23. Juli 2014

Heinrich Schütz: Symphoniae sacrae I (Venedig, 1629)

Als Heinrich Schütz im Jahre 1628 nach Venedig aufbrach, um die neuere Musik der Italiener zu studieren, war er immerhin bereits 45 Jahre alt und längst ein etablierter Komponist. Martin Opitz, der das Libretto für die von Schütz komponierte erste deutsche Oper Dafne geschrieben hatte, rühmte ihn als »Orpheus unserer Zeit«. Seit 1617 wirkte er als Kapellmeister am Hofe in Dresden, eine Stellung, die er bis zu seinem Tode behalten sollte. Daß diese Italienreise dennoch einen wichtigen Impuls für Schütz' weiteres musikalisches Werk bedeutete, wirft einerseits ein bezeichnendes Licht auf sein Bemühen, immer weiter dazuzulernen, sich neue Kompositionstechniken anzueignen. Andererseits auf seine ungewöhnlich lange Schaffenszeit - nach seiner Rückkehr sollte er noch über 40 außerordentlich produktive Jahre verbringen.

Dabei hatte Schütz seine musikalische Karriere eher unfreiwillig begonnen. Der Landgraf Moritz von Hessen soll, wie im Nekrolog auf Schütz zu lesen ist, den Knaben singen gehört haben, als er 1598 im Gasthaus der Eltern übernachtete. Später nahm er ihn mit an den Kasseler Hof. 1608 begann Schütz dann ein Jurastudium in Marburg, aber Moritz verlockte ihn mit einem Stipendium, nach Venedig zu ziehen, um bei Giovanni Gabrieli Musik zu studieren. Auch nach seiner Rückkehr 1612 zögerte Schütz denoch einige Zeit, sich endgültig einer Karriere als Musiker zu verschreiben.

Mußte er zu seiner ersten Italienreise noch überredet werden, die zweite unternahm Schütz auf eigenen Wunsch, nicht nur, um neue Musik kennenzulernen und Musiker für die Dresdner Hofkapelle zu engagieren, sondern auch, um Instrumente einzukaufen. Wahrscheinlich besuchte er zu diesem Zwecke die damals schon berühmte Geigenbauer-Familie Amati in Cremona. Die meiste Zeit hielt er sich jedoch in Venedig auf, wo er auch den ersten Band seiner Symphoniae sacrae komponierte. Im Jahre 1629 gab er ihn dort unter seinem latinisierten Namen Henricus Sagittarius als sein op. 6 in Druck. Gewidmet hat er das Werk dem Sohn des sächsischen Kurfürsten, Johann Georg II. von Sachsen. Die Texte der 20 einzelnen Stücke der Symphoniae sacrae entstammen vor allem dem alten Testament, den Psalmen und dem »Hohen Lied«. Schütz hat hier die lateinische Fassung der Texte verwendet, und nicht, wie bei den meisten seiner Kompositionen, die deutsche Übersetzung Luthers. Die Symphoniae sacrae waren in den darauffolgenden Jahren sehr populär, nur die lateinische Textfassung wurde vielfach durch eine deutsche Version ersetzt. Schütz nahm dies später zum Anlaß, zwei weitere, nun deutsche Bände von Symphoniae sacrae zu publizieren.


Masaccio: Petrus verteilt Almosen und der Tod des Ananias, 1425. Fresko,
232 x 157 cm, Brancacci Chapel, Santa Maria del Carmine, Florenz
Schütz' erster Band der Symphoniae sacrae, der hier eingespielt ist, spiegelt in mancherlei Hinsicht die Einflüsse der italienischen Musik seiner Zeit wider, vor allem im konzertanten Gebrauch der Instrumente. Aber auch der auf den Ausdruck von Gefühlen zielende neue Stil hat seine Spuren hinterlassen - die wohl bedeutendste Komposition der Symphoniae sacrae, die Totenklage König Davids (SWV 269), lehnt sich mit ihrer chromatischen Melodik der Gattung des »Lamento« an, einer Form des Klagegesangs, die von Claudio Monteverdi begründet worden war. Insgesamt hat Schütz in seinen Symphoniae sacrae ganz verschiedene Kompositionsprinzipien verwendet - in den Liebesliedern des »Hohen Liedes« (SWV 265-266) sind es immer zwei eng miteinander verzahnte Singstimmen, die den Text ausdeuten (besonders schön die Umsetzung der verzehrenden Liebe in SWV 264). Daneben findet sich mit dem SWV 274 ein Rekurs auf die doppelchörigen Kompositionen in der Tradition Gabrielis, mit den SWV 267 und 268 ein Satzpaar, in dem die Instrumentalstimme wie eine textlose Singstimme geführt wird, hier fehlen die instrumentalen Zwischenspiele (sogenannte »sinfoniae«). Im Gegensatz dazu erscheint mit dem SWV 271 ein beinahe instrumentaler Satz.

Gegen den ersten Band der Symphoniae sacrae ist zuweilen vorgebracht worden, daß die Vertonung der lateinischen Texte gegenüber den deutschen Werken Schütz' abfiele. Die die Musik Schütz' kennzeichnende Kunst der Textinterpretation durch die Musik sei in diesen Werken weniger deutlich. Allerdings lassen sich auch hier viele Beispiele musikalischer Textdeutung nachweisen: So verwendet Schütz obligate Instrumente zur Interpretation, etwa in der Nachtstimmung von SWV 272 und 275, die mit Dulzianen instrumentiert sind, oder mit dem Bläsersatz zu den Worten »buccinate tuba« (blast die Tuba), mit dem die Symphoniae zu einem großartigen Ausklang kommen. Auch einzelne Wörter werden symbolisch gedeutet, so durchschreitet die Melodie zum Text »omnis terra« (die gesamte Erde) zwei Oktaven (SWV 262), immer wieder werden der Lobgesang Gottes und die damit verbunden Instrumente hervorgehoben (z.B. die »cythara« in SWV 257). Noch wichtiger sind aber solche Passagen, in denen wie in seinen deutschen geistlichen Liedern, den lateinischen Bibeltext als gesprochene Sprache auffaßt. So wird in SWV 259 der Psalmist selbst zum Sprechen gebracht, mit dem eindringlichen »non confundar« (laß mich nicht zu Schanden werden), in dem 26 Achtelnoten in ununterbrochener Folge erscheinen, einer ganz außergewöhnliche Sequenz im Werke Schütz'. Im SWV 261 ist es dann Christus selbst, der mit »venite ad me« die Gläubigen anspricht, und damit einen eindrucksvolles Beispiel für die Schütz' Stil bestimmende, rhetorische Musik liefert.

Quelle: Klemens Hippel, im Booklet


CD 1, Track 2: O Quam tu pulchra es (SWV 265)

O quam tu pulchra es, amica mea
O quam tu pulchra es, amica mea 
columba mea, formosa mea, 
immaculata mea! Oculi tui, 
oculi columbarum. 
Capilli tui sicut greges caprarum. 
Dentes tui sicut greges tonsarum. 
Sicut vitta coccinea labia tua. 
Sicut turris David collum tuum. 
Duo ubera tua sicut duo hinnuli 
capreae gemelli. 
O wie schön du bist, meine Freundin, 
meine Taube, du Vollkommene, 
du Reine. Deine Augen 
sind wie Taubenaugen, 
dein Haar wie eine Ziegenherde, 
Deine Zähne wie eine frisch geschorene Herde, 
wie ein scharlachfarbenes Tuch deine Lippen, 
dein Hals wie Davids Turm, 
deine Brüste wie zwei junge Maultiere, 
wie zwei Zicklein. 


CD 1, Track 3: Veni de Libano, amica mea (SWV 266)

Veni de Libano, veni, amica mea
Veni de Libano, veni, amica mea, 
columba mea, formosa mea, 
o quam tu pulchra es! 
Veni, coronaberis. Surge, propera, 
amica mea, sorar mea, sponsa mea, 
immaculata mea; et veni. 
Komm vom Libanon, meine Freundin, 
meine Taube, meine Vollkommene, 
o wie schön du bist. 
Komm, du sollst gekrönt werden. 
Auf, eile, meine Freundin, meine Schwester, 
meine Braut, du Reine, komm. 

TRACKLIST

HEINRICH SCHÜTZ (1585-1672) 

Symphoniae sacrae I 
SWV 257-276 
Lateinische geistliche Konzerte (Gesamtaufnahme) 

CD 1                               [45:17]

01. Cantabo Domino in vita mea (SWV 260)                          [05:21]
02. O Quam tu pulchra es (Prima pars) (SWV 265)                   [04:35]
03. Veni de Libano, amica mea (Secunda pars) (SWV 266)            [04:20]
04. Paratum cor meum, Deus (SWV 257)                              [04:12]
05. Domine, labia mea aperies (SWV 271)                           [04:28]
06. Fili mi Absalon (SWV 269)                                     [05:12]
07. In lectulo per noctes (Prima pars) (SWV 272)                  [05:36]
08. Invenerunt me custodes Civitatis (Secunda pars) (SWV 273)     [04:39]
09. Buccinate tu neomenia tuba (Prima pars) (SWV 275)             [03:55]
10. Jubilate Deo in chordis et organo (Secunda pars) (SWV 276)    [02:53]

CD 2                                                           [55:52]

01. Jubilate Deo omnis terra, SWV 262                             [05:40]
02. Anima mea liquefacta est (Prima pars), SWV 263                [03:46]
03. Adjuro vos, filiae Jerusalem (Secunda pars), SWV 264          [03:38]
04. Exsultavit cor meum in Domino, SWV 58                         [04:55]
05. In te, Domine, speravi, SWV259                                [05:37]
06. Veni, dilecte mi, in hortum meum, SWV 274                     [05:14]
07. Venite ad me omnes qui laboratis, SWV 261                     [08:23]
08. Benedicam Dominum in omni tempore (Prima pars), SWV 267       [03:25]
09. Exquisivi Dominum et exaudivit me (Secunda pars), SWV 268     [03:38]
10. Attendite, popule meus, legem meam, SWV 270                   [07:49]
11. Paratum cor meum, Deus (mit Tenor), SWV 257                   [03:41]


CAPELLA FIDICINIA
Hans Grüß

Michael Diedrich, Norbert Kleinschmidt, Thomas Nitschke - Knabensopran / boy soprano
Werner Marschall - Discantus / Descant
Reinhart Ginzel, Albrecht Lepetit, Peter Schreier - Tenor
Ekkehard Wagner - Tenor + Altus
Gothart Stier - Bariton
Hermann Christian Polster, Günther Schmidt - Baß / Bass

Recording: Dresden, Lukaskirche, 2, 6, 10/1984 
Recording Producer: Heinz Wegner - Balance Engineer: Horst Kunze, Eberhard Richter
Recording Engineer: Horst-Dieter Käppler; Michael Richter - Editing: Hildegard Miehe
Cover: Masaccio: »Petrus verteilt Almosen"; Fresko in der Brancacci-Kapelle,
S. Maria del Carmine, Florenz, um 1425
(P) 1985  
(C) 1997  

CD 2, Track 5: In te, Domine, speravi (SWV 259)

In te, Domine, speravi
In te, Domine, speravi
non confundar in aeternum.
In justitia tua libera me.
Inclina aurem tuam, accelera
ut eruas me.
Auf dich, Herr, habe ich gehofft,
in Ewigkeit werde ich nicht verstört werden,
mache mich frei in deiner Gerechtigkeit.
Neige dein Ohr, eile
daß du mich herausreißest.

Französische Lyrik zwischen Villon und Baudelaire


Albrecht Dürer: Haus an einem Teich, um 1496, Wasserfarbe und Gouache
auf Papier, 21 x 23 cm, British Museum, London

MAURICE SCEVEHELMUT KNUFMANN
J'ATTENS MA PAIX ...VOM RUHM ZUR NACHT ...
J'attens ma paix du repos de la nuict, 
Nuict refrigere a toute aspre tristesse: 
Mais s'absconsant le Soleil, qui me nuyt, 
Noye avec soy ee peu de ma liesse. 
      Car lors jectant ses cornes la Deesse, 
Qui du bas Ciel esclere la nuict brune, 
Renaist soubdain en moy celle aultre Lune 
Luisante au centre, ou l'Ame a son sejour, 
Qui, m'excitant a ma peine commune, 
Me fait la nuict estre un penible jour. 
Vom Ruhm zur Nacht erhoff ich mir den Frieden; 
Die Nacht, sie kühlt des Harmes bittren Brand: 
Versinkend aber zieht die falsche Sonne 
Das Fünklein meiner Freude mit hinab. 
      Denn jetzt, da ihr Gehörn die Göttin hebt, 
Vom Himmelsgrund die braune Nacht erhellend, 
Erscheint er wieder, jener andre Mond, 
Im Innern strahlend, wo die Seele lebt, 
Und macht, indem er aufrührt meine Pein, 
Für mich die Nacht zum gramerfüllten Tage. 
Ich erwarte meinen Frieden von der Ruhe der Nacht, Nacht, die Kühlung bringt allem herben Gram: 
aber die Sonne, die mich zerstört, ertränkt, sich verbergend, mit sich selbst diesen geringen Rest meines Wohlseins. 

Denn da die Göttin, die vom niederen Himmel die dunkle Nacht erhellt, nun ihre Hörner zeigt, 
ersteht in mir sogleich die andere Luna wieder, leuchtend in jener Mitte, wo die Seele wohnt, 
und mich aufrufend zum gewohnten Leid, macht sie mir die Nacht zum qualvollen Tag. 

