19. November 2018

Ferruccio Busoni: Klavierlieder

Obgleich Ferruccio Busonis Lieder nicht im Zentrum seines Oeuvres stehen, eröffnen sie mehr als nur marginale Einblicke in das Werk einer der größten künstlerischen und intellektuellen Persönlichkeiten der Epoche. Als Wunderkind, sogar als neuer Mozart gefeiert, nahm er früh die Rolle eines selbst- und sendungsbewussten Künstlers ein und wuchs daran sein Leben lang. Die meisten seiner insgesamt rund 40 Liedkompositionen stammen aus der Kindheit und Jugend, d.h. sie entstanden bis etwa l885. Danach schrieb Busoni während gut 30 Jahren (!) kein einziges Klavierlied und wandte sich diesem Genre erst in einer späten Lebensphase in mehreren Vertonungen von Goethe-Texten erneut zu.

Doch auch dazwischen, in seiner Hauptschaffenszeit ab etwa der Jahrhundertwende, beschäftigte sich Busoni mit Stimme und vokalem Ausdruck: einerseits in sporadischen Chorwerken (z.B. im Klavierkonzert mit Männerchor von 1906), andererseits in seinen Opern. Auch bearbeitete er Opern-Ausschnitte (meist für Klavier) und Volkslieder (z.B. “Kultaselle", Variationen über ein finnisches Volkslied für Violoncello und Klavier, oder das “Indianische Tagebuch" für Klavier). Einerseits zog ihn die melodische Qualität an, andererseits interessierte es ihn, Text und Sinngehalt musikalisch umzusetzen. Auch seine Ablehnung des Verismo entspringt dieser Haltung: Musik musste über die reine Abbildung menschlicher Erfahrungen hinausgehen. Er suchte stets die Essenz zu erfassen, um sie neu auszudrücken. Für das Herausbilden einer eigenen kompositorischen Sprache war dabei sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein ebenso entscheidend wie die zielstrebige Förderung durch Eltern und Lehrer, sowie das disziplinierte Studium der Werke Bachs, Mozarts und Liszts.

Früh entwickelte Busoni das Bedürfnis, seinen Werken eine architektonische Form zu geben. Sein Wille zu klarer formaler Gestaltung zeigt sich schon in “Des Sängers Fluch", einer gewaltigen Herausforderung, der sich der erst 12-Jährige kühn stellte. Abschnitte werden durch wiederkehrende, leicht variierte Themen markiert, melodisches Material wird verarbeitet und entwickelt. Dabei halten sich stärkere und unausgereifte Einfälle in etwa die Waage, die gesamthaft wohl mehr durch ihre Vielfalt als durch dramaturgischen Aufbau überzeugen. Immerhin bleibt der Eindruck eines potenten Geistes, der eine atmosphärisch faszinierende, wenn auch letztlich nur interessante Arbeit geleistet hat.

Etwa anderthalb Jahre später (l879) entstand “Wer hat das erste Lied erdacht", das im Tonfall entfernt an Schumann erinnert. Schwungvolle, empfindsame Gesangslinien liegen über einem pianistisch anspruchsvollen Klavierpart, der einer fast naturalistischen Umsetzung der Gedichtsituation entspricht. Ähnliches gilt auch für "Bin ein fahrender Gesell", in dem sich rhythmische Prägnanz mit musikantischer Lebensfreude verbindet.

Ferruccio Busoni, 1877
Busoni, der begnadete Pianist mit schier grenzenlosen Möglichkeiten, beeinflusste selbstverständlich auch Busoni, den Komponisten: seine Melodik ist primär instrumental, nicht vokal empfunden. Es mag dieser Aspekt sein, der ihm insbesondere in Italien den Vorwurf des zu “deutschen” Komponisten einbrachte. Diese Spannung zeigt sich auch in den vier zwischen 1879 und 1884 komponierten Liedern op. 30 (“Album Vocale"). Zwar lässt eine melodische “Italianita" immer wieder aufhorchen, doch werden im nächsten Moment mitreißende und berührende musikalische Ideen durch den kompositorischen Ehrgeiz des Jugendlichen ihrer natürlichen Wirkung wieder beraubt. Dennoch nimmt jedes der vier Lieder gerade durch melodische und atmosphärische Eigenständigkeit sowie eine klare formale Struktur für sich ein. Die Aufmerksamkeit wird primär von der Musik und deren Gestaltung beansprucht, während die dürftige Qualität der dichterischen Vorlagen, v.a. in den ersten drei Liedern, weniger ins Gewicht fällt. Arrigo Boitos prägnante und bildhafte Sprache in der abschließenden “Ballatella" scheint dafür Busoni besonders beflügelt zu haben.

