17. Mai 2019

Walter Braunfels: Streichquartette 1 & 2

Der aus Frankfurt a.M. stammende Walter Braunfels (1882-1954) reüssierte als Pianist und Komponist. Der künstlerische Durchbruch als Komponist gelang ihm 1920 mit der Uraufführung zweier seiner Werke: den Variationen für großes Orchester, den Phantastische Erscheinungen eines Themas von Hector Berlioz (op. 25), und der Oper Die Vögel (op. 30). Die spritzige Geistigkeit, der starke Formwille und die virtuose Orchestrierung der Berlioz-Variationen und die »lyrisch—phantastische« Vision der Oper eröffneten ihm eine Karriere als eines der meistgespielten Komponisten der Münchener Schule. Bruno Walter nannte Die Vögel nach der Dichtung des Aristophanes die „interessanteste Novität [seiner] Münchener Arbeitsperiode.“ Der spätromantische Kompositionsstil dieser mittleren Schaffensperiode war geprägt von der ethisch-ästhetischen Orientierung und Klanggebung Beethovens, Liszts und Berlioz’. Gleichermaßen umjubelt wurde später die — fast an Bruckner gemahnende - ekstatisch-barocke Expressivität und Klangpracht der geistlichen Chorwerke Te Deum (op. 32) und Große Messe (op. 37), die 1922 bzw. 1927 unter Hermann Abendroth in Köln zur Uraufführung gelangten.

Dor tragische Abbruch dieser Künstler-Karriere ereignete sich nach der Machtergreifung Hitlers: Als Halbjude wurde Braunfels 1933 aller seiner Ämter enthoben; 1938 folgte der Entzug des »Rechts zur öffentlichen musikalischen Betätigung«, was einem absoluten Aufführungsverbot gleichkam. Während dieser Jahre der unfreiwilligen »inneren Emigration« wandelten sich Ausdrucksstil und Mitteilungsqualität seines kompositorischen Schaffens. Es scheint, als habe die gesellschaftliche Isolation auch die Absage an einen publikumswirksamen Kompositions- und Besetzungsstil erzwungen. In der Zeit von 1933-1945 entstehen seine reifsten Werke; man spürt eine ungeheure Verdichtung und Verinnerlichung der musikalischen Sprache.

Besonders zu erwähnen sind der Kantatenzyklus für das Kirchenjahr (op. 45, 52, 54 und 56), eine Kammermusikfolge von drei Streichquartetten und einem Streichquintett (op. 60, 61, 67 und 63) und vor allern die drei Bühnenwerke: erstens die Verkündigung nach dem geistlichen Spiel von Paul Claudel (op. 50), zweitens Der Traum ein Leben nach der Dichtung Grillparzers (op. 51) und drittens Die heilige Johanna (op. 57). Dabei wird die 1935 vollendete Heiligenoper Verkündigung, die aufgrund des Aufführungsverbotes erst 1948 zur Uraufführung gelangen konnte, zum Gleichnis für sein späteres Schaffen: War er den Nationalsozialisten »nicht artrein« genug, so war er »den Juden zu katholisch, den Emigranten zu national, den Katholiken ein manchmal unbequemer Feuergeist. Dieser Passion des Menschen entsprach die Passion des Künstlers« (Gilbert Schuchter).

Walter Braunfels, 1946
Dieses Urteil eines seiner Schüler vermag auch erklären zu helfen, warum nach 1945 keine echte Rehabilitierung des Künstlers Braunfels möglich war, — dies trotz der Wiedereinsetzung in das Amt des Direktors der neu aufzubauenden Kölner Musikhochschule. Letztlich war es die traditionsverbundene musikalische Sprache der neudeutschen Romantik, welche eine adäquate Rezeption nach 1945 blockierte. Das Verdikt der Unzeitgemäßheit traf schließlich auch das Werk eines Kaminski, Pfitzner, Waltershausen, Weismann und anderer. Erst heute, 50 Jahre danach, scheint die Zeit reif für eine künstlerische Rehabilitierung des Komponisten Walter Braunfels, der vielleicht kein epochemachendes Genie, aber ein hochbegabter, redlicher und instinktsicherer Musiker des 20. Jahrhunderts gewesen ist.

