Der Tristan-Stoff und das Nibelungenlied sind literarische Fiktion, während die schicksalhafte Beziehung zwischen dem Theologen Abaelard und seiner Geliebten Héloise ein reales Verhältnis widerspiegelt, das allerdings Schriftsteller seit je her für ein eigenes Werk angeregt hat.
Bei dem italienischen Dichter und Denker Francesco Petrarca ist es besonders knifflig. Sein Werk steht zwischen Mittelalter, Humanismus und Renaissance. Und bei seiner Gedicht- oder Liedersammlung "Canzoniere" ist bis heute nicht entschieden, ob es die hier besungene Dame "Laura" in Wirklichkeit gegeben hat oder ob nicht alles eine gut inszenierte Fiktion des Autors ist.
Petrarca will nach eigenen Angaben Laura am 6. April 1327 während eines Kirchgangs in Avignon gesehen und sich sogleich in sie unsterblich verliebt haben. Der Name "Laura" lädt zu einigen Assoziationen ein: die "Aura" des Weiblichen; "auratus", also alles, was mit Gold zu tun hat; "Aurora", die Göttin der Morgenröte; schließlich der "poeta laureatus", der lorbeergekrönte Dichter, den Petrarca in ausgezeichneter Weise selbst darstellt.
Gepriesen sei der Tag, der Mond, das Jahr,
die Jahr- und Tageszeit, der Augenblick,
das schöne Land, der Ort, da mein Geschick
sich unterwarf ein schönes Augenpaar.
Diese Danksagung im "Canzoniere", die von Liebe und von Unterwerfung eines "schönen Augenpaars" spricht, ist aber nur der eine Teil der Geschichte. Der andre Teil erzählt ausführlich von höllischer Liebespein, der der Dichter Zeit seines Lebens ausgesetzt war.
Hier sah ich freundlich sie, voll Hochmut hier,
bald schroff, bald weich, erbarmungslos und mild,
der Züchtigkeit und bald der Anmut Bild,
hier sanft, hier stolz, hier grausam wie ein Tier.
Die Liebe, von der Petrarca singt, ist tatsächlich ein grausam-süßes Spiel, bei dem die Geliebte Zeichen der Zuneigung und der Verweigerung, der Hingabe und der Ablehnung, des Einverständnisses und der Unnachgiebigkeit aussendet.
Mit der Ikonographie mittelalterlicher Kunst gesprochen, pendelt die Gestalt von Petrarcas "Laura" zwischen dem "locus amoenus", dem lieblichen Ort, wo die Natur im Kleid des Frühlings und Sommers zum lustvollen Verweilen einlädt, und dem "hortus conclusus", dem verschlossenen Garten, in dem man zu keiner Zeit hineingelangen mag.
Das zweite Bild gehört in den Bereich der Mariendarstellung und somit überhöht Petrarca seine "Laura" ins Himmlische. Falls aber diese "Laura" tatsächlich einer realen Person entspricht, dann könnte sie Laura de Noves gewesen sein, die als verehelichte de Sade zu den Vorfahren des berüchtigten Marquis de Sade zählt. Wie auch immer, als Ehefrau sollte nach irdischem und christlichem Recht ihr schöner Körper - und Laura de Noves war eine schöne Frau! - ein "verschlossener Garten" für alle Männer bleiben, außer eben für ihren Gatten.
Petrarca und Laura |
Nie lebte so wie ich ein Mensch in Freuden,
nie trauriger bei Tag, in langen Nächten,
so wie mein Schmerz, vermehrt sich meine Weise,
vom Herzen löst sich tränenvoll mein Reim,
wie einst von Hoffnung, leb ich jetzt von Klagen.
Vom Tod errettet einzig mich - der Tod.
Petrarcas Gedichtsammlung "Canzoniere" ist in zwei Teile geteilt: Der erste, umfangreichere behandelt des Dichters Liebe zu Laura, im Wechselspiel der Gefühle. Der zweite spielt nach Lauras Tod. Und wenn der Dichter schreibt "Vom Tod errettet einzig mich - der Tod", so meint er damit, dass durch den Tod der Geliebten er seine Klage erhebt. Und indem er dichterisch klagt, ist nicht nur der trauernde Sänger am Leben, sondern er selbst holt im Gesang seine tote Laura ins Leben zurück.