Albrecht Dürer: Junges Paar, vom Tod bedroht, oder: Der Spaziergang,
 um 1498, Kupferstich, 196 x 121 mm, Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe

PIERRE DE RONSARDMARTHA ELLEN BECKER
A SA MAISTRESSEODE AN KASSANDRA
Mignonne, allons voir si la rose 
Qui ce matin auoit desclose 
Sa robe de pourpre au Soleil, 
A point perdu ceste vesprée 
Les plis de sa robe pourprée, 
Et son teint au vostre pareil. 

Las! voyez comme en peu d'espace, 
Mignonne, elle a dessus la place 
Las las ses beautez laissé cheoir! 
O vrayment marastre Nature, 
Puis qu'vne telle fleur ne dure 
Que du matin iusques au soir! 

Donc, si vous me croyez, mignonne, 
Tandis que vostre âge fleuronne 
En sa plus verte nouueauté, 
Cueillez cueillez vostre ieunesse: 
Comme a ceste fleur la vieillesse 
Fera ternir vostre beauté. 
Geliebte, laß uns sehen, ob im Garten 
Die Rose, die heut früh nach langem Warten 
Ihr Purpurkleid der Sonne hingereicht, 
Noch nicht die morgenfrische Pracht verloren, 
Nicht ihr Gewand aus Purpurglut geboren, 
Und nicht den Schmelz, der deiner Wange gleicht. 

Weh! sieh nur hin, wie in so wenig Stunden, 
Geliebte, aller Glanz dahingeschwunden, 
Weh! weh! und wie die Schönheit schnell verdirbt. 
Läßt nicht Natur, die stiefgesinnte, schauern? 
Selbst solche Blüte darf nicht länger dauern, 
Als, daß sie, früh erwacht, am Abend stirbt. 

Glaub mir, Geliebte, laß das eitle Mühen. 
Solange deine jungen Jahre blühen 
Und lichte Freude grünt in deinem Sinn, 
So pflücke, pflück die Rosen deiner Jugend: 
Das Alter kommt, ihm wehrt nicht Wunsch noch Tugend, 
Und wie die Rose welkt die Schönheit hin. 
Liebste, gehen wir nachsehen ob die Rose, die heute morgen 
ihr Purpurkleid in der Sonne geöffnet hatte, nicht heute abend 
das Wallen ihres purpurnen Gewandes und ihre Farbe, die deiner gleicht, verloren hat. 

Ach sieh' wie sie in kurzer Zeit, Liebste, ihre Reize, wehe, wehe,
 herab auf den Boden hat fallen lassen. O, wahrhaft stiefmütterliche Natur,
 da eine solche Blume nicht länger währt als vom Morgen bis zum Abend. 

Drum glaube mir Liebste, pflücke, pflücke deine Jugend, 
während deine Jahre in ihrer frischesten Neuheit blühen, denn dir,
 wie dieser Blume, wird das Alter welken lassen deine Schönheit. 

Albrecht Dürer: Hl. Hieronymus im Gehäuse, 1514, Kupferstich, 259 x 201 mm,
Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe

AGRIPPA D'AUBIGNÉFRIEDHELM KEMP
L'HIVERDER WINTER DES HERRN VON AUBIGNÉ
Allusion des Irondelles, qui changent de demeure 
pour l'hyver, aux desirs lassifs qui 
s'esloignent pour la vieillesse.

Mes volages humeurs plus steriles que helles 
S'en vont, etje leur dis: vons sentez, Irondelles, 
S'esloigner la chaleur et le froid arriver, 
Allez nicher ailleurs, pour ne fascher impures 
Ma couche de babil, et ma table d'ordures: 
Laissez dormir en paix la nuict de mon hyver. 

D'un seul poinct le Soleil n'esloigne l'hemisphere, 
Il jette moins d' ardeur, mais autant de lumiere. 
Je change sans regrets, lors que je me repens 
Des frivoles amours et de leur artifice. 
J'aime l'hyver, qui vient purger mon cœur du vice, 
Comme de peste l'air, la terre de serpens. 

Mon chef blanchit dessous les neiges entassees, 
Le Soleil qui me luit les eschauffe glacees, 
Mais ne les peut dissoudre au plus court de ces mois. 
Fondez, neiges, venez dessus mon cœur descendre, 
Qu'encores il ne puisse allumer de ma cendre 
Du brazier, comme il fit des flammes autrefois.

Mais quoi, serai-je esteint devant ma vie esteinte? 
Ne luira plus en moy la flamme vive et saincte? 
Le zele flamboyant de la saincte maison?
Je fai aux saincts autels holocaustes des restes 
De glace aux feux impurs, et de naphte aux celestes: 
Clair et sacré flambeau, non funebre tizon. 

Voici moins de plaisirs, mais voici moins de peines: 
Le rossignol se tait, se taisent les Syrenes: 
Nous ne voyons cueillir ni les fruicts ni les fleurs: 
L'esperance n'est plus bien souvent tromperesse, 
L'hyver jouyt de tout, bien-heureuse vieillesse, 
La saison de l'usage, et non plus des labeurs. 

Mais la mort n'est pas loin: cette mort est suivie 
D'un vivre sans mourir, fin d'une fausse vie: 
Vie de nostre vie, et mort de nostre mort. 
Qui hait la seureté pour aimer le naufrage, 
Qui a jamais esté si friand de voyage, 
Que la longueur en soit plus douce que le port? 
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Nun flieht der eitle Schwarm der flatterhaften Lüste 
Davon: wie Schwalben ziehn, wenn zu des Jahres Rüste 
Die Wärme weicht und Frost den Luftkreis rings erfüllt. 
Geht, nistet anderswo, daß mich kein Girren wecke 
Und euer Unrat nicht die Tafel mir beflecke; 
Laßt meinen Winter ruhn, den Nacht und Friede hüllt. 

Die Sonne wandelt stet in gleicher Bahn und Schnelle, 
Sie strahlt mit mindrer Glut, doch unverändert helle. 
Mich kränkt der Wechsel nicht, wenn nur die Reue bleibt, 
Daß arger Frevelmut der Liebe mich gepeinigt. 
Der Winter ist mir lieb, der mich von Lastern reinigt, 
Wie er der Schlangen Brut, der Seuchen Dunst vertreibt. 

Mein Haupt deckt dichter Schnee mit blendendem Gefieder, 
Der Sonne Wärme glänzt von seinem Eise wider, 
Doch hält des Frostes Macht dem kurzen Lichte stand. 
Schmilz, Schnee, daß deine Flut herab zum Herzen wasche, 
Damit es nimmermehr aus seiner trüben Asche 
Die alte Glut entfacht, die lodernd einst gebrannt. 

Doch wie, verglomm der Geist, eh mein Geblüt verglommem?
Ist auch der heilge Strahl der Inbrunst mir benommen, 
Der Eifer um Dein Haus und Deine Heiligkeit? 
Zu Deinem Altar bring ich meiner Reste Steuer, 
Eis auf der Sünde Brand und Öl im Himmelsfeuer, 
Geweihter Fackel Schein, nicht finster schwelend Scheit. 

Ich soll der Freuden mich, der Leiden auch entwöhnen: 
Nun schweigt die Nachtigall, es schweigen die Sirenen; 
Kein Baum, der blütenreich und früchteschwer uns grüßt; 
Nur selten noch gelingt der Hoffnung, uns zu trügen, 
Des Alters Winter schenkt ein glückliches Genügen, 
Wo alle Arbeit ruht und man der Mühn genießt. 

Doch ist der Tod nicht fern: o hochwillkommnes Sterben, 
Wo wir Unsterblichkeit statt falschen Lebens erben: 
Ein Leben ohne End und unsres Todes Tod. 
Wer haßt die Sicherheit, daß er den Schiffbruch preise? 
Wen lüstete denn je so unentwegter Reise, 
Daß er den Port gescheut, der ihm den Frieden bot? 
Meine flatterhaften Launen, fruchtlos mehr als schön, ziehen davon, und ich sage ihnen, ihr spürt, Schwalben,
 wie die Wärme fortgeht und die Kälte naht, geht, nistet anderswo, um mir, ihr Unreinen, nicht leidig zu machen
 mein Lager mit Geschwätz und meinen Tisch durch Unrat; laßt die Nacht meines Winters in Frieden schlafen. 

Die Sonne entfernt sich von dieser Himmelsbahn nicht um einen einzigen Schritt, sie strahlt weniger Wärme
aber ebensoviel Licht aus. Ich nehme den Wechsel hin, ohne es zu bedauern, bereue nun aber meine frivolen Lieben und ihre List.
Ich liebe den Winter, der daherkommt mein Herz vom Bösen zu befreien wie von Seuchen die Luft und die Erde von Schlangen. 

Mein Haupt wird weiß unter dem angehäuften Schnee. Die Sonne, die für mich strahlt, erwärmt den vereisten Schnee,
doch sie kann ihn nicht auftauen in der kurzen Zeit der Monate. Schmilz, Schnee, komm, fließ herab auf mein Herz,
so daß sie aus der Asche keine Feuersbrunst mehr entfachen kann, so wie sie einst Flammen entzündete. 

Doch wie, werde ich erlöschen bevor mein Leben erlischt? Wird die lebendige und heilige Flamme nicht mehr in mir leuchten?
 Der glühende Eifer des heiligen Hauses? Ich bringe auf den heiligen Altären Brandopfer dar aus dem, was übrig bleibt, dem unreinen Feuer
 das Eis und Naphta dem himmlischen (Feuer): glänzende und heilige Fackel, kein schwelender Span für den Scheiterhaufen. 

Nun gibt es weniger Freuden, aber auch weniger Leiden: die Nachtigall verstummt, es verstummen die Sirenen:
wir sehen weder das Pflücken der Früchte, noch das der Blüten. Die Hoffnung ist nicht so oft mehr eine Betrügerin, 
der Winter genießt alles, glückliches Alter, die Jahreszeit des Auskostens und nicht mehr die der Arbeit. 

Doch der Tod ist nicht fern: diesem Tod folgt ein Leben ohne Sterben. Ende eines unechten Lebens:
Leben unseres Lebens und Tod unseres Todes. Wer haßt die Sicherheit so sehr, daß er den Schiffbruch liebt,
wer war jemals so aufs Reisen begierig, daß ihm die Dauer süßer als der Hafen war? 

Albrecht Dürer: Teich im Wald, um 1496, Wasserfarbe und Gouache auf Papier, 26 x 37 cm, British Museum, London

ALPHONSE DE LAMARTINEGUSTAV SCHWAB
L'AUTOMNEDER HERBST
Salut! bois couronnés d'un reste de verdure! 
Feuillages jaunissants sur les gazons épars! 
Salut, derniers beaux jours! le deuil de la nature 
Convient à la douleur et plaît à mes regards! 

Je suis d'un pas rêveur le sentier solitaire, 
J'aime à revoir encor, pour la dernière fois, 
Ce soleil pâlissant, dont la faible lumière 
Perce à peine à mes pieds l'obscurité des bois! 

Oui, dans ces jours d'automne où la nature expire, 
À ses regards voilés, je trouve plus d'attraits, 
C'est l'adieu d'un ami, c'cst le dernier sourire 
Des lèvres que la mort va fermer pour jamais! 

Ainsi, prêt à quitter l'horizon de la vie, 
Pleurant de mes longs jours l'espoir évanoui, 
Je me retourne encore, et d'un regard d'envie 
Je contemple ses biens dont je n'ai pas joui! 

Terre, soleil, vallons, belle et douce nature, 
Je vous dois une larme aux bords de mon tombeau; 
L'air est si parfumé! la lumière est si pure! 
Aux regards d'un mourant le soleil est si beau! 

Je voudrais maintenant vider jusqu'à la lie 
Ce calice mêlé de nectar et de fiel! 
Au fond de cette coupe où je buvais la vie, 
Peut-être restait-il une goutte de miel? 

Peut-être l'avenir me gardait-il encore 
Un retour de bonheur dont l'espoir est perdu?
Peut-être dans la foule, une âme que j'ignore 
Aurait compris mon âme, et m'aurait répondu? ... 

La fleur tombe en livrant ses parfums au zéphire; 
À la vie, au soleil, ce sont là ses adieux; 
Moi, je meurs; et mon âme, au moment qu'elle expire, 
S'exhale comme un son triste et mélodieux. 
Ihr Wälder seyd gegrüßt, vom letzten Grün bekleidet, 
Du gelblich Laub, zerstreut auf diese Wiesenflur, 
Du lezter schöner Tag! - dem Herzen, welches leidet, 
Stellt sich so lieblich dar die Trauer der Natur. 

Nachdenklich folgt mein Schritt dem unbesuchten Steige, 
Und gerne mag ich schaun hinauf zum letztenmal 
Ins blasse Sonnenlicht, das mühlich durchs Gezweige 
Die Nacht vor meinem Fuß durchdringt mit seinem Strahl. 

Aus dem verhüllten Aug', in diesen Herbstestagen, 
Der sterbenden Natur ein größrer Reitz entfließt; 
Das letzte Lächeln ists vom Freund, ein Abschiedsagen 
Von Lippen, die der Tod nun bald auf ewig schließt. 

Zu scheiden so bereit vom Horizont des Lebens, 
Der Hoffnung langen Strom betrauernd, der verfloß, 
Noch einmal umgekehrt, betracht' ich, ach! vergebens 
Die Güter die es gab, und die ich nicht genoß. 

Natur, so hold und sanft! O Erd', o Sonn', o Thale! 
Wie würde nicht um euch mein Aug' am Grabe feucht? 
So duftig ist die Luft! das Licht so rein von Strahle! 
Dem Blick des Sterbenden so schön die Sonne däucht! 

Ja, leeren möcht' ich jezt den Becher bis zur Hefe, 
Aus dem ich Nektar oft, doch oft auch Galle trank; 
Vielleicht, daß ich zuletzt ein Tröpfchen Honig träfe, 
Das in des Lebens Kelch etwa zu Grunde sank! 

