12. August 2013

William Shakespeare: Leitstern, der verirrte Schiffe lenkt

Der berühmteste Dichter der abendländischen Kultur hat nicht nur zahlreiche Dramen verfasst, sondern auch 154 Sonette, von denen dieses Hörstück die schönsten versammelt – vorgetragen im poetischen Dialog zwischen den Schauspielern Leslie Malton und Rudolf Kowalski.

Track 3: Sonett XVIII: Vergleich ich dich mit einem Sommertag?


TRACKLIST

William Shakespeare

Leitstern, der verirrte Schiffe lenkt

Die schönsten Liebessonette

01. XVIII    Shall I compare thee to a summers day?              [00:54]
02.          Ansage                                              [00:19]
03. XVIII    Vergleich ich dich mit einem Sommertag?             [00:48]
04. XX       Ein weibliches Gesicht gab die Natur                [00:48]
05. XLVI     Mein Herz und Auge sind im bittren Krieg            [00:44]
06. XLVII    So haben Herz und Aug sich arrangiert               [00:44]
07. XCI      Der rühmt sein Können, jener seinen Stand           [00:47]
08. XXXIX    Ach, wie kann ich mit Anstand dich besiegen?        [00:55]
09. XXVII    Der Mühen müd, werf ich aufs Bett mich nieder       [00:43]
10. XCII     Ja, stiehl dich nur davon gleich einem Diebe        [00:49]
11. CXVI     Nie darf ein Hemmnis reiner Seelen Bund             [00:45]
12. XXIX     Wenn mich Fortuna schmäht, kein Mensch mich mag     [00:44]
13. XLVIII   Wie hab ich vor der Reise mich gequält              [00:44]
14. XLIII    Ich seh viel mehr, mach ich die Augen zu            [00:50]
15. LXI      Ist es dein Wunsch, daß mir dein Bild die Lider     [00:51]
16. XLIV     Wär ich nicht träges Fleisch, wär ich nur Geist     [00:44]
17. LI       Die Liebe mag verzeihn den müden Trott              [00:43]
18. LVII     Bin ich dein Sklave, was wär meine Pflicht          [00:46]
19. XCVII    Wie Winter kam mir unsre Trennung vor!              [00:45]
20. CV       Sagt nicht, mein Lieben wär Vergötterung            [00:49]
21. CIX      Sag nicht, mein Herz sei dir nicht treu gewesen     [00:46]
22. CII      Dem Schein zum Trotz ist meine Lieb erstarkt        [00:47]
23. CX       Ja, ich zog rum, hab mich zum Narrn gemacht         [00:49]
24. XL       Nimm, was ich liebe, Liebster, nimm's nur zu        [00:53]
25. XCIII    Glaub ich, wie'n Hahnrei, du wärst treu, halt glatt [00:46]
26. XXXIV    Jetzt bin ich ohne Mantel losgezogen                [00:44]
27. XXXVI    Gewiß, wir beide sind geteilt in zwei               [00:48]
28. CXV      Lüge ist jedes Wort von meiner Hand                 [00:54]
29. CXVII    Ja, wirf mir vor, daß ich mich lumpen ließ          [00:52]
30. CVIII    Was bringt mein Hirn in Tinte zu Papier             [00:48]
31. CXXXI    O, du tyrannisierst mich, ja du bist                [00:45]
32. XLI      Die Wilderei, die Freiheit wagen kann               [00:47]
33. CXLIII   Schau doch die brave Hausfrau, wie sie rast         [00:45]
34. XLII     Daß du sie hast, ist nicht mein Gram allein         [00:56]
35. CXXXIV   Ich geb's ja zu, dein ist er, sicherlich            [00:48]
36. CXXXIII  Verflucht das Herz, das grob das Herz mir bricht    [00:57]
37. CXLII    Mein Frevel: Liebe, deine Tugend: Haß               [00:44]
38. CXLIV    Zwei Lieben hab ich - Trost und Höllenpein          [00:50]
39. CXXXVIII Sie sei die Treue selbst, hat sie geschworen        [00:45]
40. CLII     Ja, ich schwor falsch aus Liebe, doch zwei Eide     [00:47]
41. CXXX     Der Sonne gleicht nicht meiner Herrin schaun        [00:44]
42. CXXVIII  Wenn du, Musik, mich mit Musik belebst              [00:49]
43. CXXXV    Manche hat Wünsche, du hast deinen Will             [00:49]
44. CXLV     Das Liebe schuf, das Lippenpaar                     [00:42]
45. CXXXIX   Sag nicht, ich soll das Unrecht deines Grolls       [00:49]
46. CXLVIII  O weh, was gab die Liebe mir für Augen?             [00:55]
47. CXLI     Nicht mit den Augen lieb ich dich. Die sehn         [00:50]
48. CL       O, welche Macht gab dir die mächtige Kraft          [00:49]
49. CLI      Liebe ist jung und weiß nichts von Gewissen         [00:47]
50. LXXXI    Leb ich, um einst dir was aufs Grab zu schreiben    [00:47]
51. LXXII    Falls dich die Welt nicht drängt, zu offenbaren     [00:50]
52. LXXI     Nicht länger klage um mich, sterbe ich mal          [00:46]
53. LXXI     No longer mourn for me when I am dead               [00:59]