In jenen l880er Jahren spiegeln sich die Neugier des Teenagers und sein enorm breit gefächertes Interesse auch in der Auswahl der Gedichttexte. Eine gewisse jugendlich unbefangene, dabei auch zeitbedingte Sentimentalität zeigt, wie Busoni seinen Weg als Komponist noch suchte, sein Handwerk ausprobierte und unterschiedlichste Einflüsse in seine Arbeit integrierte.

Dies gilt auch für die Vertonung des mittelalterlichen Textes von Neidhard von Reuenthal “Wohlauf! Der kühle Winter ist vergangen“ (1884). Dennoch spricht dieses Lied in seiner unbeschwerten, charmanten Heiterkeit und seiner archaisierenden Melodik den Hörer direkt an.

Die beiden im selben Jahr komponierten “Hebräischen Lieder" op. 15, zu wohl von Busoni selbst erstellten Übersetzungen berühmter Gedichte Byrons, suchen wieder eine völlig andere Klang- und Ausdruckswelt. “Ich sah die Träne” bleibt in sentimentaler, kitschiger Aufgesetztheit stecken, was nicht zuletzt an der schon im Gedicht enthaltenen, rückwärts gewandten Haltung liegt. Busoni reiht hier kurze melodische Phrasen ohne dramatische Stringenz aneinander. Mit längeren, v.a. jedoch substanzreicheren Abschnitten erzielt Busoni in “An Babylons Wassern" eine viel überzeugendere Wirkung. Auch hier setzt er die übermäßige, “hebräische" Sekunde etwas vordergründig ein, bewirkt aber durch schöne, melodische Bögen und rhythmisch prägnante Figuren sowie durch phantasievoll erfundene Dynamik und Farbigkeit eine glaubhafte Intensität. Dadurch wird das Lied für Zuhörer und Interpreten gleichermaßen attraktiv.

Ferruccio Busoni, 1913
Ein eigenartiges Gedicht bleibt “Es ist bestimmt in Gottes Rat", das erst durch Busonis kontrapunktische und sorgfältig phrasierte Vertonung Kontur gewinnt. Der Trauermarsch im Klavier und die schlichte Gesangslinie darüber hinterlassen einen gefassten, ernsthaft-feierlichen Eindruck. Ein gutes Jahr später, im Sommer 1885, blitzt im “Lied des Monmouth" erstmals so etwas wie kompositorische Meisterschaft des 19-Jährigen auf. Wirkungsvoll inszeniert er Fontanes Gedicht durch eine sich fast das ganze Lied hindurch aufbauende Steigerung, die in der trotzig-bitteren Pointe einen markanten Schlusspunkt findet. Die Musik klingt in einer Weise nach, die Sympathie und Abscheu spannungsvoll miteinander verwebt. Man merkt, wie Busonis Geist vor Ideen sprühte und es verstand, diese durch seinen Willen zu bändigen und in eine Form zu zwingen. Diese Lust an der eigenen Willensleistung erschließt sich auch dem Hörer.

Bis zum Jahr 1917 schrieb Busoni kein Klavierlied mehr. Er lehnte die allzu bürgerliche Kleinform nicht zuletzt deshalb ab, weil er sich nicht imstande sah, etwas entscheidend Neues beizutragen. Seinen eigenen kompositorischen Weg suchte er in Werken für Klavier, für unterschiedliche Kammermusikbesetzungen sowie für Orchester. Erst während der Arbeit an seiner Oper “Dr. Faust" fand er eine Sprache, die es ihm auch im Klavierlied erlaubte, mehr als nur “Fußnoten zum Gedicht" zu schreiben. Er wollte sich nicht nur dem Gedicht unterordnen, sondern sich an dessen inhaltlicher Aussage substantiell beteiligen.