Vielleicht doch wollte mir die Zukunft aufbewahren 
Die Wiederkehr zum Glück, deß Hoffnung mir verschwand; 
Vielleicht noch hätt' ein Geist aus diesen fremden Schaaren 
Erwiedert meinen Gruß, den er zuletzt verstand! ... 

Die Blume fällt und läßt den Westen ihre Düfte, 
Ans Leben und ans Licht ist dieß ihr Lebewohl: 
So sterb' ich, und mein Geist verhaucht sich in die Lüfte, 
Dem Tone gleich, der trüb und süß der Brust entquoll. 
Seid gegrüßt, ihr Wälder, gekrönt vom letzten Grün, du gelbes Laub auf den Wiesen verstreut! Seid gegrüßt 
letzte schöne Tage, die Trauer der Natur ist meinem Schmerz verwandt und tut meinen Blicken wohl. 

Ich folge mit verträumten Schritten dem einsamen Pfad; gern sehe ich zum letzten Mal die fahle Sonne wieder, 
ihr schwaches Licht durchbricht kaum zu meinen Füßen das Dunkel der Wälder. 

Ja, in diesen Herbsttagen, in denen die Natur stirbt, in ihrem verhüllten Blick finde ich größeren Gefallen, 
es ist der Abschied eines Freundes, es ist das letzte Lächeln der Lippen, die der Tod auf immer schließen wird. 

Und so bin ich bereit den Lebensumkreis zu verlassen, ich traure um die erloschenen Hoffnungen meiner langen Tage;
 ich wende mich noch einmal um und betrachte voll Bedauern all das Schöne, das ich nie genossen habe. 

Erde, Sonne, Täler, schöne und liebliche Natur, ich schulde euch allen eine Träne am Rande meines Grabes; 
die Luft duftet so süß, das Licht ist so rein, in den Augen eines Sterbenden ist die Sonne so schön. 

Jetzt würde ich diesen mit Nektar und Galle gefüllten Kelch bis zur Neige leeren wollen; auf dem Grunde dieses 
Bechers, aus dem ich das Leben trank, bliebe vielleicht doch ein Honigtropfen zurück. 

Vielleicht, daß mir die Zukunft noch die Rückkehr des Glücks bewahrte, auf das die Hoffnung längst erloschen ist;
vielleicht hätte in der Menge der Menschen eine mir unbekannte Seele meine Seele verstanden und mir geantwortet. 

Die Blüte fällt herab und überläßt ihren Duft dem Zephyr; das ist ihr Abschied an das Leben und an die Sonne. 
Ich selbst sterbe und meine Seele, in dem Augenblick da sie erlischt, verströmt sich wie ein trauriger, melodischer Klang. 

Albrecht Dürer: Weiblicher Akt, 1493, Feder und Tinte auf Papier,
 272 x 147 mm, Musée Bonnat, Bayonne

VICTOR HUGOFRITZ GUNDLACH
VOIS, CETTE BRANCHE EST RUDE ...SIEH, DIESER ZWEIG IST KAHL ...
Vois, cette branche est rude, elle est noire, et la nue 
Verse la pluie à flots sur son écorce nue; 
Mais attends que l'hiver s'en aille, et tu vas voir 
Une feuille percer ces nœuds si durs pour elle, 
Et tu demanderas comment un bourgeon frêle 
Peut, si tendre et si vert, jaillir de ce bois noir. 

Demande alors pourquoi, ma jeune bien-aimée, 
Quand sur mon âme, hélas! endurcie et fermée, 
Ton souffle passe, après tant de maux expiés, 
Pourquoi remonte et court ma sève évanouie, 
Pourquoi mon âme en fleur et tout épanouie 
Jette soudain des vers que j'effeuille à tes pieds! 

C'est que tout a sa loi, le monde et la fortune; 
C'est qu'une claire nuit succède aux nuits sans lune; 
C'est que tout ici-bas a ses reflux constants; 
C'est qu'il faut l'arbre au vent et la feuille au zéphire; 
C'est qu'après le malheur m'est venu ton sourire; 
C'est que c'était l'hiver et que c'est le printemps! 
Sieh, dieser Zweig ist kahl und schwarz, ein Spiel der Winde. 
Der Regen strömt herab auf seine nackte Rinde; 
Doch warte nur, sobald der Lenz kommt, wirst du sehn, 
Wie junge Blätter sich aus seinen Knoten ringen, 
Wie Knospen, zart und grün, aus diesem Holze springen, 
Und fragen wirst du dich: Wie mag es nur geschehn? 

Dann frage auch, mein Lieb, von Anmut hold umflossen: 
Wenn über mein Gemüt, das grollend sich verschlossen, 
Dein süßer Hauch hinzieht, warum sich dann erneut 
Mein schwacher Lebensmut, der beinah' schon verglühte, 
Warum dies starre Herz von neuem steht in Blüte 
Und seiner Lieder Schatz zu deinen Füßen streut! 

Weil ein Gesetz beherrscht die Welt, des Schicksals Mächte, 
Weil eine helle Nacht stets folgt auf dunkle Nächte, 
Weil alles in der Welt in ew'gem Wechsel ist, 
Weil sanft das Laub bewegt des Zephyrs laues Fächeln, 
Weil nach dem Unglück mir erschien dein holdes Lächeln, 
Weil jüngst noch Winter war und Lenz zu dieser Frist! 
Sieh' dieser Zweig ist rauh, er ist schwarz und die Wolken schütten den Regen in Strömen auf seine nackte Rinde; 
aber warte nur bis der Winter vorbei ist, und dann wirst du sehen, wie ein Blatt die ihm so harten Knoten durchbricht,
und du wirst fragen, wie eine so schwache, zarte, grüne Knospe aus diesem schwarzen Holz sprießen kann. 

Dann frage auch warum meine junge Geliebte, wenn über meine Seele, ach! hart und verschlossen, dein Atem streift,
nach so viel gebüßtem Übel, warum mein versiegter Lebenssaft wieder aufsteigt und fließt, 
warum meine Seele erblüht, sich entfaltet und plötzlich Verse hervorbringt, die ich dir zu Füßen streue! 

Es ist so, weil alles sein Gesetz hat, die Welt und das Schicksal, weil eine helle Nacht den mondlosen Nächten folgt;
weil alles hier auf Erden seine ständigen Gezeiten hat, weil man den Baum bei Sturm und das Blatt bei zartem Wind braucht;
weil nach dem Leid dein Lächeln zu mir kam; weil es Winter war und nun Frühling ist! 

Albrecht Dürer: Melancholie I, 1514, Kupferstich, 239 x 189 mm,
Staatliche Kunsthalle, Karlsruhe

GERARD DE NERVALDUSCHAN DENDARSKY
EL DESDICHADOEL DESDICHADO
Je suis le ténébreux, - le veuf, - l'inconsolé, 
Le prince d'Aquitaine à la tour abolie: 
Ma seule étoile est morte, - et mon luth constellé 
Porte le soleil noir de la Mélancolie. 

Dans la nuit du tombeau, toi qui m'as consolé, 
Rends-moi le Pausilippe et la mer d'Italie, 
La fleur qui plaisait tant à mon cœur désolé, 
Et la treille où le pampre à la rose s'allie. 

Suis-je Amour ou Phébus? ... Lusignan ou Biron? 
Mon front est rouge encor du baiser de la reine; 
J'ai rêvé dans la grotte où nage la sirène ... 

Et j'ai deux fois vainqueur traversé l'Achéron: 
Modulant tour à tour sur la lyre d'Orphée 
Les soupirs de la sainte et les cris de la fée. 
Dunkel bin ich - der Witwer -, der den Trost verlernte, 
Fürst Aquitaniens, er, dem der Turm mißglückt: 
Mir starb mein Stern, - und meine Laute, die besternte, 
Ist mit der Schwermut schwarzer Sonne leidgeschmückt. 

Du, die in Grabesnacht mir Hilfe warst im Schmerz, 
Gib mir den Posilipp, das italiensche Meer, 
Die Blume, die erquickt hat mein verzweifelt Herz, 
Und das Geländer, rosenhold und traubenschwer. 

Wer bin ich? Amor? Phöbus? Lusignan? Biron?
Noch ist die Stirn mir rot vom Kuß der Königin; 
In der Sirenengrotte weilend, träumt ich hin ... 

Und zweimal fuhr ich siegreich durch den Acheron: 
Indem auf Orpheus' Leier ich der Heilgen Weh 
Wechselnd ertönen ließ zum lauten Schrei der Fee. 
Ich bin der Düstere, - der Verlassene - der Untröstbare, der Fürst von Aquitanien vom zerstörten Turm: 
mein einziger Stern ist tot -, und meine gestirnte Laute trägt die schwarze Sonne der Melancholie. 

In der Nacht des Grabes, du, die du mich getröstet hast, gib mir den Posilipp und das Meer Italiens zurück,
die Blume, die mein verzweifeltes Herz so sehr erfreute und die Laube, an der sich Rosen und Wein umschlingen. 

Bin ich Amor oder Phöbus? ... Lusignan oder Biron? Meine Stirn ist noch rot vom Kuß der Königin; 
ich habe in der Grotte geträumt, wo die Sirene schwimmt ... 

Und ich habe zweimal siegreich den Acheron überquert: und ließ auf Orpheus Leier 
bald die Seufzer der Heiligen bald die Rufe der Fee ertönen. 

Quelle: Poesie der Welt: Frankreich. Edition Stichnote im Propyläen Verlag Berlin, 1979. Auswahl der Gedichte und Prosa-Übertragungen von Eva-Maria Schulz-Jander. ISBN 3-549-05354-1

Die im Infopaket enthaltenen Informationen über die sechs Poeten stammen von Gert Pinkernells informativer Homepage

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Reposted on November 18th, 2016

14. Juli 2014

Orlando Gibbons: Anthems und Verse Anthems

Als Orlando Gibbons während seiner Dienstzeit an der Chapel Royal zu Canterbury am 5. Juni 1625 einer vermuteten Gehirnblutung zum Opfer fiel, verlor England einen seiner begabtesten und vielseitigsten Komponisten im Alter von einundvierzig Jahren. Gibbons, der als gewandter Tasteninstrumentalist galt (ein 1693 veröffentlichtes Buch von 1692 beschreibt ihn als den 'besten Finger' seiner Epoche), war ein Musiker, der das Komponieren für geistliche wie weltliche Ensembles mit gleichem Geschick bewerkstelligte. Er entstammte einer musikalischen Familie: Sein Vater zog zweimal zwischen Oxford und Cambridge hin und her, um am jeweiligen Ort die Stadtmusikanten zu leiten. In Cambridge wurde, wahrscheinlich Anfang 1568, Orlandos älterer Bruder Edward geboren, während Orlando am Weihnachtstag 1583 in Oxford getauft wurde. 1590 befand sich die Familie Gibbons wieder in Cambridge, wo Edward 1592 Kantoreisänger am King's College wurde und Orlando ab 1596 im selben Chor seine musikalische Grundausbildung als Chorknabe erhielt. Gerade sieben Jahre später sollte er den bedeutendsten Teil seiner kurzen Laufbahn an der Chapel Royal in London beginnen.

Zu jener Zeit war die Unterstützung eines Gönners für den Kirchenmusiker von zentraler Bedeutung. Er mochte an einer der Kathedralen oder einer akademischen Institution tätig sein, aber vom Prestige her war es für Aufstrebende unabdingbar, Verbindungen zur Chapel Royal zu knüpfen. Das hatte auch seine Nachteile: Der Monarch, und König Jakob I. ganz besonders, ließ sich gern schmeicheln, denn er betrachtete sich als Fürst von Gottes Gnaden - ja sogar als von Natur aus göttlich; seine Hofmusiker konnten demzufolge ihr Ansehen erhöhen, indem sie Musik zu Texten schrieben, die eine doppelte Auslegung zuließen. Im Anthem Hosanna to the son of David mochten sich die Worte 'Gelobt sei der König' (der Ruf der Menge bei Christi Einzug in Jerusalem) genauso gut auf Seine Majestät beziehen. Aus der Existenz von Vertonungen gewisser Texte, die im Proprium für einen Abschnitt des Kirchenjahrs vorgesehen sind, darf somit nicht unbedingt geschlossen werden, daß diese Musik in erster Linie liturgischen Zwecken gedient hat.

Gibbons' Kirchenmusik erstreckt sich im wesentlichen auf zwei Bereiche. Einerseits handelt es sich um Vertonungen für das Ordinarium - die Cantica für das Morgen- und Abendgebet - sowie um einige Bittgebete und Psalmen. Im Gegensatz dazu stehen die Anthems, die sich wiederum (wie die Gottesdienste) in Full Anthems und Verse Anthems aufteilen. Das Full Anthem ist leicht erklärt: Es ist eine Vertonung für den gesamten Chor (hier vertreten durch Hosanna to the son of David und O Lord, in thy wrath rebuke me not), der auch antiphonal aufgeteilt sein kann, wie im großangelegten O clap your hands. Das Verse Anthem setzt, in der Regel von Anfang des Werks an, Soli für eine oder mehrere Stimmen zwischen kurze Chorpassagen, die das vorhergehende Solomaterial wiederholen oder bestätigen.

