2. Januar 2013

Béla Bartóks Streichquartette – vom Emerson und vom Juilliard Quartett

Wir Musiker des Emerson String Quartet haben schon immer ein besonders enges Verhältnis zur Musik Béla Bartóks gehabt. Seit Beginn unserer Karriere gehören Werke des ungarischen Komponisten zu unserem Repertoire, und bereits in unserer dritten Konzertsaison 1979/80 führten wir unseren ersten Bartók-Zyklus auf. Anlässlich der hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages spielten wir in der New Yorker Alice Tully Hall an einem einzigen Abend im März 1981 alle sechs Streichquartette des Komponisten. Ursprünglich war diese Aufführungsform als eine besondere Art der Bartók-Würdigung gedacht, die sich aus der Fülle der in diesem Jahr zu Bartóks Ehren durchgeführten Veranstaltungen abheben sollte. Doch schon sehr bald erwies sie sich als künstlerisches Ereignis von einem Ausmaß, das Überlegungen der Publicity nebensächlich werden ließ. In der (üblicherweise) auf zwei Abende verteilten Form des Vortrags wird, um zwei entsprechend ausgewogene Programme anzubieten, jeweils zwischen Bartóks frühen, mittleren und späten Quartetten »hin- und hergesprungen«.
Demgegenüber wollten wir, wenn wir die sechs Werke an einem einzigen Abend spielten, diese in ihrer chronologischen Folge aufführen. Immerhin umspannen Bartóks Streichquartette einen Zeitraum von etwas mehr als 30 Jahren; jedes Werk hat seine eigene Prägung und repräsentiert eine bestimmte Stufe der musikalischen Entwicklung des Komponisten. In drei Stunden und 40 Minuten - mit zwei Unterbrechungen - konnten wir Bartóks Weg sozusagen noch einmal durchlaufen. Bei den Vorbereitungen für dieses Konzert hatten wir unser Augenmerk vor allem auf zwei recht unterschiedliche Probleme zu richten: Wir mussten alle sechs Quartette gleichzeitig im Kopf und in den Fingern haben, und wir mussten das körperliche Durchhaltevermögen sowie die notwendige Konzentration entwickeln, um alle Werke mit gleicher Intensität und mit gleicher Überzeugungskraft im Laufe eines so langen Abends spielen zu können. Natürlich wollten wir auch möglichst viele Zuhörer gewinnen. Doch noch entscheidender war es für uns zu erreichen, dass alle Hörer bis zum Ende des Konzerts ausharrten. Uns war durchaus klar, dass die Anforderungen, die an die Konzertbesucher gestellt werden, beinahe so groß wie die unseren sein würden. Doch bei dem Gedanken, dass unser Programm ja noch kürzer war als viele Opernaufführungen, ließen wir unsere Befürchtungen fallen.
Die Folgerichtigkeit, mit der sich Bartóks musikalischer Weg für uns an jenem Abend vollzog, ließ auch die letzten Zweifel verfliegen, die wir oder unsere Freunde noch gehabt haben mögen. Das am seltensten aufgeführte Erste Quartett in seinem jugendfrischen Ungestüm und dem romantisch-schwärmerischen Ton bildete sozusagen einen leichteren Einstieg für die schweren Werke, die noch folgten.
Das während des Ersten Weltkriegs komponierte Zweite Quartett ist mit seinen drei Sätzen ein Werk des Übergangs - sowohl zeitgeschichtlich als auch musikalisch-stilistisch. Die inhaltliche Spannbreite reicht von herb-süßer und elegischer Stimmung im ersten Satz, stampfender, vorwärtsdrängender Rhythmik im zweiten bis zu völlig neuen Klangwelten im Finalsatz. Dieser Satz wird beherrscht von scharfen Harmonien, von nüchternen Dialogen unterschiedlicher Instrumentenpaare und ungeheuren Accelerandi mit erstarrten Höhepunkten.
Das erstaunlich kurze, prägnante Dritte Quartett zeigt - ebenso wie die strenge formale Logik des Vierten - Bartók von seiner experimentierfreudigsten und harmonisch dissonantesten Seite. Um 1934, als das Fünfte Quartett entstand, hatte sich Bartóks Harmonik entschieden beruhigt - Fazit einer neuerlichen und verstärkten Beschäftigung mit folkloristischem Material, vor allem mit den modalen Tonleitern des Balkans und Vorderasiens. In den langsamen Sätzen beider Werke finden sich geradezu atemberaubend schöne Beispiele vertrauter Dreiklangsharmonik.
Das Sechste Quartett wurde im Jahre 1939 kurz vor und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs komponiert. Ähnlich wie im Zweiten Quartett spürt man auch hier die Wucht der historischen Ereignisse. Es ist das letzte Werk, das Bartók noch, in seiner Heimat vollendete, bevor er 1940 fliehen musste. Das Sechste Quartett ist von einer durchgehend melancholisch-düsteren Grundstimmung, die nicht einmal durch die Heiterkeit der beiden folgenden Sätze »Marcia« und »Burletta« gemildert wird, denn deren »Heiterkeit« ist nicht von unbeschwerter Art, sondern wirkt höhnisch und grotesk. Im letzten Satz schließlich vertieft sich die Melancholie vollends zur Tragik. Am Ende erklingen noch einmal, vom Cello gezupft, die ersten fünf Töne des »Mesto«-Themas, jenes Themas, das den ersten Satz einleitet, im weiteren Verlauf vielfältig entwickelt wird und als »Kernthema« alle Sätze durchzieht. Die Harmonik und die melodische Aufwärtsbewegung in dieser letzten Phrase erscheinen wie ein Hoffnungsschimmer inmitten aller Düsterkeit. Als wir an jenem Abend im März 1981 diese letzten Noten erreicht hatten, erlebten wir den Schluss des Werkes auf eine völlig neue Weise, ganz anders als in einem »gemischten« Programm. Die Verzweiflung, die Resignation, der nur kurze Augenblick der Hoffnung - dies alles wurde erhellt von den Stunden und der Musik, die jenen Tekten des Abschieds vorausgegangen waren. Diese Quartette hatten uns und unsere Zuhörer zugleich einen Teil von Bartóks eigenem Leben erfahren und nacherleben lassen. Wir waren gemeinsam verzaubert worden von der überirdischen Atmosphäre im letzten Satz des Sechsten Quartetts.
1983 haben wir die Quartette noch zweimal in dieser Form aufgeführt: in Frankfurt und wiederum in New York in einem Konzert für Frieden und Abrüstung. Unser zweiter Auftritt in New York, mit dem wir zugleich unsere Hoffnung und unseren Wunsch für den Fortbestand der Menschheit zum Ausdruck bringen wollten, schien uns besonders dazu geeignet, Bartóks Zyklus zu spielen: Er stellt nicht nur den bedeutendsten Beitrag zur Gattung des Streichquartetts seit Beethoven dar, sondern ist auch ein musikalisches Dokument, das stark geprägt ist von den historischen Ereignissen seiner Zeit.
© 1988 Eugene Drucker (Übersetzung: Siegmer Keil): Das Emerson String Quartet spielt Bartok, im Booklet
CD 2 Track 12 - String Quartet no. 6 - IV. Mesto
Emerson String Quartet (1988)


