26. November 2012

Charles Ives: Klaviersonate Nr. 2 »Concord«

Um 1910 beschloss Charles Ives, eine Reihe von Instrumentalwerken zu schreiben, in denen »Männer der Literatur« gefeiert werden sollten. Sie porträtieren seine favorisierten Dichter aus New England. Ives begann mit der Emerson Ouvertüre für Klavier und Orchester, dem Hawthorne Klavierkonzert und der Alcott Ouvertüre. Er verwarf schon bald diese Werke, überarbeitete jedoch das musikalische Material zu einer Klaviersonate in drei Sätzen mit den Titeln Emerson, Hawthorne und The Alcotts und fügte einen neu komponierten vierten Satz, Thoreau, hinzu. 1920-21 wurde dieses Werk als Klaviersonate Nr. 2 »Concord, Mass., 1840-1860« auf Ives eigene Kosten gedruckt und zusammen mit einem schmalen Buch Essays before a Sonata (Essays zu einer Sonate) veröffentlicht.

Ives beschrieb die Concord-Sonate bei einer Gelegenheit als »impressionistische Gemälde von Emerson und Thoreau, als eine Skizze von den Alcotts und ein Scherzo, das einen leichteren Zug wiedergeben soll, der oft im phantastischen Hawthorne auftritt«. Für Ives war es jedoch ein besonderes Stück, wie Howard Boatwright, der Herausgeber des Essays von Ives, betont:

»Für einige Komponisten kann ein Werk … zu einem Kanal werden, durch den die Ströme der philosophischen Konzepte, der musicalischen Techniken und der Stile in einzigartiger Einigkeit fließen. Für Charles Ives war die Concord-Sonate so ein Werk. … Es repräsentiert Ives Errungenschaften in Bezug auf den Reichtum der Harmonie und die Freiheit des Rhythmus, und es trägt unmissverständlich den Stempel … der höchst individuellen Persönlichkeit des Komponisten.«

George Edward Ives (1845-1894), Vater von
Charles Ives und selbst ein innovativer Militärmusiker
Emerson, der erste Satz der Concord-Sonate ist ein musikalisches Porträt von außergewöhnlicher Kraft und Intensität. Er scheint erfüllt von Kämpfen und Gegensätzen, und Ives schrieb, dass er eher vom Kampf der Seele (Emersons) handele, als vom Frieden des Geistes, den er sogar in diesen Kämpfen behielte. Das Scherzo Hawthorne huscht flüchtig vorüber, bis auf eine leise, langsame Passage, die von riesigen Noten-Clustern ausgemalt wird. Diese Cluster vibrieren in den höchsten Registern und werden mit einem schweren Holzbrett angeschlagen, das mit Flanell bespannt ist. Darüber hinaus erklingen einige Passagen, in denen die choralartige Melodie Martyn (1834) in flüchtiger Harmonie erscheint. Der dritte langsame Satz der Sonate, The Alcotts, ist ein leicht undeutliches photografisches Porträt. Es beschwört eine Variante von Martyn herauf, die an das Eröffnungsmotiv von Beethovens Fünfter Sinfonie erinnert. Dieses Motiv taucht häufiger in der Sonate auf, am häufigsten jedoch auf dem Höhepunkt von The Alcotts. Thoreau, der letzte Satz, ist seinem Wesen nach irreführend ruhig, nach dem Höhepunkt entwickelt sich eine ausgedehnte Lösung und der Satz schließt mit der vollständigen Melodie eines Liedes, das seit dem Beginn der Sonate angedeutet wurde: »einer menschlichen Glaubens-Melodie«, wie Ives schreibt, »transzendent und gefühlvoll genug für den Enthusiasten oder den Zyniker«.

Die Reduktion der Orchestermusik-Stücke, die für die Concord-Sonate Pate gestanden haben, für die zwei Hände eines Pianisten verlangte von Ives, die musikalische Struktur zu vereinfachen. Doch kaum war die Sonate gedruckt, stellte Ives neue Überlegungen zu diesen Vereinfachungen an, und er begann, das musikalische Material, das er aus der Orchesterpartitur eliminiert hatte, für Klavier zu arrangieren. Diese »Flickschusterei« führte in den späten 1940er Jahren schließlich zu einer zweiten, stark überarbeiteten Fassung der Concord-Sonate. (Diese Fassung erklingt im wesentlichen auf dieser CD.)

Das Büro von Ives & Myrick Insurance Agency,
 an der Ecke Nassau und Liberty Streets, New York City.
Darüber hinaus waren in den 1920er Jahren aus Ives Flickschusterei zwei weitere mit einander korrespondierende, jedoch unabhängige Stücke entstanden. Das eine waren die Four Transkriptions from »Emerson«, Überarbeitungen des ersten Satzes (Emerson) der Sonate. Auf dieser CD ist die erste dieser Transkriptionen zu hören: eine umfangreiche improvisatorische Überarbeitung der ersten paar Seiten der gedruckten Sonate, ergänzt mit Passagen, die auf der ursprünglichen Instrumentation der Emerson Ouvertüre beruhen.

Das andere Stück war eine groß angelegte Transkription des Hawthorne-Satzes aus der Sonate. Ives hat diese neue Fassung instrumentiert und zum zweiten Satz seiner Vierten Sinfonie gemacht. Doch obwohl die Bezüge zur Hawthorne-Klaviertranskription noch deutlich erkennbar sind, hat er dem Satz einen neuen Titel gegeben: The Celestial Railroad (Die Himmlische Eisenbahn). Das war der Titel einer Kurzgeschichte von Hawthorne, einer Erzählung, die in der Tat die Form von Ives Musik nachhaltig beeinflusst hat.

