12. Dezember 2016

Violine und Klavier: Yehudi und Hephzibah Menuhin

Pjotr Iljitsch Tschaikowski (1840-1893)

Klaviertrio a-moll, Op. 50

Tschaikowski widmete das Klaviertrio, Op. 50 (entstanden 1881/82) dem Andenken seines Freundes Nikolaj Rubinstein ("a la memoire d'un grand artiste"). Das Werk stellt - wenn man so will- ein sehr intimes, kammermusikalisches Requiem dar. Dies wird auch durch die, für ein Klaviertrio, ungewöhnliche Form unterstrichen: Zwei große Hauptteile stehen sich gegenüber - ein elegischer Eingangssatz, der um einen expressiven Klagegesang kreist, geht einem Variationssatz voraus, der zweimal elf Variationen eines russischen Liedes bringt. Das Finale des zweiten Teils bildet die eigenständige 23. Variation dieses Themas und führt resigniert in die Tonart a-moll des Anfangs zurück.


Pablo Sarasate (1844-1908)

Caprice basque für Violine und Klavier
Danzas espanolas für Violine und Klavier


Ausgehend von der durch Paganini begründeten Tradition der Virtuosenmusik schrieb Pablo Sarasate seine Salonstücke und Opernfantasien. Er bediente vor allem die - am Ende des 19. Jahrhunderts so große - Nachfrage nach pseudo-folkloristischen Werken. Bekannt geworden ist Sarasate vor allem mit seinen "Zigeunerweisen", Op. 20 von 1879 und den "Spanischen Tänzen" (Danzas espanolas), Op. 21, 22, 23 und 26 die in den Jahren 1878-82 entstanden.


Enrique Granados (1867-1916)

12 Danzas espanolas - Nr. 5 Andaluza

Enrique Granados gilt neben Albeniz und de Falla als bedeutendster Vertreter der spanischen Schule im ausgehenden 19. Jahrhundert. Der hier vorgestellte Satz Andaluza aus den 12 Danzas espanolas für Klavier (entstanden zwischen 1892-1900) erklingt in einer Bearbeitung für Violine und Klavier.

Hephzibah und Yehudi Menuhin, 1963
Sergej Prokofjew (1891-1953)

Violinsonate Nr. 1 f-moll, Op. 80

Die erste Violinsonate Prokofjews entstand in einer Zeit der intensiven Beschäftigung mit der russischen Folklore in den Jahren 1938-46. Die vier Sätze gewinnen durch ihre scharfen Kontraste zueinander starken Eigencharakter: In ihrer intensiven "Bildlichkeit" erinnern sie an alte, russische Sagenstoffe. Die Sonate ist jedoch keineswegs als Programmmusik gedacht: Die Verarbeitung der volkstümlichen Themen geschieht in klassisch-romantischer Manier. Sie verlässt zeitweise sogar den intimen, kammermusikalischen Rahmen und erscheint geradezu "sinfonisch". Prokofjews Musik will nicht abbildend sein, sondern absolute Musik.


Karol Szymanowski (1882-1937)

Notturno e tarantella

Karol Szymanowski war eine der wichtigsten Persönlichkeiten der polnischen Musik des 20. Jahrhunderts. Der 1882 geborene Komponist machte zunächst als Pianist eigener Werke auf sich aufmerksam. 1905 gründete er zusammen mit G. Fitelberg die Gesellschaft jungpolnischer Komponisten. 1919 ließ sich Szymanowski nach mehreren Auslandsaufenthalten in Warschau nieder, wo er Professor und später Direktor des dortigen Konservatorium wurde. Als Komponist begann Szymanowski im spätromantischen Stil und entwickelte sich - unter dem Eindruck der Musik Debussys und Skrjabins - zum Impressionisten. Als Kammermusiker schuf Szymanowski, neben zwei Streichquartetten, vor allem Werke für Violine und Klavier, darunter auch das 1915 entstandene Notturno e tarantella.