Während der Ära der Isolation im abgeschiedenen Überlingen am Bodensee entdeckt Braunfels das Genre der Kammermusik. Es entstehen die Variationen über ein altfranzösisches Kinderlied für zwei Klaviere (op. 46), die drei Streichquartette und das Streichquintett; sie wirken wie eine Befreiung des schöpferischen Menschen zu sich selbst. Fern dem alltäglichen Streß des Hochschullebens, dem Druck repräsentativer Verpflichtungen, erlebt der Künstler einen unerwarteten Aufschwung, findet zu seinem eigentlichen persönlichen Stil. Als 60jähriger schreibt Braunfels seine ersten beiden Quartette (1944); in kurzem Zeitabstand folgen das Streichquintett in fis-Moll (1944/45) und das letzte Quartett in e-moll (1946/47).

Die Streichquartette Nr. 1 & 2 (op. 60 und 61)

Die späte Liebe zur Streichmusik spiegelt einen kompositorischen Willen zu überschaubarer Form und klarer Faktur; die lebenslange Auseinandersetzung mit Beethoven hat auch hier Spuren hinterlassen. Die »dichte Polyphonie mit einer tonal ausgeweiteten Harmonik« (Frithjof Haas), die Transparenz der Stimmführung und die komplementärrhythmische Gestaltung offenbaren eine gewisse Verwandtschaft zu den Streichquartetten Béla Bartóks; diese beruht meines Wissens jedoch weniger auf persönlicher Kenntnis des Bartókschen Schaffens, als vielmehr auf der grundsätzlichen Adäquanz oben genannter Schaffensprinzipien.

Walter Braunfels
1. Streichquartett in a-Moll (Uraufführung Köln 1946)

Wie bereits erwähnt, entstehen diese beiden Streichquartette im vorletzten Kriegsjahr, also 1944. Während der Arbeit an dem ersten Quartett bekennt Braunfels, daß »nichts herrlicher zu arbeiten [sei als] an einem Quartett […] Ich bin oft ganz aus dem Häuschen vor all diesen Möglichkeiten. Und das in dieser Zeit! Ich bete zwischendurch voll Dankbarkeit über dieses Geschenk und fühle mich so äußerst unwürdig!« (Brief an Hellmut Schnackenburg).

Diese demütige Grundhaltung macht verständlich, warum Braunfels gerade in dem ersten Quartett einen großen Teil seines thematischen Materials der Oper Verkündigung entnommen bzw. weitergebildet hat. Denn hier, in diesem musikalischen Mysterienspiel, das Braunfels als »sein Testament« bezeichnete, spiegelt sich die Lebensanschauung des durch Abgeschiedenheit und Isolation geprüften, des durch Alter und Erfahrung gereiften, gewandelten und verinnerlichten, sich seit 1918 zum katholischen Glauben bekennenden Komponisten. Es half ihm, »Trost zu finden in jener Welt der Ordnung, in der auch das tiefste Leid seinen Sinn dadurch erhält, daß es als Opfer dargebracht wird.« (Braunfels 1947/48).

Die Druckfassung des 1. Quartetts trägt somit zu Recht den Untertitel »Verkündigung«: Während das Hauptthema des 1. Satzes mit dem — die Oper eröffnenden — Trompetenmotiv anhebt, weist der 2. Satz auf das Zwischenspiel des III. Aktes‚ übernehmen der 3. Satz das erste Thema des IV. Aktes und der 4. Satz das erste Thema des I. Aktes. Im 1. Satz in a-Moll, einem Allegro moderato in Sonatenhauptsatzform, dominiert das Prinzip der barocken komplementären Rhythmik, welches die Spieler, meist paarweise, in ein fließendes, abwechslungsreiches Stimmgewebe einbindet. Der langsame 2. Satz ist ein Meisterwerk modern—romantischen Stils. Er erfüllt die dreiteilige geschlossene Liedform‚ deren Mittelteil aufgrund wechseldominantischer »Aufhellung« und bewegterer Stimmführung zum dunkel-schwermütigen A-Teil kontrastiert, aber diesem dennoch motivisch-thematisch verpflichtet ist. Typisch für diesen Stil ist die Verschleierung auf harmonischer Ebene: Die Grundtonart g-Moll wird erst in der zweiten, zur Dominante führenden Periodenhälfte klanglich, und zwar in der liegenden Stimme der 2. Violine evident, - Signum für die harmonische Raffinesse des ganzen Satzes, in welchem funktionsharmonische Prozesse gleichsam »verhüllt«, nur latent beibehalten werden. Dem bewegten 3. Satz in H-Dur, einem Scherzo mit Trio, folgt das Schluß-Allegro traditionsgemöß in der Ausgangstonart.

