Salzburg feierte 1682 das 1100jährige Bestehen des Erzstiftes - ein Jubiläum, das im Hochbarock, wo nichts mehr zählte als aus "Anciennität« erwachsener Rang, seinesgleichen suchte: Selbst das "Heilige Römische Reich deutscher Nation« konnte da nur bedingt mithalten! Der "Kirchenstaat« Salzburg beanspruchte absoluten Vorrang vor den Habsburgerkaisern und den untergeordneten Reichsbistümern und sorgte auch innerhalb seiner Grenzen für Zustände, die dem Rang angemessen erschienen.[…]
Das Erzstift Salzburg sah sich als Fokus römischer und venezianischer Traditionen, die es empfing und mit vielfältigen Konnotationen seines eigenen Anspruchs bereichert weitergab. Schon Jahrzehnte vor dem Fest bündelten sich die Aktivitäten: In kurzer Zeit wurde der Dom, die noch unvollendet dastehende Bühne, vollendet, Musiker von Weltrang wurden "gesammelt«, einer gar - Georg Muffat - zur Bildungsreise nach Rom entsandt, um sich hier als Komponist die Art von "historischer Legitimation« zu erarbeiten, die Salzburg zuträglich war.
Daß aber Anspruch und Wirklichkeit bisweilen nur schwerlich zu vereinen sind, mag die "Missa Salisburgensis« beweisen, deren Komponisten wir nur erahnen, nicht aber mit letztendlicher Sicherheit nennen können - möglicherweise deshalb, weil der Komponist (fraglos ein exzellenter) auf der höfischen Treppe noch nicht so hoch gestiegen war, daß man ihn anstelle seines in "Anciennität« überlegenen Kollegen hätte nennen dürfen; im höfischen Kontext zählte Tradition weitaus mehr als Verdienst, Amtsanspruch mehr als Können und Genius oder gar Publikumsgunst. […]
Heinrich Ignaz Franz Biber (1644-1704)
Heinrich Ignaz Franz Biber (wir gehen stillschweigend davon aus, daß er der Komponist des Werkes ist) muß - wenn man seinen Lebensweg, seinen Werkkatalog, seine geistreich-anspruchsvollen Vorreden zu Drucklegungen, aber auch die schmerzlich-gequälten Vorworte des Rivalen Georg Muffat nach seinem Weggang von Salzburg, einzelne Schriftstücke Schmelzers, aber auch Bibers zweimaliges Ersuchen um einen Adelstitel bei Leopold I. in einen psychologisierenden Zusammenhang bringt - ein Künstler mit nicht nur schnellen Fingern und einem ebensolchen Bogen, sondern auch mit besonders aktiven Ellbogen gewesen sein.
Andreas Hofer, bis 1684 Bibers Vorgänger im Amt des Salzburger Hofkapellmeisters, hätte Grund gehabt, die Nennung seines Namens als die des Komponisten der "Missa« zu erzwingen - Biber hingegen hatte Grund genug, seine Autorschaft zu verleugnen. Da ihm (und nicht Georg Muffat) das höchste Musikamt des Erzstiftes nach dem Tode Hofers zufallen sollte - in mehr als nur gewisser Weise hatte Biber sich seinen Anspruch durch drei überaus eminente, dem Erzbischof Max Gandolph dedizierte Werksammlungen, "Sonatae tam aris quam aulis«, 8 "Sonatae Violino solo« und die "Rosenkranzsonaten«, erschmeichelt -, mußte ihm das kollaborierende »nescio« leichtgefallen sein. Letztlich aber beweist alles das nur, daß »ad majorem dei gloriam«, zur Ehre des Erzstiftes und des heiligen Ruperts alle Beteiligten zum Zurücktreten bereit waren. Auch mit Hilfe der Stilkritik ist der Autor der »Missa Salisburgensis« nicht zweifelsfrei zu ermitteln: Nirgends finden wir Passagen, die eindeutig Bibers »Schreib-Arth« sind, nirgends aber auch etwas so Ungeschicktes, daß es seiner nicht wert wäre. Die monströse Akustik der »Bühne«, des Salzburger Doms, erzwang zudem einen Stil, der keinen Raum fur harmonische Extravaganzen und figurative Raffinements ließ.
Melchior Küsell (1626-1683): Aufführung der Missa Salisburgensis
Rom und Venedig wurden bereits als notwendige Voraussetzungen, als »historische Legitimation« genannt: Bedingungslose Monumentalität als Ausdruck des weltumfassenden Katholizismus ist die Grundlage, vokale und instrumentale Virtuosität venezianischer Prägung die musikalische Organisationsform auf der untergeordneten Stufe. […]
Zwei gigantische zeitgenössische Kupferstiche informieren uns stilisiert über Details des Festes vom 18. Oktober 1682: Der eher unbekannte, von Christoph Lederwasch 1682 gefertigte zeigt die kilometerlange Prozession der kirchlichen und weltlichen Magnaten des Erzstiftes beim Einzug in die Kathedrale, der andere (von Melchior Küsell bereits 1678 angefertigt und im modernen Reprint zugänglich) idealisiert die Aufführungsbedingungen der "Festmesse«: Auf den beiden mit einer Orgel ausgestatteten hinteren Vierungsemporen des Doms stehen die Vokalisten-Streicher-Chöre, ihnen gegenüber die beiden Bläserchöre, und in den Seitenschiffen sitzen die Trompetengruppen.
