17. April 2012

Tschaikowskis Streichquartette

Peter Iljitsch Tschaikowski war ein einsamer, ein eigenartiger Mensch. Sein Leben gleicht einem Roman, weshalb es einige nicht unversucht ließen, seinen Charakter zu deuten. »Ich konnte das alles beschreiben; nichts war mir fremd ... Seine neurotische Unrast, seine Komplexe und seine Ekstasen, seine Ängste und seine Aufschwünge, die fast unerträgliche Einsamkeit, in der er leben mußte, der Schmerz, der immer wieder in Schönheit verwandelt sein wollte«, schrieb Klaus Mann, der ergriffen von Tschaikowskis Lebenstragik einen Roman über ihn verfaßte (»Symphonie Pathetique«, 1935).

Doch wer war Peter Iljitsch Tschaikowski wirklich, wer war dieser zarte, übermäßig empfindsame Mensch, den schon sein Kindermädchen ein »Porzellankind« nannte? Halten wir uns an die Fakten: Geboren wurde er am 7. Mai 1840 in Wotkinsk im fernen Ural. Sein Leben war zunächst für die juristische Laufbahn bestimmt, wie sich das für Söhne aus guten Bürgerhäusern gehörte. Amüsante Anekdoten indes berichten, wie ungeeignet er für die Beamtenlaufbahn war. Zugleich war seine außerordentliche musikalische Begabung hervorgetreten. Ein Freund regte den immerhin schon Dreiundzwanzigjährigen zu ernster Beschäftigung mit der Musik an. Aus dem Schüler, der 1863 das Petersburger Konservatorium besuchte, wurde bald ein Lehrer am Tochterinstitut zu Moskau.

Eine wohlhabende Witwe, Nadeschda von Meck, erlöste ihn von den Härten der Musikerlaufbahn und unterstützte ihn freigebig. Ihrer beider Briefe sind Ausdruck aller Entzückungen eines Liebespaares, doch unter den Liebespaaren der Weltgeschichte sind sie eines der merkwürdigsten: Selbst als beide einige Wochen in Florenz verbrachten, sahen sie sich höchstens von weitem, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Tschaikowski, der homosexuell war, dürfte die Begegnung mit der hochverehrten Dame gefürchtet haben.

Konstantin Alexejewitsch Korowin (1861-1939): Anlegestelle auf der Krim. 1913, Tretjakow-Galerie, Moskau

Doch bevor der wirtschaftliche Segen sich einstellte, musste Tschaikowski sich als schlecht besoldeter Harmonielehrer am Konservatorium verdingen. Seine juristische Beamtenlaufbahn hatte er gerade aufgegeben. Er wohnte äußerst bescheiden; trotzdem waren es glückliche Jahre für Tschaikowski, denn er hatte ein Ziel vor Augen, für das er all seine Kräfte einsetzte. Viel Unterstützung erhielt er dabei von seinem Lehrer Anton Rubinstein, der ihm eine Aufgabe nach der anderen gab, unter anderem die Vertonung von Schillers Gedicht »An die Freude« als Prüfungsaufgabe für das Reifezeugnis. Die hier zu Gehör gebrachten Vier Sätze für Streichquartett stammen aus dieser Zeit um 1863 und 1864. Etwas von Rubinsteins Glauben an Tschaikowski scheint in diesen kurzen Stücken durchzuschimmern. Bald sollte der angehende Komponist auch die Bestätigung von anderen erhalten. Hermann A. Laroche etwa bezeichnete ihn in einem Brief das »größte musikalische Talent des gegenwärtigen Russlands«.

Tschaikowskis Streichquartett in B-Dur stammt ebenfalls aus dieser Zeit am St. Petersburger Konservatorium. Er komponierte es im Sommer 1865 während eines Aufenthalts in Kamenka, nahe Kiew. Im September kehrte er an das Konservatorium zurück und ließ seine Komposition im November von seinem Studentenquartett aufführen. Eröffnet wird das lediglich aus einem Satz (Adagio misterioso - Allegro con moto) bestehende Werk mit einer langsamen Introduktion, die am Ende wiederkehren wird. Bestimmend für den ganzen Satz ist allerdings eine ukrainische Volksweise, die Tschaikowski womöglich in Kamenka zu Ohren gekommen war. Er sollte zwei Jahre später das Thema in seinem Klavier-Scherzo à la Russe op. 1 Nr. 1 wieder verwenden.