Ein Mann fällt in tiefen Schlaf und träumt von einem fantastischen Zug, sein Ziel ist die Himmlische Stadt. Der Mann wird von Mr. Smooth-it-away überredet, ihm zu folgen und den Zug zu besteigen, gerade als dieser seine Reise beginnt. Der Zug rast vorbei an schrecklichen Anblicken und der mit Spannung erfüllten Stadt Vanity Fair, um im Beulah-Land am Fluss Jordan anzukommen. Dort wartet ein Raddampfer, der sie über den Fluss zur Himmlischen Stadt bringen soll. Doch sobald der Mann auf der Fähre ist, bemerkt er, dass Mr. Smooth-it-away zurück geblieben ist und dass die Reise eine irreführende Illusion gewesen ist. Die Schaufelräder setzen sich in Bewegung und schleudern Wasser in das Gesicht des Mannes. Der Schock darüber lässt den Mann erwachen, der Alptraum ist vorbei. Es ist der vierte Juli in Concord (nicht in Hawthornes Gedicht).

Maurice Prendergast (1859-1934): The Park, Salem,
ca. 1910, Wasserfarben über Bleistift auf Papier
Waren die Four Transcriptions from »Emerson« und The Celestial Railroad aus Ives-typischem Herumbasteln an der Concord-Sonate der Jahre 1920/21 hervorgegangen, so ist ein drittes Klavierstück aus der Mitte der 1920er Jahre möglicher Weise von dem Misserfolg inspiriert (oder provoziert) worden, den die Sonate erfuhr, nachdem Ives sie gedruckt und der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Es handelt sich um die Varied Air and Variations, ein Titel, mit dem der Spaßvogel Ives ihnen wohl den Stempel als »Very Darie Variations« aufdrücken wollte. Denn es handelt sich um eine zornige (wenn auch humorvolle) Parodie auf die Situation bei einem Klavierabend, daher der Untertitel »Study … for Ears or Aural and Mental Exercise!!!« (Studie … für Ohren oder Hör- und Geistesübung!!!). Den Kern bilden fünf grundverschiedene Variationen, die auf einer atonalen »air« basieren, einer Melodie ohne Wiederholungen, unbequem phrasiert und hyper-chromatisch und die fast unmöglich gesummt, gesungen, gepfiffen oder sogar wieder erkannt werden kann. (»Die alte Steinmauer um den Obstgarten. Keiner (dieser Steine) ist wie der andere«, skizzierte Ives im Manuskript.) Bis auf eine sind alle Variationen so dissonant, dass sie einen Schlag ins Gesicht bedeuten. Sie wechseln sich ab mit kurzen »Protesten«, die Logen-Schönheiten repräsentieren, Damen (männlichen oder weiblichen Geschlechts), für die, wie es Ives in seinem Essay formulierte, »Schönheit zu oft vermischt ist, mit etwas, das die Ohren in einen Liegestuhl packt.« Über die Ausnahme, die weniger dissonante Variation, schrieb Ives: »Also gut, Ladies, ich werde die (air) noch einmal spielen, und sie mit netten und richtigen Harmonien versehen«. Und die Musik erscheint diesmal nicht als Protest, sondern eher als »Applaus (non-Protest)« mit einfachen, konsonanten C-Dur-Akkorden, die nicht nur laut gespielt werden, (f oder ff - forte oder fortissimo), sondern ffffffffffff! Der Pianist, sagt Ives, »verliert die Geduld mit (den Damen), beginnt (dissonante) Sachen nach ihnen zu werfen, und das Stück endet, wie es begonnen hat, mit einem Protest«.

In dieser Aufnahme mit Klaviermusik von Ives hören wir ihn also als seiner Zeit weit voraus eilenden Komponisten von meisterhaften und bedeutenden Kompositionen, als Flickschuster und Wiederverwerter seiner eigenen Musik und als übermütigen Humoristen.

Quelle: H. Wiley Hitchcock, im Booklet (Deutsche Fassung: Peter Noelke)


TRACKLIST

Charles IVES (1874-1954) 

    Sonata No. 2 for Piano, 'Concord, Mass.: 1840-60'  50:39
(1) 'Emerson'                                   18:32
(2) 'Hawthorne'                                 12:17
(3) 'The Alcotts'                                6:29
(4) 'Thoreau'                                   13:22

(5) Varied Air and Variations                           7:35

(6) The Celestial Railroad                              9:25

(7) Four Transcriptions from 'Emerson', No. 1           4:56

Playing Time:                                          72:35


Steven Mayer, Piano 

Recorded at the Toronto Centre for the Arts, Toronto, Canada,
on 30th and 31st January, 2002. 
Producers: Bonnie Silver and Norbert Kraft 
Engineer and Editor: Norbert Kraft 
Cover Painting: The Park, Salem, (1913-15) by Maurice Prendergast (1858/9-1924)
American flag, folk artist. 1880s. 
(P) & (C) 2004 



Stanisław Lem hat einen weltweiten Ruf als Verfasser intelligenter Science-fiction-Erzählungen und -Romane. Die vollkommene Leere zeigt eine neue Seite seines vielseitigen Talents. Diese Sammlung von Analysen, von kritischen Besprechungen nicht existierender Bücher ist nicht nur ein witziger Einfall und ein Vergnügen für Denkende, sondern wie gewöhnlich bei Lem eine Warnung vor allzu leichtfertigem Optimismus, vor dem Vertrauen auf Entdeckungen im Bereich literarischer Form, die so oft als genial, wegweisend, einzig und allein nachahmenswert angepriesen werden.