                                                    Gesamtlänge: [42:26]
Übersetzung von Christa Schuenke
Sprecher: Leslie Malton, Rudolf Kowalski
Auswahl, Einrichtung und Regie: Rüdiger Burbach
Mischung und Schnitt: Björn Hampe
DDD
(C)+(P) 2005 
ISBN 3-455-30417-6

Track 52: Sonett LXXI: Nicht länger klage um mich, sterb ich mal


Holbein in England
Ein Höhepunkt der Portraitmalerei


Hans Holbein d. J., Dame mit Eichhörnchen und Star,
1526-28, Öl auf Holz, 56 x 38,8 cm,
 The National Gallery, London.
Im August 1526 schrieb der große Humanist Erasmus von Rotterdam seinem Freund Thomas Morus in England einen Brief, der heute berühmt ist. Darin empfahl er ihm den Künstler Hans Holbein den Jüngeren, der damals in Basel arbeitete: "Die schönen Künste erfrieren hier. Er wird nach England kommen, um sich ein paar Engel [englische Münzen] dazuzuverdienen".

Keineswegs hätte man vorhersehen können, daß Holbein einen so großen Teil seiner Zeit in England dem Portrait widmen würde, weder bei seinem Besuch von 1526 bis 28, noch während seines längeren Aufenthaltes von 1532 bis 43. Bis dahin hatte nämlich das Portrait in seinem Schaffen nur eine geringe Rolle gespielt. In Basel hatte er sich in großformatigen illusionistischen Wandgemälden sowie kleinen Holzschnittentwürfen für Drucker und Gemälden mit religiösen Themen ausgezeichnet, aber auch sein Auge darin geschult, Gesichter in Portraits festzuhalten. Im England von 1527 war die Reformation noch einige Jahre entfernt; somit hätte Holbein zweifellos noch als Maler von Altarbildnissen eine bedeutende Karriere machen können. Doch war sein Ruf so stark in der Darstellung englischer Frauen und Männer begründet, daß er sich bei seinem ersten Besuch bereits über den Kreis von Sir Thomas More hinweg zu einigen der einflußreichsten Persönlichkeiten bei Hof ausgedehnt hatte.

Das erste Mal blieb Holbein nur für zwei Jahre in London, 1528 kehrte er nach Basel zurück. Als er jedoch im Jahre 1532 zum zweiten Mal nach England kam, ließ er sich nieder und wurde von Heinrich VIII. zum "Maler des Königs" ernannt. 1543 starb er in London. Während dieser Zeit malte Holbein hauptsächlich Bildnisse und schuf dabei einige der bedeutendsten Portraits des 16. Jahrhunderts, darunter Männer und Frauen in unterschiedlichen Größen von Miniaturen, ähnlich Juwelen, die sowohl als Anhänger getragen oder in Händen gehalten werden konnten, bis zu lebensgroßen Vollportraits, wie beispielsweise die Darstellung Heinrichs VIII. an der Wand von Whitehall Palace, die im Jahre 1698 zerstört wurde, oder zweier französischer Besucher bei Hof, welche heute unter dem Namen "Die Botschafter" (The Ambassadors) in der National Gallery in London erhalten ist.