Premiere der Oper "Die Vögel" von Walter Braunfels
beim Badischen Staatstheater, 23.09.1971
2. Streichquartett in F-Dur (Uraufführung Köln 1946)

Der Komponist selber gibt uns eine kurze Beschreibung: »Im Gegensatz zu dem etwas schwerblütigen Verkündigungsquartett hat es leichteren Charakter. Seine beiden ersten Sätze (Allegro und Allegro molto) sind knapp gefaßt. In dem zweiten (Scherzo) ist der Wechsel der Taktarten bestimmend. Der langsame Satz spinnt sehr einfach gehaltenes thematisches Material etwas breiter weiter. Der technisch schwierige Schlußsatz ist sehr übermütig gehalten«. Dieses 2, Quartett ist tatsächlich »wesentlich durchsichtiger und spielerischer« als das — von der Musikkritik als »sehr grüblerische, streckenweise fast spröde« beurteilte — 1. Quartett; es ist im Ganzen »ein lebensvolles, romantisch-blühendes Werk.«

Der 1. Satz steht traditionsgemäß in der Sonatenhauptsatzform; doch dominiert das erste Thema an charakterlicher Präsenz gegenüber dem zweiten Thema. Eigenwillig sind die choralähnlichen Einschübe nach den periodischen Teilen des Hauptthemas, welche, funktional harmonische Übergänge herstellend, dessen aggressiv-drängenden Gestus gleichsam »neutralisieren«. Die leicht banale Thematik des Scherzos (2. Satz) wird mittels gewagter Akkordkombinationen und extremen Wechsels der Taktarten raffiniert aufbereitet. Wie im 1. Satz werden auch hier rhythmische Spannungen in fließender Triolenbildung aufgefangen. Im getragenen Trio verunsichern Orgelpunkte des Cellos die »konventionelle« Funktionsharmonik der drei Oberstimmen, dienen aber auch der Vereinheitlichung, wenn man diese Haltetöne als Grund- bzw. Zielton jeder Kadenzfolge versteht. Das Adagio (der 3. Satz) kann man im weitesten Sinne als ein in sich rückläufiges Variationenwerk beschreiben:

A-B(=A’):||C(=A”)-B(=A’)-A.

Die musikalische Substanz speist sich aus der des ersten Sonatenhauptsatzthemas‚ so daß, mit Ausnahme des 4. Satzes, eine Art thematischer Verbundenheit der ersten drei Quartettsätze hergestellt ist. Das abschließende tänzerische Vivace in Rondoform bildet mit seiner an osteuropäischer Folklore orientierten Thematik einen kontrastreichen Gegenpol und fulminanten Abschluß des Quartetts.

Quelle: Ute Jung-Kaiser, im Booklet


TRACKLIST 


Walter Braunfels
(1882-1954)

Streichquartette Nr. 1 & 2

String Quartet No 1 op. 60 in A minor "Verkündigung"  27:48

[1] Allegro moderato                             7:29
[2] Langsam                                      6:11
[3] Bewegt                                       8:53
[4] Allegro                                      5:15

String Quartet No 2 op. 61 in F major                 31:23

[5] Allegro                                     10:21
[6] Scherzo, Allegro agitato                     6:00
[7] Adagio                                      10:09
[8] Vivace                                       4:53

                                                 T.T. 59:14
Auryn Quartett:

Matthias Lingenfelder, Violin
Jens Oppermann, Violin
Steuart Eaton, Viola 
Andreas Arndt, Violoncello

Recording: 27 - 29 November 1996, Immanuelskirche, Wuppertal
Recording Supervisor: Wolfgang Müller
Recording Engineer: Georg Litzinger
Executive Producers: Burkhard Schmilgun / Bernhard Wallerius

Cover Painting: Max Klinger: "Sommerlandschaft" (1984/85),
Hamburger Kunsthalle
(P) 1998


Kurt Flasch:

Ein neuer Status der Rationalität

Wilhelm von Ockham

Septem artes liberales aus dem "Hortus deliciarum" von Herrad von Landsberg (circa 1180)
Die mittelalterliche Philosophie lernt man verstehen, wenn man die Entwicklung vor Augen hat, die sich zwischen 1080 und 1350 vollzogen hat, also zwischen Anselm von Canterbury und Wilhelm von Ockham (+ um 1349). Man braucht nur wenige Seiten der beiden Autoren vergleichend zu lesen, um zu sehen, wie viel komplizierter die Welt geworden ist. Die Sprache Ockhams ist technisch zugespitzt; Anselm kam mit einem Minimum an Terminologie aus. Anselm war allerdings nicht der naive Beter, als der er heute manchmal dargestellt wird; er beanspruchte, streng rationale Argumente zu geben, die auch einen Ungläubigen überzeugen können sollten; er unterschied klar zwischen Glauben und Wissen, aber er kannte nicht die Konkurrenz der beiden Disziplinen »Philosophie« und »Theologie«. Diese war ein Ergebnis der Entwicklung des 13. Jahrhunderts; Ockham arbeitete an ihr, und zwar indem er mit philosophischen Argumenten die Ansprüche der Philosophie einzugrenzen versuchte. […]