Ihr Leben, ihren Tod sing ich allein,
mein Dichten schenkte ihr Unsterblichkeit.
Es soll die Welt sie lieben und erkennen.
Ihr Leben und ihr Tod – das ist des Dichters Brot, eine Hostie der Liebe, die er seinen Lesern weiterreicht. Diese Vorstellung findet sich schon in Gottfried von Straßburgs Versepos "Tristan und Isolde". Einerseits bleibt durch die Worte des Dichters die Erinnerung an die Geliebte erinnerlich, soll ewig erinnerlich sein. Andererseits findet so eine Überhöhung der Liebe ins Himmlische statt.
Nicht ohne Grund ruft Petrarca am Ende seines "Canzoniere" die himmlische Liebesmutter - die mater gloriosa - mater dolorosa - an und bittet um "gratia", Gnade. Gnade für eine Liebe, die allerdings so ganz und gar nicht in das Schema christlicher Häuslichkeit passt. Doch irgendwie muss wohl des Dichters Ruf erhört worden sein, denn die Laura-Gedichte haben Petrarca und seine Geliebte unsterblich gemacht.
Quelle: Andreas Puff-Trojan: Canzoniere - Petrarcas Meisterwerk neu übersetzt. ORF, OE1, Sendung vom 25.12.2011
Track 34: Ein Wunder-Engel stieg auf flinken Flügeln
TRACKLIST Francesco Petrarca Süßes Übel, süßes Leid und süße Lust Die schönsten Liebesgedichte Eine Auswahl aus dem "Canzoniere" Inhalt 1 Ansage 2 Ihr, die ihr in verstreuten Versen hört 3 Es war der Tag, als bleich die Sonne stand 4 Am Tag, als rings sich barg der Glanz der Sonnen 5 Derart verirrt hat sich mein wild Begehren 6 Seit Freßgier, Schlaf und Federn, müßig-träge 7 Nie sah ich Euch bei Sonne oder Schatten 8 Bei jedem Schritte wend' ich mich zurücke 9 Es zieht dahin der Alt' in Silberhaaren 10 Es regnen mir die bittern Tränen sachte 11 Es gibt Geschöpfe auf der Welt 12 Mich schämend, Herrin 13 So viel der Wesen wohnen auf der Erde 14 Es weinte Amor 15 Ein Fräulein sah ich unter grünem Lorbeer 16 Je näher kommend jenem letzten Tage 17 Schon schimmerte der Liebesstern 18 So schwächlich ist der Faden 19 Wenn Feuer niemals Feuer überwand 20 So sehr ich vor der Lüge dich gehütet 21 Dem Buhlen nicht gefiel Diana besser 22 Ihren Verliebten höher nicht entzückte 23 Da Amors Zeichen stand in ihren Mienen 24 Gepriesen sei der Tag, der Mond, das Jahr 25 Zwar wußt ich wohl 26 Ich zage schon, darüber nachzudenken 27 Die schönen Augen 28 Eh mir nicht beide Schläfen ganz ergrauen 29 Stets liebt' ich ihn und lieb' und werd' ihn lieben 30 Ich werde immer jenes Fenster hassen 31 Zerstreut im Wind die goldnen Locken waren 32 Schon mehrmals sagte Amor zu mir: Schreibe 33 Ein seltnes Englein stieg von Himmels Höhen 34 Ein Wunder-Engel stieg auf flinken Flügeln 35 Nun, Amor, sieh 36 Ihr klaren, frischen Wogen 37 Wenn Liebe nicht, was ist's, das in mir wühlt? 38 Zum Ziel von Pfeilen macht mich mein Verlangen 39 Ich sah auf Erden Engelsitte schalten 40 Die heitre Luft, die einen Weg gefunden 41 Süß Zorn und Unmut, süß ein friedlich Neigen 42 Nie war auf seinem Dach so abgeschieden 43 Die Säule brach, des Lorbeers grüner Bogen 44 Wann Vöglein klagen, und in grünen Zweigen 45 Amor ließ ein und zwanzig Jahr' mich zagen Gesamtlaufzeit: 51:16 Sprecher: Walter Schmidinger, Angela Winkler Aus dem Italienischen von Karl Förster, Ernst-Jürgen Dreyer, Geraldine Gabor und Karlheinz Stierle. Auswahl, Einrichtung und Regie: Brigitte Landes Aufnahme: Bergler Audio, Berlin. Mischung und Schnitt: Felix Huber (c) + (p) 2006
Track 37: Wenn Liebe nicht, was ist's, das in mir wühlt?
