11. August 2017

Fritz Kreisler spielt Fritz Kreisler

Liebesfreud, Liebesleid, Schön Rosmarin: Wer kennt sie nicht, die "Alt-Wiener Tanzweisen", jene etwas altmodisch wirkenden, und doch zeitlosen Melodien. Auf der ganzen Welt werden sie gespielt. Ihren Charme entfalten diese kleinen Stücke erst durch die Kunst ihrer Darbietung. Keiner vermochte sie so elegant zu präsentieren wie ihr Schöpfer, der Geiger Fritz Kreisler.

Geboren wurde er am 2. Februar 1875 in Wien-Wieden. Seine Begabung für Musik zeigte sich früh. Mit sieben spielte er dem bekannten Violinisten Joseph Hellmesberger jun. vor und fand prompt Aufnahme in dessen Klasse. Nach drei Jahren schloss Fritz die Ausbildung am Wiener Konservatorium ab. Zwei Jahre später errang er in Paris den "Premier Grand Prix". Als 13-Jähriger debütierte er in Amerika.

Zurück in Wien, ließ der Vater den Buben die Schulbildung nachholen. 1892 maturierte Fritz am Piaristengymnasium. Bis zu seinem Präsenzdienst inskribierte er an der Universität Wien Medizin. "Als Offizier - na gut. Als Arzt - bestenfalls mittelmäßig. Als Musiker - erstklassig", befand Professor Theodor Billroth. Der junge Kreisler hat den Rat verstanden. Inzwischen 20-jährig, wandte er sich nochmals der Geige zu.

Aufstieg in den Olymp

Wenige Wochen Vorbereitung - während der auch die beiden berühmten Kadenzen zu Beethovens Violinkonzert entstanden - sollten genügen, um ein Probespiel für das Hofopernorchester zu bestehen. Kreisler trat an - und scheiterte. "Er kann nicht vom Blatt lesen", beschied ihm der strenge Konzertmeister Arnold Rosé. Dass es just diese Schwäche gewesen sein soll, verwundert. In Rhythmik und Stimmführung war Kreisler firm. Schon als Kind hatte er bei Anton Bruckner Unterricht in Tonsatz. Zudem war er ein ausgezeichneter Pianist.

Fritz Kreisler, 1875-1962
Im Jänner 1898, nur zwei Jahre später, stand Kreisler erneut vor den Mitgliedern des Hofopernorchesters. Diesmal aber nicht als Aufnahmewerber in deren Reihen, sondern als Solist eines philharmonischen Konzerts. Kreislers Spiel fand allseits Anerkennung. Dennoch kam seine Karriere nur langsam in Schwung. Noch fehlte der große, durchbrechende Erfolg.

Am 1. Dezember 1899 war es dann so weit. Kreisler spielte mit den Berliner Philharmonikern unter Arthur Nikisch. Mit dem Mendelssohn-Konzert wollte er sein ganzes Können unter Beweis stellen. Der Industrielle Ernst Posselt hatte ihm diese Chance eröffnet. Kreisler nützte sie. Unter den Zuhörern befand sich auch der berühmte belgische Geiger Eugène Ysaÿe. Er sprang nach dem ersten Satz spontan auf und spendete dem jungen Künstler demonstrativ Applaus. Damit war der Bann gebrochen. Am folgenden Tag überschlugen sich die Kritiken. Kreisler war in den Olymp der Violinisten aufgenommen.

Mit Ysaÿe verband Kreisler seither eine lebenslange Freundschaft. Daher war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, dem älteren Kollegen zwei Jahre später auszuhelfen und ohne Verständigungsprobe mit den Berliner Philharmonikern das Beethoven-Konzert zu spielen - allerdings mit einem geliehenen Instrument. Seine Geige hatte Kreisler wenige Tage zuvor in Paris versetzt.

Mit derartigen Eskapaden war es zu Beginn des neuen Jahrhunderts vorbei. Auf der Überfahrt von Amerika nach Europa lernte Kreisler die selbstbewusste, adrette Harriet Woerz Lies kennen, Tochter eines Tabakhändlers aus Brooklyn. Für Kreisler war es Liebe auf den ersten Blick. Noch an Bord der "Fürst Bismarck" verlobten sich die zwei. Im folgenden Jahr heirateten sie.

Fritz Kreisler, 29 yrs old
Eiserne Managerin

Harriet erkannte schnell, dass Kreislers Leben besser organisiert werden muss. Sie managte ihn, drängte ihn zum Üben, bestimmte über sein Leben. Ihren Kritikern - darunter vielen Freunden Kreislers - hielt sie entgegen: "Schließlich kenne ich Fritz am besten. Ich habe ihn geformt. Die ganze Welt lobt das Resultat. Ich weiß, was für ihn gut ist". Kreisler fügte sich. Manch lieb gewordene Gewohnheit gab er für Harriet auf. Zeitlebens blieb er ihr treu ergeben. Wiederholt erklärte er öffentlich in der für ihn so typisch bescheidenen Art: "Alles, was ich als Geiger bin, habe ich Harriet zu verdanken".