Die Full Anthems orientieren sich in vielem eindeutig an der Musik von Thomas Tallis, einem von Gibbons' berühmten Vorgängern an der Chapel Royal. Es war Tallis, der jenen Stil etablierte, den Musiker jahrhundertelang als Inbegriff englischer Polyphonie des 16. Jahrhunderts ansahen. Die Verse Anthems haben ihren stilistischen Ursprung wohl im Consortlied, einer Gattung weltlichen Sologesangs mit Gambenbegleitung, ersonnen für die Chorknabenschauspiele des späten 16. Jahrhunderts, an denen die Londoner "Children of the Chapel" teilnahmen. In der ins Kirchliche übertragenen Form entwickelte Gibbons einen flüssigen, unverwechselbaren Stil. Auf Musik dieser Art konzentrieren sich die vorliegenden Aufnahmen.

Orlando Gibbons (1583-1625)
Es gibt höchst unterschiedliche Meinungen zur Tonhöhe der Instrumente in den Kathedralen der betreffenden Epoche - ein allgegenwärtiges Problem bei der Aufnahme dieser Art von Musik. Es gab keinen überall gültigen Standard, und viele Orte hatten eigene Vorstellungen von der richtigen Tonhöhe - wie sie ja auch vor dem Zeitalter der Eisenbahn ihre eigene Uhrzeit bestimmten. Jede Einrichtung existierte in einer gewissen örtlichen Isolation. Die erhaltenen Belege können sich also nur auf einen bestimmten Ort beziehen und keine allgemeingültigen Angaben sein. Im Englischen Bürgerkrieg wurden viele Orgeln von den Parlamentstruppen zerstört oder unwiderruflich beschädigt. Als nun Thomas Thamar 1665 den Wiederaufbau der Orgel (deren Tonhöhe wir genau kennen) in Angriff nahm, hat er da seinem Instrument in Winchester wirklich eine ganz andere Tonhöhe als zuvor auferlegt? Hätte er sich von der einen oder anderen erhaltenen Großpfeife aus der Zeit vor dem Commonwealth beeinflussen lassen? Schließlich ist an anderen Stätten der zuvor übliche "Chorton" erhalten geblieben. All dies ist natürlich Spekulation, aber wir haben sie in dieser Aufnahme dem Experiment zugrunde gelegt, sämtliche Werke in niedrigerer Tonlage darzubieten, als es in den letzten siebzig Jahren üblich geworden ist. Die Altpartien erhalten dadurch einen tieferen Stimmumfang, als es heutige Sänger gewohnt sind, aber der Klang wird weitaus üppiger und weniger spröde.

Nur drei von Gibbons' Verse Anthems sind für einen Solisten allein gesetzt. Zwei der hier vertretenen (This is the record of John und Behold, thou hast made my days) weisen das Solo dem Alt zu, jener Stimme, für die die meisten Versparts geschrieben sind. Die Altstimme ist es auch, die zur Herstellung einer fünfstimmigen Struktur am häufigsten geteilt wird. Von den übrigen Verse Anthems ist Glorious and powerful God über alle Versabschnitte hinweg durch ein Duett zwischen Alt und Baß gekennzeichnet, während andere Werke kontrastierende Solistengruppen verwenden. Für mehrere der Anthems sind Gambenbegleitungen erhalten, was angesichts des völligen Mangels an Belegen für einen Einsatz in der Kirche bedeuten könnte, daß als Alternative eine weltliche Darbietung vorgesehen war. Das könnte darauf hindeuten, daß einige der Anthems von vornherein nicht ausschließlich zum liturgischen Gebrauch entstanden sind.

Ein Anthem, das eindeutig nicht in die Kirche gehört, dem jedoch durch die Begleitung auf der Orgel ein religiöser Anstrich verliehen wurde, ist Great king of gods. Wir haben es um seiner Qualität willen in unsere Einspielung aufgenommen, und auch deshalb, weil es sonst im Repertoire "auf dem Trockenen" säße. Es ist ein Gelegenheitswerk aus Anlaß des Besuchs, den König Jakob I. Schottland trotz heftiger Opposition vor Ort im Jahre 1617 abstattete. Philip Brett hat die Vermutung geäußert, es könne bei der Ankunft des Königs im Holyrood Palace zu Edinburgh aufgeführt worden sein, nachdem seine gesamte Chapel Royal mit dem Schiff aus London angereist war. In den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts wurde der Text durch einen eher kirchentauglichen mit dem Titel "Great Lord of Lords" ersetzt.

Detail aus dem Chor von Winchester Cathedral
 (Eichenholz, 14.Jahrhundert). [Quelle]
Es existieren zwei Vertonungen der Cantica zur Abendandacht. Der Erste oder Kurze Gottesdienst (First or Short Service, in der vorliegenden Aufnahme nicht enthalten) ist fast vollständig homophon und für vollständigen Chor gesetzt, während es sich beim Zweiten Gottesdienst (Second Evening Service) um eine kunstvolle Vertonung mit zahlreichen Versen handelt. Die verwendete Edition wurde hauptsächlich anhand der in John Barnards Zusammenstellung Selected Church Music von 1641 veröffentlichten Fassung eingerichtet. In einigen Fällen enthält diese Quelle in den Versen nicht alle Stimmen, die in anderen Ausgaben zu finden sind. Bei "for behold from henceforth" ist die Tenorstimme, die aus modernen Editionen seit den 1920er Jahren bekannt ist, möglicherweise unecht; am Beginn des Nunc dimittis ist eine zusätzliche, noch zweifelhaftere Diskantstimme aus dem Orgelpart abgeleitet worden. Die Textgrundlage, die E.H. Fellowes zu modernisieren suchte, ist wiederhergestellt worden, und insgesamt sind die Orgelbegleitungen in diesen Aufnahmen ohne den zweifelhaften Vorzug der erheblichen Zusätze und der "imitativen Findigkeit" zu hören, die vor etwa fünfundsiebzig Jahren in Fellowes' Ausgaben eingingen.

Die Vielfalt der Strukturen und kompositionstechnischen Mittel in den Verse Anthems zeigen Gibbons von seiner besten Seite, obwohl er in diesem Bereich erst in den letzten vierzig Jahren zu Ansehen gelangt ist. Vielleicht lag Fellowes' Bereitschaft, zu ändern und zu "verbessern", darin begründet, daß er seinerzeit Gibbons' Full Anthems für besser hielt und die Verse Anthems "auf erheblich niedrigerer Ebene" einstufte. Aber der Versstil war ein Produkt seiner Epoche, und Gibbons war sein Hauptvertreter. Wäre er nicht jung gestorben, hätten Gibbons' Neuerungen, wie John Harley angemerkt hat, vielleicht mit der Zeit direkteren Einfluß ausgeübt. Auch so diente die Form des Verse Anthem dank Henry Purcell, Maurice Greene und William Boyce noch anderthalb Jahrhunderte nach Gibbons als Grundlage vieler Kathedral-Anthems. In seinen Principles of musik konnte Charles Butler 1636 den Versstil enthusiastisch loben: "Ein feierliches Anthem, worin ein süß melodischer Diskant oder Countertenor vereinzelt singt und der ganze Chor antwortet (umso mehr, wenn zwei solche einzelnen Stimmen und zwei Chöre einander antworten und zuletzt zusammenfinden) … ergibt eine solch himmlische Harmonie, daß Gott und die Menschen sich gleichermaßen daran erfreuen."

Quelle: Andrew Parker (Übersetzung Anne Steeb, Bernd Müller), im Booklet

TRACKLIST

ORLANDO GIBBONS 
(1583-1625) 

ANTHEMS AND VERSE ANTHEMS 

[01] Hosanna to the son of David              2'44 
[02] Sing unto the Lord                       5'55
[03] This is the record of John               4'18
[04] If ye be risen again with Christ         4'47
[05] O Lord, in thy wrath rebuke me not       3'50

     Second Evening Service 
[06] Magnificat                               6'10
[07] Nunc dimittis                            3'22

[08] Behold, thou hast made my days           4'33   
[09] O God, the king of glory                 4'13
[10] Glorious and powerful God                5'10
[11] Fantasia in A minor (organ solo)         5'07
[12] O clap your hands                        5'32 
[13] Thou God of wisdom                       5'49  
[14] Blessed are all they that fear the Lord  4'42
[15] Great king of gods                       4'43 

                                 Total Time: 72'31

ROBIN BLAZE countertenor 
STEPHEN VARCOE baritone 
THE CHOIR OF WINCHESTER CATHEDRAL 
STEPHEN FARR, SARAH BALDOCK organ 
DAVID HILL Director of Music 

Recorded in Winchester Cathedral on 28-30 April 1999
Recording Engineers Antony Howell, Julian Millard
Recording Producer Mark Brown
Executive Producers Edward Perry, Simon Perry
(P) 2000 
(C) 2007 

Track 2: Sing unto the Lord (Psalm 30, 5-11)


Psalm 30, 5-11
Sing unto the Lord, O ye saints of his,
and give thanks at the remembrance of his holiness:
for his anger endures but a moment, in his favour is life:
Weeping may endure for a night, but joy comes in the morning.
And in my prosperity I said, I shall never be moved:
Lord, by thy favour, thou hast made my mountain to stand strong.
Thou didst hide thy face and I was troubled.
I cried to thee, O Lord
and unto the Lord I made my supplication.
What profit is there in my blood, when I go down into the pit?
Shall the dust praise thee, shall it declare thy truth?
Hear, O Lord, and have mercy upon me: Lord, be thou my helper.
Lobsingt dem HERRN, ihr seine Getreuen,
und preist seinen heiligen Namen!
Denn sein Zorn währt einen Augenblick, seine Gnade aber lebenslang;
am Abend kehrt das Weinen ein und am Morgen der Jubel.
Und ich sprach, als es mir gut ging: »Ich werde ewiglich nicht wanken!«
HERR, durch deine Gnade hattest du meinen Berg fest hingestellt;
als du aber dein Angesicht verbargst, wurde ich bestürzt.
Zu dir, HERR, rief ich;
zu dem Herrn flehte ich um Gnade:
»Wozu ist mein Blut gut, wenn ich in die Grube fahre?
Wird dir der Staub danken, wird er deine Treue verkündigen?
Höre, o HERR, und sei mir gnädig; HERR, sei du mein Helfer!«


Zum Bedeutungswandel von Motivzitaten



Altniederländische Rezeptionen im Œuvre Pieter Brueghels des Älteren

Abb.1: Hubert van Eyck (?), Kreuztragung, 1. Viertel 15. Jh., Bleistift auf
Papier, 250 x 279 mm, Graphische Sammlung Albertina, Wien.
Um 1500 erfolgt in der altniederländischen bildenden Kunst eine inhaltliche wie stilistische Neuorientierung. Anlaß ist der durch Heirat erzielte Zusammenschluß der vom aufblühenden Bürgertum bestimmten niederländischen Grafschaften mit dem Herzogtum Burgund. Im Zentrum steht die Entwicklung neuer Bildgattungen, die auf der Bedeutungsverlagerung der Bildinhalte beruht: Aus der figuralen Einzeldarstellung heraus entsteht, auch unter dem Einfluß der Sepulkralplastik, das autonome Portrait. Aus der traditionellen bloßen Angabe von Attributen entfaltet sich durch eine gesteigerte Artikulierung der Gegenständlichkeit das autonome Stilleben. Die bislang nur summarisch wiedergegebene Umgebung oder Landschaft wird nun ausführlicher behandelt, schmückende Details gewinnen zunehmend an Bedeutung.

Durch die gesteigerte Konzentration auf die Darstellung realer Gegenstände soll der symbolische Gehalt nun visuell erfaßbar werden. Dies steht im Gegensatz zur frühchristlichen Bildtradition, in der Symbolwerte hinter Alltagsgegenständen versteckt und nur vom Eingeweihten im Symbolgehalt verstanden werden sollten: Die dominanten herkömmlichen Themen treten damit zugunsten des ehemaligen Beiwerks allmählich in den Hintergrund und dienen im 16. Jahrhundert schließlich nur mehr als funktioneller Vorwand, als Staffage für die nun autonom entwickelten neuen Bildgattungen: nämlich Portrait-, Genre-, Stillleben- und Landschaftsmalerei sowie Architektur- und Interieurdarstellungen. Die althergebrachten ikonographischen Sujets und das ehemalige bloße Beiwerk haben damit endgültig ihre Rollen getauscht.

Abb.2: Pieter Bruegel d. Ä., Kreuztragung Christi,
Detail von Abb. 4.
Eine Vorstufe dieser Entwicklung kann bereits bei Jan van Eyck beobachtet werden: Der bildliche Faktor im Werk des Künstlers, der besonders durch gegenständliche Motive erreicht wird, die die Sicht in den Tiefenraum verstellen, erzeugt durch die Beruhigung des Blickes eine optische Stabilisierung und führt in den immanenten Aussagewert der Gegenstände ein. Dieser Bedeutungswechsel der innerbildlichen Funktionen emanzipiert sich im späteren Werk Pieter Brueghels des Älteren so sehr, daß man beispielsweise bei der "Bauernhochzeit" aus der Beschreibung allein die ursprüngliche Herkunft des Bildes nicht mehr ermitteln kann. Dies führt mitunter zu phantasievollen Bilderklärungen anstatt zu einer zielführenden, d. h. deduktiven, auf der Basis des Vergleiches vorgenommenen Einordnung. Gewiß, Bildthemen wie der "Triumph des Todes" - thematisch der letztlich aus dem italienischen Trecento stammenden Totentanz-Ikonographie verpflichtet - lassen bei Brueghels Bild "De dulle Griet" prima vista nicht an die altniederländische Malerei denken, obwohl das schaurig über die Figurenmasse hinwegreitende Gerippe an das geflügelte Skelett der Weltgerichtsdarstellung im Diptychon des Meisters des Turiner Gebetbuches, also jenes Werkes, in dem eine Arbeit Hubert van Eycks vermutet werden kann, erinnert, wenngleich die kompositionellen Faktoren deutlich abweichen.