George Enescu (1881-1955)

Violinsonate Nr. 3 a-moll, Op. 25 "dans le charactère populaire roumain"

Enescu erhielt seine Ausbildung als Komponist u.a. bei Fauré und Massenet und studierte wie sein Vorbild Bela Bartók die rumänische Folklore. So liegen auch der hier vorliegenden Violinsonate Motive volkstümlicher Musik zugrunde.

Quelle: Booklet


TRACKLIST

CD 1                                                  67:25

PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKI

Klaviertrio a-moll, Op. 50 / Piano Trio in A minor, op.50 
 1. I:   Pezzo Elegiaco (Moderato Assai)              15:42 
 2. II:  Tema Con Variazioni:                         16:29 
         Tema (Andante Con Moto) 
         Variation I 
         Variation II (Piu Mosso) 
         Variation III (Allegro Moderato) 
         Variation IV 
         Variation V 
         Variation VI (Tempo di Valse) 
         Variation VII (Allegro Moderato) 
         Variation VIII (Fuga: Allegro Moderato) 
         Variation IX (Andante Flebile Ma Non Tanto) 
         Variation X (Tempo di Mazurka) 
         Variation XI (Moderato) 
 3. III. Finale (Allegro Risoluto e con Fuoco)         7:32 
 4. IV.  Coda (Andante con Moto)                       4:20 

Hephzibah Menuhin, Klavier / piano - Yehudi Menuhin, Violine / violin 
Maurice Eisenberg, Cello / cello. Recorded in: 1936 

PABLO SARASATE 

 5. Caprice Basque, Op. 24 / Caprice Basque, Op.24     3:59

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Mareel Gazelle, Klavier / piano. 
Recorded in: 1935 

Danzas espanolas 
 6. Nr. 1 Malaguena, Op. 21,1                          4:51 
 7. Nr. 2 Habanera, Op. 21,2                           3:29
 8. Nr. 3 Romanza Andaluza, Op. 22,1                   4:40 
 9. Nr. 6 Zapateado, Op. 23,2                          3:12 

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Mareel Gazelle, Klavier / piano (6, 8, 9)
Henrik Endt, Klavier / piano (7). Recorded in: 1934-39 

ENRIQUE GRANADOS 

12 Danzas espanolas 
10. Nr. 5 Andaluza                                     2:54

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Marcel Gazelle, Klavier / piano
Recorded in: 1948 

CD 2                                                  59:16 

SERGEJ PROKOFIEV 

Violinsonate Nr. 1, Op. 80 / Violin Sonata No.1, op.80 
 1. I:   Andante Assai                                 6:11
 2. II:  Allegro Brusco                                6:53 
 3. III: Andante                                       6:57
 4. IV:  Allegrissimo (Andante Assai, Come Prima)      6:32 
 
Yehudi Menuhin, Violine / violin - Marcel Gazelle, Klavier / piano
Recorded in: 1948 

KAROL SZYMANOWSKI 

 5. Notturno e Tarantella, Op. 28                      8:51

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Marcel Gazelle, Klavier / piano
Recorded in: 1935 

GEORGE ENESCU 

Violinsonate Nr. 3 a-moll, Op. 25 'dans le charactère populaire roumain' 
Violin Sonata No.3 in A minor, op.25 'dans le charactère populaire roumain'  
 6. I:  Moderato Malinconico                           7:53 
 7. II: Andante Sostenuto e Misterioso                 8:21 
 8. III: Allegro Con Brio Ma Non Troppo Mosso          7:20  

Yehudi Menuhin, Violine / violin - Hephzibah Menuhin, Klavier / piano
Recorded in: 1936 

(P)+(C) 2002 

Ist Kunst widerständig?


