7. Januar 2020

Johannes Ciconia: Opera Omnia (Diabolus in Musica, La Morra)

Die Karriere eines Musikers zu schildern, der seine Kunst an der Grenze des 14. zum 15. Jh. ausübte, ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, da es so sehr an Dokumentation fehlt: sehr seltene briefliche Aussagen, verstreute Zeugnisse, fast nie ein Porträt. Oft erhalten die Namen, die über den Musikstücken in einigen Handschriften oder Fragmenten stehen, nur durch das Sterbedatum Leben. Die Unterschrift, die auch zur Verwirrung beiträgt, wenn die Zuordnung des Werks anfechtbar ist, verrät aber mehr als einen Namen. Das war bei jenem „Magister Ciconia de Leodio" der Fall, der auf einigen Folioblättern eines berühmten, heute in Oxford aufbewahrten (Canonici 213) Kodex aufscheint und auch auf einigen Kopien einer Ars Nova betitelten Abhandlung zu finden ist, die in Italien im ersten Teil des Quattrocento im Umlauf war. Es gab demnach um 1400 einen Musiker aus Lüttich namens Ciconia, der einen „Magister“-Titel trug und berühmt genug war, um in mehreren Quellen vertreten zu sein, die für das, was damals im Bereich der Musik zum Besten zählte, repräsentativ sind. Dass ein Mann aus Lüttich am Ende des Mittelalters durch die Musikzentren Europas reiste, ist nicht erstaunlich. Viele Sänger „de leodio“ verstärkten die Vokalensembles, die zum Kunstgenuss der Fürsten und Prälaten beitrugen, und widmeten einen Teil ihrer Laufbahn der Ausbildung der Chorknaben in einer (Stifts—)kirche oder Kathedrale, um am Ende ihrer Karriere eine mehr oder weniger gut dotierte Pfründe zu genießen.

Die Musikwissenschaftler konnten dem Reiz der Werke dieses Johannes Ciconia aus Lüttich ebenso wenig widerstehen wie vor ihnen die Kopisten der Handschriften, die selbstverständlich sehr feinfühlige Musikkenner waren. Die Werke dieses Meisters Johannes sind gegenüber dem üblichen Durchschnitt relativ zahlreich und bieten sich sofort als Fundgrube an, in der Messteile und Motetten neben Madrigalen und Liedern, Gelegenheitswerken und unglaublichen Kanons zu finden sind. Dabei hat und wird man sich nie die Frage stellen, ob Ciconia Talent hatte: Seine Begabung äußert sich nämlich auf jeder Seite. Dagegen war es immer schwierig zu sagen, wer Ciconia war.

Basilica di Sant´ Antonio di Padova, errichtet zwischen 1232 und 1310,
 als Grab des Heiligen Antonius.
Von Ciconias Leben ist sein Sterbedatum das Ereignis, über das uns die Quellen die genauesten Auskünfte geben. Am 10. Juni 1412 unterzeichnete Johannes Ciconia ein notariell beglaubigtes Dokument. Einen guten Monat später, am 13. Juli, wird ein neuer Kaplan — ein „Custos“ — „per mortem Johannes Ciconia“ ernannt. Leider erfahren wir weder aus diesen Dokumenten noch aus anderen das Alter des Komponisten. Und diese fehlende Information stiftet nachträglich Verwirrung in Hinblick auf alle biographischen Angaben, die in anderen Archiven als in denen Paduas zu finden sind. Die Dokumente aus Padua verraten keine weiteren Einzelheiten über die Lütticher Herkunft des Johannes Ciconia, abgesehen davon, dass sein Vater 1405 starb. Seit wann hielt sich der Komponist Ciconia in Italien auf? Wo erhielt er seine Ausbildung? Kam er direkt nach Padua, um relativ bedeutende Funktionen in der Stadt zu übernehmen, in der er mit berühmten Persönlichkeiten der politischen und kirchlichen Szene verkehrte, während Europa vom großen Schisma zerrissen wurde? Denn den Hintergrund zu Ciconias Karriere bildet selbstverständlich diese schwere, tiefe und dauerhafte Krise der Kirche.

Um auf diese Fragen Antworten zu finden, die es erlauben würden, die Marksteine einer Karriere zu setzen, verfügt der Historiker über nur wenige Elemente, in erster Linie über Musikhandschriften. Sie sind nicht unbedingt zeitgleich mit der Uraufführung der Werke, die sie enthalten, und kommen möglicherweise aus Orten, die nicht auf den Wegen der in den Handschriften vertretenen Komponisten liegen. Sie können aber auch aus einer interessanten Lokalität stammen, die vielleicht eine klug gewählte Etappe für einen ehrgeizigen Musiker war, ohne dass die Archive dieser Stadt diese Hypothese untermauern. Außerdem verfügt der Historiker über Dokumente aus Archiven. Was Ciconia betrifft, so handelt es sich selbstverständlich um die in Padua aufbewahrten Dokumente, doch auch um die aus Lüttich. Allerdings ist der Familienname Ciconia (oder Chywogne, Cichonia, Chuwagne, Cyconia) haufig, Ja man stößt dabei sogar auf einen Johannes, der dort in den Jahren 1390-1410 einer kirchlichen Laufbahn nachging. Ein andermal taucht der Name eines Johannes Ciconia in einem 1391 geschriebenen Brief von Bonifatius IX. aus Rom auf. Diese Spuren zu verbinden, um daraus eine Karriere zu rekonstruieren, ist nicht leicht. Und Ciconias Werk selbst macht diesen Versuch noch komplizierter.

