21. Juli 2017

Mendelssohn: Lieder ohne Worte (Daniel Barenboim)

Der Zugang zu Mendelssohns kleinen Klavierstücken fällt heute schwer. Ihre einstige Popularität steht ihnen im Wege. Das romantische, gleichsam von Heine nonchalant hingestreute Paradoxon »Lied ohne Worte« weckt die Vorstellung von Salon, Klavierstunde, Albumblatt, Kurzatmigkeit und Sentiment. Kaum ein Pianist wagt noch , Mendelssohns Miniaturen aufs Programm zu setzen oder zumindest als Zugaben einzustreuen; in der zweiten Hälfte des l9. Jahrhunderts, vor dem Sieg Wagners und der symphonischen Dichtung, sind Mendelssohns »Lieder ohne Worte« nicht nur Säulen des Repertoires. sondern ein Hausbuch gewesen, verbreitet wie die Märchen der Brüder Grimm, wie Ludwig Richters Graphik oder Uhlands Verse.

Wir haben die Bildkunst des vorigen Jahrhunderts wieder schätzen gelernt. Sie führt uns zu Mendelssohns Klavierstücken. Felix Mendelssohn Bartholdy — das Sonntagskind, »der schöne Zwischenfall der deutschen Musik« (Nietzsche) — hatte, im Gegensatz zu vielen Musikern, eine leidenschaftliche und fruchtbare Beziehung zur bildenden Kunst, teils als Folge seiner klassisch—humanistischen Bildung, teils aus Anlage, denn er war, was widersprüchlich klingen mag, ein Augenmensch nach Art seines Mentors Goethe. Das zeigen seine Reisebriefe, die zu den schönsten Landschaftsbildern deutscher Prosa gehören. Das belegen die vielen Zeichnungen, die er — »das wandelnde Skizzenbuch«‚ wie ihn Schwager Henselt nannte — unterwegs mit sicherem Strich aufs Papier zu werfen liebte. Wie alles in der Kunst und im Leben fiel ihm das Zeichnen leicht. Er besaß den aufs Wesentliche des Objekts gerichteten, aufnehmenden Blick, den Sinn für das räumliche Tiefe gewinnende Detail, die schlanke Präzision der Umrisse und die Gabe, eine Szenerie in sich zu runden, zu intimisieren und dem Betrachter ans Herz zu legen — kurz, jene Tugenden, wie sie den aus der Seh-Schule des Klassizismus hervorgegangenen Malern und Graphikern des Biedermeier wie der Romantik deutscher und englischer Herkunft eigen sind.

Felix Mendelssohn Bartholdy
 nach Carl Jäger, um 1870.
Die »Lieder ohne Worte« sind, ungeachtet ihres melodisch-kantablen Titels, solche Bildkunst zu zwei Händen nebst wenig Pedal, mehr noch für den schwebenden Ton des alten Hammerflügels als für den ausladenden Klang des modernen Konzertinstruments gedacht. Zeichnerisch ist der klare Aufbau der meist liedhaft-dreiteiligen Form (A-B-A), der verbindliche Grundriß des als »Impromptu«‚ »Moment musical«‚ »Phantasiestück« oder »Prélude« auftretenden romantischen Klavierstücks. Auf den Duktus, auf die Disposition des Raumes wird alles Pianistisehe wie Beiwerk bezogen: Kadenzen, Effekte, harmonische Regelwidrigkeiten, spieltechnische und Zuweilen etüdenhafte Probleme. Die malerische Technik der Miniatur und des kleinen Formats greift auf die Klaviermusik über: anders als bei Schubert, der monologisierend und selbstvergessen nach innen blickt, anders auch als bei dem mitunter anklingenden Schumann, dessen Phantastik eine literarische Wurzel hat in der Lektüre Jean Pauls, in den Nachtgeschichten E.T.A. Hoffmanns, in der dem Buchhändlerssohn schier angeborenen Beziehung zum Wort.

Mendelssohns Klavier—Graphik versagt sich, Goethescher Maximen eingedenk, dem »Experiment«‚ der uferlosen Expression, dem Visionären und Provokanten. Mendelssohn mißtraute der explosiven französischen Romantik; in Frankreich, wo der Reiz des Ungewöhnlichen zählt, hat er denn auch nie Furore gemacht. Hingegen begegneten sich er und die distinguierte englische Romantik. Das viktorianisehe England war neben Leipzig und Berlin die Hochburg der Mendelssohn-Verehrung. Die insulare Neugotik entsprach Mendelssohns Oratorien und Bach-Adaptionen, das englische Genrebild seinen Jäger- und Spinnerliedern, seine Symmetrie den in Oxford und Cambridge gelehrten platonisch—aristotelischen Grundsätzen der Ästhetik.