In einer Epoche, die stets die symphonische Dimension suchte, hatte auch der Busoni der “Goethe-Lieder" instrumentale Farben im Sinn. Andererseits bricht er in diesen Liedern mit der spätromantischen Tradition eines Hugo Wolf oder eines Othmar Schoeck, deren Klaviersatz fast immer die psychologische Ausleuchtung des Textes sowie Kommentare dazu enthält. Bei Busoni kommt dem Klavier eine Begleitfunktion zu, die allerdings äußerst eng mit der Gesangsstimme verwoben ist. Die Melodie transportiert den Text auf klare, expressive und doch verhältnismäßig unkomplizierte Weise. So verbindet sich die Musik mit dem Gedicht und ringt zugleich mit ihm: das Lied wird semantisch und dramaturgisch ganz vom Text her geformt. Gesangslinie (Melodie), rhythmischer Duktus und Harmonik entspringen nicht einer unabhängigen musikalischen Eingebung, sondern Busonis absolutem Willen, die Essenz von Goethes Idee zu bearbeiten, um sie in eigener Sprache neu auszudrücken. Seine Kompromisslosigkeit mag dabei auf den Hörer anstrengend wirken, selbst wenn weder Inhalt noch Klang dies begründen. Er forderte stets bewusst eine aktive Beteiligung des Hörers und des Interpreten, ein Sich-Einlassen auf Inhalt und Material.

Busoni war eine Persönlichkeit von mitreißender und dominierender Ausstrahlung — sowie von einiger Eitelkeit. Die hier an den Schluss gestellte “Reminiscenza Rossiniana" beleuchtet dies auf überraschende Weise: 1923 in einem handschriftlichen Geburtstagsgruß an seinen Freund und späteren Biographen Edward Deut notiert, lassen die knappen, mit Verve und Meisterschaft hingeworfenen Notenzeilen eine geistreiche und bei aller Präzision auch gelöste Heiterkeit durchscheinen, die wir angesichts des enorm selbstbewussten, willensbetonteu Genies leicht übersehen.

Quelle: Martin Bruns, im Booklet

Die gesungenen Texte dieser CD liegen dem Infopaket als PDF-Datei bei

Selbstkarikatur Busonis anläßlich seiner USA-Tournee 1904,
aus einem Brief an seine Frau:
"Map of the West of the United States showing the long and dolorous Tour,
 the anti-sentimental journey of F.B., 1904, Chicago"

TRACKLIST

Ferruccio Busoni 
(1866-1924)

Songs


Zwei Lieder op.31 
01. 1. Wer hat das erste Lied erdacht? (Victor Blüthgen, 1879)          [03:07]
02. 2. Bin ein fahrender Gesell (Rudolf Baumbach, 1880)                 [03:41]

Album Vocale op.30 (*)
03. 1. Il fiore del pensiero (Ferdinando Busoni, 1884)                  [02:50]
04. 2. L'ultimo sonno (Michele Buono, 1880)                             [03:17]
05. 3. Un organetto suona per la via (Lorenzo Stecchetti, 1884)         [03:50]
06. 4. Ballatella (Arrigo Boito, 1884)                                  [04:48]

Zwei altdeutsche Lieder op.18 
07. 1. Wohlauf! Der kühle Winter (Neidhard v. Reuenthal, 1884)          [03:44]

Hebräische Lieder op.15 (Lord Byron) 
08. 1. Ich sah die Träne (1884, rev. 1901)                              [03:12]
09. 2. An Babylons Wassern (1884)                                       [04:37]

Zwei Lieder op.24 
10. 1. Lied des Monmouth (Theodor Fonatane, 1885)                       [03:23]
11. 2. Es ist bestimmt in Gottes Rat (Ernst v. Feuchtersleben, 1884)    [03:12]

12. Des Sängers Fluch op.39 (1878) (*)
    Es stand in alten Zeiten (Ludwig Uhland)                            [17:36]

Goethe-Lieder  
13. Lied des Brander (1918)                                             [01:36]
14. Lied des Mephistopheles op.49 Nr. 2 (1918)                          [01:39]
15. Lied des Unmuts (1918, KiV 281)                                     [02:35]
16. Zigeunerlied op.55 Nr. 2 (1923)                                     [02:03]
17. Schlechter Trost (1924, KiV 298a)                                   [02:25]