Seinen Wohnsitz nahm das junge Paar zunächst in London. Dort brachte Kreisler am 10. November 1910 unter dem Dirigat Edward Elgars dessen Violinkonzert zur Uraufführung. Elgar hatte das Konzert Kreisler gewidmet, der es durch sein Spiel weltweit bekannt machte. Von London aus eroberte Kreisler sämtliche Kulturzentren Europas. Hinzu kamen ausgiebige Amerika-Tourneen. Kreislers Pensum ist beeindruckend. Im Oktober 1912 gab er 32 Konzerte. Im Folgejahr trat er allein sieben Mal in New York auf.

Während dieser Zeit entstanden Kreislers schönste Kompositionen, darunter die "Klassischen Manuskripte". Sie sorgten 25 Jahre später für einen Eklat. Kreisler gab nämlich vor, es handle sich bei dieser Musik um verschollene Werke alter Meister. Die Noten hätte er in einem Kloster bei Avignon entdeckt und den Mönchen um eine erkleckliche Summe Geldes abgekauft. Die Geschichte war frei erfunden. Tatsächlich hatte Kreisler die Stücke im Stil der Barockmusik selbst geschaffen. Just an seinem 60. Geburtstag, den Kreisler in Wien beging, wurde seine Urheberschaft enttarnt.

Fritz Kreisler with colleagues Harold Bauer,
Pablo Casals, and Walter Damrosch
 at Carnegie Hall on March 13, 1917
Eigentlich habe ihn gewundert, dass es so lange gedauert hatte, bis die Herkunft der Stücke hinterfragt wurde, meinte Kreisler lakonisch. Schließlich habe er den Großteil seiner Kompositionen schon 1910 zum Druck freigegeben. Aufgelegt wurden die Stücke zunächst im Schott-Verlag. Die Noten fanden reißenden Absatz. Binnen sechs Monaten waren rund 70.000 Exemplare verkauft.

Man wollte Kreisler nicht nur spielen, sondern in erster Linie hören. Die Sorge, die Leute würden zwar seine Platten kaufen, aber nicht mehr in die Konzerte kommen, war unbegründet. Wer Kreisler auf Schellack hörte, wollte ihn erst recht live erleben. Das neue Medium hat die Popularität des arrivierten Künstlers noch gesteigert. Wiederum hatte Harriet für ihren Mann die richtige Entscheidung getroffen.

Als Mensch blieb Kreisler auch in Zeiten größter Erfolge bescheiden und seinen Prinzipien treu. Er setzte dabei zunächst sein Leben und später die Karriere aufs Spiel. Als ihn 1914 der Einberufungsbefehl erreichte, entzog er sich nicht und sagte alle Konzertverpflichtungen ab. Den Fronteinsatz in Galizien bezahlte er mit einer Verletzung am Bein. Mehr als die physischen Schmerzen trafen ihn aber die Vorwürfe nach seiner Rückkehr in Amerika, er würde mit seinen Konzerteinnahmen die Anschaffung von Kriegsgerät in Europa finanzieren.

Fritz Kreisler playing the violin in an NBC studio premium photographic print
Mehrfach legte Kreisler seine Finanzen offen. Dem greisen Vater lasse er eine kleine Rente zukommen; alles Übrige seien Spenden an Kriegsopfer in der Heimat. Allein, man glaubte ihm nicht. Tief gekränkt zog sich Kreisler zurück und widmete sich bis Kriegsende ganz dem Komponieren. In dieser Zeit entstanden die Operetten "Apple Blossoms" und "Sissy" sowie das - selten aufgeführte - Streichquartett in a-moll. "Es ist mein Bekenntnis zu Wien", wie Kreisler später sagte.

Am 27. Oktober 1919 gab Kreisler in der Carnegie Hall, New York, sein Comeback. Das Publikum jubelte ihm zu. Es war, als wäre er nie fort gewesen. In den folgenden Jahren feierte er Triumphe im Fernen Osten, in Australien und Südamerika. Die Welt aber steckte in einer tiefen Krise. Insbesondere in Europa litten die Menschen als Folge des Krieges an Hunger und Armut. Kreisler übersah sie nicht. Er, der wie kein Zweiter in seiner Branche verdiente, gab auch, reichlich. Vor allem die Kleinsten bedachte das kinderlos gebliebene Ehepaar. Fritz und Harriet überwiesen die Honorare zahlreicher Wohltätigkeitskonzerte; sie verteilten, jährlich zu Weihnachten, selbst geschnürter Hilfspakete.

So berührend diese Herzlichkeiten waren - in einer Frage blieb Kreisler hart: Wilhelm Furtwängler - und die Mächtigen hinter ihm - ließ er wissen, dass er in Deutschland erst wieder auftreten werde, wenn dort auch alle anderen Künstler wieder willkommen seien. Für diese Haltung gab Kreisler sein schmuckes Haus in Berlin Grunewald auf, nahm die Trennung von Freunden und Besitz in Kauf. 1939 wandte er sich endgültig von Europa ab und kehrte nach Amerika zurück.