Vergleicht man Ockhams Sentenzenkommentar mit dem Bonaventuras, so fallt schon an Ockhams ausgedehntem Prolog auf, wie sich in diesen 70 Jahren das Schwergewicht verlagert hat. Die Frage, wie wir Gott erkennen können (die Anselm und Bonaventura nicht völlig fremd war) und was menschliche Erkenntnis überhaupt sei, rückt nach 1300 in den Vordergrund. Das »objektive« Zeitalter war zu Ende; die Epoche der Erkenntniskritik und der Wissensanalyse hatte begonnen. Bei Ockham verschlang die Erkenntniskritik noch nicht die Theologie und die Metaphysik. Aber auch diese Möglichkeit war eröffnet, und sie wurde noch vor der Jahrhundermitte realisiert (Nicolaus von Autrecourt).

Die innermittelalterliche Entwicklung von 1080 bis 1320 war nicht nur eine der Theorie. Der Westen hatte seinen ökonomischen Boom; die Stadt- und Geldwirtschaft hatte sich entwickelt; das Problem der Armut hatte die Christenheit erschüttert‚ die mächtigste Ketzerbewegung ausgelöst und die Entstehung der Bettelorden provoziert. Ockham war wie Bonaventura Franziskaner, aber er endete nicht wie Bonaventura als Kardinal, sondern als Gegner des Papstes und als Verteidiger der radikalen Armut.

Der englische Franziskanermönch William of Ockham
auf einem Kirchenfenster in Surrey.
War Anselm noch ohne innere Zerrissenheit der Primas von England, der aus Papsttreue ins Exil ging, hatte Bonaventura die Spannung des Minderbruders und des Kirchenfürsten in sich ausgehalten, so stand Ockham nicht nur außerhalb der kirchlichen Hierarchie; er stand gegen sie. Die staatliche Macht fing jetzt an, ihre eigenen Theoretiker zu haben; der weltliche Staat begann, eine Kultur zu entwickeln, wie sie bisher einzig der Kirche vorbehalten war. Ockham, der bis 1324 ruhig in Oxford und London Philosophie doziert hatte, wurde dann nach Avignon zur Kurie zitiert, sollte auf seinen Prozess warten, floh aber 1328 zusammen mit den Führern des Franziskanerordens aus Avignon und begab sich in den Schutz des Kaisers Ludwig des Bayern. Er arbeitete von 1330 bis zu seinem Tode als politischer Schriftsteller in München. Sein Leben als Denker und Autor zerfiel so in zwei ungleiche Hälften, von denen keine einen Vorzug vor der anderen verdient. Beide sind historisch wichtig und philosophisch relevant. […]

Das Verhältnis von Philosophie und Theologie, seit etwa 1270 in die Krise geraten, spitzte sich in der Generation nach Duns Scotus zu. Man konnte darauf wie Lull und Eckhart reagieren, also durch eine Reform der Philosophie die Hauptinhalte des Christentums zu den Hauptinhalten der Philosophie erklären. Man konnte aber auch wie Ockham dem Glauben einen rational nicht anfechtbaren Sonderplatz sichern. Auch diese Taktik hatte ihre große Tradition; es hatte schon immer in der Kirche neben der harmonisierenden Vereinnahmung der Philosophie ihre Kritik gegeben. Es wäre also ungeschichtlich gedacht, in Ockham eine unmittelalterliche Denkweise zu sehen: Nicht nur die erweiternde Transformation der Philosophie (wie bei Lull und Eckhart), sondern auch ihre einschränkende Kritik konnte im Dienst der Theologie stehen und philosophisch fruchtbar sein. Ockhams Kritik thematisierte die Eigenart menschlicher Erkenntnis, ohne dass er allein diese Wende vollbracht hätte. Dennoch bedeutet er einen Meilenstein in der Entwicklung der Philosophie von der spekulativen Gotteslehre und Kosmologie zur Analysis und zur Erkenntniskritik, ebenso aber auch zum Bewusstwerden der ethisch-politischen Praxis.