18. Reminiscenza Rossiniana (1923) (*)
    Caro Dent, due paroline (F. Busoni)                                 [01:31]

                                                          Playing Time: [69:15]
Martin Bruns, Baritone
Ulrich Eisenlohr, Piano

(*) = World Première Recordings

Recorded in Studio 2, Bavarian Radio, Munich, Germany, 
on 5th, 6th, 7th and 9th September and 26th October 2004
Producer and Editor: Johannes Müller - Engineer: Christiane Voitz
(P) + (C) 2006 


Leo Spitzer:



Werbung als populäre Kunst


[…] In den Drugstores von ganz Amerika wurde vor einigen Jahren für die Orangenmarke Sunkist mit folgendem Bild und Text geworben: Über einem hohen Gebirgszug, der mit im hellen Sonnenschein glitzernden Schnee bedeckt ist, den senkrechte Rinnen durchziehen und der über einem weißen Dorf mit sauberen, geraden Reihen von Orangenbäumen emporragt, erhebt sich eine gewaltige orangefarbene Sonne, auf der das Wort Sunkist steht. Vor diesem Bild steht gerade in der Mitte der Haine ein Glas Orangensaft, das ebenso hoch ist wie das Gebirge und dessen Farbe mit der des Sonnenballs genau übereinstimmt. Neben diesem riesenhaften Glas Saft beflndet sich ein kleineres von derselben Farbe, und neben diesem eine Obstpresse, auf der eine Orange zum Pressen bereitliegt. In der linken Ecke der Reklame lesen wir als einzige Inschrift:

From the sunkist groves of California
Fresh for you

Die erste Besonderheit, die uns auffällt, ist, daß die Firma in der Werbung für ihre Sunkist-Orangen sich nicht über Güte, Saftigkeit, Geschmack usw. dieses besonderen Standarderzeugnisses verbreitet, sondern daß sie es verzieht, den Ursprung des Erzeugnisses bis zu den Hainen zurückzuverfolgen, aus denen es hervorgegangen ist, so daß wir unsere Aufmerksamkeit ganz der natürlichen Schönheit Kaliforniens widmen können. Von der Frucht kann unser Blick zur Landschaft schweifen, zum Boden, zur Natur, die die Frucht wachsen läßt - und nur zur Natur, nicht zu den Orangenpflanzern oder Pflückern, nicht zu den Packern, die ihre Verteilung vorbereiten, überhaupt zu keinem menschlichen Faktor. Die Natur bringt wie durch ein Wunder diese Sunkist-Orangen hervor, sie bringt sie »fresh for you« aus Kalifornien. Das kommerzielle Erzeugnis (diese Millionen von Orangen, planmäßig in Tausenden von Kisten verpackt und mit der Eisenbahn transportiert) wird gegen den Hintergrund seiner natürlichen Umgebung gezeigt - das Glas Orangensaft steht sogar, wie wir gesehen haben, mitten in der Natur. In der Aufschrift erscheint nicht einmal die Verbform ›brought‹, die auf menschliche Tätigkeit hinweisen würde: die von der Sonne geküßten Orangen sind da als vollendete Tatsache, ihr Transport über Tausende von Kilometern wird schweigend übergangen.

Die Ausschaltung des Menschen aus dieser bildlichen Darstellung, die alleinige Blickrichtung auf die Erzeugerin Natur und das Wunder des schließlichen Erscheinens des Saftes, wie wir ihn in den Drugstores vor uns haben, stellen einen höchst poetischen Vorgang dar, da er die Kausalität unseres Alltagslebens (die Gesetze von Angebot und Nachfrage, von Massenproduktion und Preissenkung) durch andere Gesetze ablöst (die Gesetze der Natur — und des Wunders) ; die Wirklichkeit unseres Alltags wird von einer anderen, traumartigen Wirklichkeit überlagert: der Verbraucher kann einen Augenblick lang die Illusion haben, Nektar an der Quelle zu trinken. Und die Leute nehmen die Gaukelei des Künstlers willig hin. Es ist, als ob das Geschäftliche in dieser Verbildlichung seinen wesentlichen Zweck verleugnen würde, nämlich zu verkaufen und Gewinn zu erzielen, als ob die Geschäftswelt darin aufginge, zu ernten, was die Natur gibt, und die Gaben der Natur dem individuellen Genießer zu bringen — in einem arkadischen Leben in Harmonie mit der Natur. In dem Großstadt-Drugstore, über dessen Ladentisch dieses sonnige Bild erscheint, öffnet sich die Wand vor uns wie ein Fenster in die Natur. Das Geschäft wird poetisch, weil es die große Wirkung erkennt, welche Poesie auf diese moderne unpoetische Welt hat. Natürlich hat der gewiegte Kunstgriff, den Menschen auszuschalten, nur den Zweck, den Menschen wieder ins Bild zu bringen, denn der Betrachter muß sich nach einigem Nachdenken fragen, was denn dieses Wunder des Transports und der Verwandlung möglich gemacht hat, wenn nicht die Kunstfertigkeit, ja Magie der modernen Industrie? Und die Bescheidenheit, mit welcher die Firma ihre eigene gewaltige Arbeitsleistung hinter der anonymen Natur verbirgt, macht einen günstigen Eindruck auf uns.