Felix Mendelssohn Bartholdy im Doktormantel,
 Stich nach Hildebrandt, um 1835.
Das Kleinformat birgt den Bezugspunkt in sich: den Salon, die gute Stube, den häuslichen Kreis. Die drei Begriffe verlangen, mit historischem Takt gewürdigt zu werden. Nach dem Erdrutsch der napoleonischen Jahre war Europa verarmt; Genügsamkeit wurde Bürger- wie Monarchenpflicht. Der Rückzug nach innen begann, beschleunigt durch restaurative Repressalien gegen die nun frustrierten Freiheitsideale von 1814/15. Man fand sich auf die eigenen vier Wände verwiesen. Verarmung und Passivität lehren das Große im Kleinen lieben. Eine Intimkunst entstand. Sie kennzeichnet den »Vormärz«, aus dem Mendelssohns »Lieder ohne Worte« datieren; die 48 Kla- vierstücke wurden zwischen 1830 und 1845 geschrieben und seit 1834 in sechsteiligen Heften veröffentlicht. (Werke ab Opuszahl 80 sind postum ediert worden; es steht nicht fest, ob der sorgfältig redigierende Mendelssohn sie durchweg in der vorliegenden Gestalt belassen hätte.) Mendelssohns Klavierstücke gaben der Zeit, was sie benötigte. Daher ihr rascher Erfolg.

Der Begriff Salon schillert. Er bezeichnet die gute Stube des Bürgers, wo das Klavier, das Leitfossil der bürgerlichen Musikkultur, stand und wo die kleinformatigen Bilder der Zeitgenossen zwischen biedermeierlichem Mobiliar hingen; er benennt aber auch den Treffpunkt anspruchsvoller, avantgardistischer und mitunter exzentrischer Geister, die sich zu Kunstgenuß und Gespräch um eine kluge Frau von Welt scharten, wie etwa um Rahel Varnhagen von Ense im Berlin des jungen Mendelssohn. Im Salon herrschte nicht unbedingt Stickluft. Im Gegenteil, die Fenster standen weit offen zur Natur. Die Natur, »das Natürliche« waren Themen der Zeit. Keine Epoche der bildenden Kunst hat — die alten Niederländer ausgenommen — so viel Natur dargestellt. Auch das beliebte Interieur war ein Stück Natur, Umwelt, Zuständlichkeit.

Der Augenblick, der Zustand, das Verweilen prägen diese bei aller Bewegtheit des Details statische Kunst. Wenig später kommt die Photographie auf, die Momentaufnahme. Der Ire John Field (1782—1837), der Vater des Nocturne und des pianistischen Salonstücks, lehrte, nur »Melodien in Ruhelage« seien wahrhafte Melodien, und träumte von einer »stehenden Musik«‚ dem äußersten Gegensatz zur großräumig bewegten Musik der Klassik.

Die musikalische Entsprechung zur Natur und Natürlichkeit war für Mendelssohn das Lied, das er, ähnlich wie Clemens Brentano und die Frühromantiker, in der reinsten, einfachsten Gestalt anonym dem Volksmund entsprungen glaubte. Dieser Schlichtheit gilt es nachzueifern. Die Einfachheit des melodischen Einfalls deckt sich mit der klaren Prägnanz des zeichnerischen Grundrisses. Mendelssohn hat viele Lieder mit und ohne Worte komponiert; durch geradlinige Sanglichkeit unterscheidet sich ihre komprimierte Lyrik von den differenzierten Seelenzuständen Schuberts wie Schumanns. Goethes Auffassung wirkte nach, einer schlicht geprägten Melodie müsse man sämtliche Strophen eines Gedichts unterlegen können, ganz wie im Volkslied. Es gibt »Lieder ohne Worte«, die Mendelssohn sogar mit »Volkslied« überschrieben hat, so Opus 53 Nr. 5, wo eine Sackpfeifermelodie einem a-moll—Lied im schottischen Tonfall präludiert.

Arbeitszimmer des Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy
Museum im Mendelssohn-Haus.
Goethes Gedicht »Schäfers Klagelied« soll der h-moll-Elegie op. 67 Nr. 5 zugrunde liegen: eine bukolische Klage mit monotoner Hirtenflötenmelodie und altväterlichen Dudelsackquinten im Baß des Vorspiels. Manche Lieder suggerieren das uralte Bild des Sängers, der sich auf der Harfe begleitet.Vor— und Nachspiel auf der Harfe rahmen die schwärmerische, sich steigernde Liedmelodie von Opus 19 Nr. 4 ein. Dieser Typus wiederholt sich in Opus 30 Nr. 3 und in Opus 38 Nr. 4. Das nachträglich »Frühlingslied« benannte A-dur-Stück aus Opus 62 — trotz seiner anspruchsvollen Transparenz (Grazioso, Dolce, Pedalwechsel, Vorschlagsarpeggien) ein Lieblingsstück der Amateure des Klaviers — bewegt sich auf das Naturbild und Genrestück zu, unmittelbar benachbarte Spielarten des Lieds ohne Worte.

