8. Januar 2013

Zoltán Kodály (1882-1967): Musik für Violoncello

Noch heute wird der Name Zoltán Kodálys fast immer in einem Atemzug mit dem seines Landsmanns Béla Bartók genannt. Beiden Musikern gelang in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhundert die Erneuerung der ungarischen Musik. Mit ihrer schöpferischen Arbeit und ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit stellten sie die Kontinuität der ungarischen Musik wieder her und fügten sie in den europäischen Kontext ein. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten Kodály und Bartók über die Grenzen ihrer Heimat Ungarn hinaus Anerkennung gefunden, doch erst die Lösung Ungarns von Österreich 1918 setzte endgültig die künstlerischen Kräfte frei, die die eigenständige Entwicklung eines musikalischen Nationalstils begründeten.

Als unerschöpfliche Quelle für die Herausbildung eines eigenständigen Stils diente die ungarische Volksmusik, die Kodály und Bartók in schriftlichen und phonographischen Aufzeichnungen bei der Landbevölkerung sammelten. In nur wenigen Jahren trug Kodá1y drei- bis viertausend dieser Melodien zusammen, systematisierte sie und veröffentlichte sie zum Teil gemeinsam mit Bartók. Diese Melodien unterschieden sich deutlich von den im 19. Jahrhundert so beliebten »Zigeunermelodien«, die eher im städtischen Milieu entstandene Kunstmusik waren. In den Volksliedern und der Tanzmusik, die Kodály und Bartók bei ihren Feldforschungen in den verschiedenen Regionen Ungarns entdeckten, waren die Irregulariäten nicht zurechtgestutzt und dem Dur-Moll-System und dem Symmetrie-Ideal der klassischen Melodiebildung angepaßt. Gerade diese Abweichungen von den spätromantischen Ausdrucksmitteln waren es, die sie erforschten und für die Moderne konstruktiv nutzten.

Allerdings nahmen Kodály und Bartók auf dem Gebiet der musikalischen Erneuerung entgegengesetzte Positionen ein: Bartók benutzte die ungarische Volksmusik als Ausgangspunkt für seine eigenen musikalischen Neuerungen. Indem er die Strenge der folkloristischen Melodien noch verstärkte, die Komplexität der rhythmischen Strukturen erweiterte und den Primitivismus intensivierte, folgte er den avantgardistischen Strömungen seiner Zeit und gelangte über die Volksmusik hinaus zu einer objektiven, Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebenden Musiksprache.

Kodály dagegen scheint in seinen musikalischen Ambitionen bescheidener. Er versucht die ungarischen Elemente in seine Musik zu integrieren und griff Zeit seines Lebens auf authentische Volksliedmelodien für sein musikalisches Schaffen zurück. Er verwendete authentische Melodien der Städte Maroszzék und Galánta für Orchestertänze, und schuf eine ganze Oper aus originalen Volksliedern und Tänzen, die 1932 in Budapest aufgeführte Spinnstube. Das Thema seiner Variationen Der Pfau ist einem ungarischen Volkslied entnommen, und seine bekannteste Oper Háry János zitiert einerseits direkt Volksliedmelodien, andererseits sind die Melodien so eng nach heimischen Mustern geformt, daß sie wie echtes Volksmusikmaterial erscheinen.

Die wenigen Kammermusikwerke, die Kodály überwiegend in den Jahren zwischen 1905 und 1920 schrieb, zeichnen sich durch eine hohe künstlerische Qualität aus. Trotz dieser bemerkenswerten Reife zählen sie jedoch zu seinen Jugendwerken und dienten in nicht unerheblichem Maße der Entwicklung und Vervollkommnung eines individuellen Stils.


Zoltán Kodály, 1932, von Károly Escher

Kodálys Bach-Transkription entstand 1951 und ist eine Bearbeitung des Präludiums und der Fuge es-Moll aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers. Sie ist »in dankbarer Erinnerung an seine wundervollen Wiedergaben« dem Cellisten Pablo Casals gewidmet, der 1950 anläßlich des 200-jährigen Bach-Jubiläums sein selbstauferlegtes Schweigen gebrochen hatte. Kodály transponierte die Stücke aus spieltechnischen und klanglichen Gründen in die Tonart d-Moll. Während das Präludium dem Cello den melodischen Vorrang gewährt, sind in der Fuge - der kontrapunktischen Gattung entsprechend - die Gewichtungen gleichmäßig auf Cello und Klavier verteilt.

