sommer sacht -
Auf seinem Weg ins Schöne -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[935]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>The last Night that She lived
It was a Common Night
Except the Dying - this to Us
Made Nature different
We noticed smallest things -
Things overlooked before
By this great light opon our minds
Italicized - as 'twere.
As We went out and in
Between Her final Room
And Rooms where Those to be alive
Tomorrow, were, a Blame
That others could exist
While She must finish quite
A Jealousy for Her arose
So nearly infinite -
We waited while She passed -
It was a narrow time -
Too jostled were Our Souls to speak
At length the notice came.
She mentioned, and forgot -
Then lightly as a Reed
Bent to the Water, struggled scarce -
Consented, and was dead -
And We - We placed the Hair -
And drew the Head erect -
And then an awful leisure was
Belief to regulate
</pre>
</td><td><pre>Die letzte Nacht in Ihrem Leben
War wie jede Nacht
Nur dass Sie starb und das hat alles
Ungewohnt gemacht
Uns fiel Geringstes auf
Sonst übersehn, und jetzt
Schien’s durch dies Schlaglicht im Gemüt
Als wär's kursiv gesetzt.
Wie man ging aus und ein
Von Ihrem letzten Raum
In Zimmer, drin die Lebenden
Von Morgen wärn, da kam
Ein Vorwurf auf, dass andere
Noch lebten wenn Sie stirbt
Und Neid auf Sie, die nun schon fast
Im Grenzenlosen weilt -
Wir warteten, Sie glitt davon -
Die Zeit war nun beengt -
Die Seel für Worte zu bedrängt
Da endlich kam der Wink.
Sie sprach von etwas, und vergaß -
Danach Sie leicht sich bog
Wie Schilf zum Wasser, kampflos fast -
Ergab sich und war tot -
Und Wir - Wir ordneten ihr Haar -
Und reckten ihr das Haupt -
Dann kam der schlimme Zeitvertreib,
Zu ordnen was man glaubt -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[1100]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgFhn0AiEEb4GlSvq5RzSBbplZmGTVdcvsFtt1PsWaeUhH9Vb5oK5yD_egHslaycC4trD_bH0qGqHa3v4Uw_bRNeJF8GH2javlojoobpuJeFkJ6d-QTXp3kh-aL8mqAcKvnixJS2zdHnNk/s1600/7Poems.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="857" data-original-width="559" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEgFhn0AiEEb4GlSvq5RzSBbplZmGTVdcvsFtt1PsWaeUhH9Vb5oK5yD_egHslaycC4trD_bH0qGqHa3v4Uw_bRNeJF8GH2javlojoobpuJeFkJ6d-QTXp3kh-aL8mqAcKvnixJS2zdHnNk/s400/7Poems.jpg" width="260" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Cover of the first edition of <i>Poems</i>, <br />
published in 1890</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>The Mountains stood in Haze -
The Valleys stopped below
And went or waited as they liked
The River and the Sky.
At leisure was the Sun -
His interests of Fire
A little from remark withdrawn -
The Twilight spoke the Spire.
So soft opon the Scene
The Act of evening fell
We felt how neighborly a thing
Was the Invisible.
</pre>
</td><td><pre>Die Berge standen still im Dunst
Die Täler hielten unten
Nach Gusto strömten Wolke, Fluss
Und legten sich zur Ruhe.
Die Sonne hatte frei -
Ihr feuriger Gewinn
War unsrer Achtung schon entzogen -
Im Zwielicht scharf der Turm.
So weich auf diese Bühne sank
Der Akt des Abends nun
Wir spürten wie das Unsichtbare
Als Nachbar uns empfing.
