12. Mai 2014

Goldbergvariationen: Glenn Goulds Debütaufnahme von 1955

Der 22jährige Glenn Gould war in seiner Heimat Kanada bereits eine Berühmtheit, als er am 2. Januar 1955 in der Phillips Gallery in Washington (und neun Tage später in der New Yorker Town Hall) sein USA-Debüt gab. Dennoch war zu den beiden Klavier-Recitals mit ihrem eigenwilligen Programm (eine Pavan des englischen Virginalisten Orlando Gibbons, die Fantasia cromatica von Jan Pieterszoon Sweelinck, fünf dreistimmige Sinfonien und die fünfte Partita von Bach, Anton Weberns Variationen op. 27, Beethovens E-Dur-Sonate op. 109 und zum Abschluß die Sonate von Alban Berg) kaum die »erste Garde« der nordamerikanischen Musikszene erschienen - glücklicherweise nicht, muß man im Nachhinein wohl sagen: Denn so hatte David Oppenheim - Klassik-Manager der »Columbia«, der auch eher zufällig in das Konzert geraten war, um sich (auf den Rat eines Freundes hin) diesen jungen Mann anzuhören, »der leider ein wenig crazy sei, aber von geradezu hypnotischer Ausstrahlung am Klavier« - das große Glück, Gould stante pede und exklusiv für seine Firma unter Vertrag zu nehmen.

Zunächst aber war Oppenheim ganz und gar nicht glücklich damit, daß Gould ausgerechnet Bachs Goldberg-Variationen als erste Schallplatte aufnehmen wollte; abgesehen von einer um 1928 entstandenen Welte-Mignon-Produktion des jungen Rudolf Serkin hatte sich kaum je ein Pianist mit dem Werk eingelassen, und auch für Cembalisten gehörte die 1742 entstandene »Aria mit 30 Veränderungen« durchaus nicht zum Standard repertoire. Aber bitte: Die lakonische Feststellung »He's great and Columbia's got him!« (mit der man auch später alle Exzentrizitäten Goulds entschuldigend in Kauf nahm) überwand schließlich alle Vorbehalte, und so fand vom 10. bis zum 16.Juni 1955 jene denkwürdige erste Aufnahmesitzung statt, die den Beginn einer mehr als 25jährigen Zusammenarbeit zwischen Gould und der CBS markierte.

»Es war ein heißer, feuchter Tag, als Gould das erste Mal die Columbia-Studios (im Haus Nummer 207, einer verlassenen Presbyterianer-Kirche) in der 30. Straße in New York betrat«, erinnerte sich später der Produzent Howard Scott. »Über seinem Pullover und dem Tweedjacket trug er einen Wintermantel, einen Shetlandschal und eine Mütze, die er tief über das widerspenstige blonde Haar gezogen hatte. In der einen behandschuhten Hand trug er einen zusammenklappbaren Bridgestuhl mit dem kanadischen Ahornblatt auf der Rückenlehne, in der anderen eine Aktentasche mit einem ganzen Sortiment an Pillen und den Noten der Goldberg-Variationen.«
Das Cover des Debüt-Albums von 1955
Ein Exzentriker? Schwer zu sagen: Einerseits konnte sich Gould nicht anders geben, als er nun einmal war und wie ihn auch die dreißig Fotos zeigen, die (für jede Variation eines) während der Aufnahmesitzung entstanden und das Erstausgaben-Cover der Platte schmückten; andererseits - so Scott - »war durchaus Methode in seinen Attitüden, die er in ein regelrechtes show-biz verwandelte«. David Oppenheim wußte genau um die Publicitywirksamkeit solcher Marotten (zu denen auch die Tatsache gehörte, daß Gould vor jeder Sitzung seine Hände und Unterarme in brühend heißem Wasser badete) und schlachtete sie so weidlich aus, daß die Presse dem »Phänomen Gould« bereits zujubelte, bevor noch die Aufnahme erschienen war. Zeitschriften wie »Glamour«, der »Esquire«, der »New Yorker« oder die »Herald Tribune« schmückten das Ereignis mit allen möglichen und unmöglichen Details aus: Daß Gould (da er zum Spielen die Schuhe ausziehe) ein kleines orientalisches Kissen unter dem Pedal habe, da er sich »unglücklich« fühle, wenn seine Füße auf dem nackten Holzboden stünden; daß er wegen eines Luftzugs eine Sitzung unterbrochen habe; daß er die Pfeilwurzkekse, an denen er in jeder Produktionspause knabberte, vorher in Magermilch wasche; daß ihn (als er sich einmal über Unwohlsein beklagte) ein Freund spöttisch gefragt hätte: »Was hast du denn gegessen, Glenn, das dir nicht bekommen ist! Etwa Lebensmittel!«; und so weiter, und so weiter.