TRACKLIST


Béla Bartók (1881-1945) 

The 6 String Quartets - Die 6 Streichquartette - Les 6 Quatuors à cordes 


EMERSON STRING QUARTET 
Eugene Drucker  violin I (nos. 1, 4, 5), violin II (nos. 2, 3, 6), 
                Antonio Stradivari, Cremona 1686 
Philip Setzer   violin I (nos. 2, 3, 6), violin II (nos. 1, 4, 5),
                Sanctus Seraphin, Venezia 1734 
Lawrence Dutton viola/alto 
                Pietro Giovanni Mantegazza, Milano 1796 
David Finckel   cello 
                Jean-Baptiste Vuillaume, Paris 1825 

CD 1                                              [72'47]   
  
String Quartet no. 1 op. 7, Sz 40 [1908-09]       [28'55]   
[01] 1. Lento - attacca:                           [9'16]   
[02] 2. Poco a poco accelerando all'Allegretto -   [8'11]   
        Introduzione. Allegro - attacca:     
[03] 3. Allegro vivace                            [11'28]   

String Quartet no. 3, Sz 85 [1927]                [13'54]   
[04] 1. Prima parte. Moderato - attacca:           [4'20]   
[05] 2. Seconda parte. Allegro - attacca:          [5'09]   
        Ricapitulazione della prima parte. Moderato     
[06] 3. Coda. Allegro molto                        [4'25]  