Es ist nicht möglich und nicht nötig, das komplizierte Denken Ockhams auf eine Formel zu bringen. Schlagwörter wie »Nominalismus« oder »Skeptizismus« haben mehr verdeckt als erhellt. Man muss sehen, woran er arbeitete. Ockham forrnulierte einen Rationalitätsstandard […], wie er einer entscheidenden Tendenz der gesamtgeschichtlichen Entwicklung um 1320 entsprach. Im Handwerk wie in der Stadtorganisation, in der Staatsverwaltung wie in der Uni- versität hatte sich eine Rationalität entwickelt, die auf den Begriff zu bringen war. Wenn man auf das Christentum als Lebensdeutung nicht verzichten konnte, musste es zu Komplikationen kommen. Ockham arbeitete daran, diese Komplikationen wenigstens klar auszusprechen.

Sketch labelled 'frater Occham iste', from a manuscipt of Ockham's
Summa Logicae, MS Gonville and Caius College, Cambridge,
464/571, fol. 69r}, 1341
»Die Theologie ist keine Wissenschaft« — ein Theologe, der gegen 1317 seinen Kommentar mit dieser Erklärung einleitete, hatte nicht nur Courage; er hatte seinen eigenen, strengen Begriff von »Wissenschaft«. Ockham formulierte seine These sorgfältig dahin, Theologie sei nicht »im strikten Sinne« eine Wissenschaft. Trotz dieser Sorgfalt: Der Affront blieb. Ockham, der später polemisch schreiben wird, Gott sei nicht nur ein Gott für Kleriker, sondern auch für Laien, hob sorglich hervor, dass damit der Vorrang der Theologen vor dem einfachen Gläubigen neu durchdacht werden müsse. Der Affront blieb, denn der strenge Begriff von »Wissenschaft«‚ den Ockham gebrauchte, war seit der Aristoteles-Rezeption allgemein angenommen. Danach besteht die »Wissenschaft« nicht im Aufzählen von Fakten, sondern in der Erkenntnis des Allgemeinen und Notwendigen. Diese Erkenntnis ist nur erreichbar durch Zurückführung auf Prinzipien. Diesen nicht-positivistischen Wissenschaftsbegriff teilten seit etwa 1250 alle Philosophen des Westens. Aber sie machten sich nicht klar, was es für die Theologie bedeutete. Thomas von Aquino, für den die Theologie nicht nur eine Wissenschaft, sondern die höchste Form menschlichen Wissens war, hatte sich mit der Erklärung geholfen, Gott und die Seligen hätten die Erkenntnis der Prinzipien, wir dagegen hätten die Erkenntnis der Folgerungen aus diesen Prinzipien.

Es hätte nicht des Scharfsinns Ockhams bedurft, um diesen Rettungsversuch als nichtig zu entlarven: nihil est dicere, es sei nichtssagend, es sei kindisch (puerile) zu sagen: Ich weiß die Schlussfolgerungen, weil Gott die Prinzipien weiß und ich ihm glaube. Zum aristotelischen Wissenschaftsbegriff gehört, dass es derselbe Wissende ist, der Beweisgründe und Schlussfolgerungen weiß. Thomas hat ihn inkonsequent rezipiert; er begnügte sich damit, die Würde und den Vorrang der Theologie mit aristotelischen Vokabeln zierend zu beschreiben, während Ockham auf den Begriff der Wissenschaft drängte. »Glauben« heißt nach Ockham »zustimmen, ohne Evidenz zu haben, aufgrund des Befehls des Willens«; die Aufgabe der Theologie ist es, einen solchen willensbegründeten Glauben »zu verteidigen und zu stärken«. Man sieht, wie sich die voluntaristische Komponente des ockhamistischen Glaubensbegriffs aus einer philosophischen Konzeption ergibt; sie folgte aus der strikten Fassung des Wissensbegriffs und aus dem Verzicht auf halbherzige Vermittlungen. Weil er auf Konsequenz achtete, kam Ockham die thomistische Ehrenrettung der Theologie als Wissenschaft »nichtssagend« und »kindisch« vor.