Das Stimmungsbild im Kleinformat, der verdichtete Augenblick, zieht sich, meist andeutungsweise programmatisch, durch fast alle acht Hefte der Liederfolge. Es wurde — gegen Mendelssohns Willen, dem Illustratives, handgreiflich Programmatisches und biederer Naturalismus verhaßt waren — zum Ausgangspunkt für das rasch in Banalität ausgleitende »Charakterstück«, die Salon-Pièce der höheren Töchter. Mendelssohn behandelt solche Szenen mit einem schwerelosen Realismus. der vollends von der feingegliederten Form, vom Absolut-Musikalischen aufgefangen wird. Das eichendorffisch überhauchte, sogenannte »Jägerlied« (op. l9 Nr. 3) intensiviert die gängige Jagdszene der romantischen Malerei: schmetternde Einleitungsfanfaren, eine chorische A-dur-Melodie in dreiteiliger Verarbeitung (Mittelteil in cis-moll), breites, sozusagen orchestrales Nachspiel in der Coda. Das später so genannte »Spinnerlied« (op. 67 Nr. 4) ist ein Perpetuum mobile, das mit Presto-Sechzehnteln um einen Hauptton kreist, was wohl zur Assoziation Spinnrad geführt hat. Der Vergleich mit dem ungefähr gleichzeitig entstandenen Spinnrad-Chor der norwegischen Mädchen in Wagners »Fliegendem Holländer« — Heinrich Eduard Jacob stellt ihn an in seinem unübertroffen poetischen Werk über Mendelssohn — zeigt sogleich den Unterschied zwischen intimer und expansiver Romantik, zwischen Miniatur- und Großformatmalerei.

Musiksalon der Familie Mendelssohn,
Museum im Mendelssohn-Haus
Am populärsten wurden jene Stimmungsbilder, die eines der abgegriffensten Klischees der europäischen Musik veredeln: die »Venezianischen Gondellieder«. Der 6/8-Takt, die Barcarole, das Siciliano, der schaukelnde Rhythmus waren vom Barock bis zur Filmmusik das musikalische Standardsymbol für südländische Stimmung. Die Italien—Schablone veredelte Mendelssohn durch einen für seine Kunst der einfachen Mittel bezeichnenden »Verfremdungseffekt«: Er setzte die Gondellieder (bis auf eine Ausnahme) in Moll. Damit war Venedig nicht mehr das Traumziel der Touristen, sondern die geheimnisvolle Stadt der Morbidezza, wie bei E.T.A. Hoffmann, Wagner und Thomas Mann. Mendelssohns Gondellieder sind Nachtstücke mit italianisierenden Terzen und Sexten, durchzogen vom schwermütigen Ruf des Gondoliers. Urbild ist Opus 19 Nr. 6 in g-moll; es wird in Opus 30 Nr. 6 durch stärkere dynamische Kontraste abgewandelt und in Opus 62 Nr.5 mit weitgriffigem Klaviersatz und synkopischen Mittelstimmen versehen. Die Entwicklung der Gondellieder allein zeigt die Entwicklung von Mendelssohns Klaviersatz. Opus 19, entstanden zur Zeit der »Italienischen Symphonie«, geht noch aus von der Klaviertechnik, wie sie Mendelssohn bei Ignaz Moscheles erlernt hatte; ihr Vorbild war Mozart, nicht Beethoven, der ohne tieferen Einfluß auf den im Grunde klassizistisch formgebundenen Mendelssohn blieb. Der Klaviersatz reichert sich mit den Jahren an, wird voller, schwieriger, »romantischer«. Das diffizile Opus 62 — Nr.3 ist jener bei dem Optimisten Mendelssohn befremdende »Trauermarsch« in e-moll, den Moscheles später für die Totenfeier seines einstigen Schülers instrumentierte — hat bezeichnenderweise Clara Schumann zur Widmungsträgerin. Sie gestand, unter den Pianisten sei ihr Mendelssohn der liebste von allen. und sie hat auch in ihren Briefen einen Eindruck von Mendelssohns Klavierspiel übermittelt: »Er spielte so meisterhaft und so feurig, daß ich mich wirklich in einigen Momenten nicht der Tränen enthalten konnte«.

Mendelssohn-Haus, Leipzig
Worauf es Mendelssohn klaviertechnisch ankam, zeigen umrißhaft die »Sechs Kinderstücke«, die kurz nach seinem Tode als Opus 72 ediert wurden: verkleinerte Lieder ohne Worte, unaufdringlich didaktisch, vom Rhythmus bestimmt. Der Familienvater — Mendelssohn war ganz im Sinne des Biedermeier ein häuslicher Mensch — zeigt den Kindern keine der großbogigen. pedal-trunkenen Melodien à la Schumann oder Liszt, sondern feinziselierte Kantilenen zu sprechender Begleitung (Nr. 2 und 4). Der kernige Zugriff (Nr. 1) wird gelehrt, das Staccato (Nr. 3 und 5), die lockeren Sexten (Nr. 4), die perlenden Akkordbrechungen und das Sichablösen der Hände (Nr. 6). Das romantische Kinderstück aus dem Geiste der auf Mozart zurückgehenden Schule um Hummel, Moscheles, Czerny und Weber.