Reiterstatue des Gattamelata (Erasmo da Narni),
1447, Bronzeplastik von Donnadello.
Zum Beispiel verraten die Archive der Stiftskirche Saint-Jean-l‘Évangeliste, dass in der Kantorei 1385 ein Chorknabe namens Johannes Ciconia sang. Es handelt sich um die einzige „musikalische“ Spur Ciconias in Lüttich. Und sie könnte mit den Dokumenten aus Padua vollkommen übereinstimmen. War Johannes 1385 Chorknabe, ist er zwischen dem Ende der 1360er Jahre und der Mitte der 70er Jahre geboren, kam mit rund dreißig Jahren nach Padua und konnte sich auf eine bereits reiche Erfahrung verlassen, wovon die Motetten zeugen, die er, kaum hatte er sich in dieser Universitätsstadt niedergelassen, einigen Würdenträgern zu bestimmten Anlässen widmete. Wenn er also 1385 Chorknabe war, so könnten seine ersten Kompositionen möglicherweise am Ende der 1380er Jahre und noch wahrscheinlicher zu Beginn der 1390er Jahre geschrieben worden sein.

Ein Dokument erweckt den Eindruck, sichere Fakten zu vermitteln. Es handelt sich um ein Schreiben, das Bonifatius IX. 1391 verfasste, um einem jungen Geistlichen aus Lüttich zu erlauben, aufgrund seiner Geburt keine Nachteile zu erleiden: Er sei der uneheliche Sohn eines Domherrn. Ja mehr noch: dieses Schreiben ermöglicht es dem jungen Johannes Ciconia, eine Pfründe in der Kirche seines Vaters zu erhalten und aus einer weiteren Pfründe an der Kirche Sainte-Croix in Lüttich — und sei es nur in Zukunft — Nutzen zu ziehen. Tatsächlich lebte Johannes Ciconia Vater, Domherr der Kirche Saint—Jean‚ mit einem Mädchen „von schlechtem Ruf“‚ ohne dadurch die Vorteile seiner Stellung zu verlieren. Welches Gewicht hatte aber das vom Papst unterzeichnete Dokument wirklich? Die Päpste verteilten in diesen Jahren des Schismas frisch-fröhlich Pfründen, wodurch sie innerhalb der Städte Widerstände anfachten. Lüttich entging dieser Tendenz nicht. Eine künftige Domherrnstelle verpflichtete den Papst im übrigen nicht wirklich. Und in den Archiven der Kirche Sainte—Croix scheint kein Ciconia auf. Dagegen gab es einen in der Kirche Saint-Jean:

Das unscheinbare Äußere der Cappella degli Scrovegni,
errichtet 1302 bis 1305
Tatsächlich einen Johannes, der aber nicht der Vater war, dessen Sitten im Widerspruch zu seiner Stellung standen. Und dieser Johannes Ciconia genoss seine Pfründe bis 1408, als der Fürstbischof von Lüttich beschloss, sie ihm wegzunehmen, um ihn mit anderen, die sein Schicksal teilten, zu bestrafen, weil er Sympathien zur „Clique von Avignon“ gezeigt hatte. Dieser Fürstbischof wollte nämlich seinen Treueeid zu Rom beteuern. Jedenfalls scheint der vom Fürstbischof Geschädigte nicht der Komponist gewesen zu sein: Der hat sich in Padua niedergelassen und genießt die Protektion Zabarellas, eines immensen Gelehrten, der Rom nahesteht und zur Versöhnung der katholischen Kirche aktiv beiträgt. Dem Schützling eines der einflussreichsten Männer der Kirche die Pfründe wegzunehmen, wäre für den Fürstbischof Johannes III. von Bayern eine widersinnige Geste. Und hätte er es dennoch getan, warum hätte er diesem Johannes Ciconia nicht auch die Nutzung einer klösterlichen Unterkunft in der Kirche Saint—Jean verboten? Das Nutzungsrecht ging erst 1412 in andere Hände über. Ganz einfach: weil es zwei Johannes Ciconia gibt. Der eine lebt in Lüttich und ist zweifellos der Sohn von Johannes, dem Domherren, wird ebenfalls Domherr und Opfer des fürstbischöflichen Zorns. Der andere lebt in Italien, ist offenbar ebenfalls ein Sohn von Johannes und genießt die ererbten Vorteile der beneidenswerten Stellung seines Vaters. Doch kann er keinesfalls verdächtigt werden, Sympathien für die „Avignoner Clique“ zu hegen, da er in prorömischen Milieus verkehrt.

All das genügt aber nicht, sich die Karriere von Johannes Ciconia vorzustellen. Einige Elemente weisen darauf hin, dass Johannes um 1370 geboren ist und möglicherweise Chorknabe in der Kirche Saint—Jean war. Er wird als „Magister“ bezeichnet: dass er etwa zehn Jahre in Padua gearbeitet und zwei Abhandlungen geschrieben hat, verschaffte ihm die Aura eines Gelehrten. Doch vielleicht hat er auch an einer Universität studiert, bevor er sich in Padua niederließ. Und warum nicht in Paris, wohin viele Lütticher zogen, um ein Universitätsdiplom zu erhalten und damit die Möglichkeit einer Pfründe (ein solches Diplom war an der Kirche Sainte—Croix für Nichtadelige obligatorisch). In den Jahren zwischen 1370 und 1380 widmeten sich Dichter und Musiker in Paris leidenschaftlich dem Spielen mit Zitaten, was Giangaleazzo Visconti während seines Studiums dort hören konnte und worin sich Ciconia mit Sus un‘ fontayne auszeichnete.

Cappella degli Scrovegni, Südwand,
 mit den Fresken von Giotto di Bondone
Johannes Ciconia soll also in Lüttich geboren sein (was schwer anfechtbar ist), u. zw. im dritten Drittel des l4. Jh. Der Chorknabe fährt nach dem Stimmbruch zweifellos nach Paris, um ein Universitätsstudium zu beginnen. Wie viele andere talentierte Musiker reizen ihn die italienischen Höfe, wo viele Landsleute schönen Karrieren nachgehen. Einige Jahre — wie viele kann man unmöglich sagen — lebt Johannes Ciconia in verschiedenen Städten, vielleicht in Rom, wofür der Brief von Bonifatius aber auch Dokumente aus der Umgebung des Kardinals Philippe d'Alençon sprechen.