Patrick Hannahan

Gigamesh
(Transworld Publishers - London)

Da ist ein Autor, der Joyce um seinen Ruhm beneidet. Der »Ulysses« hat die Odyssee in einem Dubliner Tag konzentriert, hat den höllischen Palast der Kirke zum Futterstoff der Belle Epoque gemacht, hat die Schlüpferkonfektion der Gerta McDowell zum Strick für den Akquisiteur Bloom zusammengedreht, hat sich in einem Umzug von vierhunderttausend Wörtern über das Viktorianische Zeitalter empört, hat sich in jeder Stilistik ergangen, über die die Feder zwischen dem Bewußtseinsstrom und dem Vernehmungsprotokoll verfügt. War das noch nicht der Kulminationspunkt des Romans und zugleich seine monumentale Beisetzung im Familiengrab der Künste (denn auch die Musik fehlt nicht im »Ulysses«)? Offenbar nicht; offenbar war auch James Joyce dieser Meinung, da er weiter zu gehen beschloß und ein Buch schrieb, das nicht nur die Konzentration in einer Sprache, sondern die allsprachliche Linse sein soll, das Hinabsteigen zu den Fundamenten des Babylonischen Turms. Die Großartigkeit des »Ulysses« und des »Finnegan«, die sich in doppelter Unverschämtheit der Unendlichkeit nähert, soll hier weder bestätigt noch negiert werden. Unsere einsame Rezension kann nichts anderes mehr sein als ein Körnchen, hingeworfen auf den Berg der Huldigungen und Flüche, der sich über diesen beiden Büchern erhebt. Sicher hingegen ist, daß Patrick Hannahan, ein Landsmann Joyce', seinen »Gigamesh« ohne das große Beispiel, das er als Herausforderung ansah, nie geschrieben hätte.

Es könnte so scheinen, als wäre dieser Gedanke von vornherein zum Scheitern verurteilt. Einen zweiten »Ulysses« zu schreiben, lohnt sich ebensowenig wie einen zweiten »Finnegan«. Auf den Gipfeln der Kunst zählen nur die ersten, so wie in der Geschichte des Alpinismus nur die Erstdurchsteigungen unbezwungener Wände.

Hannahan, »Finnegans Wake« gegenüber recht nachsichtig, schätzt den »Ulysses« nicht. »Welch ein Einfall«, sagt er, »das europäische 19. Jahrhundert in der Gestalt Irlands in die Sarkophag-Form der Odyssee zu packen! Homers Original selbst ist von zweifelhaftem Wert. Ein antiker Comic, der Ulysses als Superman besingt und sein Happy-End hat. Ex ungue leonem - an der Wahl des Musters erkennt man das Kaliber des Schriftstellers. Die Odyssee ist doch ein nach dem Geschmack des griechischen Publikums zubereitetes Plagiat des Gilgamesh. Was in dem babylonischen Epos eine mit der Niederlage gekrönte Tragödie ist, haben die Griechen zum malerischen Abenteuer einer Fahrt über das Mittelländische Meer umgekehrt. Navigare necesse est, das Leben als Reise - das sind mir große Lebensweisheiten. Die Odyssee ist der Verfall im Plagiat, weil sie die ganze Größe des Gilgamesh-Kampfes zugrunde richtet.«