Dagegen läßt sich die "Kreuztragung Christi" (Abb. 4), die den Gang nach Golgotha über einen weiträumigen, spiralig verlaufenden Weg zeigt, in eine bis zur früh-eyckischen Malerei zurückreichende Entwicklungslinie einordnen. Das Kompositionsprinzip, das den szenischen Effekt einer Drehbühne vorwegnimmt, geht, wie durch ein zeitgenössisches Fragment einer Zeichnung (Abb. 1) und eine um 1500 gemalte Replik (Abb. 3) dargelegt ist, auf Hubert van Eyck zurück. Durch die Reliefplastik, vor allem aber durch die Reproduktionsgraphik Martin Schongauers findet es weite Verbreitung. Bei Brueghel, der möglicherweise das als verschollen geltende Original Hubert van Eycks kannte, wird das Prinzip noch erheblich gesteigert: Hier führt der spiralige Weg links aus der Bildtiefe, aus Jerusalem, heraus. Die zentrale, am Wendepunkt der Kurve angeordnete Kreuztragungsgruppe, ist zwar an prominenter Stelle, aber kleinfigurig und staffageartig dargestellt. Der ansteigende Weg endet an der Richtstätte Golgotha, wo sich bereits eine Menschenmenge kreisförmig versammelt hat. Der transitorische Charakter der Szene wird sowohl durch die zur Richtstätte vorauseilenden, als auch durch die aus der Stadt nacheilenden Menschen unterstrichen.

Abb.3: Nach Jan van Eyck, Kreuztragung, um 1500, Öl auf Holz,
97 x 129 cm, Museum der bildenden Künste, Budapest.
Das dramatische Geschehen entfaltet sich als weites, landschaftliches Panorama, das von einem erhöhten Podest eingesehen wird. Die verhältnismäßig großfigurig wiedergegebene Gruppe der trauernden Anhänger Christi rechts im Vordergrund setzt nicht nur figural den Hauptakzent, sie trennt auch das Hauptthema "die Kreuztragung" vom Bildbewohnertum, das durch die anekdotisch anmutende Repoussoirfigur des sitzenden Hirten eingeführt wird. Der thematische Schwerpunkt, der unter der Kreuzeslast zusammengesunkene Christus, stellt einen Moment des Innehaltens dar und ist dadurch gleichzeitig eine Konzession an die Statik des zweidimensionalen Bildwerkes. Die dynamischen Elemente des Bildes - der ansteigende, kurvige Wegverlauf und die Bewegungsimpulse der sich zusammenschließenden Figurengruppen - werden dagegen durch die horizontalen Räder der Galgen und das Plateau der Windmühle trotz der zur großräumigen, kreisenden Bewegungsemphase artverwandten Form zu einem ordnenden Tiefenkorrelat erfolgreich genutzt.

Diese Dynamik wird durch die Windmühle, die den Felsen, die zentrale vertikale Achse der Gesamtkomposition, bekrönt, zum atmosphärischen Ausdrucksfaktor: Die Flügel scheinen von einem Windstoß erfaßt, der sich in dem das dramatische Geschehen steigernden, wechselnden Gewölk am Firmament abzeichnet. Obwohl Pieter Brueghel den früh-eyckischen Drehbühneneffekt der Komposition und seine Dynamik erheblich ausweitet und erhöht, dient dieser dennoch als Staffage eines Panoramabildes, in dem sich die schrittweise Verschlimmerung eines dramatisch-tragischen Schaugeschehens in der geschilderten Atmosphäre widerspiegelt. Die herkömmlichen ikonographischen Motive - Kreuztragung, Anhänger Christi - bleiben in diesem Bild in ihrer Authentizität vollgültig faßbar.

Abb.4: Pieter Bruegel d. Ä., Kreuztragung Christi, 1564, Öl auf Holz, 124 x 170 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Brueghels "Turmbau zu Babel" erinnert grundsätzlich noch an die Darstellung der Gefangennahme Christi im Turiner Gebetbuch, besonders in der Spannung zwischen der Figurengruppe um Nimrod auf dem scheinbar erhöht liegenden Landschaftsstück links im Vordergrund und der weiträumigen, zwischen den Konturen des Vordergrundes eingebetteten Landschaft mit dem zentralen, achsial ausgerichteten Turm. Dagegen ist in dem Bild der Heiligen Barbara Jan van Eycks eine unmittelbare Vorstufe für die gesteigerte bildliche Version Brueghels zu erkennen: Auch hier erhält der jeweils bis an den oberen Bildrand reichende Turm seine überragende Dimension durch das Absenken des Landschaftsgrundes, den tiefliegenden Horizont und die weitreichende "Weltraumlandschaft". Jan van Eycks Bild steigert seine Darstellung des Turmes zu einem in eine Landschaft eingebetteten Architekturportrait: Auch Brueghels Turm zeigt portraithafte Züge, in dem die Struktur des Kolosseums in Rom paraphrasiert und Bauformen romanischen Ursprungs miteinbezogen werden.

In den bisher genannten Werken bleibt die traditionelle Ikonographie zwar auf den ersten Blick noch erfaßbar, die genremäßige Akzentverschiebung ist aber bereits deutlich spürbar: In der Kreuztragung dominiert das weiträumige Landschaftsbild, im Turmbau zu Babel die Architekturdarstellung in der Landschaft. Die Kompositionsstruktur der Kreuztragung, - der um ein vertikales, achsial angeordnetes Felsenmotiv sich aufwärts windende Weg, - beherrscht auch die auf den ersten Blick nicht leicht nachzuvollziehende Spiralstruktur des Turmes zu Babel.

Abb.5: Pieter Bruegel d. A, Paulus-Sturz, 1567, Öl auf Holz, 108 x 156 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Dieselbe Kompositionsform variiert Brueghel erneut im "Paulus-Sturz" (Abb. 5). Strukturbestimmend in diesem dramatisch aufwärts gestaffelten Landschaftsbild ist der starke Kontrast zwischen der vordersten Bildebene, der fernen, tiefliegenden Küstengegend im linken Bildausschnitt und den kühn sich auftürmenden Felsformationen im Bildmittelgrund, zwischen denen sich der schmale, steil ansteigende Pfad mit der Figurengruppe windet, die als kleinfigurige, von vitalem Bewegungsduktus erfaßte Massenszene wiedergegeben ist. Die Landschaft ist so dominierend, daß die Titelszene, die auf einem isoliert hochgefahrenen Felsenpodest im Vordergrund zugleich als Narbe des kurvig ansteigenden Pfades dargestellt ist, beinahe übersehen wird, ja zum anekdotischen Detail, zur Staffage gerät.

Das Spiralkompositionsmodell ist gesteigert und gestrafft durch vertikale Elemente, zwischen denendie Landschaftspartien eingespannt sind. Damit entsteht in der weitläufigen Landschaft der Eindruck von Ausschnitthaftigkeit: Die senkrechte, auch bei der Kreuztragung und beim Turmbau zu Babel optisch wirksame Achse, um die sich das landschaftliche Szenarium zu drehen scheint, tritt als kompaktes Bildzentrum in Erscheinung und gewährt den umgebenden Bereichen nur Fragmentcharakter. Dabei erhält die wohl nur fernsichtig gedachte Mittelpartie der Felslandschaft im Bild des Paulus-Sturzes durch ihre proportionale Akzentverschiebung nahsichtigen Charakter. Gleichermaßen verhält sich die scheinbar unverhältnismäßig großfigurige Wiedergabe einer berittenen Repoussoirfigur sowie die eines Reiters rechts im Vordergrund gegenüber der unverhältnismäßig kleinfigurig geratenen Darstellung der Titelszene.

Abb.6: Pieter Bruegel d. Ä., Paulus-Sturz, Detail von Abb. 5.
Die kleinfigurige Menschenansammlung rückt, als weiteres Charakteristikum für die Ausschnitthaftigkeit, das Größenverhältnis von Figur und Landschaftsszenerie zurecht. Dadurch verschiebt sich zugleich der Betrachterstandpunkt: Die ausladende Wirkung der sanft ansteigenden Spirale im Verlauf des breiten Weges in der "Kreuztragung" weicht im Gemälde des Paulus-Sturzes der steilen Windung einer schmalen Furt, die um eine mächtige, vertikalachsiale Felsformation verläuft. Der Standort des Betrachters ist an einem höher gelegenen und an diese felsige Mittelpartie herangerückten Podest angenommen. Die Wiedergabe eines fernsichtigen, belebten Panoramas wird so zum nahsichtigen Ausschnitt eines strukturell modifizierten Landschaftsbereiches.

Der weitreichende Panoramablick und der nahsichtige Ausschnitt eines artverwandt strukturierten, szenischen Kontinuums sind im Werk Pieter Brueghels binnen weniger Jahre in polarisierender Weise entstanden und daher nicht in erster Linie als entgegengesetzte Stationen innerhalb eines Entwicklungsprozesses zu erklären. Beide Darstellungsfassungen reichen in der niederländischen Malerei in die eyckische Epoche zurück, zumal der prinzipielle, auf dem divergierenden Standort basierende Unterschied der Bildkompositionen Hubert und Jan van Eycks von Otto Pächt klar analysiert wurde: Das weitreichende Szenarium Huberts, das zur Entfaltung narrativer Themen geeignet ist, steht im Gegensatz zu Jans Betonung des Ausschnitthaften, wo mit der Verstellung des Blicks durch gegenständliche Motive eine gesteigerte Aufmerksamkeit auf die dinglichen Eigenschaften der Darstellung gelenkt wird.

Abb.7: Pieter Brueghel d. A, Bauerntanz, um 1568, Öl auf Holz,
114 x 164 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
Das Phänomen der Spannung zwischen nahsichtigen Motiven im Bildvordergrund und der allmählichen Verkleinerung der Einzelmotive im Dienste der Tiefenwirkung ist auch in den Hubert van Eyck zugeschriebenen Bildwerken so entwicklungsträchtig, daß Otto Pächt an hand von Kreuzigungsdarstellungen einen schrittweisen Prozeß von vielfigurigen Kompositionen mit verschränkten Strukturen hin zur Hervorhebung der Einzelfiguren bei gleichzeitiger Senkung des Horizontes zur Diskussion stellen konnte. Auf diesem Charakteristikum der früheyckischen Malerei basiert letztlich das Spektrum in den angeführten Bildern Brueghels. Somit erklärt sich die Darstellungsauffassung des Paulus-Sturz-Gemäldes als eine Interpretation eines hubertischen Landschaftstypus durch die Sehweise Jan van Eycks.

Das Nachwirken der phantasievollen Figuren- und Gegenstandskombinationen von Hieronymus Bosch in den Bildern Brueghels läßt sich nicht erst in Gemälden wie "De dulle Griet", das "Bild der Sprichwörter" oder das "Austreiben des Faschings durch die Fastenzeit" nachweisen: Bizarre Figuren mit expressiven Körperproportionen und Physiognomien, Posen und Kostümen wirken in ihrer Kreatürlichkeit gleichsam wie schicksalshaft ins weitreichende Ambiente hingestreut. Als Vermittler kann man in diesem Zusammenhang auch die Bosch-Nachfolge in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, also unmittelbar vor dem Wirken Pieter Brueghels des Älteren, in Betracht ziehen. In Hinblick auf den formalen Erfindungsreichtum und die Vielfalt der motivischen Einfälle ist auch hier wieder vor allem ein Hauptwerk der früheyckischen Malerei zu nennen: das Kreuzigungs- und Weltgerichts-Diptychon ("New Yorker Diptychon") vom Hauptmeister des Turiner Gebetbuches, den man sehr wahrscheinlich mit Hubert van Eyck zu identifizieren hat: Hier befindet sich im Verdammtensturz unter dem orthogonal aus der Bildtiefe ragenden, schaurigen geflügelten Totengerippe ein Dickicht von Monstern und Menschenleibern, das an die hoch mittelalterliche Tradition der belebten Ranke erinnert.

Abb.8: Pieter Bruegei d. A, Bauernhochzeit, um 1568, Öl auf Holz, 114 x 164 cm, Kunsthistorisches Museum, Wien.
In zeitlicher Nachbarschaft zu dem bizarren Treiben kleinfiguriger Gruppen in einem weitgespannten urbanen Milieu, das auch in den "Kinderspielen" beobachtet werden kann, stehen nahsichtige, im dörflichen Umfeld angesiedelte bildliche Schilderungen wie der "Bauerntanz" (Abb. 7). Der Horizont ist hier abermals gesenkt, der Standpunkt des Betrachters auf dem Niveau der dargestellten Figuren eng an diese herangerückt. Durch diese Nahsichtigkeit kommen die eigentümlichen Figurationen, die die Figuren charakterisieren, in monumentaler Großfigurigkeit zur Geltung. Sowohl in der Artikulierung der ungelenken Korpulenz, die den tänzerisch-schwingenden Impulsen widerspricht, als auch in den durch ausfahrende Gesten und sonstige Körpertorsionen lebhaften, individuellen Konturen wirken auch hier letztendlich die karikierend-grotesk anmutenden Illustrationen in den Monatsdarstellungen der spätmittelalterlichen Kunst nach. In diesem speziellen Zusammenhang der Akzentverschiebung und Entwicklung neuer Themen gegenüber dem ursprünglichen Kontext ist auf die Umwidmung eines Figurenzitates hinzuweisen, wie dies durch Otto Pächt geschah, als er die mönchsartig gewandeten Pleurants nach Claus Sluters Entwurf für das Grabmal von Herzog Philipp dem Kühnen von Burgund als Archetypus des Mönchs aus dem Moralitätsbildwerk Pieter Brueghels ("Misanthrop") analysierte.