Die Schrecken eines weiteren Krieges blieben Kreisler erspart, doch wäre er im April 1941 beinahe bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Gedankenverloren überquerte der Künstler die New Yorker Madison Avenue und übersah einen abzweigenden Lastwagen. Diagnose: Schädelfraktur. Wochenlang lag er im Koma. Es war ungewiss, ob er je wieder spielen können würde.

Photographers surrounding the Austrian violinist Fritz Kreisler and his wife,
 Harriet Lies Woerz, upon their arrival on an unknown ship in New York
 Harbor. The gathering of newsmen on ships’ decks was a frequent
 scene in the early 1900s. 1921.
Wertvoller Nachlass

Nach seiner Genesung trat Kreisler noch auf. Er spürte aber, dass es Zeit war, Abschied zu nehmen. Am 1. November 1947 gab er sein letztes öffentliches Konzert. Auf dem Programm stand Chaussons "Poème". Das Autograph hatte ihm Ysaÿe vermacht. Kreisler schenkte es der Library of Congress. Ihr stiftete er auch das Original von Brahms’ Violinkonzert und seine geliebte Konzertgeige, eine Guarneri del Gesù. Die kostbare Bibliothek ließ er zugunsten karitativer Zwecke versteigern. Von anderen wertvollen Violinen, darunter mehreren Geigen von Stradivari, hatte er sich bereits getrennt. Am 29. Jänner 1962 schloss Kreisler, kurz vor Vollendung des 87. Lebensjahres, für immer die Augen. Harriet ist ihm 16 Monate später gefolgt.

Geblieben sind von Fritz Kreisler neben rund 200 Kompositionen und Arrangements zahlreiche Plattenaufnahmen. Sie lassen erahnen, wie innig, zu Herzen gehend sein Ton gewesen sein muss. Die große Sopranistin Nellie Melba riet einst einem Gesangsschüler: "Hören Sie Kreisler zu, wenn er spielt, dann werden Sie wissen, wie man beim Singen zu phrasieren hat." Für den Violinisten Fritz Kreisler kann es kein schöneres Kompliment geben.

Quelle: Peter Kastner: Botschafter der Musik. In: Wiener Zeitung vom 27.01.2012


Track 4: Fritz Kreisler: Liebesleid (recorded 1942)


TRACKLIST

Great Violinists - Kreisler

Kreisler plays Kreisler
(Recorded from 1942-1946)


01 KREISLER: Caprice viennois, Op. 2                             4:18  
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia 
on matrix CS-07l315-2A.
First issued on Victor 11-8230 in album M-910.

02 KREISLER: Tambourin chinois, Op. 3                            3:57
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia 
on matrix CS-071316-2.
First issued on Victor 11-8230 in album M-910.

03 KREISLER: Liebesfreud                                         3:42
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia 
on matrix CS-071317-1.
First issued on Victor 11-8231 in album M-910.

04 KREISLER: Liebesleid                                          4:15
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia 
on matrix CS-07l318-1.
First issued on Victor 11-8231 in album M-910.

05 KREISLER: Schön Rosmarin                                      1:49
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia 
on matrix CS-071320-1.
First issued on Victor 11-8232 in album M-910.

06 KREISLER: La gitana                                           3:13
Recorded 15th January 1942 in the Academy of Music, Philadelphia 
on matrix CS-07l3l9-l.
First issucd on Victor 11-8232 in album M-910.

07 KREISLER: The Old Refrain                                     3:26
Recorded 4th May 1945 in the Lotos Club, New York City 
on matrix D5-RB-740-2.
First issued on Victor 10-1202 in album M-1044.

08 KREISLER: Marche miniature viennoise                          3:01
Recorded 9th May 1945 in the Lotos Club, New York City 
on matrix D5-RB-750-1.
First issued on Victor 10-1202 in album M-1044.

09 KREISLER: Rondino on a Theme by Beethoven                     2:58
Recorded 4th May 1945 in the Lotos Club, New York City 
on matrix D5-RB-739-1.
First issued on Victor 10-1203 in album M-1044.

10 HEUBERGER (arr. KREISLER): Midnight Bells                     3:44
Recordcd 4th May 1945 in the Lotos Club, New York City 
on matrix D5-RB-742-2.
First issucd on Victor 10-1203 in album M-1044.

11 TRADITIONAL (arr. KREISLER): Londonderry Air                  3:42
Recorded 4th May 1945 in the Lotos Club, New York City 
on matrix D5-RB-741-1.
First issued on Victor 10-1204 in album M-1044.

12 HAYDN (arr. KREISLER): Hungarian Rondo                        3:20
Recorded 9th May 1945 in the Lotos Club, New York City 
on matrix D5-RB-75l-1.
First issued on Victor 10-1204 in album M-1044.

13 KREISLER: Chanson Louis XIII and Pavane                       4:55
Recorded 9th May 1945 in the Lotos Club, New York City 
on matrix D5-RC-954-1A.
First issued on Victor 1 l-9265 in album M-1070.

14 NEVIN (arr. KREISLER): The Rosary                             2:06
Recorded 20th December 1946 in the Lotos Club, New York City 
on matrix D6-RB-3497-2A.
First issued on RCA Victor 10-1395.