Ursprünglich sollte die 1922 vollendete Sonatina für Cello und Klavier die zweisätzige Sonate op. 4 aus dem Jahr 1909 ergänzen. Jedoch hatte sich Kodálys Stil in den Jahren zwischen den beiden Werken so stark verändert, daß ihm eine Verbindung mit der früheren Sonate nicht mehr angemessen schien. Die formale Struktur der Sonatina ist zweiteilig, wobei der zweite Abschnitt bekanntes Material in variierter und transponierter Form wieder aufgreift. Die melodischen Konturen lassen deutlich den Einfluß des ungarischen Volksliedes erkennen.

Aus dem Jahr 1905 stammt das bewegende Adagio für Cello und Klavier, das auch in Fassungen für Violine oder Viola existiert. Es ist dem Geiger Imre Waldbauer gewidmet, einem Mitglied des Waldbauer-Kerpely-Quartetts, das sich durch sein Engagement für die zeitgenössische ungarische Kammermusik verdient gemacht hat. Kodály hatte dem Ensemble nicht nur sein zweites Streichquartett gewidmet, sondern auch eine Sonate für Cello und Klavier für den Cellisten Jenö Kerpely geschrieben. Kodály schrieb über sein Adagio: »Das Adagio zeigt keinerlei Einfluß des ungarischen Volksliedes. Der Stil ist ziemlich klar, fließend und international verständlich. Hätte ich in dieser Richtung weitergearbeitet, so hätte ich leichtere und schnellere Erfolge erreicht.«

Deutlich anspruchsvoller für den Interpreten ist das Capriccio für Violoncello solo aus dem Jahr 1915. Auf eine dramatische Einleitung folgt eine schnelle Passage mit geteilten Oktaven, die wiederum einen Abschnitt mit komplexerer Virtuosität umrahmt. Nach einer dramatischen Coda endet das Capriccio mit sanft gezupften Akkorden.

Zwei Jahre später komponierte Kodály das Ungarische Rondo. Es ist die Fassung für Violoncello und Klavier eines Werkes für Kammerorchester, das 1918 in Wien unter dem Titel Alte ungarische Soldatenlieder uraufgeführt wurde. Der Titel beschreibt hinlänglich die thematische Grundlage des Werkes, dessen erste charakteristische Melodie eine Reihe von Episoden einschließt, die wiederum auf traditionellem ungarischen Material beruhen.

Die Uraufführung des 1914 komponierten Duos für Violine und Violoncello op. 7 fand 1924 beim Internationalen Festival für Zeitgenössische Musik in Salzburg statt. Die ungewöhnliche Besetzung mit einem hohen und einem tiefen Streichinstrument eröffnet neue Klangmöglichkeiten, und der fortwährende Dialog zwischen Violine und Cello mit Imitation, Frage-und-Antwort-Spiel und Unisono-Passagen bringt die charakteristischen Eigenschaften beider Instrumente hervorragend zur Geltung. Der erste Satz ist ein regelmäßiger Sonatensatz; der zweite verleiht mit einem doppelfugenartigen Hauptthema und variierter Reprise der Sonatenform Fantasie-ähnliche Züge und der abschließende dritte Satz ergänzt eine Trioform um eine langsame Einleitung und eine Coda.