String Quartet no. 5, Sz 102 [1934]               [29'37]   
[07] 1. Allegro                                    [7'20]   
[08] 2. Adagio molto                               [5'52]   
[09] 3. Scherzo. Alla bulgarese                    [4'56]   
[10] 4. Andante                                    [4'47]   
[11] 5. Finale. Allegro vivace                     [6'42]     

CD 2                                              [76'23]   

String Quartet no. 2 op. 17, Sz 67 [1915-17]      [26'48]   
[01] 1. Moderato                                  [10'11]   
[02] 2. Allegro molto capriccioso                  [7'19]   
[03] 3. Lento                                      [9'18]   

String Quartet no. 4, Sz 91 [1928]                [21'23]   
[04] 1. Allegro                                    [5'38]   
[05] 2. Prestissimo, con sordino                   [2'47]   
[06] 3. Non troppo lento                           [5'12]   
[07] 4. Allegretto pizzicato                       [2'41]   
[08] 5. Allegro molto                              [5'05]   

String Quartet no. 6, Sz 114 [1939]               [27'51]   
[09] 1. Mesto - Più mosso, pesante - Vivace        [7'06]   
[10] 2. Mesto - Marcia                             [7'27]   
[11] 3. Mesto - Burletta                           [6'57]   
[12] 4. Mesto                                      [6'21]   


These recordings are dedicated to Katia Elena Setzer. who was
born sametime between the sessions for the Second and Third Quartets. 

Recording: New York, American Academy and Institute of Arts and Letters, 1/1988 (nos. 2,3,6), 2/1988 (no. 4) & 3/1988 (nos. 1,5) 
Executive Producer: Dr. Steven Paul 
Recording Producer: Wolf Erichson 
Tonmeister (Balance Engineer): Peter Laenger 
Recording Engineers: Volker Martin/Jobst Eberhardt/Manfred Bartel 
Mastered by Emil Berliner Studios 
DDD
(P) 1988
CD 1 Track 8 - String Quartet no. 5, - II. Adagio molto
Emerson String Quartet (1988)


Das Juilliard String Quartet in der Originalbesetzung von 1952:
Robert Mann und Robert Koff (Violine), Raphael Hillyer (Viola),
Arthur Winograd (Cello)

TRACKLIST


Béla Bartók (1881-1945)                                     67'35
       
Quatuor no 3 (Sz. 85)     
[01] Prima parte: moderato                                   4'34   
[02] Seconda parte: allegro                                  5'29   
[03] Ricapitulazione della prima parte: moderato - attacca   3'07   
[04] Coda: allegro molto                                     1'30   

Quatuor no 4 (Sz. 91)     
[05] I.   Allegro                                            6'08   
[06] II.  Prestissimo, con sordino                           2'42   
[07] III. Non troppo lento                                   5'37   
[08] IV.  Allegretto pizzicato                               2'48   
[09] V.   Allegro molto                                      5'36   

Quatuor no 5 (Sz. 102)     
[10] I.   Allegro                                            7'19   
[11] II.  Adagio molto                                       6'01   
[12] III. Scherzo: alla bulgarese                            4'35   
[13] IV.  Andante                                            4'59   
[14] V.   Finale: allegro vivace                             6'54   


JUILLIARD STRING QUARTET     
Robert Mann, violin 
Robert Koff, violin     
Raphael Hillyer, viola
Arthur Winograd, cello     

Enregistré en 1949     

(P) 2002 

CD Bonus Track 11 - String Quartet no. 5 - II. Adagio molto
Juilliard String Quartet (1949)


Courbet und der Jura

Gustave Courbet: Ein Begräbnis in Ornans, 1849-50, Öl auf Leinwand, 314 x 663 cm, Musée d’Orsay, Paris
Das Werk eines Künstlers läßt sich nie auf die unabhängige Wahrheit reduzieren; wie das Leben des Künstlers - oder Ihres und meines - begründet das Lebenswerk eine eigene Wahrheit, die, je nachdem, gültig oder wertlos sein kann. Erklärungen, Analysen, Interpretationen sind nur Raster oder Linsen, die dem Betrachter zu einer genaueren Sicht verhelfen sollen. Die Berechtigung der Kritik liegt allein darin, daß wir mit ihrer Hilfe klarer sehen können.

