Cortots pianistische Laufbahn war alles andere als geradlinig. 1877 in Nyon bei Genf geboren, fiel er schon früh wegen seiner musikalischen Neigungen auf. Seinen ersten öffentlichen Klavierauftritt im Alter von acht Jahren hat er selbst als Kuriosum abgetan; allerdings sei es schon damals sein Traum gewesen, einmal als Dirigent vor einem Orchester zu stehen. Und so drängte er denn auch darauf, als er wenige Jahre am Pariser Musikkonservatorium angenommen wurde, daß er nicht nur eine pianistische Ausbildung erhielt, sondern auch aktiv an den Dirigierklassen teilnehmen durfte.
Alfred Cortot (1877-1962) |
So sehr Alfred Cortot es liebte, am Dirigentenpult zu stehen, so wenig ist dieser Bereich auf Tondokumenten greifbar. Vor allem seine Auffassung der Wagner-Opern wäre sicherlich aufschlußreich gewesen. Als Pianist hat Cortot sich dann mit einem ganz anderen, geradezu gegensätzlichen Repertoire einen Namen gemacht - mit dem Oeuvre von Frédéric Chopin. Man hat ihn gelegentlich den "letzten Romantiker am Klavier" genannt. Und in der Tat: Für Cortot scheint es keine Musik ohne die Assoziation von Bildern zu geben - wobei ihm ausschließlich an der eigenen Imagination gelegen ist. Cortot müht sich gar nicht erst um den historisch wahren Sinn einer Komposition. Der geschriebene Notentext ist ihm eine willkommene Gelegenheit, sich selbst auszudrücken. Was zählt, ist die subjektive Vision des Interpreten - oder, wie er es einmal formuliert hat: "der heiße Atem des Sprechenden".
Bisweilen steht man fassungslos vor diesem Mut zur Vergewaltigung dessen, was wir als die "wahren Absichten des Komponisten" vermuten. Und es macht in solchen Momenten dann kaum mehr Sinn, Cortots Spiel mit der Handschrift des Komponisten zu konfrontieren. Die Maßlosigkeit von Cortots "Rubato" etwa verurteilt jeden Versuch dieser Art zum Scheitern. Von einem "Rubato", einer zeitweiligen Änderung des Tempos, ließe sich sprechen, wenn das Grundmetrum feststünde. Bei Cortot jedoch ist alles im Fluß: Jeder Takt hat seine eigene Dramaturgie, jede Phrase ihren eigenen Atem.
Porträt des Künstlers als alter Mann
Der Nachwelt ist Cortot vornehmlich als Chopin-Spieler im Gedächtnis geblieben. Und sicherlich sind seine Chopin-Interpretationen in ihrer subjektiven Leidenschaft das Eindrucksvollste, was Cortot hinterlassen hat. Aber man würde ihm Unrecht tun, wollte man seinem pianistischen Wirken auf dieses Solisten-Repertoire reduzieren. So sehr Cortot es genoß, die emotionalen Räume eines Werkes auszuloten, ohne Rücksicht zu nehmen auf all das, was der eigenen Empfindung Zügel anlegen könnte, so sehr war er auch in der Lage, sich einzuordnen, wenn es um Kammermusik ging.
Zusammen mit dem Geiger Jacques Thibaud und dem Cellisten Pablo Casals gründete er 1905 ein Klaviertrio, das seinerzeit viel Beachtung fand. Wie es zu dieser illustren Besetzung kam? Cortot gab seinen sportlichen Aktivitäten die Schuld: Man traf sich in Fontainebleau eher zufällig beim Tennisspielen und als die Dunkelheit anbrach, setzte man das Match auf musikalische Weise fort. Etwas, das heutzutage kaum vorstellbar ist: daß drei Musiker, anstatt sich mit ihren Instrumenten zu beschäftigen, auf dem Tennisplatz leichtffertig ihre Muskeln aufs Spiel setzen. Indes: dem Trio Cortot - Thibaud - Casals taten solche Aktivitäten keinen Abbruch; im Gegenteil: Auch heute noch atmen die Kammermusikaufnahmen der Drei, die Ende der zwanziger Jahre entstanden, eine Frische, wie man sie sich im heutigen Musikbetrieb öfters wünschen würde.