Konstantin Alexejewitsch Korowin (1861-1939): Porträt von Fjodor Schaljapin. 1911. Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm, Russisches Staatsmuseum, St.Petersburg. Fjodor Iwanowitsch Schaljapin (1873-1938) war ein russischer Opernsänger und gilt vielfach als berühmtester Bassist der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts.

Am 28. Februar 1871 veranstaltete Tschaikowski in Moskau ein Konzert mit eigenen Kompositionen. In diesem Zusammenhang steht auch sein Erstes Streichquartett in D-Dur op. 11. Tschaikowski legt hier eine eindrucksvolle Beherrschung in Form und Klangstruktur an den Tag. Zugleich entstand ein unbefangenes und sehr musikantisches Werk. Spielend wird im ersten Satz (Moderato e semplice) mit der Sonatenform gearbeitet. Zwei musikalische Hauptgedanken bestimmen den musizierfreudigen Satz: ein synkopiertes, liedhaftes Thema im 9/8-Takt (Vortragsanweisung: dolce e semplice) und ein aufwärtsdrängendes Fünfton-Motiv.

Zwei lyrische Melodien prägen das Andante cantabile. Die erste Weise hatte Tschaikowski angeblich einem Handwerker abgelauscht; die zweite, schwärmerische Melodie wird von der Violine über der Pizzikato-Begleitung der Bässe entfaltet. Der Satz gehört zu den populärsten Kompositionen Tschaikowskis und wurde Gegenstand zahlloser Bearbeitungen.

Ein rhythmisch stark akzentuiertes und motivisch sehr prägnantes Scherzo (Allegro non tanto) schließt sich an; sein Trio entfaltet sich über einem Violoncello-Orgelpunkt. Der kurze Satz mündet in ein Finale (Allegro giusto), das sich in gleicher Spiellaune gibt wie der erste Satz. Bestimmendes Element des Satzes ist jener Quartsprung abwärts, mit dem das Hauptthema anhebt. Er treibt das musikalische Geschehen voran. Nach einem kurzen Zögern bringt eine feurige Stretta-Coda den Satz zu Ende.

Konstantin Alexejewitsch Korowin (1861-1939): Herbstliche Landschaft. 1909, Tretjakow-Galerie, Moskau

Drei Jahre nach der Moskauer Uraufführung schrieb Hans von Bülow: »Ein schönes Streichquartett von ihm hat sich bereits in vielen deutschen Städten eingebürgert.« Und der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick fügte an anderer Stelle hinzu: »Eine leichtflüssige, ganz eigentlich pikante Composition, die in dem Andante einer serenadenhaften Melodie über pizzikirten Bässen, ihre glänzendste Seite aufweist.« Auch heute verdankt das Werk seine Popularität dem langsamen Satz.

Tschaikowskis Zweites Streichquartett in F-Dur op. 22 entstand zu Beginn des Jahres 1874. Die herbe Kritik Anton Rubinsteins an der Komposition veranlaßte den Komponisten, das Werk vor seiner Uraufführung am 10. März 1874 in Moskau zu revidieren. Dort fand es großen Beifall, wenngleich es die Popularität des Ersten Streichquartetts niemals erreichte.

Das Werk ist ebenfalls erfüllt von dem volkstümlich musikantischen Atem des Ersten Streichquartetts. Zugleich stellt es hohe Ansprüche an die vier Interpreten.

Am Anfang steht eine chromatische Adagio-Einleitung; der Hauptteil ist ein Sonatensatz, dessen kantabel-elegischer Hauptgedanke eine rhythmische Figur enthält, die im Verlaufe der Komposition in immer neuen Metamorphosen in Erscheinung tritt. Das verhilft dem Satz zu orchestraler Klangfülle. Hinzu gesellt sich ein volkstümlich getönter weiterer Gedanke.

Konstantin Alexejewitsch Korowin (1861-1939): Nördliche Idylle. 1882-1892. Öl auf Leinwand, 89 x 71 cm. Tretjakow-Galerie, Moskau (ehemalige Sammlung S. A. Bachruschin, Moskau)

Eine aparte Wirkung hat der in ungewöhnlicher Rhythmik gefaßte zweite Satz, das Scherzo. Grundmetrum ist der 7/4-Takt. Dabei bilden jeweils drei Takte eine Phrase: auf zwei 6/8-Takte folgt ein 9/8-Takt. Die Komposition erhält somit etwas Schwebendes. Diese Stimmung verdichtet sich zu einem glühendem Drängen. Rhythmisch stabilisierend in dem Satz wirkt sich das Trio aus, in dem die Viola einen Walzer (im regelmäßigen Dreiertakt) anstimmt.