Raffaels "Madonna Esterházy"
Beobachtungen zu Komposition und Datierung
Raffael, Madonna Esterházy, 1505/06, Tempera und Öl auf Pappelholz, 28,5 x 21,5 cm, Museum der bildenden Künste, Budapest. |
Das Bild ist seit seiner ersten Erwähnung im 18. Jahrhundert mit dem Namen Raffaels verbunden: Nach Ausweis eines 1839 noch vorhandenen und von Johann David Passavant zitierten Klebezettels war es ein Geschenk von Papst Clemens XI. (1700-21) an die mit Karl VI. verheiratete Kaiserin Elisabeth Christine (1697-1750). Leider ist über die Umstände dieses wahrhaft fürstlichen Geschenkes nichts bekannt, ebensowenig wie das Gemälde seinen Weg aus kaiserlichem Besitz über die Familie Kaunitz in die Sammlung Esterházy genommen hat. Dort ist es zuerst im Sammlungskatalog 1812 (damals in Laxenburg) nachweisbar; die ganze Sammlung wurde 1814 nach Wien und 1865 nach Budapest gebracht, wo sie fünf Jahre später vom ungarischen Staat gekauft wurde.
Im Jahre 1983 wurde die Madonna Esterházy mit sechs weiteren Bildern aus dem Museum gestohlen und kam beschädigt zurück: abgesehen von einem Ausbruch im nicht bemalten Teil der rechten unteren Kante war die Tafel ungefähr in der Mitte senkrecht auseinandergebrochen, wobei dieser Bruch durch schon vorhandene Wurmgänge noch erleichtert worden war. Abgesehen von diesen beiden schweren Beschädigungen hat die Restaurierung aber auch bestätigt, daß die Madonna Esterházy ein überaus gut erhaltenes Bild ist; die emailleartige harte Oberfläche zeigt nur im Himmel ein ganz feines Craquelée. Vielleicht ist der gute Zustand auch damit zu erklären, daß die Tafel über einen längeren Zeitraum in dem von der Kaiserin genannten Futteral aufbewahrt worden ist.
Raffael, Madonna Esterházy, Zustand nach der Beschädigung während des Diebstahls 1983 und vor der Restaurierung. |
Beim Umzug nach Rom nicht vollendete Bilder Raffaels gibt es in der Tat: der Heiligen Familie Canigiani (München, Alte Pinakothek) fehlen die letzten Lasuren im Inkarnat und bestimmte Himmelspartien, und von der Madonna del Baldacchino (Florenz, Palazzo Pitti) berichtete schon Vasari, daß das weitgehend unvollendete Bild von Ridolfo Ghirlandaio zu Ende gemalt worden sei. Aber abgesehen von Klára Garas' knapper und berechtigter Frage, warum die Madonna Esterházy trotz einer Mitnahme nach Rom immer noch unvollendet sei, kann man das spätere Einfügen der Ruinen durch einige Beobachtungen zu Komposition, Format und Maltechnik ausschließen und das Bild auf 1505 und damit in die erste Hälfte der Florentiner Jahre datieren.
Das kleine Format des Bildes weist zunächst generell in die frühe Zeit, es handelt sich teilweise sogar noch um Aufträge aus Urbino: Die zusammengehörenden Tafeln mit dem Traum des Ritters (London, Nationalgalerie) und den drei Grazien (Chantilly, Musée Condé) messen 17 x 17 cm und werden um 1501 entstanden sein; das Dyptichon aus Hl. Georg und Hl. Michael (Paris, Louvre) wohl im Jahr darauf, die beiden Bilder messen 29,5 x 25,5 cm. Das 1505 entstandene Bild des Hl. Georg in Washington ist gleich groß wie die Madonna Esterházy, und eine weitere der kleinen Tafeln ist die in mehreren Fassungen bekannte Heilige Familie mit dem Lamm, von der hier das 1507 datierte Exemplar des Prado in Madrid abgebildet ist (29 x 21 cm). Die Bilderfindung ist jedoch älter, denn die Erstfassung scheint das ehemals in der Sammlung Viscount Lee of Fareham befindliche Exemplar zu sein, das 1504 datiert ist (32 x 22 cm).