Leider stirbt Philippe d'Alençon, der Gönner des jungen Musikers, im Jahre 1397. Ob Ciconia zwischen 139l (dem Datum des einzigen Dokuments, das erlaubt, den Komponisten mit dem Kardinal in Verbindung zu bringen) und 1397 in Rom lebte, weiß man nicht. Ein längerer Aufenthalt würde die Vorstellung erlauben, dass der junge Musiker aus dem Norden dort zwar sicher seine Landsleute traf, die ihr Talent in der päpstlichen Kapelle oder in der Umgebung eines Kardinals und Kunstmäzens zur Geltung brachten, aber vor allem mit einer der markantesten Persönlichkeiten der italienischen Musik im letzten Jahrzehnt des l4.Jh. in Kontakt kam: Antonio Zacara da Teramo. Der Versuch, das Netz der musikalischen Beziehungen Ciconias zu rekonstruieren, ist zwar kühn, bietet jedoch eine nicht unwesentliche Piste, die ausgenutzt wurde, um richtig einzuschätzen, inwieweit sich ein auf der anderen Seite der Alpen ausgebildeter Komponist die italienische Kultur des Trecento aneignete.

Auch wenn man gelten lässt, dass Ciconia in Rom in der Umgebung des Kardinals d'Alençon lebte, erwähnt kein Dokument seinen Aufenthalt in dieser Stadt nach 1397, so dass man ihn sich unweigerlich reisend vorstellt. Diese Reisen führten ihn mit großer Sicherheit nach Padua, wo sein Name zum ersten Mal im Juli 1401 auftaucht. Demnach hätte er vier Jahre herumreisend aber offensichtlich nicht untätig verbracht.

Palazzo della Ragione, Fassade, von der Piazza della Frutta gesehen.
Der Kodex Mancini (oder Kodex Lucca) bewahrt neun Werke von Ciconia auf, von denen sieben ausschließlich dort zu finden sind. Unter diesen Stücken ließ das Madrigal Una panthera in compagnia di Marte darauf schließen, dass sich Ciconia in Lucca niedergelassen hatte. Bei aufmerksamerer Betrachtung des Textes und einer sorgfältigen kodikologischen Analyse des Kodex Mancini erwies sich diese Hypothese jedoch als überholt. Das Manuskript liefert angeblich unwiderlegbare Beweise dafür, dass es im Umkreis des Hofes von Giangaleazzo Visconti in Pavia zusammengestellt wurde, also an jenem Hof, an dem „es sehr schön zu verweilen“ war, um Eustache Deschamps zu zitieren. Der Anlass, für den Ciconia Una panthera komponierte, könnte von seiner Aktivität in Pavia zeugen. Lazzaro Guinigi, ein legitimer Vertreter der Familie, die mit eiserner Hand über Lucca herrschte, besuchte Giangaleazzo im Mai und Juni 1399, um ein Abkommen für ein Militärbündnis zu schließen. Der Text von Una panthera bekommt Sinn, wenn man ihn mit diesem politischen Ereignis in Beziehung setzt. Ciconia hätte demnach nicht in Lucca gelebt. Dagegen war Pavia eventuell eine Etappe auf seinem Weg nach Padua.

Und Padua hätte mehr sein können als eine Etappe. In Ciconias weltlichem Schaffen weisen mehrere Werke darauf hin, dass der Komponist eng an einen Hof gebunden war, an dem die damals von den Vertretern der Ars subtilior geschätzten Kompositionstechniken bekannt waren und verwendet wurden. Es ist unwahrscheinlich, das Ciconia Le ray au soleyl in seinen ersten Jahren in Lüttich komponiert hat und kaum anzunehmen, die Idee dafür sei ihm während seines Romaufenthalts gekommen. Das sind aber nur sehr hypothetische Datierungsvorschläge, da die Versuche, die Werke auf der Grundlage stilistischer Kriterien einzustufen noch sehr unsicher sind. Aus der gleichen Ader stammt ein Stück wie Sus un’ fontayne; es verrät einen Musiker, der die Kompositionstechniken eines Milieus beherrscht, in dem die französische Kultur mit der italienischen enge Kontakte hatte.

Der Salone im Obergeschoß des Palazzo della Ragione
Ein Dokument, das Ciconias Anwesenheit in Padua erwähnt, ist auf 140l datiert. Der Erzpriester Francesco Zabarella gewährte ihm eine Pfründe in San Biagio de Roncagli in der Umgebung von Padua. Es handelt sich um die erste konkrete Spur einer Beziehung zwischen den beiden Persönlichkeiten, die erst mit der Abreise Zabarellas nach Florenz endete. Diese Pfründe erlaubte Ciconia sicher, ab 1402 in das Kapitel der Kathedrale von Padua einzutreten. Tatsächlich wird der Komponist dort 1403 als „Custos“ und „Cantor“ genannt. Hat er die Funktion des „Custos“ bestimmt nur symbolisch ausgeübt, so war die des „Cantor" konkret. Dennoch konnte Ciconia nie einen hohen Rang in der Hierarchie des Kapitels einnehmen: Die aus Padua oder nach 1405 aus Venedig stammenden Aristokraten hatten hier absoluten Vorrang. Dennoch war Ciconia der erste ausländische Musiker, der in der Kathedrale Mitglied des Kapitels wurde.

Obwohl Ciconia Zabarella nahe stand, rühmte er nichtsdestoweniger auch die Familie Carrara, anscheinend aber ohne eine offizielle Stellung am Hof innezuhaben. Da Ciconia 1396 ein Werk zum Andenken an den Tod von Francesco Carrara il Vecchio komponierte, könnte man annehmen, dass der Musiker ab diesem Zeitpunkt in irgendeiner Weise mit Padua in Verbindung stand. Und sicher hatte es der Musiker den Beziehungen zwischen Philippe d'Alençon und der Familie Carrara zu verdanken, dass Zabarella ihn protegierte. Doch all das sind nur Vermutungen. Die Archive von Padua haben offensichtlich nicht viele Spuren von Ciconias Aktivität bewahrt, und keine ist älter als 140l.