Als die Platte dann erschien, schlug sie wirklich sämtliche Kassenrekorde und verwies sogar eine neue Louis-Armstrong-Aufnahme auf den zweiten Rang, »und wenn damals ein Collegegirl überhaupt eine Platte mit klassischer Musik in ihrer Sammlung mit Dave Brubeck und dem Kingston Trio hatte, dann waren es Goulds Goldberg-Variationen« (Norman Snider).

Glenn Gould. (Photo: Don Hunstein)
Über das Wunder dieser Aufnahme ist viel geschrieben worden: Über ihr Temperament, über das faszinierende Non-Legato-Spiel fast ohne Pedal, über Ihren »Swing«. Über ihren beinahe respektlosen Umgang mit einem sakrosankten Heroen der Musikgeschichte (was manche Kritiker zu dem Bonmot »Gouldberg-Variationen« animierte). Über ihre atemberaubende Virtuosität, über ihre Innigkeit und Tiefe, über ihr »Kalkül« und ihre »Ekstase« - zwei Attribute, die Gould für sich selbst in Anspruch nahm - über ihre Wirkung auf die internationale Musikwelt: Als habe Jemand in einem seit hundert oder mehr Jahren nicht mehr gelüfteten Raum plötzlich ein Fenster aufgerissen und frische Morgenluft hereingelassen. Aber Goulds Triumph war nicht nur ein musikalischer: Der 22jährige entsprach auf frappante und ideale Weise dem Zeitgeist: Ein »Junger Wilder« der Musik, ein angry young man, wie ihn John Osborne 1956 mit der Figur des Jimmy Porter in seinem Schauspiel Look Back in Anger (»Blick zurück im Zorn«) auf die Bühne brachte, eine Inkarnation des Holden Caulfield aus Jerome D. Salingers 1951 erschienenem Erfolgsroman The Catcher in the Rye (»Der Fänger im Roggen«). Ein einerseits unbequemer Revolutionär gegen die etablierte (Musik-)Gesellschaft, der andererseits mit seiner »geradezu hypnotischen Ausstrahlung« das Zeug zum Idol hatte: Ein James Dean (der in demselben Jahr 1955, in dem Gould sein USA-Debüt gab und seine erste Version der Goldberg-Variationen aufnahm, tödlich verunglückte) des Konzertpodiums, ein »Marlon Brando des Klaviers«, wie der »New Yorker« schrieb.

Schon bald nach den Goldberg-Variationen erschienen Goulds zweite und dritte »Columbia«-Platte: Die drei letzten Sonaten von Beethoven, und die fünfte und sechste Partita von Bach; für diese hatte Gould als »Fill-Up« zwei Fugen aus dem zweiten Teil des Wohltemperierten Claviers aufgenommen - ein Werk, das er in- und auswendig kannte, hatte er doch noch vor Beginn des Studiums am Konservatorium seiner Heimatstadt Toronto (bei dem Chilenen Alberto Guerrero) dieses opus summum der barocken Klavierliteratur mit seiner Mutter studiert. Auffällig - und durchaus charakteristisch für Goulds Widersprüchlichkeit - sind das langsame Tempo und die Introvertiertheit, mit der er dem kontrapunktischen Stimmengeflecht nachspürt: Als er im Herbst 1969 diese Fugen noch einmal im Rahmen seiner Gesamtaufnahme des Wohltemperierten Claviers einspielte, dauerte die in fis-moll nur mehr 2:46 (gegenüber 3:14), die in E-Dur 1:47 (gegenüber 4:17) Minuten.

Quelle: Michael Stegemann: Der Marlon Brando des Klaviers. Im Booklet


Track 26: Variatio 25 a 2 Clav.