 Vor einigen Jahren schrieb ich, man müsse bei Courbet zwei Dinge erklären, die immer noch unverständlich seien. Einmal die wahre Beschaffenheit der Materialität, der Dichte, der Gewichtigkeit seiner Bilder; zum anderen die eigentlichen Gründe dafür, daß sein Werk die bourgeoise Kunstwelt so entsetzt hat. Die zweite Frage ist inzwischen in hervorragender Weise beantwortet worden, und zwar nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, durch einen französischen Gelehrten, sondern durch einen Briten und eine Amerikanerin: durch Timothy Clark in seinen zwei Büchern Image of the People (»Abbild des Volkes«) und The Absolute Bourgeois (»Der absolute Bourgeois«), und durch Linda Nochlin in ihrem Buch über Realismus.
Die erste Frage aber bleibt unbeantwortet. Theorie und Programm des Courbetschen Realismus sind soziologisch und historisch erklärt worden, doch wie praktizierte er ihn mit Augen und Händen? Wo liegt die Bedeutung der einmaligen Art und Weise, in der er Erscheinungen darstellte? Als er sagte: »Kunst ist der vollständigste Ausdruck einer Existenz« - was verstand er da unter Ausdruck?
Gustave Courbet: Die Steinklopfer, 1849, Öl auf Leinwand, 1849,
 Gemäldegalerie Dresden, 1945 verbrannt
Die Gegend, in der ein Maler seine Kindheit und Jugend verbringt, spielt oft eine wichtige Rolle bei der Herausbildung seiner Sehweise. Die Themse trug zur Entwicklung von Turner bei. Die Klippen um Le Havre hatten einen wichtigen Einfluß auf Monet. Courbet wuchs im Loue-Tal, an der Westseite der Berge des Jura auf, in einer Gegend, die er während seines ganzen Lebens malte und in die er immer wieder zurückkam. Eine Untersuchung des Charakters der Landschaft um Ornans, in der Courbet geboren wurde, gibt uns, glaube ich, eine Möglichkeit, sein Werk genauer zu begreifen.

 Die Gegend weist eine außerordentlich hohe Niederschlagsmenge auf: etwa 130 cm im Jahr, während sie im übrigen französischen Flachland zwischen 79 cm im Westen und 41 cm im Zentrum liegt. Der größte Teil des Regens sickert durch das Kalkgestein und bildet unterirdische Kanäle. Die Loue strömt an ihrer Quelle bereits als ziemlich mächtiger Fluß aus den Felsen hervor. Es ist eine typische Karstlandschaft, charakterisiert durch offenliegendes Kalkgestein, tiefe Täler, Höhlen und Falten. Auf den waagerechten Kalkstein-Flözen hat sich häufig Mergel abgelagert, so daß auf den Felsen Gras und Bäume wachsen. Man sieht diese Formation - eine sehr grüne Landschaft, nah am Himmel durch einen horizontalen grauen Felsriegel geteilt - in vielen Bildern Courbets, unter anderem auch im Begräbnis in Ornans. Doch ich glaube, daß diese Landschaft und Geologie Courbet mehr als nur in szenischer Hinsicht beeinflußt hat.
So eine Landschaft kann die Sehgewohnheiten eines ganzen Lebens prägen. Man stelle sich einmal vor, wie man dort normalerweise etwas zu sehen bekommt. Die die Landschaft durchziehenden Falten lassen sie im allgemeinen hoch erscheinen: der Himmel ist weit weg. Der bestimmende Farbton ist grün: dagegen zeichnen sich vor allem die Felsen ab. Der Hintergrund dessen, was man im Tal sieht, ist dunkel - so, als ob die Dunkelheit der Höhlen und der unterirdischen Gewässer das Sichtbare durchdrungen hätte.
Gustave Courbet: Pierre-Joseph Proudhon und seine Kinder, 1865,
 Öl auf Leinwand, 147 x 198 cm, Musée du Petit Palais, Paris
Alles, was aus dieser Dunkelheit ans Licht tritt (eine Felskante, fließendes Wasser, ein Baumstamm), hebt sich mit lebendiger Deutlichkeit, aber eben nur partiell (weil viel im Schatten bleibt) davon ab. Das Sichtbare ist dort diskontinuierlich. Oder, anders ausgedrückt, auf das Sichtbare ist nicht immer Verlaß, man muß sich mit dem, was man überhaupt zu sehen bekommt, auseinandersetzen. Man entwickelt das Auge eines Jägers - nicht nur des zahlreichen Wildes wegen, sondern wegen der dichten Wälder, der Steilhänge, der Wasserfälle, der sich windenden Flußläufe, die alle die Erscheinung der Dinge beeinflussen.