Wenn nun das Geschäft poetisch wird, aus welchen Gründen auch immer, muß es die alten Gesetze der Dichtung anerkennen, die von der technischen Entwicklung der modernen ‚ Welt nicht erschüttert werden. Wir können demnach erwarten, in dieser geschäftlichen Kunst die alten, ehrwürdigen poetischen Darstellungsmittel zu flnden. Und ist denn die dichterisch gelungene Hervorrufung des Naturzustandes eines Erzeugnisses menschlichen Fleißes etwas anderes als die Wiederholung eines Darstellungsmittels, das schon die Dichter der Antike und der Renaissance kanntenfl Wir erinnern uns etwa an die anonyme Inschrift (verzeichnet in Bartletts Familiar Quotations 11th ed., p. 1092), die auf einer alten Geige entdeckt wurde: »Arbor viva, tacui; mortua, cano.« (Als lebender Baum schwieg ich, als toter singe ich). Oder wir könnten auch — und warum nicht — an die Zeilen in Góngoras Soledades denken, in welchen der ertrinkende Held sich mit Hilfe eines treibenden Sparren rettet, der wie die ursprünglich lebende Pinie beschrieben wird, die einst dem Ansturm des Nordwinds widerstand und jetzt den Fluten widersteht:

Del siempre en la montaña puesto pino al enemigo noto
piadoso miembro roto
— breve tabla …

Von stets feindlichem Südwind geduldig trotzender Pinie
ein zerspelltes Stück
— eine kurze Sparre …

Auf ähnliche Weise erinnert uns der Dichter, der die Sunkist-Werbung entwarf, jedesmal, wenn wir zehn Cents für ein Glas Orangensaft auf den Ladentisch legen, an all den Sonnenschein, der in dieses erfrischende Getränk eingegangen ist: als könnten wir für so wenig Geld die unerschöpfliche Quelle von Wärme und Fruchtbarkeit, die Sonne, kaufen. Wir kamen in den Laden aus einer praktischen Notwendigkeit heraus; nachdem wir das Bild gesehen und den Saft genossen haben, verlassen wir ihn mit einer Einsicht in die Wohltätigkeit der Natur und das Fortdauern ihrer Güte in ihren kleinsten Früchten.