Kuppelfresko von Giusto de' Menabuoi im
Baptisterium des Doms von Padova, um 1378
Ciconia kannte Padua nicht unter den besten Umständen. Die Universitätsstadt erlitt eine Krise nach der anderen. Im Sommer 1405 herrscht dort sogar eine besonders tödliche Epidemie. In den selben Jahren nimmt die Anzahl der Studierenden an der juristischen Fakultät radikal ab. Kurz, es ist nicht wirklich angenehm, in Padua zu leben. Erst um 1409 erlangt Padua die Merkmale einer belebten Universitätsstadt wieder. Trotz dieses wenig günstigen Klimas gibt es Spuren der musikalischen Tätigkeiten Ciconias, u.zw. ausreichend, um die Mitwirkung des Komponisten an bedeutenden Ereignissen in Padua oder Venedig zu bestätigen und seine Beziehungen zu einigen hervorragenden Persönlichkeiten zu beweisen. Ist es einerseits vernünftig anzunehmen, dass die Werke mit französischen Texten aus den Jahren 1390 stammen, gehören die Stücke mit italienischen Texten eher — doch nicht ausschließlich — in das erste Jahrzehnt des 14.Jh. So konnte Ciconia mit Leonardo Guistinian Freundschaft schließen, als dieser sein Studium gegen 1406 an der Universität Padua fortsetzt. Während seines Lebens in Padua widmet sich Ciconia nicht nur der Komposition, sondern auch einer neuen Beschäftigung: Er verfasst zwei theoretische Abhandlungen. Die erste, Nova Musica, soll aus dem Jahre 1408 stammen, während die zweite, De proportionibus, angeblich 1411 geschrieben wurde. Die Texte zeugen von einem weiterem Paradox, denn Ciconia erweist sich darin sowohl als ein kompetenter Denker der Musik, als auch als ein neuen Einflüssen gegenüber merkwürdig widerstrebender Geist: Er kritisiert die Verwendung der Solmisationssilben (ut‚ re‚ mi, fa, sol, la), um die Rückkehr zu den Buchstaben zu empfehlen, die vor Guido d'Arezzos schöner Erfindung im Gebrauch waren. Dieses Paradox stand allerdings der Verbreitung dieser Abhandlungen im Italien des 15.Jh. nicht im Wege, so dass das Andenken an diese außergewöhnliche Persönlichkeit wach blieb.

Auch wenn noch große Bereiche von Ciconias Biographie im Dunkeln bleiben, so zeichnet sich doch unbestreitbar die Persönlichkeit eines Mannes aus Lüttich ab, der schon jung nach Italien aufbrach, um sich dort durch sein ungeheures Talent auszuzeichnen, und unter den Komponisten zur Schlüsselfigur dieser zwiespältigen Jahre der europäischen Geschichte wurde.

Quelle: Philippe Ventrix (Übersetzung: Silvia Berutti-Ronelt), im Booklet

Das anatomische Theater der Universität Padova

TRACKLIST

Johannes Ciconia 
(c. 1370-1412)

Opera Omnia


CD 1 Musique profane                                                       [77:50]

01. Una panthera in compagnia di marte (à 3, flûte, luth, vielle)          [05:30]
02. Sus un' fontayne (voix, luth, vielle)                                  [07:47]
03. Chi nel servir (voix, luth, vielle)                                    [03:10]
04. Le ray au soleyl (à 3, flûte, guiterne, vielle)                        [01:32]
05. Caçando un giorno (clavecin)                                           [02:42]
06. Per quella strada (à 2, flûte, vielle)                                 [04:44]
07. Con lagreme (à 2)                                                      [05:13]
08. Chi vole amar (lute)                                                   [02:29]
09. Dolçe Fortuna (à 2)                                                    [03:27]
10. Gli atti col dançar (voix, clavecin)                                   [02:08]
11. La fiamma del to amor (à 2)                                            [03:12]
12. Poy che morir (voix, vielle)                                           [05:19]
13. Aler m'en veus (voix, flûte)                                           [04:45]
14. I cani sono fuora (clavecin)                                           [02:46]
15. Ligiadra donna (à 2, clavecin, guiterne)                               [04:16]
16. Merçe o morte (à 2, lute)                                              [03:42]
17. O rosa bella (à 2, vielle)                                             [05:52]
18. Contrafacta - canon / Regina gloriosa (organetto)                      [01:54]
19. Contrafacta - canon / O Petre, Christi discipule (à 2)                 [03:15]
20. Contrafacta - canon / O beatum incendium (à 2)                         [02:23]
21. Contrafacta - canon / Quod jactatur (à 3)                              [01:33]

La Morra:
Eve Kopli: soprano
Hanna Järveläinen: soprano
Els Janssens: mezzo-soprano
Javier Robledano Cabrera: contre-ténor
Corina Marti: flûtes à bec, clavicembulum
Michal Gondko: luth, guiterne
Elizabeth Rumsey: vièle
direction: Corina Marti & Michal Gondko

Enregistrement: Boswill, Alte Kirche (Künstlerhaus), janvier 2010
Prise de son et direction artistique: Jéróme Lejeune


CD 2 Motets et mouvements de messe                                         [73:42]

01. Petrum Marcello Venetum / O Petre antistes inclite (à 2, organetto)    [03:12]
02. O virum omnimoda / O lux et decus / O beate Nicholae (à 4)             [02:25]
03. Ut per te omnes / Ingens alumnus Padue (à 2, 2 sacqueboutes)           [02:56]
04. Gloria n° 3 (à 4)                                                      [03:17]
05. Credo n° 4 (à 4)                                                       [04:05]
06. Gloria spiritus et alme n° 6 (à 2, organetto)                          [04:51]
07. Venecie, mundi splendor / Michael qui Stena domus (à 3, organetto)     [03:09]
08. Gloria suscipe trinitas (à 3, organetto)                               [06:43]
09. O beatum incendium (organetto)                                         [02:33]
10. O felix templum jubila (à 2, 2 sacqueboutes)                           [03:33]
11. Gloria n° 9 (à 3)                                                      [04:32]
12. Doctorum principem / Melodia suavissima / Vir mitis (à 4)              [02:57]
13. Gloria n° 1 (à 3)                                                      [03:48]
14. Gloria n° 2 (à 3)                                                      [05:51]
15. Albane, misse celitus / Albane doctor maxime (2 voices, organetto)     [03:11]
16. Gloria spiritus et alme n° 5 (à 3)                                     [04:39]
17. Credo n° 10 (à 4)                                                      [05:59]
18. Gloria n° 8 (voix, organetto)                                          [02:41]
19. O Padua sidus preclarum (à 3)                                          [03:14]