Viele dieser Eigentümlichkeiten sind in Courbets Kunst übergegangen, auch wenn das Sujet nicht mehr seine heimatliche Landschaft ist. Außergewöhnlich viele seiner figürlichen Malereien außerhalb des Ateliers haben wenig oder keinen Himmel. (Die Steinklopfer, Proudhon und seine Familie, Mädchen auf dem Seineufer, Die Hängematte, die meisten Ausführungen der Badenden). Das Licht ist das Seitenlicht des Waldes, das dem mit der Perspektive spielenden Licht unter Wasser nicht unähnlich ist. Die Riesendarstellung des Atelier ist deswegen so verwirrend, weil das Licht der gemalten Waldlandschaft auf der Staffelei das Licht ist, das den ganzen, von Menschen erfüllten Pariser Raum durchdringt. Eine Ausnahme macht das Bild Bonjour Monsieur Courbet, das ihn und seinen Auftraggeber vor dem Hintergrund des Himmels zeigt. Hier hat Courbet jedoch ganz bewußt die weitläufige Ebene von Montpellier als Schauplatz gewählt.
Ich vermute, daß Wasser, in der einen oder anderen Form, in etwa zwei Dritteln von Courbets Gemälden vorkommt - oft im Vordergrund. (Das ländlich-bürgerliche Haus, in dem er geboren wurde, ragt über den Fluß hinaus. Fließendes Wasser muß einer seiner frühesten akustischen und optischen Eindrücke gewesen sein.) Kommt in seinen Bildern kein Wasser vor, lassen einen die Formen im Vordergrund sehr oft an die Strömungen und Wirbel von fließendem Wasser denken (z.B. bei der Frau mit dem Papagei und der Schlafenden Spinnerin). Die gelackte Frische der Objekte, die in seinen Gemälden das Licht auf sich ziehen, erinnert einen oft an die Leuchtkraft von Kieseln oder Fischen unter Wasser. Die Farbgebung seiner Darstellung eines Forellenteiches entspricht der Farbgebung seiner anderen Bilder. Es gibt ganze Landschaften von Courbet, die von einem Tümpel reflektiert sein könnten; die Farbe schimmert feucht auf der Oberfläche und trotzt allen Gesetzen atmosphärischer Perspektive (zum Beispiel in den Felsen bei Mouthier).
Gustave Courbet: Die jungen Mädchen auf dem Seineufer (Sommer),
 1856-57, Öl auf Leinwand, 174 x 200 cm, Musée du Petit Palais, Paris
Normalerweise malte er schon auf dunklem Grund und malte dann noch dunkler. Die Tiefe seiner Gemälde hängt stets mit ihrer Dunkelheit zusammen - selbst wenn es, weit oben, einen intensiv blauen Himmel gibt; darin gleichen seine Gemälde Brunnenschächten. Wo immer Formen aus der Dunkelheit ans Licht treten, definiert er sie, indem er helle Farbe appliziert, gewöhnlich mit einem Palettenmesser. Allein durch die Handhabung des Messers - sieht man einmal von seinen Fähigkeiten als Maler ab - wurde in einmaliger Weise der Lichtstrahl wiedergegeben, der die strukturierte Oberfläche von Blättern, Felsen und Gras trifft; ein Lichtstrahl, der Leben verleiht und Überzeugungskraft, aber nicht unbedingt Strukturen wiedergibt.
Übereinstimmungen dieser Art lassen eine enge Beziehung zwischen Courbets Praxis als Maler und der Landschaft, in der er aufwuchs, ahnen. Aber damit hat man die Frage, welche Bedeutung er den Erscheinungen gab, noch nicht beantwortet. Wir müssen die Landschaft weiter befragen. Felsen sind die hervorstechendste Konfiguration dieser Landschaft. Sie verleihen Identität, bieten dem Blick Anhaltspunkte. Die zutage tretenden Felsen erzeugen die Präsenz der Landschaft. Gesteht man dem Begriff seine volle Tragweite zu, kann man von Steingesichtern sprechen. Die Felsen stellen den Charakter, die Seele der Gegend dar. Proudhon, der aus der gleichen Gegend stammte, schrieb: »Ich bin reines Jurakalkgestein.« Courbet, prahlerisch wie immer, behauptete, daß er in seinen Bildern »sogar die Steine zum Denken bringe«.