Das Andante ma non tanto ist eine ausdrucksvolle elegische Klage, in deren Mitte es zu leidenschaftlichen Entladungen kommt: Die Stimmen geraten in höchste Lagen; ein dreifaches Forte und der intensitätssteigernde Rhythmus der Synkopen tun ihr Übriges.

Tänzerisch beschwingt klingt das Werk aus (Finale, Allegro con moto). Ein spielerischer Hauptgedanke und eine breite, hymnenartig strömende Melodie treiben ihr launiges Spiel. Gekrönt wird das turbulente Musikgeschehen durch ein Fugato, bevor es in ungestümer Ausgelassenheit schließt.

Ende 1875 reiste Tschaikowski mit seinem Bruder Modest nach Berlin, Genf und Paris. Auf dieser Reise skizzierte er sein Drittes Streichquartett in es-Moll op. 30 Nr. 3, das er am 1. März 1876 in Moskau vollendete. Er widmete es dem tschechischen Geiger und Komponisten Ferdinand Laub, der ein Jahr vorher verstorben war. Laub hatte als Primarius die beiden ersten Quartette Tschaikowskis uraufgeführt.

Konstantin Alexejewitsch Korowin (1861-1939): Im Boot. 1888, Tretjakow-Galerie, Moskau

Schmerzliche Empfindungen sind es denn auch, die hier zum Ausdruck gebracht werden, sowohl in der breitangelegten Andante-Introduktion, mit der das Werk auch wieder schließt, als auch im Allegro moderato des ersten Satzes, das wehmütige Erinnerungsbilder aneinanderzureihen scheint. Im kapriziösen zweiten Satz Allegretto vivo e scherzando dagegen scheint ein heiteres Jugendabenteuer nachzuklingen. Doch die Trauer kehrt zurück. Der dritte Satz Andante funebre e doloroso, ma con moto schlägt dunkelste Töne an; die russische Totenmesse klingt hier an, ähnlich wie im Finale von Tschaikowskis Sechster Symphonie. Mit dem energischen Finale schließlich (Allegro non troppo e risoluto) kommt neuer Lebensmut auf.

Das Dritte Streichquartett wurde zunächst im privaten Kreis im Hause von Nikolai Rubinstein aufgeführt. Die offizielle Uraufführung geschah am 28. März 1876 im Moskauer Konservatorium anlässlich des Besuches von Großherzog Konstantin Nikolajewitsch, einem Bruder des Zaren und Präsident der Russischen Musikgesellschaft. Das Werk machte so großen Eindruck, dass es mehrmals wiederholt werden musste.

Quelle: Teresa Pieschacón Raphael, in den Booklets


Vol 1 Track 02 Streichquartett Nr 1 in D Op 11 - II. Andante cantabile


TRACKLIST

Peter (Pjotr) Illjitsch Tschaikowski (1840-1893): Streichquartette

Vol. 1                                                              [66:35]
   String Quartet No 1 in D major, Op. 11 
01. I. Moderato e semplice                                          [10:48]
02. II. Andante cantabile                                           [06:35]
03. III. Scherzo: Allegro non tanto e con fuoco                     [04:08]
04. IV. Finale: Allegro giusto                                      [09:51]

   String Quartet No 2 in F major, Op. 22 
05. I. Adagio, moderato assai (quasi andantino)                     [12:26]
06. II. Scherzo: Allegro giusto                                     [05:29]
07. III. Andante ma non tanto                                       [11:19]
08. IV. Finale: Allegro con moto                                    [05:53]


Vol 2 Track 03 Streichquartett Nr 3 in es Op 30 - III. Andante funebre e doloroso, ma con moto


Vol. 2                                                              [55:12]
   String Quartet No.3 in E flat minor Op.30 
01. I. Andante sostenuto - Allegro moderato                         [14:48]
02. II. Allegretto vivo e scherzando                                [03:55]
03. III. Andante funebre e doloroso, ma con moto                    [10:01]
04. IV. Finale: Allegro non troppo e risoluto                       [06:11]

   String Quartet in B flat major (1865): 
05. Adagio misterioso - Allegro con moto                            [13:16]
   