John Atkinson, Modern Art Simplified, 42 x 27 cm, 2015
(From the Wrong Hands Webside)
Museumsbesuch in Los Angeles

The Broad, erst vor wenigen Monaten in Downtown Los Angeles eröffnet, ist ein wunderbares Museum. Man kann hier wahnsinnig viel über Kunst lernen. Es ist ein in glasfaserverstärkten Beton gegossener Einführungskurs in die Kunst nach 1945 - »Post-War Art 101« heißen solche Kurse an amerikanischen Colleges. Sie hämmern den Studierenden im Schnelldurchlauf die »wichtigsten« Kunstwerke ein. Studienanfänger aller Länder, vergesst diese Kurse! Kommt stattdessen nach Los Angeles, ins Broad! Der Eintritt ist frei (Parken kostet allerdings 12 Dollar).

Insgesamt zweitausend Kunstwerke aus der Sammlung des Ehepaars Eli und Edythe Broad hat das Privatmuseum in seinen Beständen, zweihundertfünfzig »Meisterwerke« daraus sind in der ersten Ausstellung zu sehen. Alles hier ist ikonisch: Suppendosen von Warhol, Flaggen von Johns, Comicdetails von Lichtenstein. Der Wiedererkennungseffekt ist groß - bis hin zum typisch verrätselten Neo Rauch und einem eingelegten Schaf von Damien Hirst. Irgendwo steht ein Balloon Dog (in blau) von Jeff Koons herum und glänzt verstohlen vor sich hin. Alles Kunst, die man so oder so ähnlich schon hundertmal gesehen hat.

Man könnte sich jetzt darüber wundern, warum jemand für 140 Millionen Dollar und viel Schweiß ein Museum errichtet, in dem man exakt die gleichen Kunstwerke vorfindet wie in jedem anderen Museum für Moderne Kunst rund um den Globus auch. Aber damit würde man den pädagogischen Wert, den die Sammlung des Broad gerade aufgrund ihres schamlos generischen Charakters besitzt, unterschätzen. Wie einfach wäre es gewesen, eine ungewöhnliche, interessante und abwechslungsreiche Sammlung zusammenzustellen, die den Besucher überrascht. Solche Kunst kostet vergleichweise wenig, und man kann sie an jeder Ecke kaufen.

Thomas Struth, Semi Submersible Rig, DSME Shipyard, Geoje Island,
 280 x 349 cm, 2007
Wie viel aufwändiger, schwieriger und anspruchsvoller ist es hingegen, genau das zu sammeln, was alle anderen auch sammeln. Gerade bei der Suppendose, die jeder haben will, zu sagen: »Die will ich auch haben!« - das kostet Geld, viel Geld. Und es verlangt Mut, denn die Anfeindungen der Kulturwelt, die es dabei auszuhalten gilt, kann man sich leicht ausmalen. Allerdings: Das einzelne Kunstwerk selbst ist hier gar nicht wichtig, es ist austauschbar. Ob an der Wand eine Suppendose oder eine Marilyn von Warhol hängt, macht wirklich keinerlei Unterschied. Im Broad geht es um viel mehr: um Fragen des Kanons, des Zusammenhangs von Format und Bedeutung und um die Aktualität der Kategorie des Meisterwerks.

Einheitskunst

Man muss die feine Ironie, mit der das Broad bei allen drei Themen den akademischen Diskurs unterwandert, bewundern. Nehmen wir den Kanon. Seit Jahren wird sein »Verlust« bejammert. Die jungen Leute kennen ja nicht mal mehr Kleist und Droste-Hülshoff! Von Grünewald, Chodowiecki, Münter ganz zu schweigen. Pädagogen und Kulturpolitiker klagen über die drohende Orientierungslosigkeit und legen Bildungsprogramme auf. Literatur- und Kunstwissenschaftler veranstalten Tagungen und füllen DFG-finanzierte Sammelbände, um herauszufinden, ob wir wieder einen Kanon brauchen oder ob der Verlust nicht doch auch seine positiven Seiten hat (weniger wissen, mehr denken etc.).