Man muß zugeben, daß der »Gilgamesh«, wie die Sumerologie lehrt, tatsächlich Elemente enthält, die Homer benutzt hat, z. B. den Odysseus, die Kirke und den Charon, und daß er wohl die älteste Version einer tragischer Ontologie bildet, weil er zeigt, was Rilke sechsunddreißig Jahrhunderte später das Wachstum genannt hat; es bestehe darin, »der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein«. Das Schicksal des Menschen als Kampf, der unweigerlich in die Niederlage führt, ist ja der letzte Sinn des »Gilgamesh«. Patrick Hannahan beschloß also, vor dem Hintergrund des babylonischen Epos seine epische Leinwand auszuspannen, eine recht eigenartige, wie wir betonen, weil sein »Gigamesh« eine in Zeit und Raum sehr begrenzte Geschichte ist. Der notorische Gangster, bezahlte Mörder und amerikanische Soldat zur Zeit des letzten Krieges, der G. I. J. Maesch (d. h. G. I. Joe, Government Issue Joe, Joe in staatlicher Ausgabe - so nannte man die einfachen Soldaten der U.S.Army), durch die Anzeige eines gewissen N. Kiddy in seiner verbrecherischen Tätigkeit entlarvt, soll auf Grund des Urteils eines Militärgerichts in einer Kleinstadt der Grafschaft Norfolk, wo seine Einheit stationiert war, gehenkt werden. Die gesamte Handlung umfaßt 36 Minuten, die notwendige Zeit, um den Verurteilten aus dem Gefängnis zum Ort der Exekution zu bringen. Das Ganze schließt mit dem Bild des Stricks, der als schwarze Schlinge vor dem Hintergrund des Himmels auf den Nacken des ruhig stehenden Maesch herabfällt. Dieser Maesch also ist Gilgamesh, der halbgöttliche Held des babylonischen Epos; der jedoch, der ihn an den Galgen lieferte, sein alter Kamerad N. Kiddy, ist Gilgameshs engster Freund Enkidu, von den Göttern geschaffen, um den Helden zu verderben. Wenn wir das so abhandeln, wird besonders die Ähnlichkeit der kreativen Methode im »Ulysses« und im »Gigamesh« deutlich. Die Gerechtigkeit gebietet, sich auf die Unterschiede der beiden Werke zu konzentrieren. Die Aufgabe wird dadurch erleichtert, daß Hannahan - ganz anders als Joyce! - sein Buch mit einer »Auslegung« versehen hat, die doppelt so umfangreich ist wie der Roman selbst (genauer, der »Gigamesh« zählt 395, die »Auslegung« 847 Seiten). Wie Hannahans Methode aussieht, erfahren wir gleich im ersten, siebzigseitigen Kapitel der »Auslegung«; es erläutert die Vielfalt der Bezüge, die aus einem einzigen Wort entspringen, aus dem Titel nämlich. »Gigamesh« kommt zunächst selbstverständlich von Gilgamesh, damit enthüllt er sein mythisches Urmuster wie bei Joyce, denn auch dessen »Ulysses« nennt seine klassische Adresse, ehe noch der Leser das erste Wort des Textes kennengelernt hat. Die Weglassung des Buchstabens L im Namen Gigamesh ist kein Zufall; L - das ist Lucipherus, Luzifer, der Fürst der Finsternis, in dem Werk anwesend, obwohl er - als Person - in ihm nicht auftritt. Der Buchstabe (L) also verhält sich zu dem Namen (Gigamesh) wie Luzifer zu den Geschehnissen des Romans: er befindet sich dort, aber unsichtbar. Über den Logos verweist das L auf den Anfang (das Ursächliche Wort der Genesis), über Laokoon auf das Ende (denn Laokoons Ende haben Schlangen verursacht, er wurde erdrosselt, so wie der Held des »Gigamesh« durch Strangulierung erdrosselt werden wird). Das L hat noch 97 weitere Konnexionen, aber wir können sie hier nicht darlegen.  

Weiter - »Gigamesh« ist »a GIGAntic MESS«, der furchtbare Wirrwarr, das Elend, in dem sich der zum Tode verurteilte Held befindet. Zu den Bestandteilen dieses Wortes gehört auch »gig«, eine kleine Schaluppe (Maesch versenkte seine Opfer, nachdem er sie mit Zement überschüttet hatte, in einem Gig; GIGgle, das Kichern der Verdammten, ein Hinweis (Nr. 1) auf das musikalische Leitmotiv der Niederfahrt zur Hölle nach der »Klage Dr. Fausti«; davon werden wir noch gesondert sprechen; GIGA - das ist a) italienisch »giga« = Geige, wieder eine Anspielung auf den musikalischen Hintergrund des Epos; b) GIGA - eine Vorsilbe, die Milliardenkräfte bezeichnet (z.B. im Wort GIGAWATT), hier: Kräfte des Bösen, der technischen Zivilisation. »Geegh« - das altkeltische »weg damit«, »fort«. Vom italienischen »Giga« über das französische »Gigue« kommt man zu »geigen«, der Jargonbezeichnung für die Kopulation im Deutschen. Die weitere ethymologische Auslegung müssen wir aus Platzmangel fortlassen. Eine andere Unterteilung des Namens in Form von Gi-GAME-Sh kündigt andere Aspekte des Werks an: »Game« ist Spiel, aber auch Jagd (auf Menschen, hier auf Maesch). Es gibt noch mehr derartiges. In jungen Jahren war Maesch ein GIG-olo; »Ame« ist die altgermanische Amme, und MESH ist Netz, z.B. das, mit dem Mars seine göttliche Gemahlin und ihren Geliebten einfängt, also Reuse, Falle, Schlinge (Strick), darüber hinaus ein System von Zahnrädern (z. B. »synchroMESH« - Ganggetriebe).

Ein besonderer Absatz beschäftigt sich mit dem rückwärts gelesenen Titel, weil Maesch auf der Fahrt zur Hinrichtung seine Gedanken rückwärts lenkt und nach der Erinnerung an das gräßliche Verbrechen sucht, von dem die Erhängung ihn loskaufen wird. In seinem Sinn findet dann ein Spiel (Game!) um den höchsten Einsatz statt: Wenn er sich einer unendlich scheußlichen Tat erinnert, gleicht er das unendliche Opfer des göttlichen Loskaufs aus, d. h. er wird zum Antiloskäufer. Das metaphysisch; natürlich macht sich Maesch nicht bewußt an eine solche Antitheodizee, aber er sucht - psychologisch - nach einer Entsetzlichkeit, die ihn dem Strick gegenüber ungerührt machen könnte. Der G. I. J. Maesch ist also ein Gilgamesh, der in der Niederlage eine negative Perfektion erlangt. Das ist die vollkommene Symmetrie der Asymmetrie in bezug auf den babylonischen Helden.