Quelle: Peter Noelke, im Booklet

Track 5: Capriccio for Solo Cello


TRACKLIST

Zoltán Kodály (1882-1967)

Music for Cello, Volume 2

    Prelude and Fugue for Cello and Piano (Bach, tr. Kodály) 
(1) Prelude                                                    3:55 
(2) Fugue                                                      4:30 

(3) Sonatina for Cello and Piano                               9:31   

(4) Adagio for Cello and Piano                                 9:14   

(5) Capriccio for Solo Cello                                   5:21   

(6) Hungarian Rondo for Cello and Piano                       11:10   

    Duo, Op. 7, for Violin and Cello      
(7) I.   Allegro serioso, non troppo                           9:21   
(8) II.  Adagio                                               10:22   
(9) III. Maestoso e largamente, ma non troppo lento - Presto   9:21  
  
Playing Time:                                                 73:41

Maria Kliegel, Cello
William Preucil, Violin
Jenö Jandó, Piano

Recorded at the Clara Wieck Auditorium, from 10-11 October 1996 (1-4, 6) 
and at the Kulturhalle Remchingen, on 2 September 1996 (5, 7-9). 
Producer: Günter Appenheimer 
Cover Painting: Tim Smith: In Medras Res (1995)

DDD (C)+(P) 1999

Rodin und die sexuelle Dominanz

Auguste Rodin: Danaide,  1885-89
Rodin zu William Rothenstein: »Die Leute sagen, ich denke zuviel über Frauen nach.« Pause. »Doch, alles in allem, was gibt es Wichtigeres?«

Sein fünfzigster Todestag. Zehntausende von Abzügen mit Rodin-Skulpturen sind dieses Jahr speziell für Jubiläumsausgaben und Sonderartikel in Magazinen gedruckt worden. Der Jubiläumskult ist zur schmerzlosen und oberflächlichen Information einer »kulturellen Elite« da, die aus konsumwirtschaftlichen Gründen ständig erweitert werden muß. Dabei wird Geschichte konsumiert - und nicht verstanden.

Unter den heute als bedeutend angesehenen Künstlern der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wurde nur Rodin schon zu Lebzeiten, und zwar noch während er arbeitete, geehrt und offiziell gefeiert. Er war ein Traditionalist. »Die Idee des Fortschritts«, sagte er, »ist die übelste Form von Jargon in einer Gesellschaft.« Aus einer bescheidenen, kleinbürgerlichen Familie stammend, wurde er zum bedeutenden, zum Meister-Künstler. Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn beschäftigte er zehn andere Bildhauer, um die Marmorstatuen zu meißeln, für die er berühmt war. Von 1900 an versteuerte er ein Jahreseinkommen von etwa 200.000 Francs: in Wirklichkeit war es wahrscheinlich noch beträchtlich höher.

Auguste Rodin: Hockende Frau, um 1880-82
Ein Besuch im Hôtel de Biron, dem Rodin Museum in Paris, in dem Versionen fast aller seiner Werke zu sehen sind, ist ein seltsames Erlebnis. Das Haus ist von Hunderten von Gestalten bevölkert: man hat das Gefühl, sich in einem Statuenasyl oder in einem Statuenarbeitsheim aufzuhalten. Wenn man zu einer Figur hingeht und sie mit den Augen befragt, wird man einiges von beiläufigem Interesse finden. (Einzelheiten einer Hand, einen Mund, die Bedeutung gewisser Titel.) Aber mit Ausnahme der Studien für die Balzac-Statue oder für den Gehenden Mann, der, zwanzig Jahre vorher entstanden, eine Art prophetischer Vorstudie für den Balzac darstellt, gibt es keine einzige Figur, die sich deutlich hervorhebt, und sich, entsprechend dem Grundprinzip freistehender Skulptur, behauptet: das heißt, keine einzige Figur, die den Raum, der sie umgibt, beherrscht.

Sie alle sind Gefangene ihrer Konturen. Die Wirkung ist kumulativ. Man fangt an zu bemerken, unter welch entsetzlichem Druck diese Figuren leben. Jedesmal, wenn irgendwo etwas nach außen drängen will, wird es durch eine unsichtbare Kraft niedergehalten und auf ein Oberflächenereignis für die Fingerspitzen reduziert. »Skulptur«, behauptete Rodin, »ist ganz einfach die Kunst der Vertiefung und Erhöhung. Davon kommt man nicht los.« Bestimmt nicht im Hôtel de Biron. Es ist, als ob die Gestalten zurück in ihr Material gezwungen würden: würde der bestehende Druck verstärkt, würden die dreidimensionalen Skulpturen zu Basreliefs: bei noch größerem Druck zum bloßen Abdruck auf der Wand. Das Höllentor stellt eine ungeheure und enorm komplexe Darstellung und Ausformung dieses Druckes dar. Die Hölle ist die Kraft, die die Gestalten zurück in die Tür zwingt. Der Denker, der die Szene überblickt, verwahrt sich - höchst angespannt -, mit irgend etwas Kontakt aufzunehmen, das von außen kommt; er zuckt sogar vor der Luft zurück, die ihn berührt.