Man zeige jemandem, der keine Noten lesen kann, einige Seiten Mendelssohn und lasse ihn den Eindruck des Druckbilds wiedergeben. Er wird es graphisch, ja kalligraphisch nennen. In der Tat ist Mendelssohn ein musizierender Graphiker, in den nadelfeinen Linien seiner Melodik, in der kontrapunktischen Schraffierung, im Aussparen und Andeuten, in der zeichnerischen Klarheit des Aufrisses. Es war ein Irrtum der wagnerisch beeinflußten Nachwelt, Mendelssohn auf betuliche Kurzatmigkeit, Lavendel, Albumblattpoesie und Konservatorium festzulegen. Er war als Graphiker auf dem Klavier ein Seitenstück zu William Turner — dessen Zeichnungen übrigens denen Mendelssohns ähneln —, zu Ingres, Corot, Whistler und Theodore Rousseau; letztere in ihrer Eigenschaft als Graphiker verstanden. Wo Mendelssohn Farben verwendet, in den Klavierstücken wie in den Orchesterpartituren, bleiben diese Farbwerte stets in den zeichnerischen Umriß eingebunden. Er ist kein Kolorist, so viele Valeurs er auch kennt. Als Maler von Landschaften und Interieurs hat er zwar den Impressionismus vorbereiten helfen, aber er würde ihn nicht gebilligt haben.

Interieurs, Innenräume, Seelenansichten sind die rein instrumental angelegten Lieder ohne Worte, die in jedem der acht Hefte neben die lied- und genrehaft empfundenen Stücke treten. Manches streift Chopins Verbindung von poetischer Idee und technischer Studie, so die »Zwei Klavierstücke«, die erst 1860 gedruckt wurden, so das Perpetuum-mobile-Scherzo in b-moll op. 30 Nr. 2, so das auf Geläufigkeit der linken Hand und Oktavenmelodik der rechten abzielende Andante op. 30 Nr. 5, so die Leggiero-Studie op. 67 Nr. 2. Einige Agitato-Szenen sympathisieren mit dem Freunde Schumann, seinen Aufschwüngen, Nachtstücken, Visionen und Humorausbrüchen, seinem dichteren Klaviersatz und seiner verschränkten Stimmführung. Eine Nachtszene im schumannesken fis-moll ist Opus 19 Nr. 5, entwickelt aus einem gespenstischen Piano; das Seitenstück im hämmernden 3/8-Takt bildet das Agitato e con fuoco op. 30 Nr. 4, weitere Pendants sind Opus 38 Nr. 5 im 12/8-Rhythmus und mit Mittelstimmensynkopen, das Molto Allegro, vivace opus 53 Nr. 6 und das Allegro agitato opus 85 Nr. 2. Das 1872 als Opus 117 edierte »Albumblatt« entspricht im Aufbau dem kantablen Typus der Lieder ohne Worte und klingt in seinem E-dur-Mittelteil ausgesprochen schubertisch.

Felix Mendelssohn Bartholdy: Blick aus Reichels Garten auf das winterliche
 Leipzig, 1836, Aquarell, Mendelssohn-Haus Leipzig.
Vollends instrumental empfunden ist das a-moll-Andante op. 19 Nr.2: ein dreistimmiger Satz, der sich mit Mendelssohns Bach-Studien in Beziehung bringen läßt. Auf den nachmaligen Mendelssohn-Verehrer Brahms und dessen kleine Klavierstücke weist das synkopisch schwebende Andante tranquillo opus 67 Nr.3 voraus. Das Presto-Scherzo opus 102 Nr. 3 ist ein Streichtriostück, eine Spiccato-Studie. Der instrumentale Duktus vermischt sich zuweilen mit dem kantablen Urtypus der »Lieder ohne Worte«; das F-dur-Adagio op. 53 Nr. 4 wirkt wie der ernste, langsame Satz eines Streichquartetts, das As-dur-Andante op. 53 Nr. 1 orientiert sich mit seinen weichen Gegenstimmen am Streichersatz und das Andante espressivo op. 30 Nr. 1 — das Stück, das Mendelssohn besonders wert war — , scheint über Harfenbegleitung zu singen. Offenkundiger Spaß, der sich ja auf die von Mendelssohn beargwöhnte Programmatik hätte stützen müssen, findet sich in den »Liedern ohne Worte« nicht, es sei denn, man werte das »Duetto« bezeichnete Andante con moto op. 38 Nr. 6 als Parodie einer Opernszene: Ein Sopran und ein Tenor — beide fast durchweg von Melodien der rechten Hand dargestellt — wetteifern in leidenschaftlichem Gesang und verweisen auf Mendelssohns unterschwellige, stets an Librettomängeln gescheiterte Liebe zur Oper.

Jedes Lied ohne Worte rundet sich, maßvoll, verbindlich, wie in einem feingeschnitzten Rahmen. Abrupte Schlüsse, Verblüffungseffekte, Ausbrechen aus der Grundtonart und ähnliche Praktiken der bekenntnissüchtigen, autobiographischen Romantik kommen nicht vor. Mit gutem Grund konnte Hans von Bülow sagen, ein Lied ohne Worte sei für ihn ebenso klassisch wie ein Gedicht von Goethe; wobei sein Vergleich hellsichtig das Goethesche in Mendelssohn erkennt. Der Typus »Lied ohne Worte« — dessen ungefähre Vorläufer in Beethovens Bagatellen und im Albumblatt »Für Elise«, bei Field und (weniger komprimiert) bei Schubert zu suchen wären — zieht sich durch die ganze Instrumentalmusik Mendelssohns. So ist das Streichquartett op. 13 die Explikation eines als Motto vorangestellten Liedes ohne Worte. Das kleine Format, die formvollendet gezeiehnete Miniatur, enthält das Essentielle Mendelssohns, des Biedermeier, der frühen Romantik und des Europa um 1840.