Gigamesh lautet rückwärts gelesen Shemagig. »Shema« ist ein althebräisches Wort aus dem Pentateuch (»Shema Israel!« -»Höre, Israel, dein Gott ist der einzige Gott!«). Da wir hier die Umkehrung haben, geht es um den Antigott, d. h. die Personalisierung des Bösen. »Gig« ist jetzt natürlich »Gog« (bei Gog und Magog!). »Shem« ist eigentlich »Shim«, »Sim«, der erste Teil des Namens Simon Stylites, des Säulenheiligen; der Strick hängt von einer Säule herab, Maesch wird also als Gehenkter, zum »Stylites à rebours«, weil er nicht auf der Säule steht, sondern unter der Säule (von der Säule herab) hängt. Das ist ein weiterer Schritt der Asymmetrie. Nachdem er auf diese Weise in seiner Exegese 2912 altsumerische, babylonische, chaldäische, griechische, altkirchenslawische, hottentottische, Bantu-, südkurilische, sephardische, apachische (»Igh« oder »Hugh« rufen bekanntlich üblicherweise die Apachen) Wörter mit ihrem Sanskrit-Hintergrund und mit Verweisungen zum Gaunerslang aufgezählt hat, unterstreicht Hannahan, das sei keine zufällige Rumpelkammer;' sondern eine präzise Windrose, ein tausenddimensionaler Kompaß, der Plan des Werks, seine Kartographie - es gehe nämlich um die Ankündigung aller Beziehungen, die der Roman polyphon verwirklicht.

Um auf jeden Fall weiter zu gehen, als Joyce das getan hat, beschloß Hannahan sein Buch zum Knotenpunkt (der Strick!) nicht nur aller Kulturen und Ethiken, sondern auch aller Sprachen zu machen. Ein solcher Vollzug ist notwendig (allein schon der Buchstabe M in GigaMesh führt uns in die Geschichte der Mayas, zu dem Gott Vitzli-Putzli, zu allen aztekischen Kosmogonien und Irrumationen), aber nicht ausreichend! Das Buch ist nämlich gewebt aus der Ganzheit allen menschlichen Wissens. Und wieder: es geht nicht um das aktuelle Wissen, sondern um die Geschichte der Wissenschaft, mithin um die keilschriftlich-babylonische Arithmetik, um die zu Asche zerfallenen, erloschenen chaldäischen, ägyptischen Weltbilder von der ptolemäischen Ära bis zum Einstein-Zeitalter, um die Matrizen- und Patrizenrechnung, um die Algebra der Tensoren und Gruppen, um die Methoden der Vasenbrennerei in der Ming-Dynastie, um die Maschinen eines Lilienthal, Hieronymous, Leonardo, um Andrées tödliche Ballonfahrt und General Nobiles Luftschiff (daß bei Nobiles Expedition Fälle von Kannibalismus auftraten, hat seinen besonderen, tiefen Sinn für den Roman; er ist nämlich so etwas wie der Ort, an dem eine fatale Last ins Wasser gefallen ist und dessen Spiegel in Bewegung versetzt hat - nichts anderes als Wellenkreise, die sich ständig konzentriert erweitern und »Gigamesh« umgeben, ist das »gesamte All« des menschlichen Daseins auf der Erde seit dem Homo javanensis und dem Paläopithecus). Die Gesamtheit dieser Informationen ruht im Innern des »Gigamesh«, verborgen, aber auffindbar, wie in der wirklichen Welt.

So gelangen wir zu Hannahans kompositorischen Gedanken: Um den großen Landsmann und Vorgänger zu übertreffen, will er in seinem belletristischen Werk nicht nur den sprachlich-kulturellen, sondern darüber hinaus allerkennenden und allinstrumentalen (Pangnosis) Ertrag der Geschichte einschließen.

Die Unmöglichkeit dieses Vorhabens scheint in die Augen zu springen, scheint an die Hirngespinste eines Dummkopfes zu grenzen, denn wie könnte ein einziger Roman, die Geschichte der Erhängung eines Gangsters, der Extrakt, die Matrize, der Schlüssel und die Schatzkammer dessen sein, was die Bibliotheken des Globus sprengt! Da er die kalte, geradezu höhnische Ungläubigkeit des Lesers begreift, beschränkt sich Hannahan nicht auf die Abgabe von Versprechungen, sondern beweist seine Ansichten in der »Auslegung«.

Es ist unmöglich, ihren Inhalt wiederzugeben, deshalb können wir Hannahans kreative Methode nur an einem kleinen, am Rande gelegenen Beispiel kennenlernen. Das erste Kapitel des »Gigamesh« umfaßt acht Seiten, auf denen der Verurteilte in der Latrine des Militärgefängnisses seine Notdurft verrichtet und die Kritzeleien liest, mit denen andere Soldaten vor ihm die Wände dieses Raums gesprenkelt haben. Seine Gedanken streifen nur flüchtig die Inschriften. Ihre extreme Obszönität erweist sich - gerade durch die geringe Aufmerksamkeit, die er ihnen widmet - nur scheinbar als letzter Boden, denn wir gelangen durch sie hindurch direkt in die schmutzigen, heißen, riesigen Eingeweide der menschlichen Gattung, in die Hölle ihrer koprolalen und physiologischen Symbolik, die über das Kamasutra und den chinesischen »Kampf der Blumen« hinabreicht zu den dunklen Höhlen mit den steatopygischen Venusbildern der Urmenschen, weil ihre nackten Geschlechtsteile in den ungeschickt auf die Wände geritzten obszönen Akten hervortreten; zugleich führt die phallische Eindeutigkeit anderer Zeichnungen in den Orient mit seiner rituellen Sakralisierung des Phallos Lingam, wobei der Orient den Ort des ursprünglichen Paradieses als eine kümmerliche Lüge bezeichnet, unfähig, die Wahrheit zu verdecken, daß am Anfang eine klägliche Information stand. So ist es; denn Geschlecht und »Sünde« entstanden dort, wo die Uramöben ihre jungfräuliche Eingeschlechtlichkeit verloren; denn die Äquipollenz und Bipolarität des Geschlechts ist direkt aus Shannons Informationstheorie abzuleiten; und schon zeigt sich, wozu die beiden letzten Buchstaben (SH) im Namen des Epos dienten! Der Weg von der Latrinenwand führt folglich in den Abgrund der natürlichen Evolution, dem das Gewirr der Kulturen als Feigenblatt gedient hat. Aber auch das ist ein Tropfen im Ozean, weil das Kapitel ferner enthält