Auguste Rodin: Die gefallene Karyatide
mit Urne, um 1883
Rodin wurde zu seinen Lebzeiten von philiströsen Kritikern wegen »Verstümmelung« seiner Figuren angegriffen - weil er Arme abhackte, Torsos köpfte, usw. Die Angriffe waren dumm und fehlgerichtet, entbehrten aber nicht ganz einer Grundlage. Die meisten der Gestalten Rodins sind so reduziert, daß sie keine unabhängigen Skulpturen mehr sind: sie sind unterdrückt worden.

Das gilt auch für seine berühmten Aktzeichnungen, bei denen er die Umrisse einer Frau oder Tänzerin zeichnete, ohne das Modell aus den Augen zu lassen, und sie anschließend mit einer Wasserfarbenlavierung kolorierte. So beeindruckend diese Zeichnungen oft sind - am zutreffendsten lassen sie sich mit gepreßten Blättern oder Preßblumen vergleichen.

Das Unvermögen seiner Figuren - immer mit Ausnahme des Balzac -, in ein räumliches Spannungsverhältnis mit ihrer Umgebung zu treten, wurde von seinen Zeitgenossen nicht wahrgenommen, weil sie sich ausschließlich mit der literarischen Interpretation seiner Werke befaßten, die durch die offensichtlich sexuelle Bedeutung mancher Skulpturen noch unterstützt wurde. Später wurde es übersehen, weil das wiedererwachte Interesse an Rodin (seit etwa fünfzehn oder zwanzig Jahren) sich auf seinen meisterhaften »Zugriff« auf die Oberfläche der Skulptur konzentrierte. Man betrachtete ihn als bildhauerischen »Impressionisten«. Trotz alledem ist es gerade dieses Unvermögen, eine räumliche Spannung herzustellen, dieser entsetzliche Druck, der auf Rodins Figuren lastet, der einen Anhaltspunkt für ihren wirklichen (wenn auch negativen) Inhalt gibt.

Auguste Rodin: Sie, die einst des Helmmachers
schöne Frau war, um 1880-85
Die Gestalt der ausgetrockneten alten Frau in Sie, die einmal die schöne Frau des Helmmachers war, mit ihren platten Brüsten und einer Haut, die gegen die Knochen gepreßt wird, ist exemplarisch für seine Sujet-Wahl. Vielleicht war sich Rodin seiner Prädisposition dunkel bewußt.

Oft hat die Tätigkeit einer Gruppe oder einer einzelnen Gestalt direkt mit der Ausübung von Druck zu tun. Paare umarmen sich - siehe Der Kuß, wo alles außer seiner Hand und ihrem Arm, die beide nach innen ziehen, spannungslos schlaff ist. Andere Paare fallen aufeinander. Gestalten klammern sich an die Erde, gleiten ohnmächtig zu Boden. Eine gefallene Karyatide trägt immer noch den Stein, der sie niedergedrückt hat. Frauen kauern in Winkeln, wie wenn sie hineingezwungen worden wären.

In vielen der Marmorarbeiten sollen Köpfe und Gestalten so aussehen, als ob sie nur halb aus dem unbehauenen Steinblock heraustreten würden: tatsächlich sehen sie so aus, als ob sie in den Block hineingepreßt sind und mit ihm verschmelzen. Wenn der in diesen Arbeiten nur angedeutete Vorgang zu Ende gebracht würde, so würden die Gestalten nicht unabhängig und befreit aus dem Stein hervortreten: sie würden darin verschwinden.