Quelle: Karl Schumann, im Booklet

Die Bilder zu diesem Text stammen vom Webportal des »Mendelsohn-Hauses und Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Stiftung«

William Turner: Venedig, 1834. Öl auf Leinwand, 90 x 122 cm, National Gallery of Art, Washington (D.C.) [Quelle]

Und hier noch ein Link zu einer privaten Webside über Joseph Mallord William Turner mit vielen, zum Teil wenig bekannten Bildern.


TRACKLIST


FELIX MENDELSSOHN BARTHOLDY
(1809-1847)

Lieder ohne Worte
Songs without Words - Romances sans Paroles - Romanze senza parole - Romanzas sin palabras

Kinderstücke op. 72
Pieces for Children - Pièces Enfantines - Pezzi infantili - Piezas infantiles

Gondellied
Gondola Song - Chanson des Gondoliers - Canto del gondoliere - Canción del gondolero

2 Klavierstücke
2 Piano Pieces - 2 Pièces pour Piano - 2 Pezzi per pianoforte - 2 Piezas para piano

Albumblatt op. ll7
Album leaf - Feuille d’Album - Foglio d’album - Hoja de álbum

DANIEL BARENBOIM, Piano

  
COMPACT DISC 1                                [60:03]

Lieder ohne Worte, op. 19
       
01. Nr 1 E-Dur                                [03:08]
02. Nr 2 a-moll                               [02:19]
03. Nr 3 A-Dur "Jägerlied"                    [02:09]
04. Nr 4 A-Dur                                [02:02]
05. Nr 5 fis-moll                             [03:02]
06. Nr 6 g-moll "Venezianisches Gondellied"   [01:52]

Lieder ohne Worte, op. 30

07. Nr 1 Es-Dur                               [04:23]
08. Nr 2 b-moll                               [01:55]
09. Nr 3 E-Dur                                [02:13]
10. Nr 4 h-moll                               [02:29]
11. Nr 5 D-Dur                                [01:38]
12. Nr 6 fis-moll "Venezianisches Gondellied" [02:56]

Lieder ohne Worte, op. 38

13. Nr 1 Es-Dur                               [02:40]
14. Nr 2 c-moll                               [01:53]
15. Nr 3 E-Dur                                [02:12]
16. Nr 4 A-Dur                                [02:26]
17. Nr 5 a-moll                               [02:15]
18. Nr 6 As-Dur "Duetto"                      [02:17]

Lieder ohne Worte, op. 53

19. Nr 1 As-Dur                               [03:22]
20. Nr 2 Es-Dur                               [02:39]
21. Nr 3 g-moll                               [02:29]
22. Nr 4 F-Dur                                [02:23]
23. Nr 5 a-moll "Volkslied"                   [02:46]
24. Nr 6 A-Dur                                [02:35]


COMPACT DISC 2                                [72:43]

Lieder ohne Worte, op. 62

01. Nr. 1 G-Dur                               [02:03]
02. Nr. 2 B-Dur                               [01:36]
03. Nr. 3 e-moll "Trauermarsch"               [02:48]
04. Nr. 4 G-Dur                               [01:25]
05. Nr. 5 a-moll "Venezianisches Gondellied"  [02:50]
06. Nr. 6 A-Dur "Frühlingslied"               [02:08]

Lieder ohne Worte, op. 67

07. Nr. 1 Es-Dur                              [02:24]
08. Nr. 2 fis-moll                            [02:08]
09. Nr. 3 B-Dur                               [02:41]
10. Nr. 4 C-Dur "Spinnerlied"                 [01:54]
11. Nr. 5 h-moll                              [02:10]
12. Nr. 6 E-Dur "Wiegenlied"                  [02:11]

Lieder ohne Worte, op. 85

13. Nr. 1 F-Dur                               [02:24]
14. Nr. 2 a-moll                              [00:56]
15. Nr. 3 Es-Dur                              [02:22]
16. Nr. 4 D-Dur                               [02:51]
17. Nr. 5 A-Dur                               [01:48]
18. Nr. 6 B-Dur                               [02:01]

Lieder ohne Worte, op. 102

19. Nr. 1 e-moll                              [03:10]
20. Nr. 2 D-Dur                               [02:13]
21. Nr. 3 D-dur                               [01:17]
22. Nr. 4 g-moll                              [02:16]
23. Nr. 5 A-Dur                               [01:06]
24. Nr. 6 C-Dur                               [02:34]

Kinderstücke op. 72

25. Nr 1. Allegro non troppo                  [00:58]
26. Nr 2. Andante sostenuto                   [01:47]
27. Nr 3. Allegretto                          [00:57]
28. Nr 4. Andante con moto                    [01:47]
29. Nr 5. Allegro assai                       [01:31]
30. Nr 6. Vivace                              [01:28]

31. Gondellied (Barcarole) A-Dur 
    Allegretto non troppo                     [02:32]

2 Klavierstücke

32. 1. Andante cantabile                      [03:07]
33. 2. Presto agitato                         [02:31]