Steht der "Bauerntanz" als individuell entwickelter, drastisch nahsichtiger Abkomme eines spätmittelalterlichen Monatsbildes zur Diskussion, so stellt sich nunmehr die Frage nach der genetischen Herkunft der "Bauernhochzeit" (Abb. 8). Hier hat das offensichtliche Fehlen des Bräutigams bereits zu vielerlei Spekulationen ob des intendierten Bildthemas geführt. Die Feierlichkeit ist im dörflichen Milieu, in einem mit primitiven Mitteln zustande gebrachten "Dekorum" in den Scheuern (=Durchfahrt) eines Heuschobers angesiedelt, die Figuren tragen die Tracht der einfachen Landbewohner. Die Tradition des fürstlich-repräsentativen Hochzeitsbildes scheidet daher als mögliche Anregung aus. Will man ein reines Genrestück grundsätzlich ausschließen, kommt nur eine literarische Vorlage - vornehmlich aus der Heiligen Schrift - in Betracht. Das Thema der Hochzeit zu Kana bietet sich hier an. Tatsächlich existiert aus der Zeit um 1550 eine Kopie der Kanaitischen Hochzeit nach Hieronymus Bosch, wo sowohl in der Struktur der Bildkomposition, als auch im Motivrepertoire die Figurengruppe um den Tisch mit der Braut im Zentrum präfiguriert ist (Abb. 10).

Abb.9: Pieter Bruegel d. A, Bauernhochzeit, Detail von Abb. 8.
Diese ist übrigens in ähnlicher Weise isoliert, wie Christus in den traditionellen Abendmahldarstellungen und somit eine Paraphrase beider Bildthenen im profanen Milieu. In der zeitgenössischen Kopie nach Hieronymus Bosch sind die Tische zueinander winkelig gestellt, sodaß der rechte Tisch zur bildeinwärts verlaufenden perspektivischen Schrägwand parallel arrangiert ist, während der zweite Tisch im Bildhintergrund bildparallel angeordnet ist. Am rechten, schräg bildeinwärts verlaufenden Tisch befindet sich Christus, isoliert wie die Braut bei Brueghel. Christus vollzieht das Wunder in ähnlich stiller Zurückhaltung wie in Albert Ouwaters Bild der Auferweckung des Lazarus; das Motiv der um die Krüge sich mühenden Küchengehilfen befindet sich jedoch in der Mitte im Vordergrund gegen die linke Bildhälfte zu.

Sowohl den bildparallel angeordneten linken Tisch im Hintergrund, als auch die Christus-Gruppe läßt Brueghel weg. Der fragmentierte Bereich des Wundervollzuges ist auf der Bauernhochzeit durch den in betonter Nahsicht gegebenen Küfer im linken Bildvordergrund gegeben. Der in Profilansicht dargestellte Knabe mit durch die Kappe halb verstecktem Gesicht kann als nahsichtiger Abkömmling jener limburgischen Tradition gesehen werden, die im sitzenden Hirten der Kreuztragung einen auffallenden Nachfolger hat. Ein anderer Knabe ist in der Bauernhochzeit als Rückenfigur gegenüber der Braut inmitten anderer Hochzeitsgäste dargestellt und fördert so die Tiefenräumlichkeit innerhalb der Gesamtkomposition.

Die nahsichtig dargestellten Speisenausträger im vorderen Bildmittelgrund sind wohl thematisch Nebenfiguren, tatsächlich jedoch die Hauptakteure im figürlichen Ensemble. Eine Entsprechung finden sie allenfalls noch in der Gruppe der Musikanten im Bildmittelgrund. Demnach ist Bruegels Bauernhochzeit tatsächlich ein zum Genrebild entwickeltes Derivat der "Hochzeit zu Kanaa" von Hieronymus Bosch, wobei - anders als auf den eingangs angeführten Bildwerken - das zentrale ikonographische Motiv, die Verwandlung des Wassers in Wein durch Christus, verschwunden und nur das Ausschenken des Weines als nahsichtig wiedergegebenes Genremotiv im Bild links vorne verblieben ist. Ein Bildthema biblischen Inhalts ist hier in ein milieugerechtes, zeitbezogenes Genrebild verwandelt.

Abb.10: nach Hieronimus Bosch, Die Hochzeit zu Kana,
um 1550, Öl auf Holz, 93 x 72 cm,
Museum Boymansvan-Beuningen, Rotterdam.
Die angeführten Beobachtungen wollen das kreative Genie Pieter Brueghels des Älteren keinesfalls verringern, umso weniger, als eine Vielzahl essentieller bildkünstlerischer Eigenschaften wie Stilcharakteristika, Kolorit und dessen künstlerischer Einsatz zur Schilderung spezifisch atmosphärischer Werte, in diesem Beitrag nicht einmal andeutungsweise behandelt wurden. Die Betrachtung von Brueghels Werk zeigt eine deutliche Weiterentwicklung von Darstellungstendenzen altniederländischer Vorbilder. Diese sind häufig auf den ersten Blick nicht leicht erfaßbar, wodurch sich zum einen in der Handhabung von Bildfaktoren unterschiedlicher Vorlagen die Zugehörigkeit des Künstlers zu der Kunstsprache seines Herkunftstandes, zum anderen der singuläre Status seiner Malkunst zeigt, die sich trotz dieser Abkunft und verschiedener Einflüsse zu einer autonomen persönlichen Bildsprache entwickelte.

Quelle: Arthur Saliger: Zum Bedeutungswandel von Motivzitaten. Altniederländische Rezeptionen im Œuvre Pieter Brueghels des Älteren. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. ISSN 1025-2223. Heft 1/2000, Seite 6 bis 15

ARTHUR SALIGER war über eineinhalb Jahrzehnte als Konservator der Erzdiözese Wien tätig und leitete das Dom- und Diözesanmuseum. Seit 1989 ist er Kustos der Sammlung mittelalterlicher Kunst an der Österreichischen Galerie Belvedere, wo er u.a. die Ausstellungen über den Meister von Großlobming (1994) und Konrad Laib (1997) konzipierte.

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8. Juli 2014

Girolamo Frescobaldi: Fiori Musicali (Venedig, 1635)

"Es war stets mein Bestreben, durch das Talent, welches mir von Gott verliehen wurde, mit meinen Arbeiten den Lernbegierigen des musikalischen Berufes behilflich zu sein. Mit meinen in Partitur oder in Tabulatur gedruckten Werken von Capricci und aller Art Inventionen habe ich stets der Welt bewiesen, daß es mein sehnlichster Wunsch war, daß jeder, der meine Werke sieht und studiert, davon befriedigt sei und daraus einen Nutzen ziehe".

Was erklärtermaßen wie ein Pädagogikum für angehende Organisten daherkommt, kann als Summe und Rekapitulation des ganzen Künstlerlebens Frescobaldis gelten.

Der am 12.09.1583 in Ferrara, einem der wichtigsten kulturellen Zentren der italienischen Renaissance geborene Girolamo Frescobaldi hat seinen immensen zeitgenössischen Ruhm in der Hauptsache seinen Instrumentalkompositionen zu verdanken, mit denen er deren endgültige Emanzipation von der vokalen Musik besiegelte. Die in der Renaissance noch alles beherrschende Singstimme verlor ihre alles dominierende Rolle. Darüber hinaus stand er als überragender Orgel- und Cembalovirtuose seiner Zeit in höchstem Ansehen, was unter anderem auch seine 35 Jahre währende Stellung als Organist am Petersdom in Rom bis zu seinem Tode dokumentierte. Nach seinem Tod stritten mehrere Kirchen Roms um die Ehre, dem großen Orgelmeister eine letzte Ruhestätte zu bieten, die er schließlich in der Apostelkirche fand.

In den "Musikblüten" konfrontiert Frescobaldi im Rahmen dreier Orgelmessen cantus-firmus-gebundene Sätze, freie Toccaten (als Musik zur Einleitung und zur Konsekration), streng kontrapunktische Ricercari und Capricci sowie Tanzsätze miteinander. Der Band besteht aus den Teilen Messa della domenica (Sonntagsmesse), Messa degli Apostoli (feierliche Messe) und Messa della Madonna (Marienmesse). Diese Dreiteilung entsprach den damals geläufigsten Messformen.

Girolamo Frescobaldi
Weltliche und religiöse Ereignisse waren zu jenen Zeiten kaum getrennt, sie waren eng miteinander verwoben und schufen ein streng gegliedertes und komplexes Gebilde mit gegenseitigen Beziehungen. Die auf Latein gelesene Messe schien der Mittelpunkt des sozialen Geschehens zu sein. Es war aber für die Zuhörer fast immer unmöglich, den oft halblaut gemurmelten Text in den riesigen Kirchen zu verstehen. So wurde die Aufmerksamkeit der Gläubigen durch den visuellen Aspekt und die musikalische Untermalung geweckt, die sich in beeindruckender Weise entwickelte. Obwohl der Ablauf der Musik in den Kirchen streng durch liturgische Vorgaben geregelt war, entfernte er sich zusehends von der ihm zugewiesenen dienenden Rolle. Das aufgeführte Repertoire wies nun unverkennbar Zielrichtungen auf, die der Freude des Gehörs und sinnlichen Erlebens dienten.

Beim Hören der Fiori Musicali auf CD entsteht naturgemäß eine künstliche, gegenüber einer Aufführung im katholische Ritus in besonderer Weise unauthentische Situation. Der musikalische Inhalt der Stücke verteilte sich seinerzeit auf viele Stunden. Der heutige Hörer dürfte für diese Zusammenfassung allerdings dankbar sein. Es stellt sich beim Anhören eine fast magisch-meditative Wirkung der im Wechsel stehenden gregorianischen Versetten mit den ungeheuer klaren, für an Orgeldonner gewöhnte heutige Ohren fast spartanisch wirkenden Orgelsätzen ein.

Die Fiori Musicali sind wie Bachs Kunst der Fuge das letzte Werk Frescobaldis. Die Parallele vom frühbarocken italienischen zum spätbarocken deutschen Meister zu ziehen ist vielleicht etwas gewagt. Gemeinsam ist beiden die meisterliche Beherrschung des Kontrapunktes. So verwundert es nicht, daß Bach das Genie Frescobaldis sogleich erkannte und sich eigenhändig eine Abschrift der Fiori Musicali verschaffte. Jenseits der Alpen, insbesondere in Person von Johann Jacob Froberger, seinem prominentesten Schüler, wurde Frescobaldis Orgelkunst weiterentwickelt, während die europäische Bedeutung der italienischen Orgelmusik mit seinem Tode erlosch.

Quelle: Andreas Hartrodt, Schwerin

Track 21: Messa della Domenica: Toccata cromaticha per le levatione


TRACKLIST

Girolamo Frescobaldi
1583-1643

Fiori Musicali
Venezia 1635

MESSA DELLA DOMENICA 

 1 Toccata avanti la Messa della Domenica   1'36 
 2 Kyrie della Domenica                     0'33 
 3 Kyrie gregoriano                         0'18 
 4 Kyrie                                    0'44 
 5 Christe gregoriano                       0'21
 6 Christe                                  0'37
 7 Christe gregoriano                       0'21
 8 Kyrie alio modo                          0'43 
 9 Kyrie gregoriano                         0'17 
10 Kyrie alio modo                          0'37 
11 Kyrie gregoriano                         0'26 
12 Christe alio modo                        0'28 
13 Christe alio modo                        0'33 
14 Christe alio modo                        O'34 
15 Kyrie alio modo                          0'36
16 Kyrie ultimo                             0'41 
17 Kyrie alio modo                          0'36 
18 Kyrie alio modo                          0'30 
19 Canzon dopo l'Epistola                   2'20  
20 Recercar dopo il Credo                   2'04  
21 Toccata cromaticha per le levatione      4'14 
22 Canzon post il Comune                    3'14 

MESSA DELLI APOSTOLl 

23 Toccara avanti la Messa delli Apostoli   1'46 
24 Kyrie delli Apostoli                     0'38 
25 Kyrie gregoriano                         0'22 
26 Kyrie                                    0'46  
27 Christe gregoriano                       0'20 
28 Christe                                  0'31 
29 Christe gregoriano                       0'20 
30 Kyrie                                    0'36
31 Kyrie gregoriano                         0'20 
32 Kyrie                                    0'48 
33 Kyrie gregoriano                         0'37
34 Kyrie                                    0'39
35 Christe                                  0'53 
36 Kyrie                                    0'53
37 Canzon doppo l'Epistola                  2'46 
38 Toccata avanti il recercar               1'21
39 Recercar cromaticho post il Credo        3'43
40 Altro recercar                           3'38 
41 Toccata per le levatione                 3'44
42 Recercar con l'obbligo del Basso 
   come appare                              2'36 
43 Canzon quarti toni Dopo il Post Comune   2'46

MESSA DELLA MADONNA

44 Toccata avanti la Messa della Madonna    1'22
45 Kyrie della Madonna                      0'34
46 Kyrie gregoriano                         0'15
47 Kyrie                                    0'36 
48 Christe                                  0'31
49 Christe gregoriano                       0'18
50 Christe                                  0'33
51 Kyrie                                    0'31
52 Kyrie gregoriano                         0'18
53 Kyrie                                    0'35
54 Kyrie gregoriano                         0'43
55 Canzon dopo l'Epistola                   1'44
56 Recercar dopo il Credo                   2'08
57 Toccata avanti il recercar               0'54
58 Recercar con obligo di cantar la quinta
   parta senza toccarla (organo e tromba 
   barocca)                                 2'12
59 Toccata per le levatione                 2'32
60 Bergamasca                               4'49
61 Capriccio sopra la Girolmera             4'31

Total time: 78'04 

Roberto Loreggian, organ - organo Bonatti (1716)
Fabiano Ruin, tromba barocca
Schola Gregoriana 'Scriptoria', directed by Dom Nicola M. Bellinazzo

Recording: 3-4 June 2008, Chiesa di S. Tomaso Cantuariense, Verona
Sound engineer: Matteo Costa - Artistic direction: Fabio Framba
2009

Track 43: Messa delli Apostoli: Canzon quarti toni Dopo il Post Comune


Otto Pächt:



Künstlerische Originalität und ikonographische Erneuerung



Abb 1: Giotto: Arenakapelle: Verkündigung
Abb 2
Der außerordentliche Aufschwung, den die ikonographische Forschung von dem Moment an erfahren hat, in dem das Postulat einer geistesgeschichtlichen Verankerung aller Stilerklärung sich durchzusetzen begann, hat die Ikonographie über Nacht aus einer mehr wie ein notwendiges Übel behandelten Hilfswissenschaft zu einer Hauptdisziplin, ja zweifelsohne zu dem konsolidiertesten und exaktesten aller Untersuchungsverfahren gemacht, über das die Kunstgeschichte heute verfügt. In der ikonographischen Betrachtungsweise wird das Kunstwerk nicht nur auf zwanglose Weise in den umfassenderen kulturellen und geistigen Zusammenhang gestellt, in dessen Kenntnis man die unentbehrliche Voraussetzung für das Verständnis der künstlerischen Phänomene sieht, die Ikonographie ist gegenüber der Stilkunde überdies noch in der privilegierten Position, daß sie es mit sprachlich vorgeformten Gehalten zu tun hat, deren Terminologie von längst gefestigten und gereiften wissenschaftlichen Disziplinen wie Theologie, Liturgik, Religionswissenschaft, Mythologiegeschichte etc. weitgehend erarbeitet und geklärt worden ist.