Diabolus in Musica:
Aino Lund-Lavoipierre: soprano
Estelle Nadau: soprano
Frédéric Betous: alto
Andés Rojas-Urrego:alto
Raphael Boulay: ténor
Emmanuel Vistorky: baryton-basse
Philippe Roche: basse
Guillermo Perez: organetto
Franck Poitrineau: saqueboute
Fabien Dornic: saqueboute
direction: Antoine Guerber

Enregistrement: Collégiale de Champeaux, septembre 2010
Prise de son et direction artistique: Jean-Marc Laisné

Temps total: 02h 38

(P) 2010 (C) 2011


Die Schönste im ganzen Land

Die Berliner Büste der Nofretete

Nofretete, Bemalte Kalksteinbüste, um 1350 v.Chr,
Ägyptisches Museum Berlin/Altes Museum
Schneewittchen war «weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz [-haarig] wie Ebenholz». Heute hingegen haben «als schön geltende Frauen ... eine braunere Haut, ein schmales Gesicht und vollere Lippen, einen weiteren Augenabstand‚ dünnere Augenlider, lange dunkle Wimpern und schmale dunkle Augenbrauen, höhere Wangenknochen und eine schmale Nase», befand die Süddeutsche Zeitung am 14. November 2001.

Die Aufzählung liest sich wie eine Beschreibung der Büste der ägyptischen Pharaonin Nofretete, faßt aber in Wirklichkeit die statistischen Erkenntnisse von Regensburger Psychologiestudenten zusammen. Sie hatten zahlreiche Frauengesichter, darunter auch die einiger berühmter Models, fotografiert, die Fotos anschließend manipuliert (gemorpht) und dann mit einer Fragebogenaktion nach deren Attraktivität gefragt.

Als «Schönste im Land» wurde keine Blondine vom Typ einer Claudia Schiffer gewählt, sondern — wie bereits erwähnt — eine eher brünette Schönheit, die sich durchaus historischen Schönheiten wie Kleopatra an die Seite stellen läßt oder eben einer noch älteren Ägypterin, die gleichfalls zu den schönsten Frauen der Welt gezählt wird: Nofretete. Eine Kalksteinbüste hat uns ihr Bild überliefert.

Die berühmte Büste der Nofretete, die sich heute in Berlin befindet, entstand vor etwa 3350 Jahren. Ihr Gesicht ähnelt in vielen Details jenem, das am Computer aus vielen Gesichtern komponiert worden war und bei der Regensburger Fragebogenaktion als das schönste ausgesucht wurde. Mit einem Unterschied: Der Künstler der Nofretete-Büste besaß die Fähigkeit, das Gesicht lebendig und gleichzeitig geheimnisvoll wirken zu lassen. Man will die Frau kennenlernen, die sich hinter einem Lächeln verbirgt, das ihre Lippen umspielt. Das Computerbild hingegen ist klar, eindeutig und — langweilig. Vielleicht auch deshalb wird die Computer-Dame nie den Erfolg der Nofretete haben — als eine der berühmtesten Frauen der Weltgeschichte zu gelten, dazu noch als eine der schönsten und geheimnisvollsten.

Die Büste der ägyptischen Königin aus bemaltem Kalkstein besitzt einen hellbraunen Teint und ebenmäßige Gesichtszüge. Unter der hohen Stirn wölben sich elegant geschwungene Brauen. Die Augen wirken durch den feinen, schwarzen Lidstrich mandelförmig‚ obwohl sie es gar nicht sind. Die Iris des Auges ist genauso schwarz wie die Pupille. Die gerade, schmale Nase wird von hohen Wangenknochen gerahmt, die vollen Lippen umspielt ein leichtes Lächeln. Das markante Kinn springt nur wenig vor. Der schlanke, lange Hals sitzt auf schmalen Schultern. Der eben noch sichtbare Halsansatz ist mit (gemalten) goldenen Ketten geschmückt, die mit (ebenfalls gemalten) Edelsteinen besetzt sind. Nofretete trägt eine im Verhältnis zu Kopf und Hals riesige blaue Krone, die ebenfalls mit Gold und Edelsteinen verziert ist, darunter ein goldenes Stirnband. Einziger Makel dieses wohlproportionierten Gesichts ist das fehlende Auge.

Relieffragment: Noftretete vor Strahlenaton; Neues Reich, 18. Dynastie,
 um 1350 v. Chr.; Aton-Tempel in Karnak; Sandstein;
 Inv-Nr. 312843 - Ägyptisches Museum Berlin/Altes Museum
Jeder kennt diese Büste, die sich seit knapp einem Jahrhundert im Ägyptischen Museum in Berlin befindet. Mehrere tausend Jahre hatte sie wohl kopfüber im Sand gesteckt, bis sie am 6. Dezember 1912 gefunden wurde. Dieser Fund war eine Sternstunde der Archäologie und der Kunstgeschichte — und im Leben des deutschen Archäologen Ludwig Borchardt.

Im Auftrag der Deutschen Orient-Gesellschaft hatte am 25. November 1912 eine neue Grabungskampagne im östlichen Niltal in der Nähe des heutigen Tell el-Amarna begonnen, dort, wo der ägyptische König Echnaton (und Gemahl der Nofretete) im vierten Jahr seiner Regierung (um 1350 v. Chr.) die neue Hauptstadt des Reiches — Achetaton — gegründet hatte. Gleich zu Beginn der Grabungen fand Borchardt eine unvollendete Figurengruppe aus Kalkstein, die den Titel Küssender König erhielt. Unter den Ägyptologen bestand nie Zweifel daran, daß es sich bei der Figur des küssenden Königs um Echnaton handeln müsse. Doch wen küßt er?

