25. November 2009

Johann David Heinichen (1683-1729): Konzerte und Sonaten


Das barocke Dresden, prunkvolles Zentrum augusteischen Glanzes in Kunst und Architektur, war zugleich Deutschlands erste Hochburg der musikalischen Virtuosen. Unter der Ägide des Hofkapellmeisters Johann David Heinichen und der Konzertmeister Volumier und Pisendel wurde hier erstmals in Deutschland das Prinzip der Virtuosität auf allen Instrumenten konsequent in die Tat umgesetzt. Was die Solisten der Dresdner Hofkapelle zu leisten imstande waren, weil sie angemessen entlohnt wurden und sich auf ein einziges Instrument konzentrieren durften, darauf blickte nicht nur der Leipziger Thomaskantor Johann Sebastian Bach voller Bewunderung. Auch Georg Philipp Telemann machte aus seiner Begeisterung für Dresden keinen Hehl, als er 1718 seine »Kleine Cammer-Musik« den Oboisten Francois le Riche und Franz Richter, »Sr. Königlichen Majestät von Polen und Chur Fürstlichen Durchläucht von Sachsen bestallten Cammer-Musicis« dedizierte. In der Widmungsvorrede wurde Telemann nicht müde, die »Virtu« und den »Goût, dessen dieselben sich auf der Hautbois zu bedienen pflegen,« zu preisen. Er gesteht, von den Dresdner Oboisten auf »unaussprechliche Arth gerührt worden zu sein«, selbst wenn komplizierte Technik gefordert war wie »weit entfernte Sprünge, bedeckte und unbequeme Töne«. »Die brillirenden Töne, welche von Natur in dieses delikate Instrument geleget sind,« beherrschten le Riche und Richter ohnehin in vollkommener Weise.

Johann David Heinichen: Der General-Bass in der Composition, Dresden 1728

Die Bauten des Dresdner Barock ragen heute wieder gen Himmel, die Kunst der Oboisten Augusts des Starken ist noch in den Archiven verborgen und harrt - von Zelenkas Triosonaten abgesehen - der Wiederentdeckung. In den Bibliotheken von Dresden und Darmstadt, Rostock und Schwerin hat sich eine in Europa einmalige Sammlung von Solo- und Triosonaten erhalten, die der Oboe in der Kammermusik ihr erstes monumentales Denkmal setzten, kaum, dass das Instrument seinen Siegeszug durch Europa angetreten hatte. Obwohl jene Quellen aus unterschiedlichen höfischen Sammlungen des frühen 18. Jahrhunderts stammen - so etwa vom Darmstädter Hof oder aus der Kollektion des Stuttgarter Erbprinzen - spiegeln sie doch das einstige Repertoire der Dresdner Oboisten wider, wie es sich im Zusammenspiel mit ihren Virtuosen-Kollegen auf Fagott, Violone, Gambe und Cello entfaltet hat. Es handelt sich um mehr als 50 Sonaten von Komponisten, die in Dresden wirkten oder für Dresden schrieben: ein rundes Dutzend von Heinichen, zehn von Quantz, fünf von Califano, sechs von Zelenka, etliche von Fasch, Händel und Telemann. Die Musikwissenschaft hat erst kürzlich auf diesen Bestand aufmerksam gemacht und damit einer umfassenden Würdigung den Weg bereitet, die einmal nicht primär den Komponisten, sondern den Virtuosen des Barock gilt, in diesem Fall den Oboisten. Nur om Rande sei vermerkt, dass August der Starke seinem ersten Oboisten Le Riche ein Ministergehalt bezahlte - so sehr war auch er selbst von der Kunst seines virtuosesten Bläsers bezaubert.

Quintenzirkel aus Johann David Heinichens "Neu erfundene und Gründliche Anweisung … zu vollkommener Erlernung des General-Basses" (1711)

Johann David Heinichen nimmt nicht zufällig den ersten Platz in diesem Repertoire ein. Seit Reinhard Goebel mit seiner Einspielung der Dresdner Concerti des sächsischen Hofkapellmeisters bewies, wie funkelnd, prall und hyper-barock Heinichen die Virtuosen seines Orchesters in Szene setzte, ist man auf seine Musik neugierig geworden. Der in Sachsen geborene, später in Venedig ausgebildete Komponist konnte ebenso hemmungslos in venezianischen Sequenzketten schwelgen wie mit deutscher Gründlichkeit einen Basso ostinato ausarbeiten. Das modische »Affettuoso« des galanten Stils lag ihm ebenso wie der tief empfundene Dialog der Instrumente. Heinichens »Inventio«, seine thematische »Findekunst« im Sinne der Affektenlehre, wie er sie eindrucksvoll in seinem Lehrbuch »Der General-Bass in der Composition« (1728) geschildert hat, leuchtet in seinen Sonaten nicht weniger eindrucksvoll hervor als in seinen Opern oder seiner Kirchenmusik. Dies will die vorliegende Aufnahme beweisen. Durch die Ersteinspielung vieler Werke aus Heinichens Kammermusik stößt sie in unerkundetes Terrain vor.