Sean Connery als Franziskanermönch William von Baskerville
 in dem Kinofilm "Der Name der Rose" (1986). In seiner
"Nachschrift zum Namen der Rose" verrät Umberto Eco,
dass sein Detektiv ursprünglich Ockham heißen sollte.
Dieser Einzelfall belegt, wie wenig die Philosophie des 14. Jahrhunderts ein »Verfall« war. Der Argumentationsstandard war insgesamt gestiegen seit der Mitte des 13. Jahrhunderts. Der intensivierte Logikunterricht trug Früchte: Man präzisierte die Bedeutung der Termini, man kontrollierte die Stringenz der Schlussfolgerungen. Ferner hatte Duns Scotus gerade den Franziskanern gezeigt, dass mit den apokalyptischen Beschwörungen, die der späte Bonaventura der Aristoteles-Rezeption entgegensetzte, in dem neuen Jahrhundert nicht wohl auszukommen war: Man musste Aristoteles genauer studieren; man musste die innere Konsequenz seiner Theoreme, z.B. seines Wissensbegriffs, respektieren. Ein denkender Christ, ein philosophischer Anhänger der Armutsbewegung konnte Aristoteles zwar verwerfen, er sollte ihn aber nicht entstellen. Die Harmonisierungen des Thomas waren unter deren eigenen Voraussetzungen zu kritisieren, nicht von außen. Dies hatten Bonaventura, Olivi und Duns vorgeführt; Ockham fand diesen Geist der wissenschaftlichen Genauigkeit, der nicht auf die Ausbildung einer »franziskanischen Philosophie«, sondern auf Präzision und Stringenz ausging, in seinem Orden vor. Er intensivierte ihn aber, und zwar durch die konsequente Anwendung dreier Regeln, die er nicht erfunden hatte, denen er aber ein neues Gewicht verlieh:

Die erste Regel verbot, die Erklärungsgründe unnötig zu vermehren. Man spricht in diesem Zusammenhang von »Ockhams Rasiermesser«: Alle überflüssigen, alle unnötig komplizierten Erklärungen sind wegzuschneiden. Man spricht — in allzu sorgloser Annäherung von »Denken« und »Ökonomie« — bei Ockham von »Denkökonomie«; die Theorie sollte lernen, sparsam zu sein. Ockhams erste Regel war alt, aber die Intensität, mit der er sie anwendete, lässt sich als Reflex und als stabilisierende Stütze frühbürgerlicher Wirtschaftserfahrungen deuten. Intensität der Anwendung, das bedeutet: Ockham nahm die alte Regel als strenge Verfahrensvorschrift. Er bestand darauf, man dürfe niemals gegen das Ökonomieprinzip verstoßen, wenn nicht eine zwingende Erfahrung, ein zwingender Vernunftbeweis oder eine zwingende Autorität dies fordere. Ockham war strenger als seine Vorgänger bei der Prüfung dessen, was als »zwingender« Anlass für eine Theorienkomplikation gelten konnte. Dabei mussten die an Vokabeln orientierte Ontologie und Erkenntnislehre Federn lassen. Ockham schärfte ein, nicht überall, wo eine Vielzahl von Vokabeln vorhanden sei, existiere auch eine Vielzahl von Realgründen. Metaphysikkritik aus sprachanalytischer Intention, Reduktion der ontologischen und gnoseologischen Instanzen — diese Methodologie der Vereinfachung charakterisiert mehr als alle Einzelthesen das Philosophieren Ockhams.

Eine zweite Regel Ockhams könnte man so formulieren: Beim Disput über eine Sache oder einen Begriff frage deinen Mitunterredner: Woher weißt du das? Untersuche den Ursprung deiner Vorstellungen. Ockham hat diese Regel nicht ausdrücklich formuliert, aber an zahlreichen Stellen beweist er, dass er sie klar vor Augen hatte, und zwar in folgender, sehr spezifischer Form: Bei jeder Vorstellung, die evident zu sein scheint, untersuche, ob sie durch sich selbst evident ist, also durch reine Begriffsanalyse zu erhalten ist, oder ob sie abgeleitet ist. Ist sie abgeleitet, dann entweder aus etwas anderem, das durch sich selbst bekannt ist, oder aus Erfahrung. Die Erfahrung muss zuletzt auf direkter Gegenstandserfassung (notitia intuitiva) beruhen. Ockhams Grundsatz, nur durch direkte Gegenstandserfassung (cognitio intuitiva, die insofern auch die cognitio abstractiva — gegen Scotus’ Meinung — einschließt) sei Erkenntnis möglich, ging auf die aristotelische Lehre zurück, nach der alle Erkenntnis mit den Sinnen beginnt.