Die naheliegende, von heutigen Vorstellungen ausgehende Vermutung, bei der Skulpturengruppe handele es sich um Vater und Tochter, wird inzwischen abgelehnt. Sowohl die Größe der weiblichen Figur als auch ihre Haartracht sprechen dafür, daß es sich um eine Königin handelt, also entweder um Nofretete oder Echnatons Zweitfrau Kaja. Die Gruppe folgt dem altehrwürdigen ägyptischen Darstellungsschema einer Göttin, die den König auf ihrem Schoß hält. Und so geht man heute davon aus, daß statt der Göttin Echnaton dargestellt ist, der wahrscheinlich seine auf dem Schoß sitzende Zweitfrau Kaja küßt.

Hausaltar: Echnaton, Nofretete und drei ihrer Töchter, 18. Dynastie,
um 1340 v. Chr.; Kalkstein; Ägyptisches Museum Berlin/Altes Museum
Borchardt und seine Mitarbeiter aber hielten sich damals nicht lange mit Interpretationen auf. Sie hofften auf weitere Funde. Und da die Statue unvollendet war, vermuteten sie, auf eine Bildhauereiwerkstatt gestoßen zu sein, und gruben weiter. Sie sollten recht behalten. Der spektakulärste Fund war die Berliner Büste der Nofretete. Doch damit nicht genug. Zahlreiche unvollendete Skulpturen kamen ans Licht. Einige stellen Nofretete dar, andere Echnaton. Mehrere gipserne Masken hatten wohl ebenso Modellcharakter wie die Büste der Nofretete. Außerdem fand sich noch ein kleines Stückchen Elfenbein, das sich als die Hälfte eines Deckels interpretieren ließ. Dieses Elfenbeinfragment verdient deshalb erwähnt zu werden, weil auf ihm eine wenn auch nur zum Teil erhaltene Inschrift erscheint. Sie lautet: «Gelobter des Vollendeten Gottes, Aufseher der Arbeit, Bildhauer Thutmose ...»

Damit kennt man den Namen des Werkstattleiters: Thutmose (oder Thoutmosis). Ob er allerdings der Schöpfer der Nofretete-Büste war, wird sich kaum mehr klären lassen. Doch aufgrund von Indizien gelang es, einiges über Thutmose selbst herauszufinden.

Der für ihn in der Inschrift verwendete Titel weist darauf hin, daß diese vor dem 12. Regierungsjahr Echnatons entstanden sein muß, dessen gebräuchlicher Ehrentitel seitdem «Gelobter des Herrn der beiden Länder» lautete. Außerdem muß der Bildhauer relativ wohlhabend gewesen sein. Darauf lassen die Größe der Werkstatt schließen und die Tatsache, daß Thutmose mindestens ein Pferd besessen haben muß. Denn das elfenbeinerne Fragment ist nicht Teil eines Deckels, sondern die Hälfte einer Scheuklappe.

Der «Aufseher der Arbeit» hat wohl in dem Haupthaus des Anwesens gewohnt, dessen Grundmauern bei der Grabung zutage kamen. Das Areal hat eine Größe von 75 Metern Länge und 45 Metern Breite und bestand aus jenem Haupthaus sowie zahlreichen Werkstätten und Gesellenunterkünften, die wohl in mehreren Etappen gebaut worden waren. Zum Haupthaus gehörte ein Stall, in dem zwei Pferde gut Platz hatten. Die brauchte Thutmose auch, denn beritten waren in Ägypten nur Kundschafter und Boten. Wer es sich leisten konnte, fuhr im Zweispänner.

Ob Thutmose nach Echnatons Tod mit dessen Nachfolger Tutanchamun nach Theben zurückkehrte, ob er in Achetaton blieb, ob er in der Zeit nach dem Thronwechsel überhaupt noch lebte, all dies wissen wir nicht. Wir wissen nur, daß er in Achetaton eine große Werkstatt geführt hat, in der einige Porträtköpfe der Nofretete und des Echnaton gefunden wurden, und daß die Büste, der unsere heutige Bewunderung gilt, wohl lediglich ein Werkstattmuster war. Deshalb hatte man auch nur ein Auge ausgeführt.

Die Gestalt der Nofretete ist durch die Büste, von der wir noch nicht einmal mit Sicherheit sagen können, ob sie von Thutmose selbst stammt, berühmt geworden. Aber war die Königin wirklich so schön? Und was wissen wir tatsächlich über sie?

Kurzgefaßt kann man sagen, daß Nofretete die «Große Königliche Gemahlin» Echnatons war und in seinem vierten Regierungsjahr zum erstenmal erwähnt wird. Ihr Name bedeutet «Die Schöne ist gekommen». Über den Zeitpunkt ihres Todes besteht Uneinigkeit.

Nofretete bei einer Opfergabe, um 1352-1336 v.Chr.; Bemalter Kalkstein,
 23,5 x 38,5 cm. Brooklyn Musesum, New York
Man kann allerdings auch ausführlicher über sie berichten, Fakten, Indizien und Vermutungen kriminalistisch zu einer Lebensbeschreibung zusammenfügen, in der dann auch Echnaton nicht fehlt. Genaue Lebensdaten gibt es jedoch nicht, denn die Ägypter kannten keine allgemeine Zeitrechnung. Ihre Historiographen zählten zwar die Herrscherjahre der Pharaonen, begannen aber bei jedem Thronwechsel immer wieder bei Jahr eins. So wissen wir zwar, daß Echnaton 17 Jahre lang regierte, aber wir wissen weder, welches das erste Regierungsjahr war, noch, ob er als Mitregent des Vaters amtierte.

Und so werden uns von den Forschern für Echnatons Amtszeit Daten angeboten, die von 1377 bis 1336 v. Chr. reichen, also eine Spanne von vierzig Jahren umfassen, in welche die 17 Jahre seiner Regierungszeit fallen könnten. Es ist einfacher, von dem Ansatz um 1350 auszugehen und — ebenso wie die alten Ägypter — die Regierungsjahre des Pharaos zu zählen.