Ein Steingesicht ist immer da. (Man braucht nur an die Zehn-Uhr Straße genannte Landschaft im Louvre zu denken.) Es dominiert und will gesehen werden, doch erscheint es immer wieder anders, je nach Licht und Wetter. Das Bild bietet dem Betrachter unaufhörlich verschiedene Facetten seiner selbst an. Verglichen mit einem Baum, einem Tier, einer Person, ist seine Erscheinungsform in nur sehr geringem Maße vorgegeben. Ein Felsen kann beinahe jedes Aussehen annehmen. Er ist unbestritten, was er ist, und dennoch ist er durch seine Substanz nicht von vorneherein auf eine bestimmte Form festgelegt. Er existiert nachdrücklich, und dennoch ist seine Erscheinungsform (nur von einigen wenigen, sehr allgemeinen geologischen Gegebenheiten eingeschränkt) beliebig. Der Felsen ist nur jetzt gerade so, wie er ist. Seine jeweilige Erscheinung entscheidet über seine Bedeutung.
Gustave Courbet: Die Hängematte, 1844, Öl auf Leinwand,
70,5 x 97 cm, Museum Oskar Reinhart am Stadtgarten, Winterthur
Umgeben von solchen Felsen aufzuwachsen heißt, in einer Gegend aufzuwachsen, in der das Sichtbare sowohl frei von Gesetzen wie unübersehbar real ist. Es gibt zwar visuelle Fakten, aber nur ein Minimum an visueller Ordnung. Courbet besaß, seinem Freund Francis Wey zufolge, die Fähigkeit, ein Objekt überzeugend zu malen - zum Beispiel einen weit entfernten Stapel gespaltenes Holz - ohne daß er wußte, was es war. Das ist ungewöhnlich bei Malern, und es ist, glaube ich, sehr bezeichnend.
Im frühen, romantischen Selbstportrait mit einem Hund zeigt er sich vor einem großen Felsblock, umrahmt von der Dunkelheit seines Umhangs und seines Huts. Er hat darin sein eigenes Gesicht und seine eigenen Hände mit exakt der gleichen Einstellung gemalt wie den Stein dahinter. Sie stellten für ihn vergleichbare visuelle Phänomene dar, verfügten über dieselbe visuelle Realität. Wenn Sichtbarkeit gesetzlos ist, gibt es keine Hierarchie der Erscheinungsformen. Courbet malte alles - Schnee, Fleisch, Haar, Fell, Kleider, Borke - so wie er es gemalt hätte, wenn es ein »Steingesicht« gewesen wäre. Er hat nie etwas gemalt, das Innerlichkeit besitzt, - die hat, erstaunlicherweise, nicht einmal seine Kopie eines Selbstportraits von Rembrandt - aber alles ist voller Verwunderung abgebildet: voller Verwunderung, weil Sehen, wo keine Gesetze vorhanden sind, bedeutet, ständig überrascht zu werden.
Gustave Courbet: Die schlafende Spinnerin, 1853, Öl auf Leinwand,
 91 x 115 cm, Musée Fabre, Montpellier
Vielleicht erweckt dies den Eindruck, ich würde Courbet als »zeitlos« betrachten, als eine ebenso unhistorische Erscheinung wie die Berge des Jura, die ihn so sehr beeinflußt haben. Das ist nicht meine Absicht. Der große Einfluß der Juralandschaft auf seine Malerei steht selbstverständlich im Zusammenhang mit der historischen Situation, in der er sich als Maler befand, und im Zusammenhang mit seinem spezifischen Temperament. Selbst in Erdzeiträumen hat der Jura nur einen Courbet »hervorgebracht«. Die »geographische Interpretation« gibt nur den Hintergrund, das Material und die visuelle Substanz für die gesellschaftlich-historische Interpretation ab.
Es fällt schwer, Timothy Clarks überzeugende und differenzierte Untersuchung über Courbet in ein paar Sätzen zusammenzufassen. Er gibt uns die Möglichkeit, die ganze Komplexität des politischen Zeitraums zu sehen. Er weist den Legenden, die den Maler umgeben, ihren Platz zu: der Legende des ländlichen Possenreißers mit dem hochbegabten Farbpinsel; der Legende des gefahrlichen Revolutionärs; der Legende des groben, betrunkenen, schenkelschlagenden Provokateurs. (Das wahrste und vielleicht sympathischste Portrait von Courbet ist das von Jules Valles in seinem Cri du Peuple.)
Dann zeigt Clark, wie Courbet in den großen Werken der frühen 1850er Jahre mit seinem maßlosen Ehrgeiz, seinem echten Haß auf die Bourgeoisie, mit seiner ländlichen Erfahrung, seiner Liebe zur Theatralik und einer außerordentlichen Intuition sich tatsächlich auf nichts geringeres einließ als auf eine doppelte Transformation der Malerei. Doppelt, weil sie eine Transformation von Bildgegenstand und Publikum umfaßte. Einige Jahre lang konnte er seine Inspirationen aus der Hoffnung auf die Popularisierung dieser Ideale schöpfen.