Hans Holbein d. J., Porträt eines Hofbeamten und seiner
Gattin, 1534, Öl auf Holz, Dm. 11,8 cm,
Kunsthistorisches Museum Wien
Wahrscheinlich waren solche Portraits für die Engländer überhaupt eine Neuheit. Bis in die frühen Regierungsjahre Heinrichs VIII. scheinen vornehme Engländer noch ins Ausland gereist zu sein, um sich portraitieren zu lassen, häufig in die Niederlande, wo es viele begabte Künstler gab. Erst mit Holbeins Ankunft in England 1526 scheinen derartige Mühen überflüssig geworden zu sein: in den nächsten Jahrzehnten portraitierte er viele Höflinge und Mächtige des Landes. Zudem stellen seine Bildnisse lebendige und außerordentlich ausdrucksvolle Charakterbeschreibungen dar: ohne demonstrative Gesten oder einen Ausdruck von Gefühlsregung zeigen seine Modelle eine Reserviertheit, die für Angelsachsen typisch erscheinen mag, und trotzdem gelingt es Holbein immer wieder, sowohl die Charaktere der Rücksichtslosesten und Anmaßendsten am Hofe Heinrichs VIII. zu offenbaren als auch jener, die scheu und sympathisch wirken.

Der Hof war der Schlüssel zu Holbeins Erfolg. Ein Überblick über seine Gemälde und die Vorbereitungsstudien für verlorene Werke läßt uns seine Wirkung auf die Portraitkunst erst richtig schätzen. Einige Gemälde und die meisten Zeichnungen erwähnen die Namen der Modelle, womit uns ermöglicht wird, den Rang von Holbeins Auftraggebern zu beurteilen. Zum Großteil zeigen seine Portraits tatsächlich Adelige, die in angemessener Nähe Londons lebten und vermögend genug waren, bei Hof zu erscheinen. Viele von ihnen hatten Positionen inne, die es erforderten, daß sie regelmäßig dem König persönlich ihre Aufwartung machten oder ihre Frauen den Umgang mit einer von Heinrichs Königinnen pflegten. Holbein wurde somit vom Hofstaat gefördert, von niederen Beamten, die mit einer roten Hoflivree mit dem bestickten goldenen "HR" bekleidet waren, bis zu den einflußreichsten Staatsmännern wie Sir Thomas More, dem Lordkanzler, der sich der Scheidung König Heinrichs VIII. von Katharina von Aragon widersetzte, oder Thomas Cromwell, dem Sekretär des Königs, der bald darauf beauftragt wurde, die anglikanische Kirche zu gründen. Beide wurden geköpft.

Hans Holbein d. J., Bildnis einer englischen Dame,
1535-36, Tempera auf Holz, 29,8 x 24,8 cm,
Sammlung Oskar Reinhart "Am Römerholz", Winterthur
In den meisten Portraits englischer Höflinge verfolgt Holbein ein bestimmtes Darstellungsprogramm, bei dem die Modelle nicht mehr in Form eines Brustbildes, manchmal nur ihr Kopf und die Schultern wiedergegeben sind. Während seines ersten Aufenthaltes in England sowie in manchen Portraits nach 1530 deutete Holbein noch einen Hintergrund an, z.B. durch Vorhänge oder Holzvertäfelungen, um auf die Art von Zimmern hinzuweisen, die die Modelle bewohnt haben könnten. So wird eine bis heute nicht identifizierte Frau mit einer Achatbrosche auf ihrer Kappe vor einem Hintergrund mit Holzvertäfelung gezeigt, wie es auch u.a. im Bildnis Thomas Cromwells, des Sekretärs Heinrichs VIII., in der Frick Collection in New York zu sehen ist. Am detailliertesten wurden solche Hintergründe in den Portraits hanseatischer Kaufleute, die in London lebten, ausgeführt, wie beim berühmten Bildnis von Georg Gisze von 1532, heute in Berlin, welches in seinem Stilleben und der Farbgebung das komplexere Portrait der "Botschafter" des folgenden Jahres erahnen läßt.