Das Klaviertrio Cortot - Thibaud - Casals hielt leider den politischen Weltläuften nicht stand. Während des Zweiten Weltkriegs kam es zum Bruch zwischen Casals und Cortot, weil Cortot es gewagt hatte, in Berlin unter Furtwängler das Schumann-Konzert zu spielen. Für den Antifaschisten Casals war Cortots Auftritt ein Verrat an der Musik und an der Menschheit, Cortot hingegen verband damit die Hoffnung, trotz der Kriegswirren für eine Verständigung beider Völker vermittelst der Musik eintreten zu können.
Alfred Cortot: Principes rationnels de la technique pianistique
Das Buch ist auch als "Grundbegriffe der Klaviertechnik" auf Deutsch erschienen.
Auch in dieser Hinsicht ist Cortot ein unverbesserlicher Romantiker gewesen, ein Künstler, der von einer besseren Welt mit Hilfe der Musik träumt. Romantiker war er aber auch in seinem Anspruch, sich selbst und der Kunst keine Grenzen zu setzen. Mit Begeisterung stellte er sich immer wieder ans Dirigentpult. Seine Unterrichtsstunden am Pariser Konservatorium waren bei den Studenten gleichermaßen beliebt wie gefürchtet wegen der Leidenschaft, mit der Cortot Aspekte der Klaviertechnik und des musikalischen Ausdrucks behandelte. Und seine instruktiven Notenausgaben der Chopin-Etüden und der Schumann-Zyklen sind heute noch aufschlußreich für jeden, der sich mit diesen Werken am Instrument auseinandersetzt.
Selbst was das Repertoire anbelangt, hat sich Cortot kaum Beschränkungen unterworfen. Von Purcell bis Ravel gab es keinen Komponisten, dem Cortot seine Zuneigung entzogen hätte - mit einer Einschränkung allerdings: Strawinskys These, daß das Klavier ein Schlaginstrument sei und dementsprechend behandelt werden müsse, empfand Cortot als barbarisches Greuel. Klangzauber - das war es, was er auf dem Klavier entfalten wollte, und dies ist ihm auch gelungen.
Quelle: Wolfgang Lempfrid: Der letzte Romantiker – der Pianist Alfred Cortot
Dieser Beitrag ist entstanden als Sendemanuskript für den Deutschlandfunk, Köln (Historische Aufnahmen)
TRACKLIST Frédéric Chopin Walzer Nr. 1 bis 14 Fantasie in f moll (01) Waltz No.1 in E flat major, Op. 18 (Grande valse brillante) 4:39 Recorded 19th June, 1934 (02) Waltz No.2 in A flat major, Op. 34, No.1 (Valse brillante) 4:49 Recorded 20th June, 1934 (03) Waltz No.3 in A minor, Op. 34, No.2 (Valse brillante) 4:21 Recorded 20th June, 1934 (04) Waltz No.4 in F major, Op. 34, No.3 (Valse brillantc) 2:17 Recorded 19th June, 1934 (05) Waltz No.5 in A flat major, Op. 42 (The 'Two-Four' Waltz) 3:46 Recorded 19th June, 1934 (06) Waltz No.6 in D flat major, Op. 64, No.1 ('Minute' Waltz) 1:42 Recorded 20th June, 1934 (07) Waltz No.7 in C sbarp minor, Op. 64, No.2 3:08 Recorded 20th June, 1934 (08) Waltz No.8 in A flat major, Op. 64, No.3 2:59 Recorded 20th June, 1934 (09) Waltz No.9 in A flat major, Op. 69, No.1 (L' Adieu) (Posth.) 3:10 Recorded 20th June, 1934 (10) Waltz No.10 in B minor, Op. 69, No.2 2:56 Recorded 20th June, 1934 (11) Waltz No.11 in G flat major, Op. 70, No.1 (Posth.) 2:03 Recorded 20th June, 1934 (12) Waltz No.12 in F minor, Op. 70, No.2 (Posth.) 2:29 Recorded 20th June, 1934 (13) Waltz No.13 in D flat major, Op. 70, No.3 (Posth.) 2:48 Recorded 20th June, 1934 (14) Waltz No.14 in E minor (Posth.) 