Quelle: Reinhard Goebel, im Booklet (Seite 12-16, gekürzt)
TRACKLIST HEINRICH IGNAZ FRANZ BIBER (1644-1704) MISSA SALISBURGENSIS + Motet / Motette "Plaudite tympana" Mass and Motet in C major in 53 parts Messe und Motette C-dur für 53 Stimmen Messe et Motet en ut majeur pour 53 voix + Sonata Sancti Polycarpi + Sonatae tam aris quam aulis servientes: Sonata V - Sonata XII MUSICA ANTIQUA KÖLN, Reinhard Goebel GABRIELI CONSORT & PLAYERS, Paul Mccreesh on authentic instruments - auf historischen Instrumenten - sur instruments originaux BARTHOLOMÄUS RIEDL (+ 1688) [01] Ein langer und schöner Aufzug [2'39] PATER IGNATIUS AUGUSTINER (17'th cent.) Ein schöner Aufzug HEINRICH IGNAZ FRANZ BIBER [02] KYRIE [5'51] [03] GLORIA [9'44] [04] Sonatae tam aris quam aulis servientes: Sonata XII [5'21] [05] CREDO [15'05] [06] Sonatae tam aris quam aulis servientes: Sonata V [6'03] [07] SANCTUS - BENEDICTUS [8'05] [08] AGNUS DEI [8'26] [09] Sonata Sancti Polycarpi [4'34] [10] Motet "Plaudite tympana" [6'02] Editions / Publishers: Missa & Motet: King's Music, edited by Clifford Bartlett with Peter Best & Brian Clark Sonata Sancti Polycarpi & Fanfares: Ed. Peter Downey Sonatae tam aris quam aulis servientes: Akademische Druck- und Verlagsanstalt Graz-Wien Recording: Romsey, Hampshire, Abbey Church of SS. Mary & Ethelflaeda, 7/1997 Executive Producer: Dr. Peter Czornyi Recording Producer: Christopher Alder (P) & (C): 1998
Wie der Mount Everest die Bergwelt zu seinen Füßen, so überragt die »Missa Salisburgensis« das Reich der mehrchörigen Musik - das Non plus ultra im klanglichräumlichen Ausdruck göttlicher und weltlicher Macht. […]
Beim ersten Hören könnte man bemängeln, daß die Stimmung der Trompeten das harmonische Gefüge zwangsläufig dominiert, aber genaueres Hinhören offenbart viel handwerkliche Raffinesse, großen Figurenreichtum im basso ostinato, oftmals volkstümlich erscheinende Schlichtheit des thematischen Materials und vorausweisende Motivkombinationen im Benedictus und Agnus Dei, und zuweilen auch den Schock harmonischer Wechsel, die innerhalb eines Festes in strahlendem C-dur nur um so prägnanter wirken.
Wahrscheinlich hat die 53, die Anzahl der Stimmen, keine besondere Bedeutung - im 17. Jahrhundert hätte man von 52 Stimmen plus basso continuo gesprochen. (Die beiden Orgelstimmen, die sicher durch tiefe Streicher verdoppelt wurden, sind nämlich zusätzlich zu einem separaten bassus generalis in der Partitur vollständig ausgeschrieben worden, obwohl in Salzburg zweifellos alle vier Domorgeln und die Chorregale spielten.) Zudem stehen im dritten Chor zwei Oboenstimmen, die fast immer die beiden Diskant-Blockflöten verdoppeln. Das deutet darauf hin, daß die Oboen später hinzugefugt wurden und das Werk ursprünglich fur 50 Stimmen gesetzt war.
Die Herausforderung für uns war zu versuchen, die ursprüngliche spektakuläre Wirkung der Musik in einem ganz andersartigen Bauwerk und gänzlich andersartigen Medium wiedererstehen zu lassen. Schlichter, direkter Ausdruck war das Ziel der Interpretation und auch des räumlichen Arrangements der Aufnahme. Das Hauptensemble (Chor 1-6) stand in einem großen Kreis, rechts und links die beiden Vokal- und Streichergruppen, die Bläser hinter dem Dirigenten. Die beiden Trompeten- und Paukenchöre wurden in großer Entfernung am Ende der Kirche plaziert. Ich habe mich besonders bemüht, zwischen dem zarteren clarino-Ton der beiden Trompeten des Hauptensembles und dem volltönenden, militärischen Stil der entfernteren trombe zu unterscheiden, die jeden Abschnitt der Messe mit ihren pompösen Lobgesängen zur Ehre Gottes und der Macht des großen Stadtstaats akzentuieren.
Quelle: Paul McCreesh, im Booklet (Seite 16-17, gekürzt) (Übersetzung: Reinhard Lüthje)
Der freundliche Herr links ist Reinhard Goebel, Gründer und Leiter der (inzwischen nicht mehr bestehenden) Musica Antiqua Köln. Seine Konzerttermine sowie Biographisches sind auf seiner Homepage verfügbar.
Der ernste Herr rechts ist Paul McCreesh (erstaunlicherweise noch ohne Eintrag in der deutschen Wikipedia), Gründer und Leiter der (noch bestehenden) Gabrieli Consort & Players (die sich nach Andrea und Giovanni Gabrieli benannt haben). "progabrieli" ist ein großer Verehrer von Paul McCreesh, dem er die Webpage "McMaestro" widmet.
Da das Booklet mich so großzügig mit Fotos versorgt hat, die alle hier abzubilden ich mich verpflichtet gefühlt habe, kann ich diesmal mein Steckenpferd, ein Werk der Bildenden Kunst vorzustellen, das im zumindest losen Zusammenhang mit der CD steht, nicht reiten. (Weniger Wohlmeinende klassifizieren meine Vorliebe als non sequitur.)
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CD Info and Scans (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 64 MB
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Unpack x71.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the Flac+Cue+Log Files [71:50] 4 parts 304 MB
Reposted on March 15, 2015
Musikbeispiel:
Track 2: Missa Salisburgensis, I. Kyrie