Aber Ockham fasste sie als offensive Analyse theoretischer Ansprüche, z.B. der traditionellen Lehre von den Ideen. Ockham benutzte den aristotelischen Gedanken als Messer der Kritik. Auch wenn er selbst daraus nicht das Ende aller Metaphysik folgerte‚ so begünstigte seine Alternative (entweder aus reinen Begriffen oder aus Erfahrung) doch eine Tendenz in diese Richtung: stammte eine Erkenntnis aus Erfahrung, war sie zwar gesichert, aber als bloße Faktenaussage. Wie sollte sie »notwendig«‚ folglich im strengen Sinne »wissbar« sein? Wie sollte sie über die Erfahrung hinausführen, folglich metaphysisch sein? War sie durch sich selbst evident, dann ergab sie sich aus dem Begriff. Aber sie hatte keinen Realitätsgehalt außer durch Bezug auf direkte Gegenstandserfassung, die allemal kontingent ist, nach Ockham. Er glaubte noch, den Graben überbrücken zu können; er kritisierte die traditionellen Gottesbeweise im einzelnen, er bestritt die Beweisbarkeit der Einzigkeit Gottes, aber er hielt fest an der prinzipiellen Möglichkeit einer philosophischen Theologie.

In einer Zivilisation, die charakterisiert war durch eine abstraktionsfreundliche Schulkultur, thematisierte er den prekären Charakter der Abstraktion. Allgemeine, gar wissenschaftliche Sätze haben, auch wenn sie kategorisch formuliert sind, einen hypothetischen Charakter. Sie sagen, was sein kann. Daher auch Ockhams Kritik an den »Ideen« der platonischen Tradition: Sie sagen nur dann etwas Bestimmtes, wenn wir über den unter sie fallenden Gegenstand aus anderer Quelle schon etwas wissen. Die metaphysischen Erklärungsgründe der Tradition fallen dieser Kritik entweder völlig zum Opfer (so der »tätige Verstand« und das reale Allgemeine), oder sie erhalten einen abhängigen Charakter. Die Unsterblichkeit der Seele hielt Ockham nicht mehr für beweisbar; sie könne weder durch reine Begriffe noch aus Erfahrung erschlossen werden. Wir können an sie glauben; aber wenn jemand allein der Vernunft folgen würde, müsste er sie leugnen.

Kurt Flasch (* 1930), Philosophiehistoriker der Spätantike und des Mittelalters
Eine dritte Regel, die Ockhams Vorgehen bestimmt, schreibt folgende Untersuchung vor: Wird die Verknüpfung zweier Dinge oder Eigenschaften behauptet, so untersuche, ob ihre Trennung einen Widerspruch einschlösse. Ockham sprach in diesem Zusammenhang gern von der Allmacht Gottes, die alles trennen könne, dessen Trennung keinen Widerspruch einschlösse. In der neueren Literatur spricht man deswegen vom »Omnipotenzprinzip« in der Philosophie Ockhams. Entscheidend ist, wie er das aus der religiösen Sphäre stammende Motiv de facto verwendet hat. Und dabei zeigt sich, dass Ockham sich auf die Vorstellung des allmächtigen Gottes nur berief, um zur Untersuchung der Widersprüchlichkeit bzw. Nicht-Widersprüchlichkeit der Trennungen aufzufordern. Fast immer zeigt er die Nicht-Widersprüchlichkeit. Das heißt: Fast alles, was faktisch zusammen vorkommt, muss nicht immer und nicht mit Notwendigkeit zusammen vorkommen.

Ockham verwarf deshalb nicht völlig die Begriffe »Ursache« und »Wirkung«, aber er problematisierte sie. Die Existenz keines A impliziert von sich aus die Existenz eines B. Wir können ein Ding »Ursache« nennen, wenn wir finden, dass ihm regelmäßig ein anderes folgt. Die Regelmäßigkeit dieser Abfolge sah Ockham gesichert durch die Konstanz des Naturverlaufs, die er, von besonderen Eingriffen der Gottheit abgesehen, für gegeben ansah. Die Natur selbst hielt er für durchgängig, mit Notwendigkeit, bestimmt. In ihr selbst gibt es kein Unbestimmtes‚ Zufälliges. Die Regelmäßigkeit der Abfolge in der Natur bedeutet aber nicht, dass man die Erkenntnis der Wirkung aus der Kenntnis der Ursache ableiten könnte. Der Kausalzusammenhang lässt sich aus Begriffen nicht beweisen. Daher war das kritische Potential gerade seiner dritten Regel erheblich: Ockham unterstellte unser Wissen von Naturverknüpfungen zuletzt wieder der Erfahrung; er lehrte die Alltagserfahrung mit der Besorgnis zu betrachten, sie habe einen doppelten Boden. Unser tatsächliches Leben erschien als eine Summe kontingenter Fakten. […]