15 KREISLER: Stars in My Eyes (from "The King Steps Out")        3:04
Recorded 20th December 1946 in the Lotos Club, New York City 
on matrix D6-RB-3498-3A.
First issued on RCA Victor 10-1395.

16 KREISLER: Viennese Rhapsodie Fantasietta                      8:35
Recorded 20th December 1946 in the Lotos Club, New York City 
on matrices D6-RC-6642-2 and 6643-2.
First issued on RCA Victor 11-9952.


Fritz Kreisler, violin

Charles O'Connell / Victor Symphony Orchestra (Tracks 1 - 6)
Donald Voorhees / Victor Symphony Orchestra (Tracks 7 - 13)
Donald Voorhees / RCA Victor Orchestra (Tracks 14 - 16)

Archivist and Restoration Producer: Mark Obert-Thorn
(P) + (C) 2001



Die Passion



Caravaggios Stationen. Von der Lieblichkeit zur Grausamkeit

Caravaggio: Kopf der Medusa, 1597. Galleria degli Uffizi, Florenz.
Paul Valéry erfand Monsieur Teste und machte ihn zu einem Prominenten des 20. Jahrhunderts. Von seinem intellektuellen Helden wollte Valéry das Äußerste wissen. Er fragte nach den Bildern, die kurz vor dem Eintritt des Todes den menschlichen Geist durchziehen. »Vielleicht«, schrieb Valéry in seinen Cahiers, »werde ich ganz und gar in einem erschreckenden, kurzen Blick enthalten sein.« Weil Paul Valéry alles über diesen »kurzen Blick« erfahren wollte, mußte Monsieur Teste leiden.

Vierhundert Jahre vor Valérys Todeserkundung ging der Künstler Caravaggio als Maler des Schmerzes, der Lust, des Lichts und des »kurzen Blicks« in die Kunstgeschichte ein. Caravaggio verfolgte eine eigene Strategie. Selbstverständlich erzählte auch er die alten Geschichten, die zu seiner Zeit in aller Munde waren, denn jedes Dorfkind sollte die Geschichten von Maria, Joseph und dem Kind, von den Heiligen und Märtyrern, von den Wundern und die Mord- und Totschlagszenen aus der Bibel in- und auswendig kennen.

Der Maler Caravaggio erzählte persönlich und unverwechselbar. Aus den Details heraus sagte er allen, die es sehen wollten, daß sein Vertrauen in die Kataloge menschlicher Tugenden gering war, daß er wußte, was hinter dem Rücken geschah, daß Spieler Falschspieler sind, die ihre Karten im Ärmel verstecken, und gutgekleidete Frauen jungen Männern Ringe vom Finger ziehen, während sie vorgeben, ihnen die Zukunft aus den Händen zu lesen. Caravaggios Abwehr gegenüber christlichen und humanistischen Denkweisen kann bei einer so offensichtlichen Alltagsskepsis jeder erkennen. Alles zusammen ist eine direkte Abwehr und Reaktion auf die ideologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit, in der sich die Überlieferungen der Antike mit den Erkenntnissen und dem Verlangen der Frühen Neuzeit kreuzten.

Caravaggio: Knabe mit Früchtekorb, 1593/94, Galleria Borghese, Rom.
Caravaggio inszeniert die alten Geschichten so, daß uns auch heute noch der Atem stockt. Die riskante Dramatik, die er in seine Personen hineinlegte, ließ ihn zum Außenseiter unter den Malern frommer Sujets werden. Caravaggios Erzählungen dringen durch die Oberfläche der Auftragsmalerei zum Kern des Menschlichen vor. Seine Bilder sind nicht zum Schein gemalt. Sie sind subjektive, von den Energien des Unbewußten geleitete Interpretationen. Aber seine künstlerische Produktion steht noch unter einer ganz anderen Spannung: »Das Licht und der Körper, zwei große Mächte!« Valérys pathetischer Ausruf ist der Wegweiser zu Caravaggios Kunst-Dichotomie, von der seine Interpreten bis heute nicht viel wissen wollen. Sie kapitulieren vor dem Realismus dieses Malers und beschwichtigen sich mit dem Fleiß psychologisierender Deutungen.

Die Scheu vor der realistischen Nähe ist Schuld daran, daß Caravaggio, der eigentlich Michelangelo Merisi hieß, entweder unter den Phantasien seiner Interpreten begraben liegt oder zum Joker für Schriftsteller und Filmregisseure wurde. Wer einen Maler verehrt, zieht ihn zu sich, in seine eigene Zeit. Caravaggio, ein ideales Mannsbild, kämpferisch, widerstandsfähig und homoerotisch, schön, stark, zornig und pervers wie der abgeschlagene Kopf Goliaths, der Caravaggios eigenes Selbstbildnis sein soll. In der Euphorie wurden jedes Männerporträt oder jede Männergruppe als Beweisstück gefeiert und seine lieblichen und innigen frühen Magdalena- und Mariendarstellungen übersehen.