Paolo Veronese, Die Hochzeit zu Kana, 660 x 990 cm, 1562
Während jedenfalls noch eifrig darüber gestritten wird, wie mit dem verschwundenen Kanon umzugehen sei, sind dort, wo über den Kanon nicht geredet, sondern wo er tatsächlich gemacht wird - im Museum nämlich -, diese Fragen längst entschieden worden. Und das überraschende Resultat ist, dass die Rede vom »Verlust des Kanons«, zumindest was die Bildende Kunst betrifft, Unsinn ist. Nie war der Kanon verbindlicher als heute. Offenbar erwartet das Publikum auch gar nichts anderes, als die Werke, die es ohnehin aus Reproduktionen und anderen Museen schon in- und auswendig kennt, immer wieder vorgeführt zu bekommen.

Im Bereich der modernen und zeitgenössischen Kunst hat das, trotz der äußerst vielfältigen künstlerischen Produktion, weltweit zu einer beeindruckenden Einheitlichkeit in den Museen geführt. Längst muss man sich ja besorgt fragen, wie viele von diesen Suppendosen-Bildern und Tieren in Formaldehydlösung es eigentlich geben kann. Beruhigend zu wissen, dass Künstler wie Hirst im Akkord arbeiten lassen, um den weltweiten Bedarf so lange zu bedienen, bis auch das letzte Provinzmuseum sein eigenes Schaf, seinen Hai oder seine zersägte Kuh hat. Mit seiner bedingungslosen Huldigung des Kanons liefert das Broad mehr Einsichten in diese aktuelle Debatte als ein ganzer Stapel Fachliteratur.

Fast alle Kunstwerke im Broad sind groß. Ach was, sie sind gigantisch. Wenn es ein Sammlungskonzept gibt - jenseits der Kanonizität -, dann ist es Format. Ein drei Meter hoher Sam Francis, ein vier Meter breiter Keith Haring, ein sechs Meter breiter Ellsworth Kelly und - yes, we can! - ein fast sieben Meter breiter Anselm Kiefer. (Leider beim ersten Durchgang Übersehen: ein fünfundzwanzig Meter breiter Takashi Murakami. Kein Kommentar.)

John Baldessari, Tips for Artists Who Want to Sell,
 173 x 143 cm, 1966-68
Bedeutende Kunst, das ist die zweite Lektion des Broad-Grundkurses, ist groß. Oder vielleicht doch andersherum: Große Kunst ist bedeutend. Thomas Struths riesiges Foto einer riesigen Ölplattform im Hafen von Geoje in Südkorea ist daher, der Audioguide weist darauf hin, nur mit Historienbildern aus dem Louvre vergleichbar. Veroneses Hochzeit zu Kana (1563) wird da genannt, sicherlich nicht zu hoch gegriffen. Obwohl, das muss man schon erwähnen, Veroneses Bild fast dreimal so breit ist wie das von Struth. Jedenfalls möchte man John Baldessaris Tips for Artists Who Want to Sell (1966) gerne um diese wichtige Empfehlung ergänzen: Große Bilder sind besser als kleine Bilder, und sie machen auch mehr Asche.

Ausschließlich Meisterwerke

Es gibt im Broad, diesem Louvre der Westküste, auch Künstler, die sich über den Gigantismus lustig machen, und das raffiniert - wiederum mit den Mitteln des Gigantismus. Angesichts der ins Groteske vergrößerten Tischgruppe von Robert Therrien (Under the Table) kommt sich der Besucher klein und unbedeutend vor, eher wie der Hund als das Kind des Hauses. Zweierlei kann man hier wiederum lernen: Kunst ist ungemein reflexiv und kritisch, unentwegt hinterfragt sie sich selbst, das ist amüsant und smart. Und: Diese Fähigkeit nützt der Kunst gar nichts, weil selbst das renitenteste Kunstwerk umgehend musealisiert und zum »Meisterwerk« ernannt wird.