Für die 1719 in Dresden stattfindenden Hochzeitsfeierlichkeiten komponierte Heinichen die Serenate Diana sull'Elba, aufgeführt am 18. September 1719 auf einem aufwändig dekorierten Schiff in der Form einer riesigen Muschel
Was am erhaltenen Bestand der Heinichen-Sonaten zunächst auffällt, ist ihre Vielfalt an Besetzungen. Der aus Weißenfels stammende Pastorensohn und ehemalige Thomasschüler hat dieses Prinzip sicher vom zwei Jahre älteren Telemann übernommen, unter dem er als Leipziger Student ab 1704 im Collegium musicum spielte. Vielfalt der Besetzungen war schon damals Trumpf. Seine Neigung zum Spiel mit Klangfarben hat Heinichen später am Weißenfelser Hof (1705-10), in Venedig und ab 1717 in Dresden in vielfältiger Weise ausleben können - sowohl in der Oper als auch in der Instrumentalmusik. Unter den Sonaten mit Oboe gibt es Soli mit Basso continuo, klassische Trios für zwei Oboen und Bass wie die Dresdner Sonate in c-Moll oder die Sonaten in G und B aus Schwerin. In einer einzigen Sonate hat Heinichen das Oboentrio mit Bass um ein obligates Fagott zum Quadro erweitert. Diese in Berlin erhaltene B-Dur-Sonate ist die einzige des gesamten Bestandes, die in Heinichens Autograph erhalten und auf 1726 datiert ist. Dies beweist zumindest, dass er noch drei Jahre vor seinem Tode für die Dresdner Oboisten komponiert hat.

Dresden, Blick vom Rathausturm, aus dem Jahre 1910

In den gemischten Besetzungen aus Streichern und Bläsern gibt es Sonaten für Oboe und Violine, Oboe und Viola da gamba, Traversflöte und Oboe, Oboe und Fagott, jeweils mit Basso continuo. All diese Genres hatte Telemann schon 1718 in seinem Frankfurter Triosonatendruck exemplarisch festgehalten, wobei in seinem Fall die Violine in jeder Sonate wiederkehrt. Bei Heinichen steht die Oboe im Zentrum, und er hat die diversen Besetzungsvarianten nicht weniger meisterlich beherrscht als sein Kollege. Als treuer Sammler erwies sich dabei besonders sein Leipziger Jugendfreund Christoph Graupner, dem wir viele Abschriften von Heinichen-Sonaten für den Darmstädter Hof verdanken.

Zeugt schon das Spiel mit Klangfarben und Lagen (hohe Stimmen gegen Instrumente im Tenorregister wie Gambe oder Fagott) von Heinichens Kunst, so nicht minder das Spiel mit der Form und den Affekten. Heinichens dreisätzige Trios »auf Concertenart« mit schnellen Außensätzen und einem langsamen Mittelsatz gemahnen nicht von ungefähr an die Concerti der Venezianer. Während seiner sieben Jahre in Venedig ab 1710 kannte er den Aufstieg Vivaldis und die Machart seiner Concerti aus nächster Nähe verfolgen. Dies hat in einem Werk wie dem »Concerto a 3« Spuren hinterlassen. Dieses B-Dur-Stück aus der Fürstenbergischen Bibliothek, dessen Titel erst ein beflissener Schreiber in »Sonata« verbesserte, beginnt mit den gleichen stampfenden Achteln und Sechzehntelketten wie so manches Orchesterkonzert von Heinichen. Das einleitende Vivace eines Darmstädter c-Moll-Trios würde Vivaldi alle Ehre machen.

Track 05: Sonata a 3 in C minor, for Oboe, Viola da Gamba & B.c. - I. Affetuoso


In der traditionellen viersätzigen Form der Triosonate mit ihren zwei langsamen und zwei, oft fugierten schnellen Sätzen steht Heinichen der Musik seines tschechischen Assistenten Zelenka näher als den Italienern. Die c-Moll-Sonate für zwei Oboen und Bass hebt mit einem versonnenen Largo an, das von der Chromatik des klagenden Affekts hinreichend Gebrauch macht. So wirken Heinichens Sonaten insgesamt wie ein Spiegel der barocken Affektenlehre im Kleinen.

Was die Satztechnik betrifft, ist der Dresdner Kapellmeister stets der viel beschworenen »Natürlichkeit« des frühen galanten Stils treu geblieben. Obwohl seine Musik sich klagenden Affekten ebenso öffnen kann wie die Triosonaten eines Zelenka, schreckt sie doch vor Doppelfugen-Experimenten und ausladender Chromatik zurück. Die Führung der Instrumente ist stets durchsichtig, schlicht und spielerisch konzertant. »Seine Arbeiten sind neu, angenehm und rührend. Die Natur begleitet alle seine Töne«, bemerkte schon 1745 der Musikkritiker Johann Adolph Scheibe.