TRACKLIST

Johann Sebastian Bach (1685-1750)   

Goldberg Variations, BWV 988     
Goldberg-Variationen / Variations Goldberg / Variazioni Goldberg    
Aria with 30 Variations / Aria mit 30 Veränderungen   
Aria avec 30 variations / Aria con 30 variazioni      
(Clavier-Übung, part / Teil / partie / parte IV) 

[01] Aria                                                1'53                                    
[02] Variatio  1 a 1 Clav.                               0'45                      
[03] Variatio  2 a 1 Clav.                               0'38                      
[04] Variatio  3 a 1 Clav. Canone all'Unisono            0'55   
[05] Variatio  4 a 1 Clav.                               0'29   
[06] Variatio  5 a 1 ovvero 2 Clav.                      0'37             
[07] Variatio  6 a 1 Clav. Canone alla Seconda           0'35   
[08] Variatio  7 a 1 ovvero 2 Clav.                      1'08                
[09] Variatio  8 a 2 Clav.                               0'45       
[10] Variatio  9 a 1 Clav. Canone alla Terza             0'38   
[11] Variatio 10 a 1 Clav. Fughetta                      0'43     
[12] Variatio 11 a 2 Clav.                               0'55             
[13] Variatio 12 Canone alla Quarta                      0'56      
[14] Variatio 13 a 2 Clav.                               2'10       
[15] Variatio 14 a 2 Clav.                               0'59                               
[16] Variatio 15 a 1 Clav. Canone alla Quinta. Andante   2'17   
[17] Variatio 16 a 1 Clav. Ouverture                     1'18                     
[18] Variatio 17 a 2 Clav.                               0'53                                
[19] Variatio 18 a 1 Clav. Canone alla Sesta             0'46              
[20] Variatio 19 a 1 Clav.                               0'43     
[21] Variatio 20 a 2 Clav.                               0'48
[22] Variatio 21 Canone alla Settima                     1'42  
[23] Variatio 22 a 1 Clav. Alla breve                    0'42   
[24] Variatio 23 a 2 Clav.                               0'55   
[25] Variatio 24 a 1 Clav. Canone all'Ottava             0'58   
[26] Variatio 25 a 2 Clav.                               6'30   
[27] Variatio 26 a 2 Clav.                               0'52   
[28] Variatio 27 a 2 Clav. Canone alla Nona              0'50   
[29] Variatio 28 a 2 Clav.                               1'11  
[30] Variatio 29 a 1 ovvero 2 Clav.                      1'00   
[31] Variatio 30 a 1 Clav. Quodlibet                     0'49   
[32] Aria da capo                                        2'10   
(Recording: 30th Street Studio, New York City. June 10, 14 & 16, 1955; Mono) 


From / aus / de / da:     
"The Well-Tempered Clavier II"     
»Das Wohltemperierte Clavier II« / «Le Clavier bien tempere II» 
"Il clavicembalo ben temperato II"  

[33] Fugue in F-sharp minor, BWV 883                     3'14   
(fis-moll / en fa dièse mineur / in fa diesis minore)

[34] Fugue in E major, BWV 878                           4'17   
(E-Dur / en mi majeur / in mi maggiore)     
(Recording: 30th Street Studio, New York City. Jury 29-31 & August 1, 1957, Mono)   

Glenn Gould, Piano
                                            Total time: 46'11 

The Glenn Gould Edition
ADD
(P) 1956/57
(C) 1992 


The Love Song of J. Alfred PrufrockJ. Alfred Prufrocks Liebesgesang
T. S. Eliot  (1910)

S'io credesse che mia risposta fosse
A persona che mai tornasse al mondo,
Questa fiamma staria senza piu scosse,
Ma percioccho giammai die questo fondo
Non torno vivo alcun, s'i'odo il vero,
Senza tema d'infamia ti rispondo.


Let us go then, you and I,
When the evening is spread out against the sky
Like a patient etherised upon a table;
Let us go, through certain half-deserted streets,
The muttering retreats
Of restless nights in one-night cheap hotels
And sawdust restaurants with oyster-shells:
Streets that follow like a tedious argument
Of insidious intent
To lead you to an overwhelming question ...
Oh, do not ask, 'What is it ?'
Let us go and make our visit.

In the room the women come and go
Talking of Michelangelo.