Robert Therrien, Under the Table, 297 x 792 x 548 cm, 1994
Über das Meisterwerk als Instrument der bürgerlichen Selbstbestätigung hat sich ja schon Baudelaire vor hundertfünfzig Jahren lustig gemacht. Seitdem haben Generationen von Künstlern, Philosophen und Kunsthistorikern die Kategorie für tot erklärt. Allerdings haben zur gleichen Zeit Generationen von Kuratoren, Sammlern, Kunstfans und - wiederum - Kunsthistorikern eifrig am Mythos weitergebaut und aus dem Meisterwerk einen Götzen gebastelt, der den Museumsbesuchern Bewunderung und Ergriffenheit abverlangt.

Es war die Bereitwilligkeit und Routiniertheit, genau diese Haltung vor dem Kunstwerk einzunehmen, die schon Baudelaire so lächerlich fand. Ein Kunstwerk zu bewundern heißt wie ein Schaf davorzustehen (siehe Damien Hirst). Ein Kunstwerk zum Meisterwerk zu erklären ist also eine Machtgeste, die den Rezipienten zum Schaf macht und das Kunstwerk - indem sie vorgibt, es zu erhöhen - entkräftet. Vielleicht ist das auch das Ziel vieler großer Museen in Deutschland, von Hamburg bis München, die ihre Ausstellungen immer noch gerne mit diesem Begriff bewerben?

In Los Angeles jedenfalls wird dem Besucher subtil vorgeführt, wie wehrlos Kunstwerke gegenüber solchen Indienstnahmen sind. Barbara Krugers Bild Your Body is a Battleground ist 1989 im Kontext der erbitterten Kämpfe um das Recht auf Abtreibung entstanden - in Washington demonstrierten damals eine halbe Million Menschen. Im Broad hängt es brav eingereiht zwischen all den anderen »masterworks«, als sei es immer schon sein sehnlichster Wunsch gewesen, bloß niemandem weh zu tun. »An artwork confronts a viewer, and a viewer is forced, asked, maybe kicked into action«, flüstert uns die Künstlerin Kara Walker zu diesem Bild ins Ohr. Die einzige Aktion, zu der der Betrachter hier genötigt wird, ist allerdings, Krugers Bild zustimmend abzunicken.

Barbara Kruger, Untitled (Your Body is a Battleground),
 284 x 284 cm, 1989
Kunsttheorie vs. Kunstrealität

»Ist Kunst widerständig?« hat der französische Philosoph Jacques Rancière vor ein paar Jahren gefragt und die Frage erwartungsgemäß brav bejaht. Doch das muss der Wunschtraum einer ästhetischen Theorie sein, die sich von ihren Gegenständen längst entkoppelt hat. Es ist die letzte und vielleicht erhellendste Lektion des Broad, dass Kunstwerke sich im Gegenteil offenbar eher durch Widerstandslosigkeit auszeichnen. Geschmeidig passen sie sich jeder Umgebung an, sind je nach Bedarf kritisch oder affirmativ, protestieren für Bürgerrechte, dienen dem Kunstkenner als gefällige Bestätigung und dem Sonntagsredner als Material. Sie sind heilige Meisterwerke und schmucke Kaffeetassenmotive. Sie prangern den Kapitalismus an und machen Werbung für Konzerne, sie geben den Entrechteten eine Stimme und gleichzeitig dem Milliardär die Möglichkeit, sich als Philanthrop zu präsentieren.

Haben wir der Kunst also zu viel zugetraut? Seit dem späten 18. Jahrhundert ist sie von der Ästhetik als gesellschaftliche Gegeninstitution aufgebaut worden. Für Schelling befähigte sie zur »Erkenntnis des Wesens der Dinge«. Anfang des 20. Jahrhunderts haben die Avantgarden sie zum Medium ihres Weltveränderungswillens erkoren. Adorno hat ihr utopiestiftendes Potential zugesprochen, für Rancière ist sie - großes Wort - »Politik«. Und irgendwie hat sie sich von all dem nie so richtig erholt.