Echnaton übernahm die Regierung noch unter dem Namen Amenophis (oder Amenhotep), das heißt soviel wie «Amun ist zufrieden». Amun, der «schöpferische Gott», war der wichtigste Gott im ägyptischen Pantheon. Amenophis IV. hat sich an diese Ordnung nicht gehalten. Sein größtes Ziel war es, die Sonnenscheibe Aton als neuen, obersten Gott verehren zu lassen. Er ließ diesem Gott vier neue Tempel in Karnak errichten, an ebendem Ort, an dem der große Amun-Tempel stand. Dann benannte er sich in Echnaton um und gründete nilabwärts die Stadt Achetaton als neue Hauptstadt seines Reiches.

Zu dieser Zeit war er mit Nofretete bereits verheiratet. Sie wird im vierten Regierungsjahr Echnatons zum ersten Mal als seine «Große Königliche Gemahlin» erwähnt. Doch ihre Abstammung bleibt im dunklen. Ihr Name «Die Schöne ist gekommen» hat viele Forscher dazu "verführt", in ihr eine fremdländische Prinzessin zu sehen. Und ihre Beweisführungen schienen gar nicht so abwegig, entsprächen sie nicht abendländischen Vorstellungen.

Echnatons Vater, Amenophis III., war bestrebt, die Verbindungen zwischen dem Königreich der Mitanni (im heutigen Nordsyrien) und den Ägyptern zu festigen. Deshalb hielt er bei dem Mitanni-König Tuschratta um die Hand einer seiner Töchter an. Die erwählte Prinzessin Taduchepa kam dann zwar auch wohlbehalten in Ägypten an, doch fortan schweigen die Quellen. Ob sie einen ägyptischen Namen erhielt, ob sie Amenophis III. oder Echnaton heiratete, ist nicht überliefert. Der Schluß, in ihr Nofretete zu sehen, die Schöne, die endlich gekommen ist, liegt nahe, ist aber ebenso hypothetisch wie die Behauptung, der von Echnaton eingeführte Aton-Kult stamme aus Asien und es sei eigentlich Nofretete, die Mitanni-Prinzessin, gewesen, mit der sich der Aton-Kult in Ägypten verbreitete.

Nofretete mit nubischer Perücke im späteren Stil. um 1352-1336 v.Chr.;
 Sandstein. Brooklyn Musesum, New York
Dagegen läßt sich anführen: Ansätze, die Sonnenscheibe Aton zu verehren (und nicht nur den Sonnengott Re) und sie zu einem eigenständigen Gott zu erheben, hatte es schon unter Amenophis III. gegeben. Und der Name Nofretete — «Die Schöne ist gekommen» — hat eine klare theologische Bedeutung.

«Die Schöne» war Hathor, die Göttin des Himmels und der Sterne, Herrscherin über Liebe und Frohsinn. Sie suchte wohl immer wieder in fernen Regionen Zuflucht und mußte zur Rückkehr bewogen werden, damit in Ägypten erneut Liebe und Harmonie herrschten. Diese Rückkehr ereignete sich auch beim Sedfest, das Echnaton am Übergang vom Jahr 3 zum Jahr 4 seiner Herrschaft feierte und das der magischen Regeneration des Königsprinzips diente. Zu diesem Fest wurde die Gemeinschaft der Götter nach Theben geladen, um dem Pharao neue oder mehr Lebenskraft zu verleihen. Ein solches Sedfest wurde meistens dann gefeiert, wenn ein Pharao schon besonders alt war oder bereits viele Jahre regiert hatte. Beides traf auf Amenophis IV/Echnaton nicht zu. Er benutzte das Sedfest, um den Aton-Kult durchzusetzen.

Bei diesem Sedfest trat Nofretete erstmals in Erscheinung. Wie ihr Name zeigt, wurde in ihr die Wiederkehr Hathors greifbar. Vermutlich war dieses Sedfest gleichzeitig auch ihr Hochzeitsfest, denn von jetzt an war Nofretete bei allen offiziellen Anlässen an der Seite Echnatons. Das war ebenso ungewöhnlich für die Frau eines Pharaos wie ihre Rolle im Rahmen des Aton-Kults. In einem seiner Tempel diente sie sogar als Hohepriesterin.

Das Sedfest am Ende des vierten Regierungsjahrs hatte in dem Tempel «Aton ist gefunden» im Osten von Karnak stattgefunden, den Amenophis IV/Echnaton in den ersten Jahren seiner Regierung hatte errichten lassen. Dieser Tempel wurde später abgerissen, seine maßgerecht zerlegten Steinblöcke (die sogenannten Talatat-Steine) als Füllmaterial für die Pylonen, die Torbauten‚ eines neuen Tempels benutzt. Durch diese Blöcke, von denen bislang 45000 gefunden, aber noch nicht vollständig ausgewertet worden sind, weiß man, daß Nofretete selbst Opferriten vollzogen hat. Sie zeigen auch Szenen des Sedfestes, und eine Inschrift preist Nofretete:

«Die mit den reinen Händen, die große Gemahlin des Königs, die ihn liebt, Herrin des Doppelten Landes, Nofretete, sie lebe! Geliebt von der großen und lebendigen Sonnenscheibe, die in Freude ist, sie, die im Tempel der Sonnenscheibe im Heliopolis des Südens wohnt.»

Berlin, Neues Museum: Aegyptischer Hof, 1862.
Lithografie nach einem Aquarell von Eduard Gaertner (1801-1877).
Doch die Herkunft der Pharaonin ist damit noch immer nicht geklärt. Vermutlich war sie die Tochter eines Vertrauten des Pharaos. In Betracht kommt Aja (Eje), später selbst Pharao, der häufig als «Gottvater» bezeichnet wird. Seine Frau Tuju wird wiederholt die Erzieherin (Amme) Nofretetes genannt, nie aber ihre Mutter. Möglich auch, daß Nofretete die Tochter einer ersten Frau Ajas, die im Kindbett starb, gewesen ist.