The yellow fog that rubs its back upon the window panes,
The yellow smoke that rubs its muzzle on the window-panes
Licked its tongue into the corners of the evening,
Lingered upon the pools that stand in drains,
Let fall upon its back the soot that falls from chimneys,
Slipped by the terrace, made a sudden leap,
And seeing that it was a soft October night,
Curled once about the house, and fell asleep.

And indeed there will be time
For the yellow smoke that slides along the street
Rubbing its back upon the window-panes;
There will be time, there will be time
To prepare a face to meet the faces that you meet;
There will be time to murder and create,
And time for all the works and days of hands
That lift and drop a question on your plate;
Time for you and time for me,
And time yet for a hundred indecisions,
And for a hundred visions and revisions,
Before the taking of a toast and tea.

In the room the women come and go
Talking of Michelangelo.

And indeed there will be time
To wonder, 'Do I dare ?' and, 'Do I dare ?'
Time to turn back and descend the stair.
With a bald spot in the middle of my hair -
(They will say: 'How his hair is growing thin!')
My morning coat, my collar mounting firmly to the chin,
My necktie rich and modest, but asserted by a simple pin
(They will say: 'But how his arms and legs are thin!')
Do I dare
Disturb the universe ?
In a minute there is time
For decisions and revisions which a minute will reverse.

For I have known them all already, known them all -
Have known the evenings, mornings, afternoons,
I have measured out my life with coffee spoons;
I know the voices dying with a dying fall
Beneath the music from a farther room.
   So how should I presume ?

And I have known the eyes already, known them all
The eyes that fix you in a formulated phrase,
And when I am formulated, sprawling on a pin,
When I am pinned and wriggling on the wall,
Then how should I begin
To spit out all the butt-ends of my days and ways ?
  And how should I presume ?

And I have known the arms already, known them all -
Arms that are braceleted and white and bare
(But in the lamplight, downed with light brown hair!)
Is it perfume from a dress
That makes me so digress ?
Arms that lie along a table, or wrap about a shawl.
  And should I then presume ?
  And how should I begin ?

                              -----

Shall I say, I have gone at dusk through narrow streets
And watched the smoke that rises from the pipes
Of lonely men in shirt-sleeves, leaning out of windows ? ...

I should have been a pair of ragged claws
Scuttling across the floors of silent seas.

                              -----

And the afternoon, the evening, sleeps so peacefully!
Smoothed by long fingers,
Asleep ... tired ... or it malingers,
Stretched on the floor, here beside you and me.
Should I, after tea and cakes and ices,
Have the strength to force the moment to its crisis ?
But though I have wept and fasted, wept and prayed,
Though I have seen my head (grown slightly bald)
braught in upon a platter,
I am no prophet - and here's no great matter;
I have seen the moment of my greatness flicker,
And I have seen the eternal Footman hold my coat, and snicker,
And in short, I was afraid.

And would it have been worth it, after all,
After the cups, the marmelade, the tea,
Among the porcelain, among some talk of you and me,
Would it have been worth while,
To have bitten off the matter with a smile,
To have squeezed the universe into a ball
To roll it toward some overwhelming question,
To say: 'I am Lazarus, come from the dead,
Come back to tell you all, I shall tell you all' -
If one, settling a pillow by her head,
  Should say: 'That is not what I meant at all.
  That is not it, at all.'

And would it have been worth it, after all,
Would it have been worth while,
After the sunsets and the dooryards and the sprinkled streets,
After the novels, after the teacups, after the skirts that
trail along the floor -
And this, and so much more ? -
It is impossible to say just what I mean!
But as if a magic lantern threw the nerves in patterns on a screen:
Would it have been worth while
If one, settling a pillow or throwing off a shawl,
And turning toward the window, should say:
  'That is not it at all,
  That is not what I meant, at all.'

                              -----

No! I am not Prince Hamlet, nor was meant to be;
Am an attendant lord, one that will do
To swell a progress, start a scene or two,
Advise the prince; no doubt, an easy tool,
Deferential, glad to be of use,
Politic, cautious, and meticulous;
Full of high sentence, but a bit obtuse;
At times, indeed, almost ridiculous -
Almost, at times, the Fool.

I grow old ... I grow old ...
I shall wear the bottoms of my trousers rolled.

Shall I part my hair behind ? Do I dare to eat a peach ?
I shall wear white flannel trausers, and walk upon the beach.
I have heard the mermaids singing, each to each.