Selbst wenn die Haltung der Gestalt offensichtlich den auf sie ausgeübten Druck zu leugnen scheint - wie das bei einigen der kleineren Bronzen von Tänzerinnen der Fall ist - hat man das Gefühl, daß die Gestalt immer noch das unselbständige, knetbare Wesen in der formenden Hand des Bildhauers bleibt. Diese Hand faszinierte Rodin. Er stellte sie dar, wie sie eine unvollendete Gestalt und einen Klumpen Erde hielt, und nannte sie Die Hand Gottes.

Auguste Rodin: Die Hand Gottes
(Die Schöpfung), 1896-98
Rodin erklärt selbst: »Kein guter Bildhauer kann eine menschliche Gestalt modellieren, ohne sich mit dem Mysterium des Lebens auseinanderzusetzen. Dieses und jenes Individuum erinnert ihn mit seinen flüchtigen Variationen nur an den darin enthaltenen Grundtypus; vom Geschöpf wird er beständig zu seinem Schöpfer geführt ... Darum haben manche meiner Gestalten immer noch eine Hand oder einen Fuß im Marmorblock eingeschlossen; Leben ist überall, aber selten genug gelangt es zum vollständigen Ausdruck oder das Individuum zur vollkommenen Freiheit« (Isadora Duncan, My Life, London 1969).

Doch wenn der Druck, den seine Gestalten erleiden, als eine Art pantheistischer Fusion mit der Natur erklärt werden soll, warum wirkt er sich in bildhauerischer Hinsicht so verheerend aus?

Rodin war ein außerordentlich fähiger und begabter Bildhauer. Wenn man davon ausgeht, daß sein Werk eine durchgehende und grundlegende Schwäche offenbart, sollte man eher seine Persönlichkeit untersuchen als seine Ansichten.

Rodins unersättlicher sexueller Appetit war zu seinen Lebzeiten wohlbekannt, obwohl seit seinem Tode gewisse Aspekte seines Lebens und seines Werks (einschließlich mehrerer hundert Zeichnungen) geheimgehalten werden. Alle, die über Rodins bildhauerisches Werk schreiben, haben seine sexuelle oder sinnliche Qualität festgestellt. Aber immer wieder wird seine Sexualität nur als ein Ingrediens behandelt. Mir scheint, daß sie die ursprüngliche Motivation seiner Kunst ist - und nicht nur im Sinne einer Freudschen Sublimierung.

Auguste Rodin: Der Schmerz, um 1889-92

Isadora Duncan beschreibt in ihrer Autobiographie, wie Rodin sie zu verführen versucht hat. Sie widerstand - zu ihrem späteren Bedauern: »Rodin war untersetzt, vierschrötig, kräftig, mit kurzgeschorenem Kopf und mächtigem Bart ... Manchmal murmelte er die Namen seiner Statuen, aber man spürte, daß ihm die Namen wenig bedeuteten. Er fuhr mit seinen Händen über ihre Oberfläche und liebkoste sie. Ich erinnere mich, wie ich mir vorstellte, daß der Marmor unter seinen Händen wie geschmolzenes Blei zu fließen schien. Schließlich nahm er ein kleines Stück Lehm und drückte es zwischen seinen Handflächen zusammen. Dabei atmete er schwer ... In wenigen Augenblicken hatte er die Brust einer Frau geformt. .. Dann hielt ich inne, um ihm meine Theorien für einen neuen Tanz zu erklären, aber ich begriff bald, daß er nicht zuhörte. Er starrte mich unter halbgeschlossenen Lidern an, seine Augen funkelten, und dann kam er, mit dem gleichen Gesichtsausdruck, den er auch vor seinen Statuen hatte, auf mich zu. Er fuhr mit seinen Händen über meine Hüften, meine bloßen Beine und Füße. Er fing an, meinen ganzen Körper so zu kneten, als ob er aus Lehm bestünde, während von ihm eine Hitze ausging, die mich versengte und dahinschmelzen ließ. Ich sehnte mich nur noch danach, ihm mein ganzes Wesen hinzugeben ...«

Rodin scheint bei Frauen von dem Moment an erfolgreich gewesen zu sein, als er auch als Bildhauer Erfolg hatte (mit etwa vierzig Jahren). Sein ganzes Auftreten - und sein Ruhm - schien damals ein Versprechen zu enthalten, das Isadora Duncan, gerade weil sie es indirekt beschreibt, hervorragend darstellt. Er verspricht den Frauen, sie zu gestalten: sie werden zu Lehm in seinen Händen. Eine Beziehung, die ihren symbolischen Ausdruck in der Beziehung findet, die seine Statuen zu ihm haben.