»Der Mann namens Caravaggio stößt alle Fenster im Zimmer auf, damit er die Geräusche der Nacht hören kann. Er zieht sich aus, reibt sich mit den Handflächen sanft über den Nacken und legt sich eine Weile auf das ungemachte Bett.« Michael Ondaatje nannte die zwielichtigste Figur in seinem Roman Der englische Patient Caravaggio. Dieser Mann, der eine Karriere als Dieb und Spion hinter sich hat, soll ein Wiedergänger des Malers Caravaggio sein, der in der Zeit der Gegenreformation ein Leben auf der Flucht, ein Leben von Gewalt und Gegenwehr hinter sich brachte. Derek Jarman verfilmte 1986 in Caravaggio die Biographie des Künstlers als homoerotische Ausschweifung. Jarman bediente sich aller Legenden aus dessen Leben und erweiterte es zu einem Tableau nach seinem Geschmack, changierend zwischen Eros und Gewalt.

Caravaggio: Knabe, der von einer Eidechse gebissen wird,
 1594/95. Florenz, Fondazione Longhi.
Bis heute ist Caravaggios Werk mit seiner Biographie eng verflochten. Jeder Interpret ist voreingenommen von Caravaggios persönlicher Geschichte, die blutrünstig, abenteuerlich und ausschweifend war. Die These vom homoerotischen Künstler Caravaggio kann für viele Zwecke gefügig gemacht werden, und schon werden die Enthauptungen von Goliath und Holofernes zum Sinnbild der Kastration, eine Tischplatte ist eine Sargplatte, eine geknotete Schleife, zwei Pfirsiche und Weintrauben sind offensichtliche Zeichen sexueller Passion, die sich in jedem Fetzen nackter Haut, in halbgeöffneten Mündern und hinabrutschenden Blusen abbilden. Nachträglich wurde Caravaggio zum Mitglied homoerotischer Zirkel stilisiert. Das ist mehr als ungenau, denn die »trennscharfe Unterscheidung zwischen Erotik, Homoerotik und Freundschaft« erzwang erst, wie Jutta Held in ihrem Caravaggio-Buch ausführt, die moderne Lebensweise und ihre Rechtsprechung.

Caravaggio hat das Spiel mit Sinnlichkeiten und special effects jedoch selbst angezettelt. Er lieferte die Gruselangebote von Schlangen, Maden, Eidechsen, blanken Schwertern, Blutströmen und Medusenhäuptern, Mördern und Mörderinnen. Er brachte Gewaltdarstellungen in den frömmsten Szenen unter, denn nur zu Beginn seiner Karriere malte er profane Bilder, und schon der Knabe mit Fruchtkorb preßt einen überladenen, mit Feigenblattern dekorierten Korb an seine Brust und fixiert flehentlich den Betrachter. Er will den Korb behalten und gleichzeitig verschenken, denn, ach, es wohnen zwei Seelen in seiner Brust, Eros und Thanatos.

Schon in diesem frühen Bild zählt die Geschichte hinter der Geschichte, der Subtext ist der Stoff, um den es auch in den folgenden Jahren geht. Im Bild vom Knaben, der von einer Eidechse gebissen wird zeigt der Maler seine große Lust an der Übertreibung. Der Schmerz des Echsenbisses verzerrt die Gesichtszüge des Knaben, der sich mit einer Rose hinter dem Ohr geschmückt hat.

Caravaggio: Berufung des Matthäus, um 1600.
Contarelli Kapelle, San Luigi dei Francesi, Rom.
Schönheit und Gefahr war das Gegensatzpaar, das dem intellektuellen Spiel des späten 16. Jahrhunderts seine Aufregung verlieh. Die Eidechse, die auch in Lorenzo Lottos Bildnis vom jungen Mann über die blaue Fransendecke kriecht, ist ein phallisches Symbol, die Rose gehört zu den Attributen der Venus, die Rose hinter dem Ohr des Jünglings ist ein amouröses Angebot, ebenso die Kirschen und der Jasmin, die über den Tisch verstreut sind. Ein Spiel mit doppelter Bedeutung, so malte Caravaggio Bilder der Lust und versteckte sein Thema hinter der Fratze des Schmerzes.

Michelangelo Merisi kam als provinzieller Fremder aus Caravaggio, einem Ort unweit Mailands, in die »ewige« Stadt. Sein Vater, Signor Fermo, wird mal als Maurer, mal als Haushofmeister oder Architekt im Dienst des Marquese di Caravaggio, Francesco Sforza, eingestuft; mal ist Caravaggio, der 1571 geboren wurde, plebejischer Herkunft, mal Sohn des aufstrebenden Bürgers. Im Alter von elf Jahren schickte seine Mutter ihn nach Mailand zum Bergamesker Künstler Simone Peterzano in die Lehre. Nach dem Tod der Eltern, aber spätestens 1593, setzte er sich nach Rom ab. Ob Caravaggio, wie oft behauptet wird, auf der Reise in Venedig Station machte, ist nicht belegt.