I do not think that they will sing to me.

I have seen them riding seaward on the waves
Combing the white hair of the waves blown back
When the wind blows the water white and black.

We have lingered in the chambers of the sea
By sea-girls wreathed with seaweed red and brown
Till human voices wake us, and we drown.
Übertragen von Klaus Günther Just

Dächt ich, es hörte mein Erwidern wer,
Der jemals kehren mag zum Erdenrunde,
Kein Zucken gäbs in dieser Flamme mehr;
Doch weil noch keine Seele diesem Schlunde,
Hört ich die Wahrheit, lebend je entrann,
Drum, sonder Scheu vor Schande, geb ich Kunde.


Komm, wir gehen, du und ich,
Wenn der Abend ausgestreckt ist am Himmelsstrich
Wie ein Kranker äthertaub auf einem Tisch;
Komm, wir gehn durch halbentleerte Straßen fort,
Den dumpfen Zufluchtsort
Ruhlos-verworfner Nächte in Kaschemmen
Und schmierigen Restaurants zum Austern-Schlemmen:
Straßen, die dich wie ein lästiges Argument,
Das jede Tücke kennt,
Zu überwältigenden Fragen führen ...
Oh, frage nicht "Wie bitte ?",
Komm, wir gehen zur Visite.

Frauen kommen und gehn und schwätzen so
Daher von Michelangelo.

Der gelbe Nebel, der den Rücken an den Scheiben reibt,
Der gelbe Rauch, der seine Schnauze an den Scheiben reibt,
Leckt und steckt die Zunge in des Abends Ecken,
Schlängelt um Pfützen, die der Abfluß treibt,
Läßt Ruß aus Schornsteinen auf seinen Rücken fallen,
Schlüpft zur Terrasse, fällt dort jäh und tief,
Und da er sieht, es ist eine sanfte Oktobernacht,
Schnurrt er nochmal ums Haus, wo er entschlief.

In der Tat ist noch viel Zeit
Für den gelben Rauch, der längs der Straße schleift
Und seinen Rücken an den Scheiben reibt;
Es ist noch Zeit, es ist noch Zeit
Dich zu wappnen gegen jedes Antlitz, das dich streift;
Es ist noch Zeit für Zeugung, Mord, und Zeit
Für Werk und Tag der Hand, die sich erhebt
Und eine Frage auf den Teller schneit;
Zeit ist dir und mir bestimmt,
Zeit für hundert Unentschlossenheiten
Und für Visionen und Verdrossenheiten,
Bevor man Toast und Tee dann zu sich nimmt.

Frauen kommen und gehn und schwätzen so
Daher von Michelangelo.

In der Tat ist noch viel Zeit
Zu fragen "Hat es Zweck ?" und "Hat es Zweck ?",
Zeit zur Umkehr über Treppen weg,
Mittendrin in meinem Haar den kahlen Fleck -
(Und man sagt: "Wie wird doch sein Haar so dünn!")
Mein heller Rock, mein Kragen steif aufstrebend bis zum Kinn,
Mein Schlips prächtig und wählerisch, mit einer schlichten Nadel drin
(Und man sagt: "Wie sind ihm Arme und Beine dünn !")
Hat es Zweck,
Das Weltall aufzustören?
In Minutenfrist ist Zeit
Für Entscheiden und Vermeiden, wie's Minutenfrist kann kehren.

Denn alle hab ich schon gekannt, sie all gekannt -
Der Nächte, Morgen, Nachmittage Kreis,
Ich vertat mein Leben kaffeelöffelweis ;
Ich kenn die Stimmen, schmachtend und zum Tod verbannt
In der Musik, die fern im Raume klagt.
  Wie hätt ichs wohl gewagt ?

Und Augen hab ich schon gekannt, sie all gekannt
Augen, die im Gespräch dich abschätzig begucken,
Und wenn ich abgeschätzt und festgenagelt bin,
Wenn aufgespießt ich zapple an der Wand,
Wie fänd ich den Beginn,
Den Dreckrest meiner Tage und Taten auszuspucken,
  Wie hätt ich das gewagt ?