Später vernachlässigt Holbein einen derartigen Hintergrund, indem er seine Modelle vor einem schlichten tiefen Blaugrün darstellt, was häufig als ein typisches Merkmal für Holbeins Portraits angesehen wird. In diesen späten Portraits, wie dem wunderschönen Bildnis von Jane Seymour in Wien, oder von Christina von Dänemark in der National Gallery in London, befinden sich die Dargestellten vor dem blauen Hintergrund nicht mehr im Freien, wie dies in früheren Werken der Fall war, weil sie Schatten werfen und das Blau auch mit einer goldenen Schrift versehen worden ist.

Zwischen diesen beiden Extremen gibt es noch eine Art von Hintergrund, die Holbein in einer Serie von Bildern entwickelt hatte: vom "Letzten Abendmahl" und der "Meyer Madonna" aus der Baseler Zeit, bis zu den Englischen Portraits um 1530, wie jenes von William Reskimer in der Royal Collection oder die "Dame mit dem Eichhörnchen und dem Star" in der National Gallery in London. Dieser vereinfachte Entwurf besteht aus einem Kontrast von grünen Weinblättern und gekräuselten Ranken vor einem schlichten blauen Hintergrund, der als Himmel verstanden werden könnte. Solche gezielten Effekte einer räumlichen Zweideutigkeit erhöhen deutlich den illusionistischen Eindruck, das Modell sei anwesend.
Hans Holbein d. J., Der Kaufmann Georg Gisze., 1532, Öl auf Holz,
96 x 85 cm, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin,
Preußischer Kulturbesitz
Trotz der Anziehungskraft, die Holbeins Talent auf einflußreiche Männer einschließlich den König ausübte, waren viele der Dargestellten Frauen, sodaß vielleicht ihre Wiedergaben jene besondere Begabung Holbeins erkennbar machen, die ihn als einen der größten europäischen Portraitmaler seiner Zeit auszeichnen. Das Bildnis der "Dame mit dem Eichhörnchen und dem Star" ist ein ausgezeichnetes Beispiel für Holbeins Erfolg bei der Wiedergabe von Frauen mit Unvollkommenheiten: ohne sie mit Hilfe von Abstraktem zu idealisieren, wie es bei so vielen Frauenportraits sämtlicher Epochen häufig üblich ist, wenn man die Dargestellte zeitgenössischer Mode und Schönheitsidealen angleicht und sie im Vergleich zum männlichen Gegenstück uninteressant macht, setzt sich Holbein mit einem enormen Einfühlungsvermögen mit seinem Modell auseinander. Die Dame in der Sammlung Reinhart ist auf ähnlich unidealisierte Art wiedergegeben, genauso die Bildnisse auf Miniaturen, in denen Frauen portraitiert sind, einschließlich Mrs. Small und Lady Audley.

Eines der auffallendsten Merkmale der "Dame mit dem Eichhörnchen und dem Star" ist die Zurückhaltung gepaart mit Reglosigkeit. Sie schaut uns nicht an, starrt vielmehr zur Seite. Ihre Züge werden in Dreiviertel-Ansicht wiedergegeben und erlauben in ihren hellen, wachsamen Augen und ihrem weichen Mund einen Eindruck ihrer Intelligenz wahrzunehmen. Sie ist nachdenklich, aber Holbeins dargestellte Frauen wirken niemals oberflächlich. Die Komposition plaziert ihre Hände gezielt in die rechte untere Ecke, wo sich die eine über die andere wölbt, um so ihren Mangel an Ruhelosigkeit zu bestätigen (obwohl durch Röntgenaufnahmen festgestellt wurde, daß die Position von Armen und Händen der einzige Bereich des Portraits war, in dem während der Sitzungen Änderungen vorgenommen wurden). Das Eichhörnchen, an dessen Kragen eine Kette angebracht ist, stellt eindeutig ein Haustier dar, obwohl es ursprünglich nicht in der Komposition vorgesehen war: die Arme der Dame mußten hinauf verlegt werden, um es im nachhinein im Bild noch unterbringen zu können.
Hans Holbein d. J., Jane Seymour, 1536, Öl auf
Holz, 65,4 x 40,7 cm,
Kunsthistorisches Museum Wien
Wir wissen eine Menge darüber, wie Holbein seine Werke geschaffen hat. Der einzige belegte Bericht über eine seiner Sitzungen beschreibt den Schaffensprozeß eines anderen Frauenportraits in der National Gallery, "Christina von Dänemark". Im März 1538 wurde Holbein nach Brüssel entsandt, um ein Bildnis Christinas, der verwitweten Herzogin von Mailand, als mögliche Braut für Heinrich VIII. anzufertigen; es war eine von mehreren ähnlichen Missionen, auf die Holbein geschickt wurde. Wir wissen, daß die Sitzung drei Stunden dauerte, und daß nach der Rückkehr nach London Heinrich vom Ergebnis sehr angetan war. Es ist jedoch höchst unwahrscheinlich, daß Holbein mit einem so großen Bild den Kanal überquert hat und daher naheliegend, daß er eine Zeichnung oder eine Serie von Zeichnungen gemacht hatte, die er nach seiner Rückkehr als Basis für sein Gemälde verwenden konnte. Die Vermählung hat selbstverständlich nie stattgefunden, aber die Tatsache, daß sich der König das Portrait behielt, hatte wohl ihre Bedeutung.