Raffael, Madonna Esterházy, Zustand vor der Restaurierung [Detail]. |
In dem Budapester Bild behandelte Raffael das Madonnenthema nicht als "perugineskes" Andachtsbild, sondern erfand eine Handlung, die Mutter, Kind und Johannes den Täufer verbindet: Der am Boden kauernde Johannes liest in der Schriftrolle, das auf einem Erdhügel sitzende Jesuskind wird von der ihm zugewandt knieenden Mutter gehalten und weist deren Aufmerksamkeit auf Johannes, ihr Blick folgt dem Zeigegestus des Sohnes. Dies ist ein geistreiches Spiel mit den Bibelworten "Ecce Agnus Dei" (Johannes I, 19), denn so ist es Jesus, der auf Johannes weist und nicht umgekehrt. Die Kinder betonen durch ihr helles Inkarnat die Ränder der Komposition und werden durch die Haltung der Madonna verbunden, die sich im Sinne einer knieenden "figura serpentinata" beiden zuwendet. Dies geschieht ganz ungekünstelt und als "Erlebnis des Organischen", in dem die abstrakte Geometrie des Mittelalters mit dem neuen Streben nach Natur zusammenfallen."
Bewirkt wird diese Verlebendigung durch die Einführung des kleinen Johannes, der innerhalb der Komposition Gruppenbildungen ermöglicht: Einerseits die Kinder gegen die Frau, andererseits der von der Mutter gehaltene Jesus gegen den einzelnen Johannes, aber durch die Parallelität der Körperhaltungen auch Johannes und Madonna gegen das Jesuskind. Dabei zeigt das Jesuskind die größte gerichtete und aktive Energie, der Johannes eine passive, in sich gekehrte Konzentration und die Madonna schließlich ist zuwendend und fürsorglich gegeben - jede Person zeigt in Haltung und Gestik ihre Individualität.
Raffael, Hl. Familie mit dem Lamm, 1507, Öl auf Holz, 29,1 x 21 cm, Museo del Prado, Madrid. |
Daß Raffael bei dieser Verlebendigung Maß hielt und durchaus mit einer gewissen Befangenheit vorging, zeigt ein Blick auf den 1504/5 entstandenen Tondo Doni des Michelangelo, in dem die Bewegungsmotive unvergleichlich kühner und plastischer durchgearbeitet sind. Es ist gelegentlich darauf hingewiesen worden, daß Raffael dieses Bild offenbar intensiv studiert und gleich mehrfach für sich nutzbar gemacht hat: So ist die knieende Haltung des Johannesknaben der Madonna Esterházy eine beruhigtere Variante des Jesusknaben im Tondo Doni. 1504/05 ist damit sicher ein terminus post quem für die Datierung der Budapester Tafel. Die recht wörtliche Übernahme spricht für den frischen Eindruck, den der Tondo hinterlassen haben muß (und deshalb ebenfalls für eine frühe Datierung des Raffael-Bildes), denn später hat Raffael Zitate dieser Art kaum ohne Veränderungen eingesetzt: So ist etwa die Madonna des Tondo Doni Vorbild gewesen für die knieende Frau unten rechts auf der Borghese-Grablegung aus dem Jahre 1506/07 (Rom, Galleria Borghese), die Maria stützt - aber um etwa 90º gedreht.
Pietro Perugino, Madonna mit Kind, 1496-1500, Öl auf Holz, 113 x 64 cm, National Gallery, London. |
Stellvertretend sei hier die Wiener Madonna im Grünen betrachtet: Sie ist ein Werk von größtmöglicher Ausgewogenheit und abgeklärter Ruhe. Die Madonna sitzt wirklich in und nicht vor der weiten Landschaft, dominiert diese jedoch durch ihren Maßstab und indem Schulterpartie und Kopf über die Horizontlinie geführt sind. In spielerischer Ernsthaftigkeit kniet Johannes vor dem stehenden und von der Mutter nur lose gestützten Jesus, der den ihm dargereichten Kreuzesstab ergreift. Im strikt dreieckigen Aufbau der Figurengruppe nimmt der Kopf des Jesusknaben die Mitte ein, den Spitzen des Dreiecks wird durch die helleren Inkarnatpartien jegliche Schwere genommen. Dementsprechend wichtig ist der rechte Fuß der als "figura serpentinata" sitzenden Madonna: die kompositionelle Notwendigkeit dieses Fußes ist so groß, daß der Betrachter geneigt ist, zu übersehen, daß das zugehörige Bein zu lang geraten ist.