Gustave Courbet: Felsen bei Mouthier, 1863, Öl auf Leinwand,
 Philips Collection, Washington
Die Transformation bedeutete »die Eroberung« der damaligen Malerei und den Austausch des Publikums. Man kann Courbet, glaube ich, als den letzten »Meister« betrachten. Seine stupende Beherrschung der Farbbehandlung lernte er von den Venezianern, von Rembrandt, von Velázquez, von Zurbaran und anderen. Als Praktiker blieb er Traditionalist. Und doch erwarb er die Fähigkeiten, über die er verfügte, ohne die traditionellen Werte mit zu übernehmen, um derentwillen diese Fähigkeiten ursprünglich entwickelt worden waren. Man könnte sagen, daß er seinen Professionalismus gestohlen hat.
Ein Beispiel: die Praxis der Akt-Malerei war eng verbunden mit Werten des Takts, des Luxus und des Wohlstands. Der Akt war ein erotisches Ornament. Courbet stahl die Praxis der Aktmalerei und benutzte sie, um die »vulgäre« Nacktheit einer Landfrau darzustellen, deren Kleider in einem unordentlichen Haufen am Flußufer liegen. (Später, als die Desillusionierung einsetzte, schuf auch er erotische Ornamente wie Die Frau mit einem Papagei.)
Ein Beispiel: die Praxis des spanischen Realismus des 17.]ahrhunderts war eng verbunden mit dem religiösen Prinzip, daß Einfachheit und Strenge moralischen Wert besitzen und Klarheit Würde verleiht. Courbet stahl die Praxis und benutzte sie in den Steinklopfern, um die verzweifelte, unerbittliche ländliche Armut zu zeigen.
Gustave Courbet: Die Loue-Quelle, 1864, Öl auf Leinwand,
 98 x 130 cm, National Gallery of Art, Washington
Ein Beispiel: die im Holland des 17. Jahrhunderts gebräuchliche Praxis der Gruppenportraits diente dazu, einen bestimmten Esprit de corps zu feiern. Courbet stahl die Praxis für das Begräbnis in Ornans, um die Einsamkeit der Menge vor dem Grab aufzuzeigen.
Der Jäger aus dem Jura, der ländliche Demokrat und der Malerbandit haben sich für wenige Jahre, zwischen 1848 und 1856, im selben Maler zusammengefunden, um einige schockierende und einmalige Bilder zu schaffen. Alle drei betrachteten Erscheinungen als direkte, relativ konventionslos vermittelte Erfahrungen, die genau aus diesem Grund verblüffend und unberechenbar waren. Alle drei sahen die Welt gleichzeitig nüchtern (was Courbets Gegner als vulgär bezeichneten), und unschuldig (was Courbets Gegner dumm fanden). Nach 1856, während der Ausschweifungen des Zweiten Kaiserreichs, hat nur noch der Jäger manchmal Landschaften geschaffen, die anders waren als die irgend eines anderen Malers; Landschaften, auf denen Schnee liegen bleiben konnte.
Im Begräbnis, das zwischen 1849 und 1850 entstand, können wir etwas von der Seele Courbets erkennen, dieser einen Seele, die in verschiedenen Momenten Jäger, Demokrat, und Malerbandit war. Trotz seines Lebenshungers, seiner Aufschneiderei und seines sprichwörtlichen Lachens war Courbets Lebensauffassung düster, wenn nicht tragisch.
Gustave Courbet: Die Quelle & Badende an einer Quelle,
 1868, Öl auf Leinwand, 128 x 97 cm, Musée d‘Orsay
Quer über die Mitte der Leinwand, über ihre ganze Breite (beinahe sechseinhalb Meter), verläuft eine Zone der Dunkelheit, der Schwärze. Wörtlich läßt sich dieses Schwarz mit den Kleidern der Trauermenge erklären. Aber das Schwarz ist zu durchdringend und zu tief - selbst wenn man in Betracht zieht, daß das Gemälde in all den Jahren nachgedunkelt ist -, als daß sein Sinn sich darin erschöpfen könnte. Es ist die Dunkelheit der Tallandschaft, der anbrechenden Nacht und der Erde, in die der Sarg gelegt werden wird. Doch ich glaube, daß diese Dunkelheit auch eine gesellschaftliche und persönliche Bedeutung hat.