Und wenn seinerzeit die formalistische Stilkunde mit dem Anspruch aufgetreten war, die Geschichte der Kunst als einen in sich notwendigen Ablauf, als immanente Stilentwicklung begreifen zu können, so zeichnet sich in der heutigen, durch die Vorherrschaft des ikonographischen Interesses gekennzeichneten Phase die Tendenz ab, den eigentlichen Motor des künstlerischen Geschehens in der Dynamik geistiger Strömungen religiös-philosophischer oder sozial-politischer Natur zu suchen, in der Wirksamkeit von Ideen, die in spezifischen ikonographischen Motiven ihren Niederschlag gefunden haben und aus diesem Grund vornehmlich in ikonographischer Analyse - unter nur ganz gelegentlicher Berücksichtigung stilistischer Momente - aufgespürt und erfaßt werden müssen.
Abb 3: Pariser Pseudo-Bonaventura, Verkündigung
Mit der Verlegung des Schwerpunktes ins Ikonographische und der daraus sich ergebenden jähen Bereicherung und Vertiefung des ikonographischen Wissens - um wie viel präziser sind doch heute unsere Vorstellungen von dem Werden des Pietà-Motivs verglichen mit denen von der Entstehung des 'weichen' Stils! - hat sich ein radikaler Wandel in den Anschauungen vom Wesen und Wert der künstlerischen Schöpfung vollzogen, offenbar ohne daß man sich dessen schon bewußt geworden wäre, vielleicht auch, ohne daß man es wahrhaben will. Man würde sich um die Erforschung des ikonographischen Gehalts eines Kunstwerks, um das Nachspüren der in ihm symbolisierten Ideen, wohl nicht so intensiv und nahezu ausschließlich bemühen, wäre man nicht stillschweigend davon überzeugt, daß jedes hervorragende Kunstwerk im Grunde eine Manifestation bedeutender Gedanken und geistreicher Einfälle darstelle, die der Künstler bewußt in seine Schöpfung eingebaut hat und die deshalb rational formulierbar und ikonographisch erfaßbar sind.

Wird diese intellektualistische Anschauung vom Wesen des Kunstwerks akzeptiert - sie liegt den heute Legion gewordenen Versuchen zugrunde, die Größe eines Werkes in der Fülle, Dichte, Vielschichtigkeit seines Symbolgehaltes zu erweisen - dann heißt dies aber, auf das Entwicklungsgeschehen übertragen, daß jede wahrhaft große künstlerische Leistung eo ipso eine entscheidende ikonographische Neuerung beinhalten muß. Wäre dem nicht so, dann könnte der Anspruch von Ikonographie und Symbolgeschichte, einen Zugang zum Kern des künstlerischen Phänomens zu bieten, wohl kaum zu Recht bestehen. Nun ist man sich bei gewissen künstlerischen Spitzenleistungen über ihre Originalität und epochale Bedeutung immer einig gewesen, auch ohne daß man eine Begründung dieser Wertung versucht hätte, und lange ehe man auf den Gedanken kam, das Wesen künstlerischer Originalität in ikonographischen Neuerungen zu suchen oder sich künstlerische Neuschöpfung automatisch mit ikonographischer Neuerung gepaart vorzustellen. Da erhebt sich die Frage: sollte man nicht gerade in diesen Fällen die Probe aufs Exempel machen und untersuchen, ob hier die zur künstlerischen Größe als Komplementärerscheinung geforderte ikonographische Originalität sich auch wirklich nachweisen läßt?

Abb 4: Oxforder Pseudo-Bonaventura, Verkündigung
Im Falle Giotto, auf dessen Schultern die gesamte neuzeitliche Kunst steht, hat schon eine vor mehr als 40 Jahren angestellte ikonographische Untersuchung feststellen müssen, daß die Verdienste dieses Giganten um die Erneuerung der Ikonographie höchst bescheidene sind. Immerhin schien für Giotto doch noch die Neufassung eines wichtigen Themas gesichert zu sein, nämlich des Verkündigungsbildes. Einer Anregung der Meditationen des Pseudo-Bonaventura folgend, bringt das Fresko vom Triumphbogen der Arenakapelle (Abb. 1 u. 2), wie man glaubte »zum ersten Male«, sowohl den Engel wie Maria kniend, wodurch die Darstellung zur Exemplifizierung des religiösen Ideals der Humilitas wird. Unverständlicherweise hat niemand es bisher für der Mühe wert gefunden, die Illustrationen des Pseudo-Bonaventuratextes selbst über diesen Punkt zu befragen.

Vor kurzem ist endlich der umfangreichste Bildzyklus, der sich in einer Pseudo-Bonaventura-Handschrift erhalten hat (Paris, Bibl. Nationale, Ms. Ital. 115), veröffentlicht worden, doch mehr als Beigabe einer neuen englischen Übersetzung des Textes. Eine eingehende ikonographische Analyse der um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandenen Miniaturenfolge steht noch aus. Überdies ist in der erwähnten Publikation eine zweite Illustrationsfolge, die eine Pseudo-Bonaventura-Handschrift einer Oxforder College-Bibliothek schmückt und die zwar bescheidener an Zahl und Qualität der Bilder als die Pariser ist, dafür aber zum Teil eine ältere, ursprünglichere Fassung wiederzuspiegeln scheint, überhaupt noch nicht berücksichtigt worden.

Abb 5: Pariser Pseudo-Bonaventura, Einwilligung Mariae
Aus diesen beiden Illustrationsfolgen lernen wir erstens, daß die uns aus Giottos Arenafresko bekannte Verkündigungsversion als Darstellung der zweiten Phase der ganzen Begebenheit verstanden werden muß. In beiden Illustrationsfolgen wird der Vorfall in zwei Bildern erzählt. Zunächst die Überbringung der Botschaft des Engels: Gabriel kniet vor der Madonna, als er sein »Ave gratia« sagt (Abb. 3). Maria, sitzend, ist beim Lesen der Heiligen Schrift überrascht worden und erschrickt - perturbata est. Dies entspricht vollkommen älterem ikonographischem Brauch. Erst im zweiten Verkündigungs bild (Abb. 5) kniet auch Maria - denn dies soll schildern »come Maria accepta«, wie es in der Beischrift der Miniatur heißt. Nachdem sie zuerst geschwiegen, dann rückgefragt und die Erklärung des Engels vernommen, kniet sie nieder zum Zeichen, daß sie die vom göttlichen Ratschluß ihr zugedachte Rolle in aller Demut zu übernehmen gewillt ist: »Ecce ancilla Dei ...« In Giottos Arenakapellenfresko ist somit die 'Einwilligung Mariens' zum zentralen Aspekt des Verkündigungsthemas schlechthin geworden.

Abb 6: Oxforder Pseudo-Bonaventura, Einwilligung Mariae
Merkwürdiger- und unlogischerweise wechselt in der Pariser Handschrift der Schauplatz von der ersten zur zweiten Verkündigungsphase: in der ersten (fol. 10 r) (Abb. 3) sehen wir die Madonna in der Öffnung eines eigentümlich aufgestockten, mit einem Schindeldach bekrönten Torbogens thronen, in der zweiten (fol. 11 v) (Abb. 5) kniet Maria vor der halb geöffneten Tür eines kapellenartigen Häuschens, das rückwärts von einer romanischen Apside abgeschlossen wird. Der ungewöhnliche, völlig untrecenteske Torbau der ersten Szene zeigt nun einige Berührungspunkte mit der nicht minder auffälligen Bildarchitektur der Verkündigungsbilder der Oxforder Handschrift (fols. 7 v, 8 v) (Abb. 4 u. 6), in denen aber das Szenarium sich gleich bleibt. In den Oxforder Miniaturen ist es ein perspektivisch vertiefter Torbogen, der zu einer mit einem Giebeldach versehenen Aedicula ausgeweitet erscheint. Sein besonderes Gepräge erhält diese Bildarchitektur durch die forcierte Untersicht, die die Kassettierung sowohl der Thronnische wie des Giebelvorsprungs sichtbar werden läßt.

Ihre nächste Analogie hat diese Bildarchitektur in dem Mittelteil des antikisierenden Thronbaus, der in Cavallinis Verkündigungsmosaik von S. Maria in Trastevere (Abb. 7) der Madonna als Folie dient. Beim Vergleich der beiden Szenarien drängt sich dann die Vermutung auf, daß die an die Luken eines Taubenschlags gemahnenden Wandöffnungen der Oxforder Aedicula als verkümmerte Abkömmlinge der luftigen Wanddurchbrechungen der Cavalliniarchitektur zu verstehen sind. Mit einem Wort, die Bildarchitekturen der Pseudo-Bonaventura-Illustrationen sind in der Mitte des 14. Jahrhunderts ein Anachronismus, der sich nur so erklären läßt, daß die Vorlage dieser Miniaturen und somit die Erfindung dieser Illustrationsfolge auf Cavallinis Zeit, d. h. auf die Generation vor Giotto zurückgeht, eine Annahme, die in dem Vorkommen von charakteristischen Cavallini-Motiven in anderen Bildern des Oxforder Illustrationszyklus (z. B. in dem Szenarium der Geburt Johannes des Täufers (Abb.9), das dem der Geburt Mariens in den Cavallini-Mosaiken (Abb. 8) auffallend ähnlich ist) ihre zusätzliche Bestätigung findet.

Für unsere Fragestellung ergibt sich aus all dem, daß das Urheberrecht für die Neufassung des Verkündigungsthemas Giotto abgesprochen werden muß. Zur Ermittlung von Giottos Größe hat sich der ikonographische Maßstab als untauglich erwiesen.

Abb 7: Pietro Cavallini, Verkündigung
-o-o-o-

Hundert Jahre nach Giotto ist es abermals eine Verkündigungsdarstellung, mit der ein neues Kapitel in der Geschichte der Malerei anhebt. Es ist die Verkündigung des Mèrodealtars (Abb. 11), das früheste bekannte Beispiel eines reinen Interieurbildes. Auch für diese epochale Bildschöpfung glaubte man, wenigstens teilweise, eine ikonographische Erklärung gefunden zu haben: seit Tolnays geistvollen Deutungsversuchen des 'Gehalts' der Werke des Flèmallers und der van Eyck gilt insbesondere die Verkündigung des Merodealtars als Bahnbrecherin einer neuen Ikonographie, deren Eigenheit darin bestehen soll, daß eine Fülle von das Mysterium des Heilsgedankens versinnbildlichenden Symbolen als oft ganz unauffällige Realitätsphänomene verkleidet dem Beschauer präsentiert wird. Diese Interpretationsweise, die den Realismus als geheimen Symbolismus enthüllt oder entlarvt, ist bekanntlich dann von Panofsky bei der Entschlüsselung vieler anderer Hauptwerke der altniederländischen Malerei in souveräner Weise gehandhabt worden. Die Ikonographie des Merodealtars wurde von Tolnay nochmals in einer kürzlich erschienenen Studie erörtert, die den Vorzug hat, daß sie das Ausmaß und den Leitgedanken der ikonographischen Erneuerung scharf zu präzisieren sucht.

Abb 8: Pietro Cavallini, Geburt Mariae
Tolnay bezeichnet das Verkündigungstriptychon des Flèmallers als 'ikonographisches Unikum' und sieht das für die Neufassung des Verkündigungsthemas entscheidende Moment in der Einführung der Gestalt des Zimmermanns Joseph, der den Evangelien zufolge zur Zeit der Verkündigung mit Maria ja erst verlobt gewesen sei und noch keinen gemeinsamen Haushalt mit ihr gehabt hätte. Somit stünden wir hier vor einer vollkommenen Anomalie, die sich nur dann erklären ließe, wenn wir annähmen, daß in dem rechten Flügel des Triptychons, der uns einen Einblick in Josephs Zimmermannswerkstatt gibt, ein zeitlich nach der Verkündigung liegender Moment wiedergegeben werden soll, nämlich etwa die Zeit von Christi Geburt. Wenn unser Blick sich von der Mitteltafel zum rechten Flügel wendet, ist die Zeit von Frühling bis Winter vergangen.