Michelangelo, Hl. Familie mit dem Johannesknaben (Tondo Doni), 1504, Tempera auf Holz, Dm: 120 cm, Uffizien, Florenz. |
Raffaels Vorzeichnung für die Madonna Esterházy hat sich in den Uffizien erhalten. Das fast gleich große Format und das Quadratnetz weisen auf ihre Funktion als Karton hin, auch wenn die Konturen der Darstellung nicht durchstochen wurden wie am Washingtoner St. Georg. Die Figurengruppe wurde aus der Zeichnung fast unverändert übernommen; lediglich der Zeigegestus des Jesus ist deutlicher geworden und die Kinder sind durch eine etwas andere Führung der Mantelfalten der Madonna am Kopf des Jesus und hinter Johannes stärker in den Umriß der Madonna einbezogen. Ganz neu geordnet wurde hingegen der Landschaftshintergrund, und zwar weniger im Charakter als in der Kombination der Elemente. Die neu hinzugekommenen antikisierenden Ruinen links sind jedoch nicht einfach nur eingefügt worden, sondern es kam ihretwegen zu zwei wesentlichen Änderungen. Zum einen wurde die Horizontlinie gesenkt: In der Zeichnung war das Verhältnis von Himmel zu Landschaft noch ungefähr eins zu drei gewesen, in der Ausführung ist es etwa eins zu zweieinhalb, wodurch der Kopf der Madonna über dem Horizont freigestellt erscheint und auch von den Ruinen nicht überragt wird.
Zum anderen ist das Format des Bildes auf dem Weg vom Karton zur Ausführung verändert worden: der Karton ist bei gleicher Höhe 19,1 cm breit und Raffael hat die Komposition auf allen Seiten durch einen geraden Strich begrenzt. Da der Platz links vom Kopf der Madonna für die Ruinen nicht ausgereicht hätte, wurde das Format des Bildes nach links um etwa 2 cm erweitert - damit ist aber ein späteres Einfügen der Ruinen ausgeschlossen, denn die Vergrößerung des Formates muß bei Wahl der Holztafel, spätestens jedoch bei deren Grundierung, festgestanden sein. Auch auf der Holztafel selbst ist die Komposition zunächst links und rechts durch gerade Linien begrenzt worden, und an dem ausgerahmten Bild kann man an der Überzeichnung links bei den Ruinen sehen, daß der Platz an dieser Stelle trotz Vergrößerung des Formates immer noch knapp war. Interessanterweise kommt die vergrößerte Tafel dem Proportionsschema un quadro e diametro viel näher als die Vorzeichnung.
Raffael, Madonna im Grünen, 1505 od. 06, Öl auf Holz, 113 x 88 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien. |
Die erste Frage nach der Bedeutung der Ruinengruppe ist schwerer zu beantworten. John Shearman hat darauf hingewiesen, daß es sich hier nicht um malerische Erfindung, sondern um eine umgruppierte und nur teilweise korrekte Wiedergabe einer Ecke des Forum Nervae mit dem Turm des Convento dei Basiliani darüber handle. Das Forum Nervae wurde 92 n. Chr. unter Domitian begonnen und stellt die Verbindung (daher auch Forum Transitorium) zwischen dem östlich davon gelegenem Templum Pacis und den Fora Augusti bzw. Julium im Westen her. Die südliche Schmalseite stößt an die Basilica Emilia und das Nordende wird vom Tempel der Minerva eingenommen - das Forum Nervae war also ein rundum eingebauter Raum, in dessen Fragmenten sich mittelalterliche Architektur eingenistet hatte. Wie ein Vergleich mit den etwa dreißig Jahre später entstandenen Zeichnungen von Marten van Heemskerk zeigt, sind die Ähnlichkeiten aber sehr vage.