34. Albumblatt op. 117, Allegro               [04:49]


Recording: Paris, Studio Europa Sonor, 6/1973; London, Rosslyn Hill Chapel, l2/l973
Executive Producer: Günter Breest - Recording Producer: Cord Garben
Tonmeister (Balance Engineer): Hans Peter Schweigmann
(P) 1974 


Werner Krauss: Gracián und die Psychologen


Baltasar Gracián y Morales S.J. (1601-1658).
Gracián verdankt seinen modernen Ruf vor allem der psychologischen Vorliebe des 19. und 20. Jahrhunderts. Doch, — mit welchem Recht darf sich die Psychologie auf Gracián berufen? Psychologie tritt ja nicht einfach in die Erbschaft von allem Wissen um die menschliche Seele. Umfang und Tiefe der Erfahrung, analytischer Geist und formulierender Scharfsinn sind entscheidende Merkmale echter Menschenkenntnis. Sie kommen zu allen Zeiten vor. Die Zugehörigkeit eines Denkens zur Psychologie ist von hier aus nicht zu entscheiden. Die psychologische Fragestellung bezweckt wohl die Erfassung seelischer Tatbestände, jedoch in einer besonderen Sicht, in der sondernden Betrachtung eines abgeschlossenen Zusammenhangs, in den das seelische Leben als Gegenstand eines eigenen Erkenntnisverfahrens abrückt. Psychologie ist also alles weniger als die Umfassung aller bisher geglückten Erkenntnisse über das menschliche Wesen. Sie beschränkt sich darauf, inmitten der Ausbreitung einer verdinglichten und spezialisierenden Kultur die unauflösbaren Restbestände des Seelischen zu ergreifen und in den Nexus der Wissenschaften einzuarbeiten. Ihr Entstehen ist einfach die Antwort darauf, daß die anderen Wissenschaften seelenblind geworden waren.

Kant hatte die Stellung der Psychologie mit großer Vorsicht ausgemittelt und ihr „ein Plätzchen in der Metaphysik“ verstattet, obgleich „sie schon durch die Idee derselben davon gänzlich ausgeschlossen“ wäre. Denkbar war indessen nur eine „empirische Psychologie“. Der Begründer der positivistischen Wissenschaftslehre, Comte, war konsequent genug, um die Psychologie aus seinem System zu. verbannen. Das betrachtende Subjekt kann nicht zugleich betrachtetes Objekt sein: an die Stelle der Psychologie tritt daher folgerichtig die Soziologie. Unterdessen hatte die experimentelle Psychologie den Beweis erbracht, daß sie auf ihrem beschränkten Gebiet mit einem streng naturwissenschaftlichen Induktionsverfahren zu arbeiten verstand. Die Unergiebigkeit dieser Richtung, ihre grundsätzliche Blindheit gegenüber allen eigentlich seelischen Phänomen führte im Verlauf des Ablösungsprozesses von der positivistischen Wissenschaft zu der Entdeckung, daß den seelischen Erscheinungen nur Introspektion und Intuition gerecht werden könne. Das Verhältnis zu den Geisteswissenschaften, die sich ihrerseits zu konstituieren begannen, blieb dabei völlig in der Schwebe.

El Criticón (Erster Teil), Zaragoza 1651,
 von Baltasar Gracián.
Der Erkenntnisanspruch der Psychologie, gestützt auf ein neues Verfahren zur Erschließung der Tiefe und der Innerlichkeit, wuchs ins Unermeßliche — bis die Entdeckung der Intentionalität aller psychischen Vorgänge und die daran gelehnte Beschreibung der außerpsychologischcn Verstehensprozesse von neuem Grenzen setzte, in denen sich die wissenschaftliche Psychologie nie mehr ganz erholen konnte. Die Psychologie war nun mit einem Mal in die Defensive zurückgedrängt. Von allen Seiten wurde ihr Besitzstand streitig gemacht. Aber diese schon vor einem Menschenalter eingetretene Wendung fand außerhalb ihrer wissenschaftlichen Geltung bis heute fast keine Beachtung. Der Grund ist leicht ersichtlich. Man gab eine Stellung nicht leichterhand preis, in der die ersehnte Übereinstimmung einer wissenschaftlichen Methode mit dem Verfahren des außerwissenschaftlichen Menschen endlich erreicht zu sein schien. Das Leben ist naturgemäß immer wissenschaftsfeindlich. Nun aber fand man in der Psychologie die jedermann angeborene Erkenntnisweise, die dem „Technizismus“ und der „Lebensfremdheit“ der Wissenschaft kein Opfer zu bringen brauchte. So kam es zu einer wahren Inflation des Psychologischen, und die Menschenkunde wurde in alle mögliche „charakterologische Disziplinen“ eingebettet. In der Psychologie lag ja die Vorahnung einer Philosophie des Lebens. Ansätze dafür fanden sich schon bei Schopenhauer und Nietzsche. Man konnte fordern, daß diese erneuerte Psychologie „wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werden möge.“ (Nietzsche)