WMS.Nemo, From the Shop at The Broad (Snapshot from Instagramm), 11 x 25 cm, 2016
In den heute in der Kunstwelt allgegenwärtigen, längst zum stereotypen Jargon erstarrten Formulierungen, die Kunst irritiere unsere Sehgewohnheiten, fordere uns heraus und hinterfrage die Wirklichkeit, zeigen sich noch der Glaube und die Hoffnung, die Kunst könne den Menschen und damit die ganze Gesellschaft verändern. Das ist eine hübsche Story, und sie aufrechtzuerhalten, scheint für den Erfolg am Kunstmarkt essentiell zu sein. Aber wenn wir nicht gerade Sammler oder Händler sind - welchen Grund haben wir noch, sie zu glauben?

Die Kunst verändert die Welt tatsächlich, aber wohl kaum so, wie die Erfinder dieser Ideologie es im Sinn gehabt haben. Sie verschafft Bilbao, Downtown L. A. und Herford das symbolische Kapital, das für die Generierung von realem Kapital offenbar unabdingbar ist. Die Kunst ist zwar, allen gutgemeinten Beteuerungen zum Trotz, immer mehr Dekoration als Revolution gewesen - und dennoch verändert sie Provinz- und Innenstädte, sorgt für millionenfachen Tourismus, erhöht den CO2-Ausstoß, verschiebt die kulturellen Gleichgewichte in der Welt und schafft politische Abhängigkeiten.

Die Ableger des Louvre und des Guggenheim, die derzeit in Abu Dhabi unter prekärsten Arbeitsbedingungen fertiggestellt werden, sind nur das vorerst letzte Kapitel in der Geschichte der Kunstrealität. Von dieser Kunstrealität hat sich die Kunsttheorie seit jeher erstaunlich unberührt gezeigt. In einer fast schizophrenen Geste glaubte sie, die Kunst gegen die Kunstwerke - die unter ihrem kritischen Blick dann meist doch nur Ware, Unterhaltung oder Kitsch zu sein schienen - verteidigen zu müssen. Noch in Christoph Menkes jüngsten ästhetischen Programmen unterbieten reale Kunstwerke zwangsläufig die ideale »Kraft der Kunst«, ja verringern sie geradezu. Wie schade, weil die Kunstrealität doch zeigt, dass wir der Kunst vielleicht gar nicht zu viel, sondern im Gegenteil viel zu wenig zugetraut haben. Welche Chancen böten sich da für die Ästhetik!

A Damien Hirst Quote
Solange diese Chancen brachliegen, machen Museen wie The Broad erfahrbar, was wir uns tatsächlich von der Kunst wünschen. Und das scheint nicht zu sein, von ihr irritiert und herausgefordert zu werden oder dass sie irgendwas auch nur im Geringsten in Frage stellte. Wir wollen, im Gegenteil, immer wieder, jeden Tag aufs Neue, von ihr in unseren Sehgewohnheiten bestätigt werden. So gesehen kommt die Kunst im Broad zu sich selbst. Barbara Krugers Bild kann man übrigens auch im Museumsshop erwerben - als T-Shirt. Es ist, wie gesagt, ein wunderbares Museum.

Quelle: Jan von Brevern: Ist Kunst widerständig? Museumsbesuch in Los Angeles. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für Europäisches Denken. Heft 806, Juli 2016. Seite 72 bis 77.

JAN VON BREVERN, geb. 1975, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin.


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Tschaikowskis Streichquartette mit Bildern von Konstantin Alexejewitsch Korowin. Und noch ein Artikel zur impressionistischen Malerei in Rußland.

George Enescu dirigiert Bachs Violinkonzerte (als Zugabe zu den Brandenburger Konzerten). Manfred Schneider lobt die Skepsis; und Andreas Paul Weber setzt sich zwischen die Stühle.

Historische Aufnahmen vom Quator Calvet und Quator Pro Arte (Fauré, Franck, Debussy, Ravel). Ende Mai 1884 beginnt Georges Seurat seinen "Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte".


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Reposted on 27. January 2020
 

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