Raffael, Madonna Esterházy, 1505/06, Feder über schwarzer Kreide und Griffel auf Papier, 285 x 191 mm, Uffizien, Florenz. |
Zum Abschluß dieser Erörterung der Architekturen bleibt festzuhalten, daß die antikisierenden Ruinen nicht wirklich eindeutig zu bestimmen sind. Wenn es dafür Vorlagen gegeben hat, sind sie von Raffael solange umgearbeitet und umgruppiert worden, bis sie seinen Bildabsichten entsprachen. Die identifizierbare Torre delle Milizie hingegen zeigt, daß Raffael eine bestimmte Architektur geben konnte, wenn er wollte. Dieses kleine Architektur-Capriccio im Hintergrund der Madonna Esterházy soll antikes wie mittelalterliches Rom in Erinnerung bringen, ohne als Vedute gemeint zu sein. Der etwa zweiundzwanzigjährige Raffael führte damit zwar seine Bildung und Kenntnisse vor; es ist aber sehr viel wahrscheinlicher, daß die Entscheidung für jenes römische Capriccio gar nicht auf ihn selbst, sondern auf den leider unbekannten Florentiner Auftraggeber der Tafel zurückging. Es ist durchaus vorstellbar, daß die Vorzeichnung in Florenz nicht nur als Karton gedient hat, sondern auch im Sinne einer Visierung dem Besteller vorlag und nach dessen Wünschen einer Rom-Anspielung die Neuordnung jener Landschaft und die Vergrößerung des Bildformates veranlaßten. Für ein derartig summarisches Capriccio muß eine genauere Kenntnis über die Stadt Rom seitens des Künstlers nicht angenommen werden. […]
Marten van Heemskerk, Forum Nervae in der Distanz, 1534/35, Feder auf Papier, 135 x 208 mm, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. |
Am weitesten unvollendet sind die Inkarnate: die Fertigstellung dieser ohnehin sensiblen, nicht leicht zu korrigierenden und für die Gesamterscheinung des Bildes entscheidenden Partien hat Raffael bis zum Schluß aufgehoben. So sieht man am Kopf der Madonna die gestrichelte bräunliche Unterzeichnung für die Verschattungen und bei den Kindern liegt zartes Gelb in der Untermalung bloß, während im Gesicht der Madonna bereits zarte Rosatöne eingesetzt sind. Mantel und Gewand der Madonna sind in den Falten und Farben am weitesten ausgearbeitet. Die Landschaft ist in Braun- und Olivtönen angelegt, aber so noch ziemlich kahl, besonders im Vorder- und Mittelgrund wäre mehr Vegetation zu erwarten. Die Bergzüge des Horizontes sind hingegen fertig. Der in der Vorzeichnung von Johannes gehaltene Kreuzesstab ist im Bild noch nicht eingefügt, die Handhaltung dafür aber bereits gegeben.
Was noch fehlt, kann ein Vergleich mit der Heiligen Familie mit dem Lamm oder mit der Madonna im Grünen veranschaulichen: ein generelles Tiefer-Stimmen aller Farbtöne und die Vertiefung der Schatten, die Differenzierung der Landschaft, die Haare der Kinder und ornamentale Details wie die Goldkanten und -borten an den Kleidersäumen.
Marten van Heemskerk, Forum Nervae in der Nahsicht, 1534/35, Feder auf Papier, 210 x 288 mm, Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz. |
Besonders merkwürdig ist unter diesen Bedingungen allerdings der unvollendete Zustand, denn Raffael sollte vor der Übersiedelung nach Rom ausreichend Zeit gehabt haben, die noch fehlenden wenigen Farbschichten aufzutragen. Hier kann vorerst nur spekuliert werden. Man könnte sich Umstände denken, in denen Raffael der unbekannte Auftraggeber abhanden kam, oder Umstände, in denen sich die Auslieferung des Bildes verzögerte. Es könnte aber auch sein, daß sich die Vollendung der Madonna Esterházy mit dem Beginn der Madonna im Grünen überschnitt und Raffael auf der Höhe einer neuen Stufe seiner "Klassischen Kunst" an einer Vorstufe dazu keinen Gefallen mehr fand.
Quelle: Jarl Kremeier: Raffaels "Madonna Esterházy". Beobachtungen zu Komposition und Datierung. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. Heft 2/1998, ISNN 1025-2223, Seite 36-47 (geringfügig gekürzt)
JARL KREMEIER wurde 1996 mit einer Dissertation zur Planung und Baugeschichte der Hofkirche in der Würzburger Residenz promoviert. Sein Forschungsschwerpunkt liegt im europäischen Barock des 18. Jahrhunderts, dabei im speziellen in der englischen Kunst.
CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 43 MB
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