Karl Böhmer, im Booklet (Seiten 6-8)

TRACKLIST

JOHANN DAVID HEINICHEN (1683-1729) 


Concerto a 4 in G major                 8'41
for Oboe, Bassoon, Violoncello & Harpsichord 

01 Andante                              2'42
02 Vivace                               2'15
03 Adagio                               1'07
04 Allegro                              2'36


Sonata a 3 in C minor                   6'21
for Oboe, Viola da Gamba & B. c. 

05 Affetuoso                            2'06
06 Allegro                              1'36
07 Adagio                               l'15
08 Vivace                               1'24


Sonata a 2 in C minor                  10'53
for Oboe & Bassoon

09 Grave                                1'56
10 Allegro                              4'21
11 Larghetto e cantabile                1'44
12 Allegro                              2'51


Concerto a 4 in D major                10'46
for Violin, Viola da Gamba & B. c.  

13 Andante                              4'07
14 Vivace                               2'48
15 Adagio                               1'26
16 Allegro                              2'24


Sonata a 3 in C minor                   6'15
for Oboe, Violin & B. c.     

17 Vivace                               2'23
18 Largo                                1'19
19 Presto                               2'33


Sonata a 2 in G minor                   8'26
for Oboe & B. c.
20 Largo                                0'59
21 Allegro                              2'58
22 Lamentabile et appogiato             2'46
23 Allegro                              1'43


Sonata a 3 in B major                   7'50
for Violin, Oboe & Bassoon 

24 Andante                              1'48
25 Allegro                              2'53
26 Larghetto                            1'28
27 Vivace                               1'41

TT:                                    59'42


EPOCA BAROCCA 
Alessandro Piqué, Oboe (Olivier Coltet 1990 - after Stanesby Jr, 1750 ca)
Sergio Azzolini, Bassoon (Peter de Koningh 2000 - after J H, Eichentopf 1720 ca)
Margarete Adorf, Violin (Paolo Maggini XVII century)
Hardwig Roth, Viola da Gamba (by Johann Christian Hoffmann, Leipzig 1720)
Ilze Grudule, Violoncello (Matthias Hornsteiwer 1709)
Matthias Spaeter, Arciliuto (Marucie Ottiger - Chatel St Denis, Schweiz 1989)
Christoph Lehmann, Harpsichord & Organ (Harpsichord: Dietrich Hein 1999 - after C C Fleischer 1716
Organ: Hofbauer 1980 - after old models)

Recording: Sendesaal DFL Köln, October/November 2003
Recording Supervisor: Uwe Walter
Recording Engineer: Klaus Heieck
(P) 2005


Roelan(d)t Jacobsz. Savery (* 1576/78 Kortrijk; † vor 25. Februar 1639 in Utrecht): Das Paradies, 1626, Staatliche Museen, Berlin
Das "Cover Painting" liefert ein weiteres Beispiel für fehlerhafte Zuschreibungen: Laut CD-Rückseite ist es eine "Phantasielandschaft" eines gewissen "Roelant Jakobsz", der jedoch in der restlichen Kunstgeschichte als Roelant (oder Roelandt) Jakobsz. Savery auftritt. Er "war Schüler seines Bruders Jakob zu Amsterdam, bildete sich daneben aber auch nach Jan Brueghel, machte Reisen in der Begleitung Kaiser Rudolfs II., hielt sich zwei Jahre in den Alpen auf und wurde 1619 in die Lukasgilde von Utrecht aufgenommen, wo er 1639 starb. Er malte zahlreiche, mit Menschen und Tieren reich staffierte Landschaften von großartiger Auffassung. Bilder von ihm befinden sich in den Galerien in Prag (Paradies, 1618), Wien, Berlin (Orpheus und die Tiere), Wiesbaden, Den Haag, Utrecht, Petersburg und Dresden." (Die Wikipedia zitiert hier aus der 4. Auflage (1888/90) von Meyers Konversations-Lexikon). Das Original konnte ich nicht auftreiben, weshalb ich hier ein anderes für diesen Maler typisches Werk veröffentliche.

Zu Heinichen und seinen Musikerkollegen am Augusteischen Hof sind bei Classical.Net zahlreiche lesenswerte (englische) Artikel veröffentlicht, z.B: "Musik in Dresden", "Johann David Heinichen", "Diskographie zu Heinichen".

Ein Werksverzeichnis mit Kaufvorschlägen gibt es auch bei Klassika.
Ein überwachsener Pfad führt zu den von Reinhard Goebel 1992 mit der Musica Antiqua Köln aufgenommenen Dresdner Konzerten.

Johann David Heinichen hat wie viele seiner Musikerkollegen (z. B. Kuhnau, Fux, Telemann oder C. P. E. Bach) Jura studiert. Ein juristischer Schriftsatz aus dem Jahre 1729 bietet den ersten archivalischen Beleg dafür, dass Heinichen nicht nur ein pro-forma-Student, sondern ein versierter Jurist war.

Track 27: Sonata a 3 in B major, for Violin, Oboe & Bassoon - IV. Vivace


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Reposted on June 19, 2015

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