a) die pythagoräische Zahl »Pi«, welche die Weiblichkeit symbolisiert (3,14159265359787 ... ) und sich in der Buchstabenzahl von tausend Wörtern dieses Kapitels ausdrückt;

b) wenn wir die Zahlen nehmen, die die Geburtsdaten von Weismann, Mendel und Darwin bestimmen, und sie auf den Text anwenden wie den Schlüssel einer Chiffre, stellt sich heraus, daß das scheinbare Chaos der Klosett-Skatologie eine Darlegung der sexuellen Mechanik ist, in der kollidierende Körper kopulierende Körper ersetzen, wobei sich der gesamte Fluß der Sinne bereits mit anderen Partien des Werks zu verzahnen (SYNCHROMESH!) beginnt; so bezieht er sich über das III. Kapitel (Dreifaltigkeit!) auf das X. (die Schwangerschaft dauert zehn Mondmonate), dieses aber erweist sich, rückwärts gelesen, als in aramäischer Sprache ausgelegter Freudismus. Das ist noch nicht alles. Wie das III. Kapitel beweist, wenn wir es auf das IV. legen und dabei das Buch über Kopf drehen, ist der Freudismus, d. h. die psychoanalytische Doktrin, die naturalistisch verweltlichte Version des Christentums. Der Zustand vor der Neurose ist gleich dem Paradies, das Kindheitstrauma ist der Sündenfall, der Neurotiker der Sünder, der Psychoanalytiker der Erlöser und die Freudsche Therapie die Erlösung durch die Gnade.

c) Beim Verlassen der Latrine am Schluß des 1. Kapitels pfeift J. Maesch eine sechszehn Takte umfassende kleine Melodie (16 Jahre alt war das Mädchen, das er geschändet und in der Schaluppe erwürgt hat); den äußerst vulgären Text denkt er sich nur. Dieser Exzeß findet seine psychologische Begründung im gegebenen Augenblick; darüber hinaus liefert uns das syllabotonisch untersuchte Liedchen die rechteckige Umformungsmatrize für das nächste Kapitel (dieses hat zwei verschiedene Bedeutungen, je nachdem, ob wir die Matrize anwenden oder nicht).

Kapitel II ist die Entfaltung des lästerlichen Liedchens, das Maesch im ersten pfeift, doch formen sich die Lästerungen nach Anwendung der Matrize zu Engelsgesängen um. Das Ganze enthält drei Verweisungen: 1) auf Marlowes »Faust« (Akt II, Szene Vl ff.), 2) auf Goethes »Faust« (Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis) sowie 3) auf Th. Manns »Doktor Faustus«, wobei die Verweisung auf Manns »Faustus« ein Meisterstück ist! Das II. Kapitel nämlich erweist sich, wenn wir allen Buchstaben der Wörter Noten nach dem altgregorianischen Schlüssel zuordnen, als musikalische Komposition, in die Hannahan die »Apocalypsis cum figuris« aus Manns Beschreibung rückübersetzt hat, ein Werk, das Mann bekanntlich seinem Komponisten Adrian Leverkühn zuschreibt. Diese Höllenmusik ist in Hannahans Buch gleichzeitig vorhanden und nicht vorhanden (offen ist sie ja nicht da) wie Luzifer (der im Titel ausgelassene Buchstabe L). Die Kapitel IX, X und XI (das Herabsteigen vom Lastwagen, die geistliche Tröstung, die Herrichtung des Galgens) haben auch ihren musikalischen Hintergrund (nämlich die »Klage Dr. Fausti«), aber nur, wenn man so sagen darf, beiläufig. Denn wenn man sie als adiabatisches System im Sinne Sadi-Carnots behandelt, erweisen sie sich als die in Anlehnung an die Boltzmannsche Konstante errichtete Kathedrale, in der die schwarze Messe zelebriert wird. (Die Bußübungen sind Maeschs Reminiszenzen auf dem Lastwagen, abgeschlossen mit einem Fluch, dessen dickflüssige Glissandi das Kapitel VIII beenden). Diese Kapitel sind wirklich eine Kathedrale, weil die Proportionen zwischen den Sätzen und Phrasen ein syntaktisches Skelett besitzen, das eine Projektion - nach Monge - der Kathedrale von Notre-Dame mit all ihren Pinakeln, Stützkonsolen, Strebepfeilern, mit dem monumentalen Portal, mit der berühmten gotischen Rose usw. usf. auf eine fantasierte Ebene bildet. So enthält der »Gigamesh« also auch eine von der Theodizee inspirierte Architektur. In der »Auslegung« findet der Leser (S. 397 ff.) die gesamte Projektion der Kathedrale, wie sie der Text der erwähnten Kapitel bietet, im Maßstab 1:1000. Wenn wir indessen statt Monges stereometrischer Projektion eine nicht winkeltreue mit einer Ausgangsverzerrung gemäß der Matrize aus dem 1. Kapitel anwenden, erhalten wir den Palast der Kirke, und die schwarze Messe verwandelt sich in eine Karikatur der Auslegung der augustinischen Lehre (wieder ein Bildersturz: die augustinische Lehre im Palast der Kirke, dafür in der Kathedrale die schwarze Messe). Die Kathedrale oder die augustinische Lehre sind also nicht mechanisch in das Werk hineingestopft, sondern bilden ein Element der Ableitung.