Die Historiker haben sich angewöhnt, von einer Krise im langen 17. Jahrhundert zu sprechen. Ein Grund für die Probleme (die uns fernliegen wie die heutigen Schwierigkeiten der Dritten Welt) war unter anderem die Umstellung der Landwirtschaft auf die Produktionsbedürfnisse der Textilindustrie. Aus Getreideanbauland wurde Weideland für die Schafherden, die Brotversorgung brach zusammen, und das Getreide mußte importiert werden, was so kompliziert war, wie es heute klingt. Rom hatte ein Hungerjahr hinter sich, und niemand wartete auf einen unbekannten Maler aus dem Norden.

Caravaggio: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, um 1594.
 Galleria Doria Pamphilj, Rom.
Zuerst beschäftigte ihn ein Genremaler, der sein Geschäft unter freiem Himmel betrieb, dann durfte er beim Maler Cavalier d’Arpino Blumen und Früchte malen - was Caravaggio dort lernte, ist auf seinen Bacchusdarstellungen und Obstkorb-Stilleben zu sehen. Schließlich wurde Kardinal Del Monte auf Caravaggio aufmerksam, nahm ihn bis um das Jahr 1600 auf und unter seinen Schutz.

Heute wie damals war Rom die Stadt der großen Synthese, die heidnische Antike trifft auf das Christentum, das eine wächst aus und über dem anderen. Der Mann, der mit seinem Mädchen bei einer großen Demonstration auf der Piazza Navona gerade das rote Tuch mit Hammer und Sichel geschwenkt hatte, als ginge es um sein junges Leben, rollt jetzt seine spitz zulaufende Fahne vor der Kirche S. Agostino ein und stellt sie schräg in die Ecke vor der Tür. Vor Caravaggios Madonna von Loreto in der Cavalletti-Kapelle klopft er ein schnelles Kreuzzeichen auf Stirn, Schultern und Brust. Das Bild zeigt eine Bäuerin und einen Hirten, die breitbeinig mit bloßen schmutzigen Fußsohlen vor Maria knien, sie zieht das Baby an sich, ein Monster unter den Neugeborenen.

Maria spürt das Gewicht des Kindes in ihren Armen nicht, ihre Beine sind übereinandergeschlagen, sie tänzelt auf Spitzen. Maria schaut nicht, wie auf den Bildern vieler Zeitgenossen, auf den Betrachter, sie hat sich den Betenden zugewandt, und ihr Blick ist eine weiche Liebkosung. Der junge Mann und das junge Mädchen und all die anderen, alle die da stehen und sehen, sind gefangen von diesem Blick. Doch das Licht geht aus, der für eine 500-Lire-Münze eingekaufte Strom ist verbraucht, ein allgemein verfluchter Trick der italienischen Bildbetrachtungsregie, es wird wieder dunkel, und das Andachtsbild entzieht sich den Augen.

Ruhe auf der Flucht nach Ägypten,
Detail: Josef und der musizierende Engel
Etwas Klügeres hätte Ermete Cavalletti nicht machen können, als die 500 scudi seiner Hinterlassenschaft zum Erwerb einer Seitenkapelle zu bestimmen, in der das Bild der Madonna von Loreto links vom Haupteingang hängt. Cavalletti wollte sich durch diese gute Tat dem Himmel und allen Heiligen empfehlen. Was auch immer mit seiner Seele geschehen sein mag: Caravaggios Bild ist Balsam fur viele, auch für viele, die ungläubig sind.

Caravaggio wohnte während seiner römischen Zeit, die acht oder neun Jahre gedauert haben mag, auch nachdem er nicht mehr Gast im Haus des Kardinals Del Monte war, immer im Quartier um die Piazza Navona. Del Monte war in Rom wohl eher eine politische Randfigur, aber er umgab sich mit einem ungewöhnlichen Freundeskreis aus Esoterikern und Naturwissenschaftlern, zu dem auch Galilei gehörte, was beweist, daß der Kardinal seine gesellschaftliche Standesgrenze weit überschritt. Außerdem sammelte er Saiteninstrumente, das mag der Grund dafür sein, daß auf Caravaggios Bildern niemals ein Blasinstrument vorkommt.

Von der Piazza Navona zur Kirche S. Luigi dei Francesi ist es nicht weit. In der Contarelli-Kapelle hängen Caravaggios berühmte Szenen aus dem Leben des Matthäus. Das erste der drei Bilder, die Berufung des Matthäus, machte Caravaggio als Lichtmaler bekannt und war Vorbild für den um sich greifenden »Caravaggismus«. Der geniale Beleuchter Caravaggio war ein Maler der Dunkelheit und, wie der lichtbringende Prometheus, ein Aufbegehrer. Er reißt die Finsternis im Raum mit dem hohen verschlossenen Fenster einen Spaltbreit auf, ertappt und erschrickt mit einem diagonal einfallenden Lichtstreifen die fünf um Geld spielenden Männer am Tisch. Mit Daumen und Zeigefinger deutet sich Matthäus ungläubig auf die Brust.