All das sind Spekulationen, zu denen die Lebensnähe der Büste verleitet. Sicher ist, daß Nofretete mit Echnaton sechs Töchter (und vielleicht den Sohn Tutanchaton‚ den späteren Tutanchamun) hatte. Als sich der Pharao in seinem sechsten Regierungsjahr Echnaton (das heißt «Wirkender Geist des Aton») benannte und sie um das Jahr 7 gemeinsam nach Achetaton («Lichtort des Aton»), der neuen Hauptstadt, zogen, hatten sie bereits drei Töchter, die mit ihrem Namen alle dem Gott Aton huldigten: Meritaton («Geliebte des Aton»), Maketaton («Schützling des Aton») und Anchesenpaaton («Die durch Aton Lebende»). In Achetaton wurden drei weitere Töchter geboren.

Viele Geschichten um diese Stadt sind durch jene vierzehn beschrifteten Grenzstelen überliefert, mit denen Echnaton bei der Gründung die Abmessungen Achetatons abstecken ließ. Dennoch bleiben grundsätzliche Fragen unbeantwortet. War Echnaton der Begründer der ersten monotheistischen Religion? Und wollte er, daß Achetaton nur während seiner eigenen Regierungszeit bewohnt und dann wieder verlassen würde, wie Christian Jacq behauptet? Wir wissen es nicht, genauso wie es nach wie vor schwerfällt, die Bildwerke der als Amarna-Zeit bezeichneten Epoche zu deuten.

Viele Darstellungen dieser Periode faszinieren uns, weil sie uns lebensnah erscheinen. So neigt man dazu, der Schönheit der Nofretete entsprechend die Häßlichkeit, mit der Echnaton häufig dargestellt ist, als real gegeben anzusehen. Das geht so weit, darin bestimmte Krankheiten zu erkennen (und damit den «Größenwahn» des Pharaos zu erklären). Doch mit dieser «Häßlichkeit» wurden sehr wahrscheinlich bestimmte Vorstellungen ins Bild umgesetzt wie zum Beispiel der Gedanke, daß der Pharao das weibliche und das männliche Prinzip gleichermaßen verkörpere. Ebenso sind die Lebendigkeit, mit der das Herrscherpaar und seine Töchter auf Reliefs erscheinen, der liebevolle Umgang miteinander und mit ihren Kindern Symbole, die Allgemeingültigkeit besitzen. Diese Bilder erlauben es nicht, auf das Verhältnis der dargestellten Personen untereinander zu schließen.

Heutige Lebensvorstellungen haben auch bei der Theorie Pate gestanden, Nofretete habe sich von Echnaton getrennt, als sie in einen eigenen Palast zog. Dort soll sie sich vom Aton-Kult losgesagt und Tutanchaton/Tutanchamun aufgezogen haben, den Echnaton nachfolgenden Pharao, der vor allem deshalb noch heute so berühmt ist, weil sein Grab und seine in goldene Särge gebettete Mumie völlig unberührt aufgefunden wurden, und der vielleicht der Sohn von Echnaton und Nofretete gewesen ist.

Die Prinzessin zeigt sich von ihrer besten Seite
Durch die angebliche Trennung erklärt man auch, warum die Quellen über Nofretete plötzlich verstummen, kurz nachdem ihre Tochter Maketaton im 14. Regierungsjahr gestorben war. Maketatons Grab hat man wohl in Achetaton gefunden und dort auch das Relief, das die Trauer von Echnaton und Nofretete zeigt. Dann aber brechen die Nachrichten über Nofretete ab. Wahrscheinlich ist sie allen Spekulationen zum Trotz kurz nach ihrer Tochter, vielleicht aber auch erst im letzten Regierungsjahr Echnatons gestorben. Ihr Grab wurde bislang weder in Tell el-Amarna noch im Tal der Könige von Theben gefunden. Es gibt jedoch ein Uschebti, einen «Antwortstein», den jeder Tote dringend benötigt, mit ihrem Namen, auf dem man lesen kann, daß sie als «Große Königliche Gemahlin» starb und damit vor Echnaton.

Nofretete, die Schöne, spätestens seit Auffindung ihrer Büste eine der berühmtesten Frauen der Weltgeschichte, bot zu unendlich vielen Spekulationen Anlaß. Auch wenn die heutige Forschung darum bemüht ist, den Spekulationen soweit wie möglich Tatsachen entgegenzusetzen, bleibt sie «die Schönste im ganzen Land», wie schon auf einer der Grenzstelen von Achetaton zu lesen ist:

«Das Antlitz klar,
Fröhlich geziert durch die Doppelfeder,
Gebieterin des Glücks,
Eignerin aller Tugenden,
Mit einer Stimme, an der man sich erfreut,
Herrin der Anmut, reich an Liebe,
Deren Gefühle den Gebieter der Zwei Länder beglücken ...
Die Erbprinzessin,
Groß an Gunst,
Herrin des Glücks,
Strahlend mit ihren zwei Federn,
Die mit ihrer Stimme alle erfreut, die sie hören,
Die das Herz des Königs bezaubert,
Zufrieden mit allem, was man sagt,
Die Große und vielgeliebte Gemahlin des Königs,
Herrin der Zwei Länder,
"Schön-sind-die-Schönheiten-des-Aton"‚
"Die Schöne ist gekommen".
Sie lebe ewiglich.»

Quelle: Susanna Partsch: Sternstunden der Kunst. Von Nofretete bis Andy Warhol, C.H. Beck, München 2003, ISBN 3 406 49412 9. Zitiert wurde Seite 13 bis 22


Alte Musik, jüngst gepostet in der Kammermusik-Kammer:

Weltliche Musik im christlichen und jüdischen Spanien 1490-1650 | Ein Mensch ist kein Stilleben: Oskar Kokoschka portraitiert Karl Kraus

La Frottola - eine fast vergessene Kunstgattung des 15. und 16. Jh | Das Fest des Fleisches: Rubens und Helene Fourment

Das Gänsebuch (Nürnberg, 1510) | Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Dürers Hiob

Das Lochamer Liederbuch | Das Antlitz der Muse: Françoise Gilot im Portrait 


Sumer is icumen in (England, 13./14. Jh.) | »Unruh im Gemäl«: Zur deutschen Bildauffassung der Spätgotik und Renaissance



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