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[1225]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>Tell all the truth but tell it slant -
Success in Circuit lies
Too bright for our infirm Delight
The Truth’s superb surprise
As Lightning to the Children eased
With explanation kind
The Truth must dazzle gradually
Or every man be blind -
</pre>
</td><td><pre>Sag Wahrheit ganz, doch sag sie schräg -
Erfolg liegt im Umkreisen
Zu strahlend tagt der Wahrheit Schock
Unserem Begreifen
Wie Blitz durch freundliche Erklärung
Gelindert wird dem Kind
Muss Wahrheit sachte blenden
Sonst würde jeder blind -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[1263]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiupr1plw9lO4VTm6CK5dJk4mEbXgAsq9CXpUh28RngalRyU0tfBo4DJnaAy44dkbLT3CJdcx2uiQ-3m7QScNUjcM-GjpikwQiivb14mdC6_o5M8wZFdfEsOA50eEskggTK8dF5QDzITLw/s1600/8bedroom_whitedress.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="650" data-original-width="1400" height="296" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEiupr1plw9lO4VTm6CK5dJk4mEbXgAsq9CXpUh28RngalRyU0tfBo4DJnaAy44dkbLT3CJdcx2uiQ-3m7QScNUjcM-GjpikwQiivb14mdC6_o5M8wZFdfEsOA50eEskggTK8dF5QDzITLw/s640/8bedroom_whitedress.jpg" width="640" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Emily Dickinson's bedroom, with her white dress on a mannequin. [From the <a href="https://www.emilydickinsonmuseum.org/">Emily Dickinson Museum</a>].</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>To flee from memory
Had we the Wings
Many would fly
Inured to slower things
Birds with surprise
Would scan the cowering Van
Of men escaping
From the mind of man
</pre>
</td><td><pre>Vor dem Gedächtnis fliehn
Gäb’s dafür Schwingen
Flögen wohl viele fort
Gewöhnt an dumpfre Dinge
Und Vögel prüften
Die geduckte Vorhut überrascht
Der Menschheit, die dem
Menschengeist entwischt
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[1343]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>I do not care - why should I care
And yet I fear I'm caring
To rock a fretting truth to sleep -
Is short security
The terror it will wake
Persistent as perdition
Is harder than to face
The frank adversity -
</pre>
</td><td><pre>Mich kümmert's nicht - warum denn auch
Ich fürcht mich kümmert's doch
’ne schlimme Wahrheit einzuschläfern -
Gibt Sicherheit nur kurz
Der Schrecken dass sie aufwacht
Und bleibt wie ein Ruin
Ist ärger als der Widrigkeit
Direkt ins Auge sehn -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[1534]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<table align="center" cellpadding="0" cellspacing="0" class="tr-caption-container" style="margin-left: auto; margin-right: auto; text-align: center;"><tbody>
<tr><td style="text-align: center;"><a href="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhC_GC5r4gUZeqguEBUDFjEJVTzq9ML-cfj-a_nXU5ZSxC3rkhmH6Z9VAOwEQJ9y3hAfDa98kBnG_Qy8SACkna_jfOi-ugz6TYWqbMcsBfqVRORcGmcmenEx6NXD1d-TnwzpIstPxCpuu0/s1600/9stamp_8c.jpg" imageanchor="1" style="margin-left: auto; margin-right: auto;"><img border="0" data-original-height="1226" data-original-width="800" height="400" src="https://blogger.googleusercontent.com/img/b/R29vZ2xl/AVvXsEhC_GC5r4gUZeqguEBUDFjEJVTzq9ML-cfj-a_nXU5ZSxC3rkhmH6Z9VAOwEQJ9y3hAfDa98kBnG_Qy8SACkna_jfOi-ugz6TYWqbMcsBfqVRORcGmcmenEx6NXD1d-TnwzpIstPxCpuu0/s400/9stamp_8c.jpg" width="260" /></a></td></tr>
<tr><td class="tr-caption" style="text-align: center;">Emily Dickinson commemorative stamp,<br />
US, 8 cent from 1971</td></tr>
</tbody></table>
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>Those - dying then,
Knew where they went -
They went to God's Right Hand -
That Hand is amputated now
And God cannot be found -
The abdication of Belief
Makes the Behavior small -
Better an ignis fatuus
Than no illume at all -
</pre>
</td><td><pre>Die damals starben,
Wussten wohin's ging -
Zu Gottes Rechter Hand -
Doch jene Hand ist amputiert -
Von Gott sich nichts mehr fand -
Die Abdankung des Glaubens
Macht das Verhalten klein -
Besser als ein totales Dunkel
Mag da ein Irrlicht sein -
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[1581]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<table bgcolor="#c4e1ff" border="1" bordercolor="#ff0000" cellpadding="4" cellspacing="0" style="width: 100%px;"><tbody>
<tr><td><pre>To make a prairie it takes a clover and one bee,
One clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do,
If bees are few.
</pre>
</td><td><pre>Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,
Je eins von ihnen,
Und Träumerei.
Die Träumerei tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.