Viele solcher Portraitstudien sind erhalten, die meisten davon sind in der Royal Collection auf Windsor Castle aufbewahrt. Während die frühesten aus der Zeit zwischen 1526 und 1528 mit bunter Kreide auf nicht grundiertem Papier festgehalten sind, weisen die späteren Zeichnungen umfangreichere Techniken auf, bei denen außergewöhnliche Tinte, sowie Feder- und Pinselstriche mit Kreide auf rosa grundiertem Papier vermischt wurden. Solche Zeichnungen waren eine zeitsparende Vorkehrung sowohl für den Künstler als auch den Portraitierten: einmal erfaßte Züge konnten auf die Leinwand übertragen und dann gemalt werden, ohne daß der Portraitierte nochmals erscheinen mußte. Jedes bedeutende Kleidungs- oder Schmuckstück, das im Gemälde vorkommen sollte, konnte beim Maler hinterlassen und sogar mit Hilfe eines stellvertretenden Modells wie einer Hofdame im Falle einer königlichen Hoheit gestaltet werden.

Bei den Bildnissen, die Holbein von Heinrichs dritter Königin, Jane Seymour, machte, gibt die Zeichnung sie in einem relativ schlichten Gewand mit Ärmeln aus weissem Leinen wieder. Das gemalte Portrait in Wien zeigt ein imposanteres Kleid und anderen Schmuck. Das verlorene Wandgemälde in Whitehall Palace, das auch auf dieser Zeichnung basiert und dem Bildnis Heinrichs VIII. entsprechend die ganze Figur der Königin zeigt, weist das am reichsten geschmückte Gewand aller auf, mit Goldketten über ihrem Mieder und den Pelzärmeln.
Hans Holbein d. J., Christina von Dänemark, 1538,
Öl auf Holz, 179,1 x 82,6 cm,
The National Gallery, London
Wie erhaltene Skizzen und entsprechende Gemälde aus der frühen Schaffenszeit Holbeins bereits um 1516 beweisen, verwendete der Künstler seine gezeichneten Portraits als Grundlage für seine späteren Gemälde. Viele dieser Büstenportraits weisen Holbeins Anmerkungen zu den Farben und Materialien auf, die in den erhaltenen Gemälden wiedergegeben sind. Die Beziehung von Zeichnungen zu ihren gemalten Ausführungen waren jedoch noch enger als das. Bei Vergleichen von Maßen mehrerer Zeichnungen mit den späteren Gemälden wurden derartig genaue Übereinstimmungen festgestellt, daß man annimmt, er habe eine Methode angewendet, mit der die Umrisse der Zeichnung auf die Leinwand übertragen werden konnten. Holbein scheint die Umrisse der Gesichtszüge seiner Modelle mit einem Stylus und einem Äquivalent des 16. Jahrhunderts zu Durchschlagpapier auf die Leinwand durchgepaust zu haben. So konnten die wichtigsten Merkmale der Abbildung und die Proportionen der Gesichtszüge, die bei der ursprünglichen Sitzung festgehalten worden waren, erhalten werden. Der Rest des Portraits konnte daraufhin in Angriff genommen werden.