Tolnay hat uns selbst die Mittel an die Hand gegeben, mit denen seine seltsame These, wie ich glaube, eindeutig widerlegt werden kann. In seiner Studie hat er nämlich auf ein Werk hingewiesen, das thematisch wie kompositionell dem Mèrodealtar offensichtlich äußerst nahesteht, dessen Beziehungen zu dem Flèmaller Triptychon vorher aber noch nie erörtert worden waren. Es handelt sich um ein Straßburger Bild aus dem ersten Drittel des 15. Jahrhunderts (Abb. 10), das einem umfangreichen Marienaltar angehört haben muß, von dem sich noch eine zweite Tafel mit der Mariengeburt erhalten hat, und das Maria und Joseph in einem Raum vereinigt zeigt, der zugleich Wohnstube wie Zimmermannswerkstatt ist.

Abb 9: Oxforder Pseudo-Bonaventura, Geburt Johannes d. T.
Dargestellt ist allerdings nicht die Verkündigung, sondern die Szene, in der der Engel Josephs Zweifel an der Unschuld Mariens zerstreut. Die literarische Quelle dieses Bildes ist nicht Lukas oder Matthäus, sondern das Protoevangelium Jacobi, denn dort wird erzählt, daß Joseph Maria in seine Hut genommen hatte und daß er, als er, offenbar nach einer vorübergehenden Abwesenheit, von seinen Arbeiten nach Hause zurückgekehrt war, Mariens Schwangerschaft entdeckte und in Bestürzung geriet. Nach der Fassung dieser apokryphen Schrift, von der ja bekanntlich die bildkünstlerische Gestaltung des Verkündigungsthemas im Osten wie im Westen ungleich stärker angeregt worden ist als von den kanonischen Evangelien, haben also Maria und Joseph von dem Augenblick an zusammengewohnt, in dem dem greisen Joseph unter allen Freiem das Los zugefallen war, die Tempeljungfrau in seine Obhut zu nehmen. Kurz, der apokryphen Überlieferung zufolge hat die Verkündigung im Hause Josephs stattgefunden, somit ist in diesem wichtigen Punkt die Darstellung im Merodealtar gewiß keine Anomalie.

Tolnay sieht in der Straßburger Marientafel - wie ich glaube, mit Recht - ein wichtiges Argument dafür, dem Meister von Flèmalle das Urheberrecht für den Einfall, die Zimmermannswerkstatt Josephs mit dem Schauplatz der Verkündigung zu verquicken oder ihr anzugliedern, abzusprechen und das Verdienst der ihm vorangehenden Künstlergeneration zu geben. Er denkt dabei in erster Linie an Melchior Broederlam als den mutmaßlichen Erfinder der neuen realistischen Milieuschilderung. Die Leistung des Meisters von Flèmalle hätte dann darin bestanden, diesen neuen Erzählungsstil in einen sakralen Realismus zu verwandeln.

Abb 10: Oberrheinischer Meister, Die Zweifel Josephs [Quelle]
Was man sich darunter konkret vorzustellen hat, darauf braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, sicher ist damit aber das eine gemeint, daß der Meister von Flèmalle das neue ikonographische Vokabular, die Motive als solche, einschließlich des Motivs der Zimmermannswerkstatt Josephs, von seinen Vorgängern fertig übernommen haben dürfte. Und in diesem Punkt läßt sich Tolnays Hypothese, die mir übrigens im Widerspruch zu seiner anfänglichen Behauptung, der Mèrodealtar sei ein ikonographisches Unikum, zu sein scheint, verifizieren. Eine bisher unveröffentlichte Miniatur (Abb. 12) kann uns darüber Gewißheit verschaffen, daß Joseph, der Zimmermann, tatsächlich schon vor dem Mèrodealtar in einer Verkündigungsszene mitdargestellt worden ist.

Die Miniatur findet sich in einem in Rouen 1412 vollendeten franziskanischen Brevier, und zwar dient sie als Initialschmuck zu einer Homilie des Hl. Ambrosius zum Thema der Verkündigung. In dieser Homilie beschäftigt Ambrosius nur die eine Frage, warum die vom göttlichen Ratschluß zur Gottesgebärerin Erwählte zugleich »desponsata et virgo« hatte sein müssen, mit Joseph durch ehelichen Vertrag Verbundene und doch Jungfrau. Ambrosius war, wie wir aus anderen seiner Schriften wissen, der Ansicht, daß Maria und Joseph seit ihrer Verlobung in häuslicher Gemeinschaft gelebt haben, aber selbst wenn der Illuminator von Rouen davon nichts gewußt hätte, würde der zu illustrierende Homilientext es nahegelegt haben, einerseits die unbefleckte Empfängnis im Thalamus der Jungfrau, und andererseits den über seine Arbeit gebeugten alten Joseph, den Behüter der ihm anvertrauten Tempeljungfrau und ihrer Unversehrtheit, nachbarlich in einem Bilde vereinigt zu zeigen.

Unsere bescheidene Miniatur wird gewiß auch nicht der erste Versuch gewesen sein, die Koexistenz von Maria und Joseph zur Zeit des Vollzugs des Mysteriums darzustellen, jedenfalls aber steht fest, daß die Schaffung der neuen Verkündigungsikonographie nicht das Werk des Flèmallers, sondern das seiner Vorgänger war. Unter dem Titel der Einbeziehung Josephs in die Bildwelt der Verkündigung läßt sich der Anspruch des Mèrodealtars auf ikonographische Originalität schwerlich aufrecht erhalten.

Abb 11: Meister von Flèmalle, Mèrodealtar
Zudem ist es sehr fraglich, ob man das Wesentliche der im Mèrodealtar vorliegenden Neufassung des Verkündigungsthemas nur erfassen kann, wenn man die Nebenszene mit Joseph mitberücksichtigt. Das Echo, das die Flèmallische Verkündigungsversion sofort gefunden hat, beweist, daß sie als Neuschöpfung rasch erkannt und gewertet wurde. Es gibt nur wenige Bilder des nordischen 15. Jahrhunderts, deren Komposition auch nur annähernd so oft kopiert oder paraphrasiert wurde wie der Mèrodealtar. Doch ist mir nicht ein einziger Fall bekannt, wo der Josephsflügel mitkopiert worden wäre. Danach zu schließen, war dieser für die zeitgenössischen Bewunderer des Meisters und seine unmittelbaren Nachfahren kein wesentlicher Bestandteil der einmaligen Leistung, in deren Banne sie standen.

Schule gemacht hat das Mittelbild des Triptychons, die eigentliche Verkündigung; es gibt kaum eine altniederländische Verkündigungsdarstellung, die nicht diesem Pionierwerk direkt oder indirekt Tribut zollt. In einem Punkt zwar haben auch die beinahe wörtlichen Wiedergaben der Mèrode-Verkündigung, z. B. die Verkündigung des Brüsseler Museums (Abb. 13), ihr Vorbild nicht vorbehaltlos übernommen, sondern es für nötig befunden, dieses zu korrigieren. Es ist der Punkt, in dem die Mèrode-Verkündigung (Abb. 11) gegen eine der fundamentalsten Regeln der ikonographischen Tradition verstößt. Bis dahin war es selbstverständlich gewesen, daß Maria durch Gebärde und Haltung zu erkennen gibt, daß sie in ihrer Tätigkeit - sei es Spinnen oder Lesen - durch das Kommen des Engels überrascht worden ist. Wir bekommen zu sehen, welchen Emdruck die Botschaft auf sie macht, sei es, daß bloß das Erschrecken - perturbata est - geschildert wird, sei es, daß die demütige Hinnahme ihrer Mission zum Ausdruck gebracht werden soll. Die Maria des Mèrodealtars ist so sehr in ihre Lektüre vertieft, daß sich von ihr nicht einmal sagen läßt, ob sie die Botschaft überhaupt hört, geschweige denn, wie sie auf diese reagiert. Diese extreme Neutralisierung des Ausdrucks der Hauptfigur des Dramas ist offenbar den Schülern und Nachfolgern des Flèmallers widersinnig erschienen, und so haben sie zwar das am Boden Hocken der Lesenden, die für die Madonna Humilitatis typische Haltung, beibehalten, jedoch die den englischen Gruß beantwortende Geste wieder eingeführt. Eine Korrektur im Sinne eines Kompromisses mit der Tradition, ja, im Grunde eine Kritik einer zu gewagten ikonographischen Neuerung.

Abb 12: Franziskanisches Brevier, Verkündigung  
Heißt dies nun, daß wir hier, in dem Stummwerden der Annunziata, endlich auf ein ikonographisches Motiv gestoßen sind, das sich als des Flèmallers persönliches geistiges Eigentum bezeichnen läßt? Nein, auch dies darf nicht uneingeschränkt behauptet werden. Bekanntlich haben sienesische und florentinische Trecentomaler zuerst die Idee der Madonna Humilitatis auf die Annunziata übertragen, allerdings ohne sonst die traditionelle Ikonographie der Verkündigung anzutasten: die Verkündigung bleibt ein Dialog.

Doch vermag ich wenigstens ein Beispiel namhaft zu machen - einen katalonischen Ableger einer toskanischen Verkündigungsdarstellung - das zeigt, daß es in der Trecentoentwicklung Strömungen gab, die auf die durch den Mèrodealtar berühmt gewordene Formulierung des Themas hinzusteuern scheinen, Versionen, die einige für letzteren charakteristische Bildgedanken bereits vorwegnehmen. In der Verkündigungsszene des katalonischen Retabels (Abb. 14) hockt Maria in nahezu derselben Stellung wie im Brüsseler Flèmalle-Schulbild am Boden, das Buch auf ihren Knien aufgeschlagen, so daß wirklich sie und nicht wie üblich nur der Betrachter darin lesen kann. Bezeichnenderweise ist dann aber noch zwischen den beiden Gestalten auf einer Truhe beim Eingang ins Schlafgemach, weiter im Hintergrund, ein zweites Buch zu sehen, diesmal aber so aufgeschlagen, daß wir, die Betrachter, in ihm Mariens Erwiderung »Ecce ancilla Domini« lesen können. Noch hält die katalonische Annunziata die Hand leicht abwehrend vor der Brust, aber es ist eine sehr leise Antwort geworden, kaum vernehmbar, und so übernimmt es das eingeschobene Buch, für Maria zu sprechen. Im Mèrodealtar ist schließlich Maria ganz verstummt, es herrscht tiefe Stille im Gemach, und das Wunder liegt jetzt darin, daß der Engel ins Gemach getreten und sie ihn überhaupt nicht bemerkt hat. Vielleicht darf man in der Schriftrolle und dem Buch, das auf dem Tisch zwischen Gabriel und Maria aufgeblättert liegt, Abkömmlinge jenes Buches erblicken, das in dem spanischen Trecentobild die Funktion gehabt hatte, Mariens Antwort auf den englischen Gruß wenn nicht laut, so doch sichtbar werden zu lassen. Aber dies muß vorläufig bloße Vermutung bleiben.

Abb 13: Brüsseler Kopie der Verkündigung des Mèrodealtars  
Wie wir gesehen haben, hat diese, soviel ich sehe, einzige mit hoher Wahrscheinlichkeit auf den Flèmaller zurückgehende ikonographische Neuerung sich nicht durchsetzen können, sie ist in der Geschichte des Themas Episode geblieben und dies, obwohl Komposition und malerischer Stil desselben Werkes begeisterte Aufnahme gefunden haben. Ähnlich wie bei Giotto muß im Falle des Meisters von Flèmalle gesagt werden, daß die Ars nova seiner Malerei (Panofsky) - die zusammen mit der Kunst der van Eyck eine neue Epoche der Malerei einleitet - nicht oder am allerwenigsten als ikonographische Leistung verstanden werden kann.

Es liegt mir fern, aus dem negativen Resultat, das unsere Untersuchung des Zusammenhanges von künstlerischer Größe und ikonographischer Originalität an zwei - wenn auch hochbedeutenden - Beispielen ergeben hat, generalisierend die Lehre ziehen zu wollen, ein solcher Nexus bestünde überhaupt in keinem Falle. Es lassen sich sehr wohl historische Konstellationen vorstellen, in denen die Antwort positiver ausfallen könnte. Aber vielleicht sollte die Einsicht, die wir gewonnen haben, uns doch helfen, endlich die Grenzen der Ikonographie zu erkennen und uns zum Bewußtsein zu bringen, daß diese wichtige Disziplin legitim nur die gedankliche Vor-stellung, den Vor-wurf zu ihrem Gegenstand hat, daß sie auch im Aufspüren verborgenster Symbolbedeutungen bloß das äußere Thema sichtbar werden läßt und doch nicht das innere Thema und seine Gestaltung, um die es in der Kunstgeschichte letzten Endes geht.

Abb 14: Retabel von Cardona, Verkündigung

Quelle: Otto Pächt: Künstlerische Originalität und ikonographische Erneuerung. In: Methodisches zur kunsthistorischen Praxis. Ausgew. Schriften. München, Prestel, 1986, 3. verbesserte Auflage 1995. ISBN 3-7913-0410-0. Zitiert wurde der zuerst 1967 publizierte Aufsatz vollständig (Seiten 153-164).

OTTO PÄCHT (1902-1988), der selbst in Wien und Berlin studiert hatte, gehörte der traditionsreichen Wiener Schule der Kunstgeschichte an, und lehrte von 1963 bis 1972 als Ordinarius an der Universität Wien. Er galt als Autorität auf den Gebieten der mittelalterlichen Buchmalerei und der europäischen Kunst des 15. Jahrhunderts.

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