Eines weiteren antiken dichterischen und bildlichen Darstellungsmittels bediente sich unser Dichter, als er eine direkte Linie zwischen dem Orangensaft und der Natur Kaliforniens aufzeigte. Er wollte eine feste Verbindung zwischen der Sunkist-Orange und dem Orangensaft mit Hilfe eines Motivs nachweisen, das zeigt, wie die Natur plant und wie der Mensch ihren Willen ausführt. Diese Verschmelzung der Tätigkeiten des Menschen und der Natur wird offenbar in der Wiederholung des einen Motivs, das zentralen Anteil an diesen Tätigkeiten hat, des Motivs der Orange, bildlich dargestellt durch die alles vereinende Farbe orange. Im ganzen wird das eine Motiv der Farbe viermal wiederholt: eine natürliche Orange, zwei Gläser Orangensaft und die ›Sonne‹ selbst (die die Aufschrift Sunkist trägt). In dieser Darstellung sehen wir das Symbol der Einheit und Harmonie der Beziehung der Natur und des Menschen zur Frucht. Hier kehrt die moderne Werbung zu einer mittelalterlichen Form zurück. An dem Portal des Hildesheimer Doms aus dem elften Jahrhundert sehen wir in einem Basrelief, das die Szene des Sündenfalls darstellt, vier Äpfel, die quer durch die Plastik eine waagrechte Linie bilden: einer ist im Mund der Schlange im Baum, einer in Evas Hand, einer ist dargestellt als der Apfel ihrer Brust und einer ist in der Hand Adams . Das zentrale Motiv in diesem mittelalterlichen Kunstwerk, der Apfel, ist natürlich das Symbol der verbotenen Frucht, während das zentrale Motiv in unserem modernen Werk der Gebrauchskunst dem Lob der natürlichen Frucht gilt, die allen erreichbar ist. Weiterhin ist das gewichtige Ereignis des Sündenfalls gleichsam in Zeitlupe dargestellt, in Abschnitte unterteilt, während der Fortschritt des Menschen in der Ausbeutung der Natur uns mit einer Beschleunigung nahegebracht wird, die man durch die Technik des ›vollendeten Tatbestandes‹ erreicht. Gleichwohl ist die grundlegende Technik des didaktisch wiederholten Hauptmotivs dieselbe. Der moderne Pantheismus nimmt sich der Kunstform an, die im religiösen Klima des Mittelalters entstanden sind.

In diesem Darstellungsmittel läßt sich eine Nebenerscheinung erkennen, die nicht dem Realismus zu entsprechen scheint, der in einer Kunstgattung mit so praktischer Zielsetzung doch wohl angebracht ist: Die ›Sonnen-Orange‹, die in unserem Bild dargestellt ist und die ihre genaue Färbung von der Frucht, auf die sie scheint, entleiht, ist eine gewaltsame, surrealistische Verdrehung der Wirklichkeit, anscheinend symbolisch für die mächtige Anziehungskraft, die das Geschäft ausübt, das alles in seinen Bereich zwingt - ja selbst die Sonne zur Arbeit heranzieht. Oder haben wir es vielleicht mit dem Mythus einer Orangensonne zu tun (dargestellt durch eine Sonnenorange), die die besondere Aufgabe hätte, Orangenhaine zu nähren, so wie es antike Sondergötter gab, die für das Wachsen von Wein, Getreide usw. zuständig waren; so wie es katholische Heilige gibt, die sich besonderer Industriezweige und natürlicher Vorgänge annehmenfl (Eine schwarze Madonna, die besonders für anbetende Neger sorgt, ist nicht erstaunlicher als die orangefarbene Sonne, die ihre Farbe von dem nimmt, was sie wachsen läßt.)

Die auffällige Verdrehung des Größenverhältnisses, die sich in dem riesenhaften Glas Orangensaft im Vordergrund zeigt, das so hoch wie die kalifornischen Berge ist und, allen Gesetzen der Proportion zum Trotz, die Orangenpresse völlig in den Schatten stellt, richtet unser ganzes Augenmerk auf den Hauptdarsteller dieser Szene, das Glas Saft, das wir im Laden Verlangen. Es ist dieselbe Technik wie in mittelalterlichen Gemälden, in denen Christus größer als seine Jünger und diese größer als das gemeine Volk dargestellt werden (und die sich auch in den Nürnberger Zinnsoldaten widerspiegelt, deren Hauptmann doppelt so groß ist wie der gemeine Soldat). Die Bedeutung der Figur übersetzt sich in materielle Größe. Man könnte vielleicht meinen, daß die gewaltige Größe des Glases im Vordergrund einer naiven Anwendung des Gesetzes der Perspektive zuzuschreiben ist, wenn nicht, ebenfalls im Vordergrund, das kleinere Glas und die Fruchtpresse in ihren normalen Proportionen abgebildet wären.