Caravaggio: Büßende Magdalena, um 1597.
 Galleria Doria Pamphilj, Rom.
Als Jugendlicher war W., unser alter Freund, zum letzten Mal in der Galleria Doria Pamphilj. Es ist nicht einfach, in diese Galleria, die nur selten geöffnet ist, hineinzukommen. Eine herrschaftliche Treppe führt in die Belle Etage der Pamphiljs. W. sucht nicht Velázquez’ strenges und maßlos forderndes Porträt von Papst Innozenz X., dessen Augenpaar alle fixiert, die sich ihm nähern. Der Papst, so sagt es Velázquez, wollte keines seiner Schafe dem Wolf oder dem Protestantismus überlassen. Doch W. sucht, er sucht Caravaggios Ruhe auf der Flucht und seine Magdalena, die er im Tonfall der Entrücktheit schon seit Tagen »meine Winter-Somnam bule« nennt. K. preßt, als unser Freund W. die beiden Bilder endlich gefunden hat, ein rigoroses »Unbedeutend«, »Sind doch niemals Caravaggios« heraus, und unser Freund W. dreht sich, uns mit schrecklichen Blicken verdammend, um. Es gibt Bilder, die verstecken sich. Sie blenden und verlangen, geöffnet zu werden. Unser Freund W. ist abgetaucht, unsere Fragen und Bemerkungen, unsere gesamte Existenz nimmt er nicht mehr wahr.

Der Engel auf Caravaggios Gemälde zeigt seine mit einer weißen Schärpe dekorierte Rückenansicht. Das Band weißen Stoffs, das in einem eleganten Schwung von der Taille über die Knie in einem auslaufenden Zipfel den Boden streift: erinnert an Diors berühmte Ballkleider aus den fünfziger Jahren. Auch Tintoretto und Caravaggios Konkurrent Annibale Carracci konnten Schleifen drapieren, aber bei Carracci fallen sie voluminöser aus. Hier entspricht die kurvig fallende Schärpe dem Schwung der rötlichen Locken des Engelskopfs, der im Profil zu sehen ist. Konzentriert streicht der Engelsknabe die Violine, und der alte Joseph, den man zu dieser Zeit eigentlich schon als jüngeren Mann malte, damit die Familienidylle plausibel erscheint, hält die Noten.

Daß es sich bei den aufgeschlagenen Notenblättern um eine Motette aus der Marien-Vesper handelt, haben Musikwissenschaftler herausgefunden, obwohl nur die In- itiale »Q« zu lesen ist. »Quam pulchra es et quam decora carissima in delicii« (»Wie schön, wie hold bist Du, Geliebte, Du Wonnevolle!«). Diesen Text des Hohelieds 7,7—8 hat auch Monteverdi vertont. Bevor der Begriff »Vesper« in den Alltag überführt und das Wort für eine deftige Brotzeit wurde, bezeichnete der lateinische Begriff den beginnenden Abend. In diese Dämmerstimmung versenkte Caravaggio sein durch die Gestalt des Engels in eine Licht- und Schattenseite zweigeteiltes Bild.

Caravaggio: Die Bekehrung des Paulus, 2.Fassung,
 um 1604, Cerasi-Kapelle, Santa Maria del Popolo, Rom.
Joseph sitzt auf dem Gepäcksack, eine Korbflasche ist daran gelehnt. Er hält die Noten und schaut dabei dem Engel direkt in die Augen. Der Esel, dicht an ihn geschmiegt, tut das auch. Diese unmittelbare Nähe ist untypisch für die Zeit, in der man sich von den Tieren fernzuhalten begann. Aber diesen alten Joseph stört das nicht, er reibt sich seine bloßen Zehen aneinander, vor denen Steine liegen, die allen Vorbeikommenden sagen, daß er unfruchtbar ist, damit auch niemand an der Makellosigkeit des Wunderkinds zweifelt. Die rechte Hälfte des Bildes schimmert in honigfarbenes Licht gebettet.

Marias Haupt ist auf den blonden Kopf des Babys gesunken, ihr Arm in dem sanft roten Kleid ist übers Knie gerutscht, die rötlichen Haare, die von einem dünnen goldgelben Schal gehalten werden, der um ihren Ausschnitt fällt, liegen üppig und ungeordnet um ihren Kopf. Das starke Grün des Grases, aus dem Pflanzen mit fetten Blättern wachsen, unterscheidet sich von der Herbstfärbung des Baums und der Farbe des Schilfs, die an einem Bachbett stehen. Auch die filigranen Bäume auf der anderen Seite des Wassers sind schon herbstlich gefärbt.

Der berückende Engel mit den wuchtigen dunklen Vogelflügeln spielt das Vesperlied für Maria und das Kind. Die Melodie vertreibt die Aufregung der Reise, und Maria, auch das sagt der Maler Caravaggio in diesem Bild voraus, wird später die Schmerzensmutter sein, die den Leichnam ihres Kindes auf dem Schoß hält, traurig und starr, wie ihr toter Sohn.

Caravaggios lyrisches Frühwerk gehört zum Genre der Concert champêtre, den ländlichen Konzerten, wie Giorgione sie gemalt hat und wie sie Frankreich im 18. Jahrhundert liebte. Caravaggio hat in das Bild die Träume des Joseph einfließen lassen, die der Evangelist Matthäus aufgeschrieben hat. Im dritten Traum erfährt Joseph, daß Herodes nicht mehr am Leben ist und daß sich der pater familias ganz schnell mit seiner Kleinfamilie auf den Weg in das Heilige Land machen soll.