Aber nicht alle englischen Portraits Holbeins entsprachen den Standard-Maßen von Halbfiguren oder Darstellungen mit Kopf und Schultern, auch besaßen nicht alle Lebensgröße oder kamen in deren Nähe: manche Bildnisse waren äußerst klein. Von diesen kleinen Portraits gibt es zwei Typen, jene, die in Öl auf einen sehr kleinen runden Untergrund aus Holz (ähnlich Dosendeckeln) gemalt wurden, wie z. B.: die Wiener Portraits und andere auf Pergament, bei denen wahrscheinlich Pigmente mit einem gummiartigen Material vermischt wurden, die ähnlich wie Schmuck behandelt werden konnten, um als Anhänger oder Armreifen getragen zu werden, oder in kleinen Schachteln aufbewahrt wurden, sodaß man sie gelegentlich betrachten konnte. Der letzte Typ erinnert an Parallelen zu den Portraits, die damals in Frankreich in Manuskripte gemalt wurden, hauptsächlich von Jean Clouet, obwohl die Wurzel der englischen Leidenschaft nicht unbedingt bei den Franzosen gesucht werden muß.

Überliefert ist, daß der niederländische Künstler Lucas Horenbout, der bereits vor Holbeins Ankunft in England für Heinrich VIII. arbeitete, Holbein in die Buchmalerei einführte und ihn vielleicht sogar die Kunst des Kleinportraits lehrte, obwohl ihre stilistischen Merkmale und Techniken sehr von einander abweichen. Die Miniaturen, die Heinrich VIII. und seine Familie darstellen und heute mit Lucas Horenbout in Zusammenhang gebracht werden, sind zwar mit großer Sorgfalt ausgearbeitet, zeigen aber in ihrer flächigen Erscheinung nur Kopf und Schultern. Stattdessen umfassen Holbeins Miniaturen auch die Hände und sind im allgemeinen von den Ganzkörper-Portraits kaum zu unterscheiden. Darüberhinaus sind sie in einer außerordentlich feinen Technik wiedergegeben, in der sämtliche detaillierten Effekte, die normalerweise bei lebensgroßen Darstellungen die Ähnlichkeiten eines Bildnisses ausmachen, hier in Miniatur angewendet wurden. Daher kann man solche Miniaturportraits genauso vergrößern, wie es möglich ist, Holbeins Holzschnitte und dekorative Figuren je nach Belieben zu vergrößern oder zu verkleinern, ohne an beabsichtigter Wirkung zu verlieren.
Hans Holbein d. J., Mrs. Small, ca. 1535-40, Aquarell auf Pergament,
Dm. 5,4 cm, Victoria & Albert Museum, London
Das Bildnis von Mrs. Small ist nicht nur eines der feinsten Beispiele von Holbeins Miniaturen, sondern weiblicher Portraits jeglichen Maßstabs. So wie in der größeren Darstellung der "Dame mit dem Eichhörnchen und dem Star", zeigt Holbein in diesem Fall eine Frau in einem dunklen Kleid mit weissem Schal und weißer Kappe (hier aus Leinen statt Pelz), die in Halbkörperansicht nach rechts gewandt ist; ihre beiden Hände ruhen am unteren Rand der Komposition. Die Figur ist dem Beschauer stärker zugewandt und paßt sich in ihrer ausgeglichenen Haltung der eher komplizierten Kreisform an, indem ihr rechtes Auge die Vertikale der Komposition andeutet, während der Bogen ihrer Hände sich dem Kreis anstatt einer Ecke anpaßt. Die Bordüre ihres Hemdes weist ein für die Zeit typisches minutiöses und kompliziertes Muster schwarzer Stickerei auf, deren Konturen von Holbeins Pinsel klar nachgezeichnet sind. Die Konsequenz einer solchen Linearität und die Weigerung, etwas zu vereinfachen, erstreckt sich bis zu den Konturen des Mundes, der Nase, der Augen und auch Augenbrauen und unterstreicht so den Ausdruck ruhiger, doch vollendeter Individualität.