</pre>
</td></tr>
<tr><td align="right" bgcolor="#b3ffff" colspan="2"><b>[1779]</b></td></tr>
</tbody></table>
<br />
<br />
<span style="font-size: x-small;">Alle erhaltenen 1789 Gedichte von Emily Dickinson (1830-1886) wurden in der zweisprachigen Ausgabe "Sämtliche Gedichte", übersetzt von Gunhild Kübler, 2015 im Carl Hanser Verlag München, veröffentlicht (ISBN 978-3-446-24730-7), womit erstmals eine amerikanisch-deutsche Gesamtausgabe vorliegt. Als Textgrundlage hat die Übersetzerin Franklins "Reading Edition" herangezogen. ("The Poems of Emily Dickinson. Reading Edition." Hrg. Ralph W. Franklin, Mass.: Harvard University Press, 1999).</span><br />
<span style="font-size: x-small;"><br />
</span> <span style="font-size: x-small;">Die ausgewählten Gedichte erscheinen hier in der Chronologie ihrer Entstehung - mit der Ausnahme des letzten, das nicht datiert werden konnte. (Dies erklärt auch den Titel "17 Gedichte, und eines"). "Wie bei Franklin sind Dickinsons Orthografie und Interpunktion beibehalten und ihre Gedankenstriche einheitlich gesetzt, egal wie lang, kurz, eckig, hoch oder tiefgelegt sie in den Manuskripten erscheinen." (G. Kübler).</span><br />
<br />
<a href="https://www.emilydickinsonmuseum.org/">The Emily Dickinson Museum</a> comprises two historic houses in the center of Amherst, Massachusetts associated with the poet Emily Dickinson and members of her family during the nineteenth and early twentieth centuries. The Homestead was the birthplace and home of the poet Emily Dickinson. The Evergreens, next door, was home to her brother Austin, his wife Susan, and their three children.<br />
<br />
<br />
<b><i>Und es hat noch mehr ausgewählte Musik in der Kammermusikkammer:</i></b> <br />
<br />
<b><a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/06/turina-zilcher-dvorak-klaviertrios.html">Turina | Zilcher | Dvorák: Klaviertrios | Ein Paradies fürs Auge: Gartendarstellungen auf Tapisserien der Renaissance</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2019/04/bela-bartok-violinsonaten.html">Béla Bartók: Sonate Violine Solo + Violinsonate Nr 1 | Jaroslav Hašek: Schwejk als Offiziersdiener bei Oberleutnant Lukasch</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/07/gabriel-faure-die-klaviermusik.html">Gabriel Fauré: Die Klaviermusik in 4 CDs | Arthur Schopenhauer: Über die Freiheit des Willens</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2018/06/max-bruch-werke-fur-klarinette-und-viola.html">Max Bruch: Werke für Klarinette und Viola | Dame Edith Sitwell: Gedichte aus ›Façade‹ </a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2015/02/biber-die-rosenkranz-sonaten-1676-john.html">Heinrich Ignaz Franz von Biber: Die Rosenkranz-Sonaten | Die Kleinodien des Heiligen Römischen Reiches</a><br />
<br />
<a href="https://kammermusikkammer.blogspot.com/2014/11/johann-heinrich-schmelzer-sonatae.html">Johann Heinrich Schmelzer: Sonatae unarum fidium, seu a violino solo | Max Liebermann: Über Edgar Degas</a></b><br />
<br />
<br />
<a href="https://www.jpc.de/jpcng/classic/detail/-/art/Adolf-Busch-1891-1952-Klaviertrio-op-15/hnum/8989730"><b>CD bestellen bei JPC</b></a> <br />
<br />
<b>CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Pictures) 8 MB <br />
<a href="http://www.embedupload.com/?d=1FQ1A3UTLV" rel="nofollow">embedupload</a> --- <a href="https://mega.nz/#!O5AzSSxJ!QcPPavKUCyC0nnqnTyYmefv6rWJ_TM-c7CXq8bLEsx0" rel="nofollow">MEGA</a> --- <a href="http://depositfiles.com/files/veawb76wp" rel="nofollow">Depositfile</a></b> <br />
<span style="background-color: #ffd966;">Unpack x365.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+CUE+LOG files [53:50] 3 parts 228 MB</span><br />
<br />
<br />WMS.Nemohttp://www.blogger.com/profile/11398361071239496822noreply@blogger.com0