Dieses neue Beispiel erklärt uns, auf welche Weise der Autor dank seiner irischen Hartnäckigkeit in einen einzigen Roman die ganze Welt des Menschen mit ihren Mythen, Symphonien, Kirchen, physikalischen Systemen und Annalen der allgemeinen Geschichte einbezogen hat. Das Beispiel führt wieder auf den, Titel zurück, weil - gemäß dieser Bedeutungslinie - »Gigamesh« eine »gigantische Melange« ist, was einen ungewöhnlich tiefen Sinn hat. Der Kosmos strebt ja nach dem zweiten Gesetz der Thermodynamik dem endgültigen Chaos zu. Die Entropie muß also wachsen, und das Ende allen Seins ist deshalb die Niederlage. So ist also nicht nur das, was einem ehemaligen Gangster zustößt, »a GIGAntic MESS«; weil »a Gigantic Mess« zugleich das gesamte Weltall ist (Unordnung heißt im Jargon Schlamperei, Schlampe = Dirne; deshalb sind alle öffentlichen Häuser, an die sich Maesch auf dem Weg zum Galgen erinnert, Abbild des Kosmos). Gleichzeitig wird »a Gigantic Mass«, eine gigantische Messe, zelebriert, die Transsubstantion der Ordnung in die finale Unordnung. Daher die Verbindung Sadi-Carnots mit der Kathedrale, daher die Eingliederung der Boltzmannschen Konstante; Hannahan mußte das vollziehen, weil das Chaos das Jüngste Gericht sein wird! Selbstverständlich findet der Mythos von Gilgamesh seine volle Verkörperung in dem Werk, doch diese Treue Hannahans gegenüber der babylonischen Vorlage ist eine Kleinigkeit im Vergleich mit den Interpretations-Abgründen, die sich hinter jedem der 241 000 Wörter auftun. Der Verrat, den N. Kiddy (Enkidu) in bezug auf Maesch-Gilgamesh begeht, ist die kumulative Zusammendrängung allen historischen Verrats; N. Kiddy ist auch Judas, der G. I. J. Maesch ist auch der Loskäufer usw. usf.

Öffnet man das Buch blindlings, so findet man auf S. 131, Zeile 4 von oben, den Ausruf »Bah«, mit dem Maesch die ihm von dem Chauffeur angebotene »Camel«-Zigarette quittiert. Im Index der »Auslegung« findet man 27 verschiedene »bah«, und dem auf S. 131 entspricht die folgende Reihe: Baal, Bahia, Baobab, Bahleda (man könnte meinen, Hannahan habe sich geirrt und gebe den Namen des polnischen Bergbauerngeschlechts Bachleda orthographisch unrichtig wieder, doch weit gefehlt! Das in diesem Namen fortgelassene C bezieht sich nach dem bereits bekannten Prinzip auf das Cantorsche C als Symbol des Continuums in seiner Transfinalität!), Baphomet, Babelisken (babylonische Obelisken, ein für den Autor typischer Neologismus), Babel (Isaak), Abraham, Jakob, Leiter, Feuerwehr, Motorpumpe, aufständige Bewegung, Hippies (h!), Badminton, Rakete, Mond, Gebirge, Berchtesgaden - das, weil das h in Bah auch auf einen Verehrer der schwarzen Messe wie Hitler im 20. Jahrhundert hinweist.

So arbeitet in allen Höhen und Weiten ein Wörtchen, ein gewöhnlicher und doch so enthymematisch unschuldiger Ausruf! Welche semantischen Abgründe öffnen sich erst auf den höheren Stockwerken eines sprachlichen Gebäudes, wie es der »Gigamesh« ist! Die Theorien des Präformismus kämpfen mit denen der Epigenese (Kap. III, S. 240 ff.); die Handbewegungen des Henkers, der die Schlinge knüpft, werden syntaktisch begleitet von Hoyle-Milnes Theorie der zwei Zeitskalen, der Verknotung der Spiral-Galaxien; Maeschs Reminiszenzen dagegen, seine Verbrechen, sind die totale Registrierung aller Abstürze des Menschen (die »Auslegung« erläutert, wie seinen Vergehen die Kreuzzüge zugeordnet sind, das Imperium Karl Martells, das Abschlachten der Albigenser und der Armenier, die Verbrennung Giordano Brunos, die Martern der Hexen, die kollektive Besessenheit, das Flagellantentum, die Pest, die Holbeinschen Totentänze, die Arche Noahs, Arkansas, ad calendas graecas, ad nauseam u. ä.). Der Gynäkologe, dem Maesch in Cincinnati einen Fußtritt versetzt hat, hieß Cross B. Androydyss; als Vornamen trug er also das Kreuz, als Nachnamen ein Synglomerat der Menschengestaltigkeit (Android, Androi, Anthropos) und des Ulysses (Odysseus), der mittlere Buchstabe aber, das B, ist wiederum die Tonart b-Moll, die »Klage Fausti«, die diese Partie des Textes verkörpert.