2:21 Recorded 20th June, 1934 (15) Waltz No.7 in C sharp minor, Op. 64, No.2 3:09 Recorded 13th March, 1929 (16) Waltz No.9 in A flat major, Op. 69, No.1 (L'Adieu) (Posth.) 3:11 Recorded 13th May, 1931 (17) Waltz No.9 in A flat major, Op. 69, No.1 (L'Adieu) (Posth.) 3:03 Recorded 4th November, 1949 (18) Waltz No.11 in G flat major, Op. 70, No.1 (Posth.) 2:31 Recorded 4th November, 1949 (19) Waltz No.6 in D flat major, Op. 64, No.1 ('Minute' Waltz) 1:39 Recorded 4th November, 1949 (20) Fantasie in F minor, Op. 49 11:35 Recorded 4th July, 1933 Playing Time: 68:38 Alfred Cortot (1877-1962), piano 78 rpm recordings, 1929 - 1949 Producer and Audio Restoration Engineer: Mark Obert-Thorn (P) & (D) 2006 ADD
Der Spiegel, Heft 12/1948, Seite 21
Bei der Recherche nach Alfred Cortot im Internet fand ich eine Notiz in dem Heft 12 der Zeitschrift „Der Spiegel“ aus dem Jahre 1948. Die Seite 21 der Ausgabe vom 20. März ist „Personalien“ betitelt, und genau das ist sie auch: Ein Fenster in eine Welt von gestern, mit Prominenten von gestern, von denen manche noch heute bekannt sind (Juan Peron, Otto Strasser, Marlene Dietrich, Orson Welles, Betty Grable, Jean Sibelius) – wenn auch vielleicht nur für Angehörige meines Jahrgangs (obwohl dieser jünger ist als das Erscheinungsjahr des Zeitungsausschnitts). Von dem 8-jährigen isländischen Wunderkind Thorunn Tryggvason, der „Miß Kinorevue Belgiens“ Annette Delattre, oder dem Erfinder Kennth Goodman hatte ich zum ersten Mal gehört. Christopher Mayhew jedoch, der sich über musizierende Ehefrauen äußert, ist der englischen Wikipedia wohlbekannt.
Ach ja, die Notiz zu Cortot: „Alfred Cortot, der französische Pianist, verklagte den französischen Künstlerverband wegen Benachteiligung auf Schadenersatz. Auf Grund staatsfeindlichen Verhaltens während der deutschen Besetzung hatte der Verband seine Mitglieder angewiesen, keine Konzerte mit Cortot zu geben.“
Reposted on February 15, 2014
CD Info (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 14 MB
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Track 9: Walzer Nr. 9 in As, op 69, Nr. 1 (L'Adieu)
Hello!
AntwortenLöschenI understand few things in german language, but I love very much the art of Alferd Cortot. This comes from my piano teacher, who was in several of his recitals. I hope more and more people know better him!
classic
:)
Schade ich magf die alten Musiker mehr als die Modernen, anderseits Verlettzung der Rechte ist was anderes. Aber wen verletzt man heute? Höchstens der Umsatz... Der Gier ist wirklich all gegenwärtig....
AntwortenLöschenThank you very much for your whole blog! Incredible!
AntwortenLöschenkrb
Na ja, also Cortots Rolle während des zweiten Weltkriegs wird hier geschönt dargestellt: Casals hatte kein Problem damit, dass Cortot mit Furtwängler spielte, es war vielmehr die Mitwirkung Cortots als Minister beim Vichy-Regime, die Casals (zu Recht) verärgerte. Cortot war wohl der typische anpassungsfähige Karrierist, der die Verfolgung der Juden und Andersdenkenden für sich ausblenden konnte – was aber seine Leistungen als Pianist keineswegs schmälert.
AntwortenLöschenhi, thanks for this, but all the links are broken including megaupload. I wondered is it possible to re-upload??
AntwortenLöschenHeureka! Cortot waltzes again :-)) re-uploaded
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