   Four movements for string quartet:
06. I. Allegretto (E Major)                                         [01:08]
07. II. Allegro vivace (B Flat Major)                               [01:37]
08. III. Andante molto (G Major)                                    [01:49]
09. IV. Andante ma non troppo (E Minor): Prelude (With Double Bass) [02:20]
   (István Tóth, double bass)


New Haydn Quartet, Budapest
   János Horváth, Violin I
   Péter Sárosi, Violin II
   György Porzsolt, Viola
   Gábor Magyar, Cello
   
Recorded by Phoenix Studio at the Unitarian Church, Budapest,
from 2nd to 5th October, 1995
Producer: Ibolya Tóth   Engineer: János Bohus
Digital editing: Márta Cserkuti

Cover paintings: Konstantin Alexeyevich Korovin (1861-1939): 
   At the Tea Table, Polenov Gallery Moscow (Vol 1),
   In the Boat, Tretyakov Gallery, Moscow (Vol 2). 


Konstantin Alexejewitsch Korowin (1861-1939): Am Teetisch. 1888. Polenov Galerie, Moskau
Repin - Serow - Korowin: Drei Impressionisten in Rußland

In Rußland schwelte stets der Streit zwischen den Bewahrern einer eigenen, slawischen, orthodoxen Kultur und jenen, die vom Westen lernen, sich ihm öffnen und annähern wollten. Seit Peter dem Großen hatte sich die russische Kunst den ästhetischen Prinzipien und der Stilentwicklung im westlichen Europa angeschlossen. Die akademische Künstlerausbildung und Kunstbewertung beruhte auf dem gleichen Klassizismus wie in Paris. Außerhalb der offiziellen Sphäre entwickelte sich aber auch hier das Interesse am einfachen Leben, an der heimatlichen Landschaft und dem Freilicht, das zum Beispiel zu den klaren, poetischen Gemälden Alexej Gawrilowitsch Wenezianows (1780-1847) führte.

1863, zufälligerweise im Jahr des ersten Pariser »Salon des Refuses«, revoltierten 14 Petersburger Akademiestudenten unter dem Banner des Realismus gegen die Vorschriften ihrer Lehranstalt und gingen, als sie prompt entlassen wurden, eine Gruppierung ein. Aus ihr und aus Mitarbeitern der Moskauer Kunstschule, die ein sozial und ästhetisch fortschrittlicheres Profil besaß, entstand 1870 die Genossenschaft für Wanderkunstausstellungen, die 1871 zum erstenmal - sogar in den Räumen der Petersburger Akademie - an die Öffentlichkeit trat und ihre Bilder dann auch in Moskau wie vor allem in Provinzstädten zeigte. Die »Wanderer« (Peredwischniki), wie diese Maler kurz genannt werden, schufen vorzugsweise realistische Genre- oder Landschaftsbilder, hatten aber, wie die französischen Künstler um Monet, auch einige unbedeutende Traditionalisten in den Reihen ihrer Gemeinschaft. Arbeiten der »Wanderer« bildeten den Kern der wichtigsten Sammlung neuerer russischer Kunst, die der Moskauer Kaufmann Pawel Michailowitsch Tretjakow (1832-1898) seit 1856 anlegte, ab 1881 in einer Galerie neben seinem Wohnhaus allgemein zugänglich machte und nach einer schon 1860 formulierten Idee zu einer Nationalgalerie 1892 der Stadt Moskau schenkte. Die Galerie ist die bedeutendste Sammlung russischer Kunst und prägte dauerhaft die Vorstellung vom Gang der Kunstgeschichte in diesem Land.

Ilja Jefimowitsch Repin (1844-1930): Unerwartet. 1884. Öl auf Leinwand, 160,5 x 167,5 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau

Die Szenen aus dem Dorfleben, die Darstellungen von Armut, Mühsal oder sozialen Gegensätzen waren ästhetisch wie politisch so umstritten wie jene Courbets oder Millets in Frankreich. In Rußland waren jedoch das harte Los der Bauernschaft und die Debatten um die Rolle traditioneller dörflicher Lebensformen für die nationale Identität des Volkes viel wichtiger. Die Genremalerei behielt dadurch immer ein größeres sozialpädagogisches bis agitatorisches Gewicht, das der Zurückdrängung des »Literarischen«, die Manet eingeleitet hatte, entgegenstand. Auch die Darstellung der heimatlichcn Landschaft bezog sich stärker auf die Lebensumstände, auf Gesellschaft und Geschichte der Menschen. Russische Maler - und ihr Publikum - neigten insofern eher zu romantischen oder symbolistischen Auffassungen als zu sachlichem Realismus und dem auf Wahrnehmungsprobleme fixierten Impressionismus, wie er in Westeuropa gepflegt wurde. Iwan Nikolajewitsch Kramskoj (1837-1887), das geistige Haupt der »Wanderer«, hatte den Gegensatz formuliert, der immer wieder zu Distanz und Mißverständnissen auf beiden Seiten führte: »Bei uns Inhalt, bei ihnen Form, bei uns ist die Idee die Hauptsache, bei ihnen die Technik.«