Ja, eine bodenlose Tiefe ist dieser Roman; an welchem Punkt auch immer man ihn berührt, es öffnet sich eine Unzahl von Wegen (die Systematik der Kommas im VI. Kapitel ist ein Pendant zur Karte Roms!), nie beliebiger Wege, weil sie sich mit ihren Verzweigungen alle harmonisch zu einem Ganzen verflechten (was Hannahan mit den Methoden der topologischen Algebra nachweist - vgl. »Auslegung«, Metamathematischer Anhang, S. 811 ff.). Alles unterliegt also der Erfüllung. Es entsteht nur noch ein Zweifel, der nämlich, ob Patrick Hannahan mit diesem Werk seinen großen Vorgänger eingeholt oder gar überholt und sich selbst - aber gemeinsam mit ihm! - im Königreich der Künste in Frage gestellt hat. Es gehen Gerüchte um, ein Ensemble von Computern, das International Business Machines ihm zur Verfügung stellte, habe Hannahan bei seiner Schöpfung geholfen. Auch wenn das wahr ist, sehe ich darin keinen Stein des Anstoßes; die zeitgenössischen Komponisten bedienen sich sehr oft der Computer - warum sollte das den Schriftstellern untersagt sein? Manche meinen, auf diese Weise konstruierte Bücher seien wiederum nur für andere Ziffernrechner lesbar, weil kein Mensch imstande sei, einen derartigen Ozean an Fakten und deren Relationen geistig zu erfassen. Eine Frage sei mir hier gestattet: Gibt es auf der Welt einen Menschen, der analog dazu imstande wäre, »Finnegans Wake« oder nur den »Ulysses« zu erfassen? Ich meine, nicht in der wortwörtlichen Ebene, sondern alle Verweisungen, alle Gedankenverbindungen und kulturmythischen Bezüge, alle Paradigmata und Archetypen, auf denen diese Werke basieren und Ruhm ansetzen. Bestimmt wird niemand das im Alleingang tun! Niemand schafft es ja, die gesamte interpretierende Literatur durchzulesen, die James Joyce' Prosa sich erworben hat! So ist also der Streit um die Rechtmäßigkeit des Anteils der Computer an dem Schöpfungsvorgang total unwesentlich.

Boshafte Kritiker von der Sorte eines Zoilus behaupten, Hannahan habe den größten Logogryphen der Literatur produziert, einen monströsen semantischen Rebus, eine wahrhaft höllische Scharade, ein Bilderrätsel. Das Hineinstopfen einer Million oder einer Milliarde derartiger Verweisungen in ein belletristisches Werk, das Spiel mit solchen ethymologischen, phraseologischen, hermeneutischen Reigentänzen, die Übereinanderschichtung endloser, pervers antinomischer Sinngehalte sei keine literarische Schöpfung, sondern die Erstellung von Wortspielereien für paranoide Hobbyisten, für Sammler und Verrückte, die der bibliographische Suchtrieb hetzt. Mit einem Wort, es sei eine komplette Verirrung, eine Pathologie der Kultur und nicht ihre gesunde Weiterentwicklung.

Entschuldigung - aber wo soll man eigentlich die Grenze ziehen zwischen der Vieldeutigkeit, die Ausdruck genialer Integration ist, und einer Bereicherung des Werkes durch Sinngehalte, die die reine Schizophrenie der Kultur darstellen? Ich verdächtige die Antihannahan-Partei der Literaturkenner der Angst vor der Arbeitslosigkeit. Joyce nämlich hat seine herrlichen Scharaden geliefert, aber keine eigene Auslegung beigefügt; deshalb auch kann jeder Kritiker seinen geistigen Bizeps, seine weitreichende Scharfsichtigkeit oder gar nachschaffende Genialität durch die Auslegungen beweisen, die er dem »Ulysses« oder »Finnegans Wake« mitgibt. Hannahan dagegen hat alles selbst getan. Ohne sich mit der Schaffung des Werks zu begnügen, hat er ihm einen doppelt so umfangreichen interpretatorischen Apparat beigefügt. Da liegt der Hauptunterschied und nicht in solchen Umständen, wie z. B., daß Joyce sich alles »selbst ausgedacht« hat, während Hannahan die Computer sekundierten, die in der Kongreßbibliothek (23 Millionen Bände) aufgestellt sind. So sehe ich also keinen Ausweg aus der Falle, in die uns der Ire mit seiner mörderischen Genauigkeit getrieben hat: Entweder ist »Gigamesh« die Summe der modernen Literatur, oder weder er noch die Geschichte von Finnegan mitsamt der Joyceschen Odyssee haben das Recht, den belletristischen Olymp zu betreten.

Quelle: Stanisław Lem: Die vollkommene Leere. (Übersetzt von Klaus Staemmler), Suhrkamp Taschenbuch 707, 1981, ISBN 3-518-37207-6 Seite 34-47

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Reposted on October 23, 2014





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