Oraculo Manual y Arte de Prudencia, 1669,
von Baltasar Graciàn.
Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Konstituierung einer eigenen psychologischen Wissenschaft war offenbar gerade dadurch möglich geworden, daß der moderne Wissenschaftsgeist sich aus all den Gebieten zurückgezogen hatte, in denen früher immer die psychischen Momente mitsprachen, in denen der Mensch wie in der Naturphilosophie und Geschichtswissenschaft vergangener Jahrhunderte ein Abbild seiner eigenen Ordnungen vorfand. Der Sieg des mathematisch-naturwissenschaftlichen Weltbilds über die Humanitäten hatte den inneren Menschen gebietsfremd gemacht in der Welt. Der Mensch war sich selbst zum Fremdling geworden, und seine eigene Bemühung setzte seitdem ein, um dieses exterritoriale Wesen im Weltverständnis „irgendwie“ mitzubetreffen. Die Neugier des Psychologen wurde gestachelt durch eine Erkenntnis, die nach der Mitte einer ausgebreiteten Unendlichkeit zustrebt, durch den Kitzel des Machtverlangens, mit etwas Unergründlichem ins Reine zu kommen. Die Psychologie fühlt sich durch das Geheimnis einer vor sich selbst verborgenen oder entäußerten Seele gerufen. Die Weise ihrer seit Nietzsche geübten Beschreibung hat daher immer den Charakter einer Entlarvung. Sie glaubt sich im Besitz eines Schlüssels, um die Geheimschrift der Welt zu entziffern. Das ist der Weg der schematischen Typologie, die ebenso in einem wahnhaften und abergläubigen wie in jedem empirischen System der Wißbegierde und dem Machtverlangen schmeichelt.

Gracián gibt seinen beiden Helden einen solchen „Entzifferer“ (descifrador) als Begleiter mit durch das Maskentreiben der Einbildung. Seine Chiffrierkunst dringt mit ihren emblematischen Schlüsseln in jede Erscheinung. Sie legt mit einem einzigen Kennwort die innerste Absicht bloß. Grammatische Figuren geben mit einem Schlag das Bewegungsgesetz von ganzen Menschengruppen zu erkennen. Der Entzifferer kennt Menschen, die nur Diphthonge sind, bei denen die Mischung der Teile so gründlich verfehlt ist, daß sie nur lose oder in widerspruchsvoller Einheit zusammenhängen. Und neben der verunglückten Harmonie dieser Monstren gibt es die eingeklammerten Existenzen, die Parenthesenmenschen, „die nichts binden und lösen, sondern nur den Weltlauf verwickeln“, diese Ausgeburten der geschöpflichen Verlegenheit. Der Entzifferer ist kein anderer als der Gott der Desillusion (desengaño). Über ihn sind die Meinungen geteilt. Für den abgeklärten Geist Crítilos ist er ein „Sohn der Wahrheit“ — für Andrenios noch fester dem Dasein verhafteten Sinn ein „Stiefvater des Lebens“.

Gracians "El Discreto" von 1645, 1693 ins Französische übersetzt [Quelle]
Die Desillusion verallgemeinert eine Grunderfahrung. Die Wahrheit, die sie am Menschen antrifft, bleibt an der Oberfläche der Allgemeinheit hängen. Andrenio und Crítilo brauchen einen neuen Führer, um in tiefere Schichten der menschlichen Seele vorzudringen: den „zahori“, den magischen Herzerkenner, der mit dem schnell umgreifenden Blick der Intuition das Wesen der Menschen ergründet. Im stolzen Bewußtsein eines bisher nie geübten Vermögens wird der magische Seelenführer zum Fürsprecher der Fortschrittslehre. Der Verlust an Gewißheit in einer undurchsichtig gewordenen Welt wird durch den Zuwachs der Erkenntnismacht ausgeglichen. Die schematische Psychologie mit ihrem deduktiven Verfahren drang nicht ins Innere der Seele. Erst der seherische Blick erfaßt den Menschen in seinem Bewegungsantrieb als das aufbauende Prinzip einer Wahrnehmungswelt, die sich ihre Farben zu den Dingen auslegt. Solche Kennerschaft „ermißt den Umfang von größter Tiefe. Man versteht sich vollkommen darauf, ein seelisches Vermögen herauszupräparieren. Man braucht eine Person nur zu sehen, um sie zu verstehen und in ihrem Wesen zu treffen. Mit spärlichem Beobachtungsmaterial, ein großer Entzifferer der verborgensten Innerlichheit! Er merkt scharf, hat ein feines Begreifen und ein sicheres Urteil: er entdeckt alles, alles gewahrt er, alles erreicht er und alles versteht er.“

Kein Wunder, daß die Psychologen hier Morgenluft wittern. Immer wieder spricht Gracián von den „zahoríes del corazón“, den magischen Deutern des Herzens. Sie brauchen keinen Spalt, um ins Innere zu gelangen.