»Als Pygmalion nach Hause zurückkam, ging er sogleich zu der Statue des Mädchens, die er liebte, lehnte sich über das Ruhebett, und küßte sie. Sie schien warm; er legte noch einmal seine Lippen auf die ihren und berührte ihre Brust mit seiner Hand - bei seiner Berührung verlor das Elfenbein seine Härte und wurde weich: seine Finger hinterließen einen Abdruck auf der nachgiebigen Oberfläche, genau wie Wachs vom Hymetus in der Sonne schmilzt, und, dadurch daß Menschen es verarbeiten, die mannigfaltigsten Formen annimmt, und so, weil es gebraucht wird, selber brauchbar wird.« (Ovid, Metamorphosen, Buch X)

Auguste Rodin: Paolo und Francesca, um 1887-89
Was wir als »Pygmalion-Versprechen« bezeichnen können, ist vielleicht für viele Frauen ein grundlegender Bestandteil männlicher Anziehungskraft. Wenn es dabei ausdrücklich um einen Bildhauer und seinen Lehm geht, wird seine Wirkung allein deswegen intensiver, weil sie bewußt erkennbar ist.

Bemerkenswert im Fall von Rodin ist, daß er selber das »Pygmalion-Versprechen« attraktiv gefunden hat. Ich glaube nicht, daß er nur deswegen mit dem Lehm gespielt hat, um Isadora Duncan empfänglicher für seine Verführungskünste zu machen. Auch die Ambivalenz von Lehm und Fleisch hat ihren Reiz auf ihn ausgeübt. Die Venus von Medici beschrieb er so:

»Ist es nicht wunderbar? Geben Sie zu, daß Sie nicht erwartet haben, so viele Details zu entdecken. Sehen Sie nur die zahllosen Wellenbewegungen in der Vertiefung, die Körper und Schenkel verbindet ... Beachten Sie den wollüstigen Schwung der Hüfte ... Und jetzt, hier, die wunderbaren Grübchen entlang der Lenden ... Es ist wirklich Fleisch ... Man könnte glauben, es sei durch Liebkosungen geformt worden! Man erwartet beinahe, daß der Körper warm ist, wenn man ihn berührt.«

Dies scheint mir eine Art Inversion des ursprünglichen Mythos und des sexuellen Archetyps, auf den er anspielt, zu sein. Der ursprüngliche Pygmalion stellt eine Statue her, in die er sich verliebt. Er betet, sie möge lebendig werden, aus dem Elfenbein, woraus er sie geschnitzt hat, erlöst werden, sie möge unabhängig werden, damit er ihr als Gleichgestellter statt als Schöpfer begegnen kann. Rodin dagegen will die Ambivalenz von lebender und geschaffener Figur verewigen. Er meint, seinen Statuen das sein zu müssen, was er den Frauen ist, und er will den Frauen das sein, was er seinen Statuen ist.

Auguste Rodin: Schreitender Mann,
1877-1900
Judith Cladel, seine hingebungsvolle Biographin, beschreibt, wie Rodin arbeitet und sich beim Modell Notizen macht: »Er lehnte sich näher an die ruhende Gestalt, und, weil er fürchtete, daß der Klang seiner Stimme ihre Lieblichkeit stören könnte, flüsterte er: 'Halte Deinen Mund so, als ob Du auf der Flöte spielen würdest. Noch einmal! Noch einmal!'

Dann schrieb er: 'Der Mund, die luxuriösen, hervortretenden Lippen mit ihrer sinnlichen Eloquenz ... Hier kommt und geht der parfümierte Atem wie Bienen, die in den Stock ein- und ausfliegen ...'

Wie glücklich er während dieser Stunden tiefer Heiterkeit war, wenn er das ungestörte Zusammenspiel seiner Sinne genießen konnte! Eine Ekstase höchster Art, denn sie nahm nie ein Ende:

'Was für eine Freude mir meine ununterbrochene Bemühung um die Menschenblüte macht!'