Caravaggio: Kreuzigung Petri, um 1604.
Cerasi-Kapelle, Santa Maria del Popolo, Rom.
Caravaggios Büßende Magdalena, in der wir Caravaggios Maria-Modell wiedererkennen, hängt in der Galleria Doria Pamphilj gleich neben dem Familienbild. Magdalena ist keine Sünderin, sie ist ein unschuldiges Kind. Sie schläft. Magdalena sitzt auf einem Kinderstuhl. Eine Träne klebt an ihrem Nasenflügel, wie der Tropfen Glyzerin, den Man Ray 1932 seinem Modell aufgeklebt hat. Magdalena schläft mit geöffnetem Mund, das lange glatte rote Haar hängt, im Nacken lose zusammengebunden, auf ihren Schultern, ein paar Strähnen sind auf den weißen weiten Ärmel geglitten, ein braunroter Umhang liegt über ihrem Schoß und fällt in breiten Bahnen auf die Fliesen. Der Damast ihres Kleides ist prachtvoll gemustert, Ohrringe, Perlen, Armbänder, Ketten liegen auf dem Boden, und man sieht das leere Loch, das der fehlende Ohrring hinterlassen hat, in ihrem durchstochenen Ohr. Magdalena schläft vor einem olivdunklen Grund, nur am rechten Bildrand ist ein Dreieck erhellt. Das gläserne Salbgefäß, Attribut Magdalenas, ist zu Dreiviertel mit Salböl gefüllt. Caravaggio malte keine Büßerin, sondern ein schlafendes Kind, ein Bild totaler Unschuld.

Und wieder interpretiert Caravaggio einen überkommenen biblischen Stoff ganz anders als all die Maler seiner Zeit. Tizian zum Beispiel bedeckte den Leib und die üppigen Brüste seiner Maria Magdalena mit nichts als ihrem bodenlangen welligen Haar, und auch die meisten Magdalenen anderer Künstler sind herzerweichende, schuldbeladene Büßerinnen. Soviel Sanftmut wie im Ausdruck der »Winter-Somnambulen« sieht man allerdings auch bei Caravaggio nie wieder.

Caravaggio: David mit dem Haupte Goliaths,
1605/06, Galleria Borghese, Rom.
Um 1600, nachdem er in der Kirche Santa Maria del Popolo die Bekehrung des Paulus und das Martyrium Petri fertiggestellt hat, gerät er aus der Bahn. Wiederholt ist er in Streitigkeiten verwickelt, eine gerichtliche Auseinandersetzung zieht eine andere nach sich. Im Zorn greift er Personen an und beleidigt sie, wirft einem Wirt einen Teller ins Gesicht, trägt illegal Waffen bei sich, randaliert, bleibt seine Miete schuldig und verspottet die Werke anderer Künstler. Als er 1601 im Streit um eine Wette oder um ein Spiel Ranuccio Tommasoni da Terni, Sohn aus einflußreicher Familie, tötet, flieht er. Zuerst nach Neapel, wo er für eine karitative Vereinigung die Sieben Werke der Barmherzigkeit malt, dann nach Malta, dort wird er in den Malteserorden aufgenommen. Als Caravaggio auch in Malta mit der Justiz aneinandergerät und seine Mordtat bekannt wird, entkommt er nach Messina. In Neapel stellen ihn seine Feinde und verletzen ihn schwer. Kardinal Gonzaga versucht für ihn eine Amnestie zu erwirken, Caravaggio macht sich auf den Weg nach Rom und stirbt am 18. November 1610 unterwegs, »so elend«, wie Giovanni Baglione in seinen Vite dè pittori, scultori, et architetti schreibt, »wie er gelebt hatte«.

Die Maßlosigkeit des Gefühls, die sich auf Caravaggios frühen Bildern als wunderbare Ruhe zu erkennen gibt, wird zurückgedrängt von Gewaltdarstellungen, genau und mitleidend erzählt, eine Bilderfolge über erfahrene Schmerzen und den Kummer der Trauernden. David hält in der linken Hand den Kopf Goliaths, der Caravaggios Züge trägt. Die blutige Stirn ist in Falten gelegt, die Augen sind halb geschlossen, der Mund mit den groben Zähnen ist zum Schrei erstarrt.

In diesem Goliathskopf hat sich der Künstler selbst ein Andenken gesetzt. Auch die Naturphilosophie des 16. Jahrhunderts interessierte sich für den Zusammenhang zwischen Körper und Seele. Caravaggio malt den Schmerz und schildert die Empfindung. In dem Gemälde vom enthaupteten Goliath hätte Paul Valérys Monsieur Teste sein Verlangen nach dem kurzen Blick, der das gesamte Leben zusammenfaßt, wiederfinden können.

Quelle: Verena Auffermann: Das geöffnete Kleid. Von Giorgione zu Tiepolo. Essays. Berlin Verlag, 1999. ISBN 3-8270-0309-1. Seiten 97-111


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