Aber warum erscheint das Glas zweimal, als Riese und als Zwerg, wenn keine verschiedenen Stufen der Zubereitung dargestellt werdenfl Ist das normal große Glas ein Zugeständnis an den Realismus des Betrachters, eine Entschuldigung für das riesige Glas, das als Hauptflgur geehrt und vergrößert werden mußtefl Demzufolge hätten wir zusammen mit dem Phantastischen die Kritik des Phantastischen, wie im Don Quiiote mit seiner doppelten Perspektive. Dann wäre das Naive durchaus nicht uneingeschränkt gültig: die naive und die kritische Haltung stünden einander gegenüber. Und diese zweifache Darstellung hat außerdem den praktischeren Zweck, ›Verbraucherinteresse‹ anzuziehen. Wir sehen zuerst die Sonne, dann die Haine Kaliforniens, dann die gepflückte Frucht, dann das fertige Produkt (das Glas Orangensaft), und schließlich haben wir im normal großen Glas (dieselbe Größe, die man im Drugstore bekommt) das eigene Glas Sunkist-Orangensaft des Verbrauchers vor uns. Durch diese verkleinerte Wiederholung wird die Linie, die bei der Sonne beginnt, aus dem Gemälde heraus verlängert, in Richtung auf den Kunden hin, der, indem er sein Glas Orangensaft erhebt, in direkte Berührung mit der kalifornischen Sonne tritt. Dieses Glas, welches das des Kunden ist, fordert den zukünftigen Kunden auf: »Trinken Sie ein Glas [dieses Saftes)«. Der Imperativ, der im Text sorgfältig vermieden wurde, wird durch das Bild suggeriert.

Wenn wir nun unsere eigene Analyse analysieren, sehen wir, daß der erste allgemeine Eindruck der einer Huldigung an die Fruchtbarkeit der Natur war; wenn wir überlegen, gewahren wir das notwendige Eingreifen des Menschen (nicht nur die Tätigkeit der Firma, sondern auch die Teilnahme des Verbrauchers). Wir kommen also zu der Feststellung, daß die Firma in ihrer Werbung, weder uns noch sich selbst etwas über den wahren Zweck ihrer Reklame vorgemacht hat. Das Glas Orangensaft, das so hoch wie die Berge Kaliforniens ist, zeugt eindeutig für die subjektive Einschätzung der relativen Wichtigkeit geschäftlicher Interessen durch den Geschäftsmann. Wenn wir überlegen, welche Gewalt der Natur in unserem Bild angetan wird (Verschiebung der Proportionen, surrealistischer Gebrauch eines Motivs, Änderung der natürlichen Farbe bestimmter Dinge), dann sehen wir sogar, wie diese Methode auf sehr künstlerische Weise und letztlich im Geist aufrichtiger Selbstkritik das wirkliche Wesen des Geschäfts beleuchtet, das, indem es sich mit der Natur verbündet, sie seinem Zweck — und dem unseren unterstellt. Unser Bild benutzt alle Reize der lebendigen Natur, um für ihre kommerzielle Form zu werben.

Bevor wir die Analyse der bildlichen Elemente unserer Werbung beenden, müssen wir anmerken, daß es nicht gelungen ist, die in der Handelsmarke ausgedrückte Metapher graphisch darzustellen: wir sehen nicht, wie die Orangen von der Sonne geküßt werden. Keine Spur einer Aktivität der Sonne wird angedeutet, nicht einmal in der traditionellen, schematischen Form von Strahlen. Denn die Sonne ist kein lebendes Wesen, sie ist ein Sinnbild, ein Ideogramm, das von der Firma geschaffen wurde, damit es ihr Markenzeichen trägt. Sinnbildliche Dichtung benutzt festgelegte Symbole; so wie im Bildgebrauch des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts der Pfeil Cupidos oder die Sichel des Todes gebrauchsfertige Bestandteile darstellten, sind auch die modernen industriellen Markenzeichen von Bestand (oder sie haben es wenigstens vor). Die Sunkist-Firma ist mehr daran interessiert, ihr Markenzeichen zu verbreiten, als die ursprüngliche Metapher nachzuvollziehen. (Wir sind weit entfernt von der Atmosphäre der Griechen, wo persönliche Götter umarmen und zeugen.) Andererseits flnden wir im Text unserer Werbung das Markenzeichen nicht, nur einen Hinweis auf »sunkist groves«. Auf diese Weise wird der Leser geschickt angeleitet, die Herkunft der Handelsmarke zurückzuverfolgen. Vor vielen Iahren wurde der Markenname Sunkist geprägt, er wurde allgemein bekannt und verlor seine anfängliche Frische. In dem Hinweis auf »sunkist groves« (man beachte, daß ›sunkist‹ nicht großgeschrieben ist!) haben wir gleichsam die ursprüngliche Situation vor uns, die den Namen anregte, wir sehen das Erzeugnis im Zustand der Namenlosigkeit und lernen seine Etymologie kennen.