'Was für eine Wonne, daß ich in meinem Beruf lieben und auch von meiner Liebe sprechen kann!'« (Zitiert von Denys Sutton, »Triumphant Satyr«, London, Country Life, 1966)

Auguste Rodin: Nackte
Studie von Balzac, um 1892
Wir können jetzt langsam verstehen, warum seine Figuren den Raum um sie herum nicht behaupten oder dominieren können. Sie sind körperlich komprimiert, eingekerkert, durch die Kraft des Dominators Rodin zurückgezwungen. Objektiv gesprochen sind diese Werke Ausdruek seiner eigenen Freiheit und Phantasie. Aber weil Lehm und Fleisch in seiner Vorstellung auf so ambivalente und fatale Weise verwandt sind, ist er gezwungen, sie so zu behandeln, als ob sie eine Herausforderung an seine eigene Autorität und Potenz darstellen würden.

Darum arbeitet er selbst nie in Marmor, sondern nur in Lehm, und überläßt es seinen Angestellten, ein eigenwilligeres Material zu behauen. Nur so kann man seine Bemerkung zutreffend interpretieren: »Das erste, an was Gott dachte, als er die Welt schuf, war modellieren.« Dies ist die überzeugendste Erklärung dafür, warum er sich in seinem Studio in Meudon eine Art Leichendepot voller modellierter Hände, Beine, Füße, Köpfe und Arme einrichtete, mit denen er gerne spielte und prüfte, ob er sie an neu geschaffene Körper anfügen konnte.

Warum ist der Balzac eine Ausnahme? Unsere bisherigen Überlegungen lassen bereits auf eine Antwort schließen. Es ist die Statue eines Mannes von ungeheurer Kraft, der über die Welt schreitet. Rodin hielt sie für sein Meisterstück. Alle, die über Rodin schreiben, stimmen darin überein, daß er sich selbst mit Balzac identifiziert hat. In einer Akt-Vorstudie wird die sexuelle Bedeutung ziemlich deutlich: Die rechte Hand umfaßt den erigierten Penis. Der Balzac ist ein Monument für die männliche Potenz. Frank Harris schrieb über eine spätere, bekleidete Version - und das gilt ebenso für die Endfassung: »Unter der alten Mönchskutte mit ihren leeren Ärmeln hält sich der Mann aufrecht, seine Männlichkeit entschlossen mit Händen gepackt, den Kopf zurückgeworfen.« Dieses Werk stellt eine so direkte Bestätigung Rodins eigener sexueller Kraft dar, daß er sich dieses eine Mal davon beherrschen lassen konnte. Oder, um es anders auszudrücken- als er am Balzac arbeitete, schien ihm der Lehm, vielleicht das einzige Mal in seinem Leben, männlichen Geschlechts zu sen.

Auguste Rodin: Balzac, 1898

Die Widersprüchlichkeit, die so viel von Rodins Kunst verdirbt und gewissermaßen zu ihrem tiefsten und dabei negativen Inhalt wird, muß in mancher Hinsicht Teil seiner Person gewesen sein. Aber sie war auch typisch für eine historische Situation. Rodins Skulpturen machen, wenn man sie eingehend genug analysiert, in einzigartiger Weise die Natur der bürgerlichen Sexualmoral in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts deutlich. Zum einen die Hypokrisie, die Schuld, die dazu führt, ein starkes Sexualbedürfnis - selbst wenn es befriedigt werden kann - fieberhaft und gespenstisch erscheinen zu lassen. Zum anderen die Furcht, daß die Frauen (als Besitz) verlorengehen und die Notwendigkeit, diese ununterbrochen zu kontrollieren.

Da ist Rodin, der Frauen für das Wichtigste auf der Welt hält. Daneben derselbe Mann, der knapp erklärt: »In der Liebe zählt als einziges der Geschlechtsakt.«

Quelle: John Berger: Das Leben der Bilder oder die Kunst des Sehens, Berlin, 1989, ISBN 3 8031 1114 5, Seite 115-122


Rainer Maria Rilke: Auguste Rodin (Online bei Zeno)

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