Es ist nicht vollkommen geklärt, wie solche kleinen Bildnisse angefertigt wurden. Die Miniatur von Lady Audley zeigt eine Dame der höheren Gesellschaft in einem scharlachroten Kleid und einer mit Edelsteinen besetzten Halskette. Davon gibt es eine naturgetreue Vorbereitungsskizze, die der Miniatur sehr ähnelt, mit einer in Silberstift angefertigten Detailzeichnung der Halskette und Hinweisen zu den Edelsteinen, die einzusetzen waren. Zwar wissen wir nicht, ob dazu jemals ein lebensgrosses Portrait existierte, jedoch ähnelt die Miniatur der Zeichnung sehr, obwohl die Edelsteine, die in der Skizze als grün bezeichnet sind, in der Miniatur immer schwarz waren (in der Pigmentierung gibt es keine Indizien für nachträgliche Änderungen).

Mag sein, daß kleine Portraits auf Pergament kostspielig und nur Höflingen und der königlichen Familie vorbehalten waren: die Bildnisse, die Lucas Horenbout zugeschrieben werden, stellen anscheinend ausschließlich königliche Hoheiten dar, und auch Holbeins Portrait von Anna von Kleve, heute in eine Elfenbeindose in Form einer Tudorrose eingebettet (obwohl dies nicht ursprünglich der Fall war), ist ein weiteres Beispiel einer königlichen Hoheit, die auf diese Art wiedergegeben wurde. Die in Wien befindlichen Darstellungen sind anstatt auf Pergament nur auf Holz gemalt und zeigen bloß niedere Beamte des königlichen Haushaltes. Wir wissen jedoch, daß andere Bildnisse auf Pergament Personen einer ähnlichen Gesellschaftsschicht darstellen: so z. B.: Mrs. Small (die ursprünglich für Mrs. Pemberton gehalten wurde). Sie kannte bedeutendere Höflinge, kam aber selbst aus einer relativ bescheidenen Kaufmannsfamilie.
Hans Holbein d. J., Lady Audley, ca. 1538-40, Aquarell auf Pergament,
Dm.: 5,5 cm, Royal Collection, Windsor Castle
Ganzfigur-Portraits andererseits scheinen tatsächlich auf königliche Modelle oder königliche Aufträge beschränkt gewesen zu sein, wie im Falle Christina von Dänemarks, oder anderer, die reich genug waren, dafür bezahlen zu können. Zu einem der ersten englischen Aufträge Holbeins zählte das verlorene Bild der Familie von Sir Thomas More, auf dem die Mitglieder rund um More sitzend und stehend informell auf der Leinwand wiedergegeben waren. Anscheinend ist eine solche Zusammenstellung bei anderen englischen Bildnissen nie mehr wiederholt worden. Derartige Haltungen unterschieden sich sehr von jener, in der Holbein Heinrich VIII. lebensgroß, mit auseinandergespreizten Beinen (und in einer unvollendeten Version mit dem Gesicht in Frontalansicht) im großen Wandgemälde in Whitehall Palace dargestellt hatte; das Gemälde, das 1698 einem Feuer zum Opfer fiel, ist uns nur durch Kopien sowie den linken Teil von Holbeins Vorzeichnung, heute in der National Portrait Gallery in London, bekannt. Auf ähnliche Art zeigt Holbeins Bild, das anscheinend nach dem Tod des Königs 1543 vollendet wurde, Heinrich VIII. beim Gewähren eines Freibriefes für die Friseure, indem er wieder mit ganzem Körper, aber diesmal sitzend, gezeigt wird. […]