Aus einem Eintrag über Gracián
 in einem spanischen Blog [Quelle].
Gracián teilt mit Machiavelli die Leidenschaft der Analyse, oder, um das ihm teure, damals modische Wort zu gebrauchen, der „seelischen Anatomie“. Es ist die spezifische Operation der Urteilskraft, die „Anatomie der Seele“ zu betreiben. Menschen mit sicherer Urteilskraft vermögen „auf diese Weise ein Subjekt bis ins Innerste zu zergliedern und es dann nach seinen Eigenschaften und nach seinem Wesen zu bestimmen.“ Intuition dagegen überspringt die einzelnen Phasen und setzt sich schlagartig in den Besitz des Innersten. Die Dinge wollen von ihrem Wesen her ergriffen werden. Bloßlegen seelischer Vorgänge erschöpft sich aber in keiner selbstgenügsamen Tatsachenwissenschaft, sondern verhilft ihnen zur Steuerung an die Oberfläche des Bewußtseins. Eine psychologische Theorie gewinnt sich erst in der pädagogischen Praxis. Elend und Glanz liegen so nahe in der menschlichen Welt, daß oft nur ein falscher Einsatz für ein Leben oder über einen Charakter entscheidet. Die große Chance des Lernens bilden die Fehler der andern. Dagegen gehört es zum Wesen der Vollendung, daß sie sich „unergründlich“ macht und dem bestimmenden Zugriff geflissentlich ausweicht. Ein anderes Verfahren ist hier am Platz als bei der Analyse von Fehlern. Die Beschreibung beschränkt sich auf ein andeutendes Evozieren: sie greift nicht, — sie sucht zu umfassen mit einem für alle Unendlichkeiten geöffneten Sprachvermögen.

Andere Geister haben vielleicht zur selben Zeit in tieferen Lagen der menschlichen Seele geschürft (Pascal) oder ihr beschränkteres Wissen zur Einheit des Systems gebracht (wie Vives, Huarte de San Juán, Descartes) oder durch ihre blasierte Haltung in dem Glanz einer rein beschreibenden Haltung den Anschein unbedingter Sachtreue wahren können. Das ist der Fall des Herzogs von La Rochefoucauld, der offensichtlich vielerorten an seinen spanischen Vorgänger anknüpft. Wenn Gracián beispielsweise den Rat gab, den Leidenschaften kurz vor Toresschluß zu entsagen, so heißt es in La Rochefoucaulds Maximen monumental: nicht wir verlassen die Leidenschaften, vielmehr sind es die Leidenschaften, die uns verlassen! Zweifellos faßt die geschliffene Eleganz dieses skeptischen Spruchs nur die eine Seite der menschlichen Wahrheit. Das Streben nach Dauer bleibt ja, auch wenn die Leidenschaft wegging. Mit seiner ewig wiederkehrenden Doppelthese, daß alles Streben auf Eigenliebe und alle Eigenliebe auf Schwachheit beruht, kreist La Rochefoucauld um den Befund des erlösungsbedürftigen Menschen, um den Menschen, der ohne die Gottesliebe ins Nichts absinkt.

Baltasar Gracián, Porträt nach einer Zeichnung
von Vicente Carderera (1796-1880) [Quelle]
Diese negative Theologie gehört ins Vorgelände von Port Royal, wo sich die Christlichkeit des Menschen noch einmal grundsätzlich festmachen konnte. Aber Gracián blieb nicht bei der halben Wahrheit stehen, bei dem Bedürfnis nach Dauer, das in der irdischen Knechtschaft der Leidenschaften verschmachtet. Der Mensch hat es in der Hand, sich selbst zu befreien. Für Gracián ist die Analyse nicht das letzte Wort (das dann zum Stichwort eines zürnenden oder gnädigen Gottes werden könnte). Seine Lebenslehre nimmt sich vor, den Menschen inmitten der Unbeständigkeit in der Richtung der Dauer zu versetzen, ihn flott zu machen für ein Überleben über die Schwäche, und zwar aus eigenster Kraft, mit denselben menschlichen Mitteln, deren Fehlanwendung die Schuld bei jedem Unglück erklärt. Gracián stellt die Seele auf sich selbst, und er weiß einen ersten Beitrag zu der bänglichen Frage an ein unwirtlich gewordenes, ungesichertes Leben: wie werde ich erfolgreich? — Das war mehr als genug, um seinen Ruhm bei der Moderne in einer dauerhaften Weise anzulegen. Diese Wendung ließ Gracián als Vorgänger einer psychologischen Sicht auf den Menschen erscheinen. Sie beweist nicht die größere Bedeutung, Tiefe oder den Vorsprung seiner Lehre vor den Lehren seiner Zeitgenossen, denen das Glück versagt blieb, ins Zwielicht einer Modernität zu geraten. Die moderne Vorliebe für Gracián gilt hier nur als ein Wink für ein ausführlicheres Eingehen auf die Neigungen seines Geistes — sie gibt eine erste Bestimmung für den Vorgang einer Emanzipation der menschlichen Seelenkräfte, der, geschichtlich gesehen, verknüpft ist mit der Emanzipation des politischen Wesens, und als eine politische Setzung erstmals von Machiavelli gewagt worden war.

Werner Krauss (1900-1976),
Romanist und Widerstandskämpfer
Quelle: Werner Krauss: Graciáns Lebenslehre. Vittorio Klostermann, Frankfurt am Main, 1947. Seiten 39-44

Krauss schrieb dieses Buch über den spanischen Moralisten Baltasar Gracián in der Todeszelle des Zuchthauses Plötzensee.



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