 Aus dieser Dunkelheit tauchen die Gesichter von Courbets Familienangehörigen, Freunden und Bekannten aus Ornans auf, die ohne Idealisierung und ohne Häme gemalt sind, ohne daß auf eine vorgegebene Norm zurückgegriffen wird. Das Gemälde wurde als zynisch, frevlerisch und roh bezeichnet. Man behandelte es wie eine Verschwörung. Doch um was ging es in dieser Verschwörung? Um einen Kult der Häßlichkeit? Um gesellschaftliche Unterwanderung? Um einen Angriff auf die Kirche? Die Kritiker suchten das Gemälde vergeblich nach irgendwelchen Anhaltspunkten ab. Niemand hat entdeckt, worauf das Subversive zurückzuführen war.
Courbet hatte eine Gruppe von Männern und Frauen gemalt, so wie sie bei einem Dorfbegräbnis erscheinen könnten, und er hatte sich geweigert, diesen Anblick zu organisieren (das heißt, ihn zu harmonisieren) und ihm so irgendeine falsche - oder auch wahre - höhere Bedeutung zu verleihen. Er hatte sich geweigert, der Kunst eine Funktion als Vermittlerin der Erscheinungen, die das Sichtbare adelt, zuzugestehen. Statt dessen hatte er, in Lebensgröße, auf einundzwanzig Quadratmetern Leinwand, eine Versammlung von Gestalten am Grabesrand gemalt, die nichts ausdrückte als: so sehen wir aus. Und genau in dem Maße, wie das Kunstpublikum in Paris diese Mitteilung vom Land aufnahm, leugnete es ihren Wahrheitsgehalt, indem es sie als bösartige Übertreibung bezeichnete.
Gustave Courbet: Selbstporträt mit schwarzem Hund, 1842,
 Öl auf Leinwand, 46 x 56 cm, Musée du Petit Palais, Paris
In seiner Seele kann Courbet das gewußt haben; vielleicht gaben ihm seine grandiosen Hoffnungen den Mut zum Weitermachen. Die Insistenz, mit der er - im Begräbnis, in den Steinklopfern, in den Bauern von Flagey - malte, was immer ins Licht trat, während er andererseits darauf insistierte, daß jedes Teil genau gleich wertvoll war, läßt mich vermuten, daß der dunkle Hintergrund gleichzusetzen ist mit tiefverwurzelter Ignoranz. Als er sagte, daß Kunst »der vollständigste Ausdruck eines existierenden Dings« sei, stellte er die Kunst jedem hierarchischen System oder jeder Kultur entgegen, die ihre Funktion darin sehen, einen bedeutenden Teil dessen, was existiert, in seinen Ausdrucksmöglichkeiten zu behindern, oder gar nicht erst zum Ausdruck kommen zu lassen. Er war der einzige große Maler, der die gewollte Unwissenheit der Kultivierten in Frage stellte.
Quelle: John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin, 1989, ISBN 3 8031 1114 5, Seite 78-86  [Kritik zum Buch]

Dem Infopaket liegt ein Text von Klaus Herding zu Courbets Realismus und seine Lichtmalerei bei. [Quelle]

Weitere Artikel über Courbet:
Archiv Bilder der Arbeit (Arbeit in der bildenden Kunst)

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Reposted on March, 7th, 2016

1 Kommentar:

  1. thanks a lot!
    the addendum (the middle Bartók quartets including my favourite 4th rendered by the original JSQ members) is really royal gift.
    till now it was available in heavily worn and expensive vinyl discs of which i own none.
    the later renditions (mid-60-ies and early 80-ies) are present in my collection, but Arthur Winograd's playing is really fantastic.
    i do cherish his Verklärte Nacht and Pierrot lunaire where he is conducting the MGM Symphony Orchestra and an ensemble. great renditions of wonderful musician conducting the masterpieces of the 20th century music. but any of his quartet recordings is really gem of even greater vale.
    thanks and thanks again for this remarkable share.

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