Die Konstanz des Naturablaufs kann, wie gesagt, nach Ockham durch göttliche Wunder unterbrochen werden. Er war ein viel zu scharfer Analytiker, um nicht die Folgen zu sehen, die ein solcher Allmachtserweis für das menschliche Wissen hat: Es ist nur »normalerweise« berechtigt, von Wirkungen auf Ursachen zu schließen. Es kann zwar glauben, dass der christliche Gott nicht in grundloser, wilder Folge solche Eingriffe vornehmen wird, aber es weiß nicht, ob in einem gegebenen Fall Gott eine Ausnahme gemacht hat. Nachdem Ockham das menschliche Wissen auf die direkte Gegenstandserfassung gegründet hatte, war es überaus einschneidend‚ wenn dieser faktische Boden unseres Wissens schwankte. Ockham sagte, dies sei in der natürlichen Ordnung der Dinge nicht der Fall, aber Gott könne jederzeit jede Wirkung selbst auslösen, die natürlicherweise ein Geschöpf auslöst. Er kann machen, dass wir Sonnenschein sehen, ohne dass die Sonne tatsächlich da ist. Er kann die direkte Gegenstandserfassung nicht existierender Gegenstände in uns auslösen; ein Widerspruch liegt darin nach Ockham nicht. […]

Die eher beschwichtigenden Ockham-Ausleger betonen gerne, dass Ockham an der natürlichen Gegenstandsgebundenheit der direkten Gegenstandserfassung festhalte, dass er für den Normalfall die Wahrheit unserer Welterkenntnis nicht bestreite. Aber so richtig dies ist, bereits das Rechnen mit der Möglichkeit der Erkenntnis nicht-existierender Dinge war eine erkenntnistheoretische Katastrophe. Der Skeptizismus war dann schwer abzuweisen: Man konnte nie wissen, ob man etwas sah, das existierte; man konnte nur wissen, dass man es »natürlicherweise« tat. Dass Gott alle Wirkungen der Geschöpfe jederzeit ersetzen bzw. selbst hervorbringen konnte, war nicht eine zweifelsüchtige Gedankenkonstruktion Ockhams; es war seit etwa 1100 die allgemeine Ansicht der westlichen Denker.

Seit der Verurteilung Berengars lehrten fast alle, Gott erhalte die Erscheinungsformen des Brotes im Dasein, ersetze aber bei der Eucharistie die Substanz des Brotes durch die Substanz des Leibes Christi. Jeder Mensch sah also etwas, nämlich Brot, obwohl gar kein Brot da war. Ockham beugte sich dieser Lehre, obwohl er klar aussprach, dass sie der Vernunft widerstrebt und von der Bibel nicht erzwungen werde. Aber er akzeptierte sie nicht nur; er zeigte die Konsequenzen dessen, was allgemein akzeptiert wurde. Man konnte seine Analyse gegen die Vernunft wie gegen die scholastische Abendmahlslehre kehren. Man hat beides in Ockhams Folge getan.

Quelle: Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli. Reclams Universal-Bibliothek Nr. 19479, Philipp Reclam jun., Stuttgart, 3.Auflage 2013. ISBN 978-3-15-019479-9. Zitiert wurden Teile des Kapitels 44 Wilhelm von Ockham, Seiten 512-524.


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Kammermusikkammer - Wo Liebhaber von Streichquartetten auf ihre Rechnung kommen.

Streichquartette von Alberto Ginastera. | Laokoon als Schmerzensmann. Winckelmann und die Folgen.

Streichquartette von Bernhard Molique. | Vom Mangel zum Überfluß. Das Romantische Naturbild.

Streichquartette von Robert Schumann (und seine andere Kammermusik). | Brocken aus dem »Buch ohne Titel« (Raymond M. Smullyan).

Streichquartett von Heinz Holliger. | Mit Lyrik von Friedrich Hölderlin und Bildern aus der Galerie von Erzherzog Leopold Wilhelm.

Streichquartett von Viktor Ullmann. | »Spengler nach dem Untergang«, ein Vortrag von Theodor W. Adorno (1938).

Streichquartette von Wolfgang Amadeus Mozart (in historischen Aufnahmen). | Max Klingers Monumentalgemälde »Christus im Olymp«.


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