Und Arme hab ich schon gekannt, sie all gekannt -
Arme vom Reif geschmückt und nackt und weiß
(Im Lampenlicht gedämpft vom Haar braunheiß!)
Ist es Parfüm, dem Kleid entirrt,
Was mich so sehr verwirrt ?
Arme auf dem Tischrand liegend, von einem Schal umspannt.
  Wie hätt ichs da gewagt ?
  Wie fänd ich den Beginn ?

                              -----

Sag ich nun, ich ging zur Dämmerung durch die Gassen
Und sah den Rauch aufsteigen aus den Pfeifen
Einsamer Männer, hemdsärmlig aus den Fenstern lehnend ? ...

Mir stünden wohl ein Paar gezackter Klauen,
Hinhuschend auf dem Grunde stiller Meere.

                              -----

Und der Nachmittag, der Abend schlummert friedlich hier!
Dämpft sich und ruht so
Schläfrig ... müde ... oder er tut so,
Am Boden räkelnd neben dir und mir.
Hab ich, nach Tee, Gebäck und Eisgetränken,
Kraft, den Augenblick zur Krise hinzulenken ?
Hab ich mich weinend, fastend, betend auch gereckt,
Und sah ich auch mein Haupt (recht kahl)
auf einer Schale hergetragen,
Bin kein Prophet - doch das hat nichts zu sagen;
Ich sah die Stunde meiner Größe verrotten
Und sah den Ewigen Diener mantelhaltend meiner spotten,
Kurzum, ich war erschreckt.

Und wärs von Wert gewesen, nach alldem,
Nach Marmelade, Tee und Näscherein,
Zwischen dem Porzellan und dem Gespräche von uns zwein,
Wär es der Zeit wohl wert,
Wenn man das Ganze grinsend aufgezehrt,
Wenn man das Weltall, fest zum Ball gepreßt,
Hinrollt zu Überwältigenden Fragen,
Und sagt: "Ich bin Lazarus, ich künde Wissen
Vom Totenreich, das keiner sonst verläßt" -
Wenn eine, untern Kopf geschmiegt ihr Kissen,
  Spräche: "Dies hab ich wahrlich nicht gewollt.
  Dies ist es nicht, dies nicht."

Und wärs von Wert gewesen, nach alldem,
Wär es der Zeit wohl wert,
Nach Sonnenuntergängen, Gärten und verregneten Straßen,
Nach den Romanen, nach den Teetassen, nach
der Gewänder Spur am Boden her -
Diesem und anderm mehr ? -
Ich finde nicht die richtigen Worte, klar und scharf!
Wie das Nervenwirrwarr, das die magische Lampe auf die Leinwand warf:
Wär es der Zeit wohl wert,
Wenn eine, ein Kissen rückend oder zum Fenster gekehrt,
Den Schal zu Boden werfend, spräche:
  "Dies ist es wahrlich nicht,
  Dies hab ich nicht gewollt, dies nicht."

                              -----

Nein! Ich bin kein Prinz Hamlet, nicht dazu bestimmt;
Bin Haushofmeister, treib die Handlung an,
Beginne ein, zwei Szenen, rate dann
Dem Prinzen; ein willfähriges Werkzeug, starr
Vor Ehrfurcht, hocherfreut, wenn oft benutzt,
Sehr höflich, vorsichtig und schächerlich;
Voll großer Worte, doch auch dumm-verdutzt;
Zuzeiten, in der Tat, fast lächerlich -
Zuzeiten fast der Narr.

Ich werde alt ... Ich werde alt ...
Hochgekrempelt trag ich meine Hosen bald.

Ob ich mir die Haare scheitle ? Ob ich Pfirsiche verzehr ?
Ich will weiße Flanellhosen tragen und wandern am blauen Meer.
Ich hörte die Meermädchen singen, hin und her.

Ich glaube nicht, daß ihr Gesang mir galt.

Ich sah sie meerwärts auf den Wellen reiten
Und kämmen weißes Wellenhaar im Flug,
Als Wind das Wasser weiß und schwarz zerschlug.

In Meergewölben ward uns Aufenthalt
Bei Nixen in rotbraunen Seetangs Winken,
Bis Menschenlaut uns weckt, und wir ertrinken.
Quelle: T. S. Eliot: Ausgewählte Gedichte. Englisch und Deutsch. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, Erste bis Dritte Auflage, 1951, Seite 7 bis 17

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Reposted on February 26, 2018

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