Obwohl Holbeins erster Biograph Karel van Mander 1604 dokumentiert, daß die Darstellung Heinrichs VIII. einen überwältigend mächtigen Eindruck machte, ist dennoch fraglich, wie vielen es tatsächlich erlaubt war, die Mauer zu sehen, die sich bekanntlich in den Privatgemächern des Königs befand. Die dritte lebensgroße Darstellung König Heinrichs VIII. mit der Gruppe von Friseurchirurgen war in der Versammlungshalle dieser Gilde in London aufgehängt. Nimmt man an, daß Holbeins Portraits hanseatischer Kaufleute in London normalerweise nach Deutschland geschickt bzw. heimgenommen wurden, und daß die Bildnisse englischer Modelle zum Großteil in Landhäusern außerhalb Londons hingen, müßte man Holbeins künstlerisches Vermächtnis an England als klein bezeichnen: nach seinem Tod in London im Jahre 1543 verlor sich jedenfalls fast jede Spur von ihm.
Hans Holbein d. J., Lady Audley, um 1532-43, Kreide
auf Papier, 293 x 207 mm, Royal Collection,
Windsor Castle
Ließ Holbein Gehilfen zurück, die für ihn gearbeitet haben? Das Gemälde der Friseurchirurgen wirft einige interessante Fragen auf. Mit seiner Breite von über 3 Metern ist es sehr groß, und während einige Gesichter wie Heinrichs VIII. und jenes auf der linken Seite Holbeins Stil sehr nahe kommen, erscheinen weitere im Bild anders, wobei manche sicherlich später hinzugefügt worden sind. Es ist möglich, daß Holbein bei so großen Aufträgen Gehilfen hatte, worauf einige Qualitätsunterschiede in der Wiedergabe hinweisen könnten, obwohl dies beim heutigen Zustand des Gemäldes nur mehr schwer überprüfbar ist. Manche der Köpfe ähneln sowohl in der Größe als auch im Stil anderen Individualportraits Holbeins: so ähnelt das Bildnis von Dr. Chambers jenem im Kunsthistorischen Museum in Wien, und das Portrait von Dr. Butts kommt jenem im Isabella Steward-Gardner Museum in Boston sehr nahe.

Beweisbar ist, daß der Kopf des Friseurchirurgen Dr. Butts in der Größe mit anderen Bildnissen von Dr. Butts identisch ist, diese aber sicher nicht von Holbein gemalt wurden; die Präzision, mit der die Umrisse dieser Portraits einander gleichen, legt allerdings nahe, daß sie einem Vorbild aus Holbeins Werkstatt entstammen, vielleicht sind sie von einer seiner Zeichnungen abgepaust worden. Das wiederum deutet darauf hin, daß Holbein Werkstattgehilfen hatte, obwohl ihm dies als Ausländer gesetzlich verboten war, weshalb auch in Frage käme, daß andere Künstler diese Bildnisse auf Wunsch einfach kopierten.
Hans Holbein d. J. Jane Seymour, 1536,
Kreide auf Papier, 500 x 285 mm,
Royal Collection, Windsor Castle
Bei Miniaturen nennt man Holbein als Haupteinfluß für die Werke des großen Miniaturmalers Nicholas Hilliard, der in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als Portraitist von Königin Elisabeth I. arbeitete und schrieb: "Ich habe Holbeins Darstellungsweise unaufhaltsam imitiert", obwohl weder technische noch stilistische Ähnlichkeiten in den Werken beider eindeutig feststellbar sind. Hilliard bewunderte auch das hervorragende technische Können des Ausländers. Es scheint, daß Holbeins Status als Ausländer sowohl zu seinem großen Erfolg beim englischen Hof beitrug, an den König Heinrich VIII. ausländische Künstler ziehen wollte, als auch zu seiner Isolation und dem Fehlen von Schülern. Englische Künstler standen Ausländern feindlich gesinnt gegenüber, und im übrigen stammten die meisten ausländischen Portraitmaler des 16. Jahrhunderts in England aus den Niederlanden und anderen Kunsttraditionen als Holbein. Vielleicht gibt es trotzdem eine viel einfachere Lösung für das Fehlen einer "Holbein-Schule" in England: Holbeins blendende Maltechnik, seine Gabe psychologischer Erfassung der Portraitierten und seine Meisterschaft in der Wiedergabe von Gesichtszügen als Zeichner waren schlichtweg unnachahmbar.

Quelle: Susan Foister: Holbein in England. Ein Höhepunkt der Portraitmalerei. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. Heft 2/1997, ISNN 1025-2223, Seite 42-59 (gekürzt)

Susan Foister, Kuratorin für frühe Niederländische, Deutsche und Englische Malerei an der National Gallery London, publizierte mehrfach über Holbein, und war auch verantwortlich für die Ausstellung „Holbein in England“ in der Tate Britain (2006)


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