Ilja Jefimowitsch Repin (1844-1930): Tolstoj bei der Rast im Wald. 1891. Öl auf Leinwand, 60 x 50 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau

Impressionistische Gestaltung, manchmal von höchster Qualität, machte so immer nur eine Seite im Schaffen der Maler aus, die sich auch anderer Stilmittel bedienten. Das gilt besonders für Ilja Jefimowitsch Repin (1844-1930). Der 29jährige Absolvent der Petersburger Akademie begründete das internationale Ansehen der russischen Malerei mit dem in dreijähriger Arbeit entstandenen Bild Wolgatreidler (1870-1873; St. Petersburg, Staatliches Russisches Museum). Es wurde sogleich auf der Wiener Weltausstellung 1873 gezeigt, zu einem Zeitpunkt, als Maler wie Monet in der Regel vom Pariser Salon noch abgewiesen wurden. Repin, der sich 1873-1876 zu Studien in Westeuropa, darunter in Frankreich, aufhielt und 1875 im Pariser Salon ausstellte, konnte an der impressionistischen Skizzenhaftigkeit keinen Gefallen finden. Allenfalls Manet sagte ihm zu. Dennoch gewann seine Malweise in privaten Studien wie dem Bildnis seiner kleinen Tochter Vera eine frische Lockerheit.

Zu den thematisch wichtigen Bildern der achtziger Jahre, die soziale Widersprüche eindringlich erfaßten, gehört das Bild Unerwartet, das die vorzeitige Rückkehr eines aus politischen Gründen Verbannten festhält. Es überzeugt durch eine sensible, farblich-atmosphärische Naturtreue und durch räumliche Spannungen, schnappschußartige Fixierungen komplizierter Bewegungen und physiognomische Präzision. Repin trennte sich 1890 von den »Wanderern« und wurde vier Jahre später Professor an der inzwischen reformierten Akademie. Der impressionistische Stil erhielt seit dieser Zeit größeres Gewicht, doch wenn Repin beispielsweise Lew Nikolajewitsch Tolstoj (1828-1910) in einen Bauernkittel gekleidet, im Gras liegend und lesend, in großzügig skizzierendem Farbauftrag und unter Beobachtung vielfältiger Licht-Schatten-Effekte betont inoffiziell porträtierte, dann sollte für den zeitgenössischen Betrachter mehr an Inhalt greifbar werden als etwa bei Manets legerem Bildnis Mallarmes. Tolstoj war nach 1880 zu einem scharfen Kritiker der herrschenden Ordnung und zu einem Sozialreformer geworden, für den bäuerliches Leben programmatischen Charakter besaß. […]

Valentin Alexandrowitsch Serow (1865-1911): Mädchen mit Pfirsichen (Bildnis Vera Sawwischna Mamontowaj). 1887. Öl auf Leinwand, 91 x 85 cm, Tretjakow-Galeri, Moskau

Auch Valentin Alexandrowitsch Serow (1865-1911) läßt sich nicht mit einem einzigen Stilbegriff charakterisieren. Dabei ist er eine der überragenden Persönlichkeiten der russischen Malerei an der Jahrhundertwende und schuf bereits in jungen Jahren mit Mädchen mit Pfirsichen eines der schönsten Bilder des 19. Jahrhunderts. Serow gehörte zu der für das geistige Leben und die gesellschaftliche Entwicklung besonders wichtigen sogenannten Rasnotschinzen-Intelligenz (von Steuern befreite Nichtadlige), die in den achtziger und neunziger Jahren unter anderem das Hauptpublikum für Kunstausstellungen bildeten. Der Sohn eines früh verstorbenen Komponisten und einer Pianistin galt als Wunderkind. Als etwa Neunjähriger erhielt er von Repin, der damals in Paris war, Unterricht, und setzte seine Studien in Moskau fort, ehe er mit 15 Jahren auf die Akademie in Petersburg ging. Anschließend reiste er wieder mehrmals nach Westeuropa. Vor allem verkehrte er in dem illustren Künstlerkreis, der sich in dem Landgut Abramcevo, 60 Kilometer nördlich von Moskau, um den theaterbesessenen Eisenbahnkönig Sawwa I. Mamontow scharte. Dessen Tochter Vera saß ihm 1887 Modell für Mädchen mit Pfirsichen, das von der Gesellschaft der Kunstfreunde mit dem ersten Preis für Bildnismalerei ausgezeichnet wurde.