Wenn wir nun den Ausdruck »sunkist groves« vom Philologischen her betrachten, müssen wir anmerken, daß er als dichterisches Bild gedacht war. Es ist fraglich, ob Millionen von Amerikanern das Wort ›sun-kissed‹ je gelesen oder gehört haben, außer als Bezeichnung für eine Orangenmarke. Aber doch hat es nicht den Klang hervorragender Dichtung, der Ausdruck ›sun-kissed‹ selbst ist ziemlich schablonenhaft (der einzige Beleg stammt nach dem New English Dictionary von einem gewissen E. Brennan: 1873), und die Form ›kist‹ ist darüber hinaus eine sentimentale Kopie Shakespeareschen Stils. Gleichwohl ist es interessant, daß diese scheinpoetische Schreibweise auch an die Tendenz erinnert, ›nite‹ für ›night‹ oder ›u‹ für ›you‹ (Uneeda Biscuit) zu schreiben, die sich nur in durch und durch kommerzieller Sprache findet (und die, wie man sagt, auf ein Bemühen zurückgeht, Platz zu sparen; ich selbst möchte freilich eher glauben, daß sie durch den positiven Wunsch hervorgerufen ist, einen energischen, fortschrittlichen Eindruck von Wirksamkeit zu schaffen). Wir haben es also mit einer Mischform zu tun, die auf zwei einander ausschließende stilistische Bezirke weist. Und dieselbe Dualität klingt mit der aus Ablativ plus Partizip zusammengesetzten Form an: anders als so viele Zusammensetzungen war dieser Typus (God-given, heaven-blest, man-made, wind-tossed, rain-swept] ursprünglich sehr literarisch, und auch heute hat er noch nicht Eingang in die Umgangssprache gefunden. Die Einführung dieses Typus in die Sprache der Werbung stellte eine literarische Bemühung von seiten des Verfassers dar — obwohl dies nicht mehr für alle Werbeautoren gelten mag, wie es wahrscheinlich auch nicht für die meisten ihrer Leser gilt, die vielleicht nur mit dem kommerziellen Klang des Typs ›oven-baked beans‹ usw. vertraut sind.

Bei unserem Ausdruck sunkist dürfen wir wohl zu Recht eine dichterische Absicht des Schöpfers dieser Prägung annehmen, und zwar auf Grund des poetischen Charakters der darin enthaltenen Vorstellung (von der Sonne geküßt): gleichzeitig muß er sich aber des kommerziellen Beigeschmacks bewußt gewesen sein. Er hat es verstanden, auf zwei Schachbrettern zu spielen, zwei Verbrauchertypen anzusprechen: diejenigen, welche einen frischen, durchschlagenden Geschäftsstil bewundern, und die anderen, die denken: »Und die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns.« So ist unser Mischwort, das keine Wurzeln in der normalen Sprache hat, zu einem heimatlosen Dasein verurteilt; sunkist ist nur in dem Niemandsland möglich, wo das Prosaische gemieden, das Poetische aber nicht ganz ernst genommen wird.

Die Tafel aus der Tür des Hildesheimer Doms, mit der Schilderung der Apfelernte. Wie Spitzer nicht versäumt
zu bemerken, befinden sich die süßen Früchte in einer Line.

Quelle: Leo Spitzer: Amerikanische Werbung - verstanden als populäre Kunst. In: Leo Spitzer: Eine Methode Literatur zu interpretieren. [Reihe: Literatur als Kunst] Hanser, München 1966. Seiten 81 - 88


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Henri Duparc: Lieder (Paul Groves, Roger Vignoles, 2003) | Eine Winterreise. (Gedichte von Heinrich Heine).

Ernst Krenek: Reisebuch aus den österreichischen Alpen (Julius Patzak, Heinrich Schmidt, 1950) | Das bewohnte Tuch und das Kleid der Erde. (Joachim Patinir: Ruhe auf der Flucht. Berlin, Gemäldegalerie Preußischer Kulturbesitz.)

Heinrich Schütz: Symphoniae sacrae I (Capella Fidicinia, 1984). | Französische Lyrik zwischen Villon und Baudelaire. Mit Bildern von Albrecht Dürer.


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