Konstantin Alexejewitsch Korowin (1861-1939): Paris, Boulevard des Capucines. 1906. Öl auf Leinwand, 73,3 x 60,2 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau

Die Freude an Licht, Reflexen und Farben, der lockere Farbauftrag ohne Konturen, die Alltäglichkeit der Situation, die zufällige Anordnung der Dinge im Hintergrund, das Stilleben davor: all diese Elemente hat das Gemälde mit einem Manet oder Renoir aus dem Jahrzehnt davor gemein. Serow aber bereichert sie um eine physiognomische Sorgfalt, eine Aufmerksamkeit für Charakter und Gefühlswelt der Dargestellten, um eine menschliche Dimension also, die unter den französischen Impressionisten allein Degas, dabei aber skeptisch-distanziert, interessierte.

Später wurde Serow, der 1897-1909 an der Moskauer Kunsthochschule lehrte, vor allem der Porträtist des Großbürgertums, des Adels und hauptsächlich der künstlerischen Intelligenz. Scharfe Erfassung eines flüchtigen Moments, farbliche Bravour und nervöse Spannungen oder dekorativer Schwung in den Umrißlinien verleihen seinen Werken eine starke Suggestivität.

Sein etwas älterer Freund Konstantin Alexejewitsch Korowin (1861-1939) war wohl der reinste Vertreter des russischen Impressionismus und kam dem französischen am nächsten, den er ab 1885 auf mehreren Reisen nach Westeuropa kennenlernte. Auch er gehörte zum Abramcevo-Kreis, und zusammen mit Serow stellte er bei der Gemeinschaft »Welt der Kunst« aus, die 1900 von der gleichnamigen, 1899-1904 erscheinenden Zeitschrift und ihrem tatkräftigen Redakteur, dem später berühmten Ballettimpresario Sergej Diaghilew (1872-1929) ins Leben gerufen wurde. Sie spielte im frühen 20. Jahrhundert eine führende Rolle beim Brückenschlag nach Frankreich, England und Deutschland und bei der Entfaltung einer internationalen, sezessionistischen Kunst aus Impressionismus, dekorativem Jugendstil und neuromantischer Heimatkunst.

Konstantin Alexejewitsch Korowin (1861-1939): Pariser Café, um 1890-1900. Öl auf Leinwand, 50 x 61 cm, Tretjakow-Galerie, Moskau

Korowin zeigte sich in seinen Straßenbildern aus Paris, seinen üppigen Stilleben und Urlaubsszenen von der Küste der Krim oder der Darstellung eines jungen Paars im Ruderboot als ein farbentrunkener, die Schönheit der Welt bejahender Augenmensch. Er erhob, wie vorher vielleicht nur sein Lehrer Polenow, auch für die russische Malerei das nur skizzenhafte Fixieren einer farbigen Impression zur vollgültigen künstlerischen Leistung. Dabei blieb er vor allem in seinem Frühwerk wie dem hier abgebildeten der zeichnerischen Präzision und dem erzählerischen Interesse in der Art Caillebottes oder Forains näher als dem zwanzig Jahre älteren Monet. Daß der Mann im Ruderboot allerdings der Künstler selbst ist, der sich zusammen mit der Malerin Maria W. Jakuntschikowa porträtiert hat, markiert einen Unterschied zu den französischen Impressionisten. Für die Franzosen wäre eine solche Ansicht kein eigenes Seherlebnis gewesen. Bei ihnen gibt es kein szenisches Selbstbildnis.

Peter H. Feist (* 1928): Zwischen Heimat und Europa: Impressionisten in Ost- und Südosteuropa: Rußland. In: Ingo F. Walther (Hrsgr): Malerei des Impressionismus, Band II. Der Impressionismus in Europa und Nordamerika. Benedikt Taschen Verlag, Köln, 1996. ISBN 3-8228-8721-8 bzw. 3-8228-8715-3. Zitate aus den Seiten 501-512.

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Reposted on September 12, 2014

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