11. Mai 2015

Henry Purcell: Fantazias (London Baroque)

Henry Purcell wurde irgendwann im Jahre 1659 und wahrscheinlich in Westminster geboren. Als Knabe sang er in der Chapel Royal; als er in den Stimmbruch kam, wollte man ihn behalten, und so wurden ihm Stimmung und Verwaltung der königlichen Instrumente übertragen. 1677 ernannte man ihn als Nachfolger Matthew Lockes zum Composer for the Violins, zwei Jahre später folgte er John Blow als Organist von Westminster Abbey. Diesen Posten bekleidete er während der Regierungszeit von James II. und zu Beginn derjenigen Williams III.

Verglichen mit der Vielzahl seiner dramatischen und sakralen Kompositionen ist seine Kammermusik von geringem Umfang, und seine Streicherfantasien sind die letzten Beiträge zur zweihundertjährigen Geschichte dieser Gattung. Sie stellen eine besonders persönliche und bewußt unzeitgemäße Destillation des alten Stils zu einer Zeit dar, in der die meisten Hörer (wie auch sein Dienstherr Charles II.) Musik bevorzugten, zu der sie mit den Füßen wippen konnten. Der Anlaß ihrer Entstehung ist unklar. Es gibt gewisse Parallelen zu Bachs Kunst der Fuge, aber wo Bach auf Anforderung das Kompendium einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Kontrapunkt am Ende seines Lebens niederschrieb, scheint es dem 2ljährigen Purcell eher darum gegangen sein, sich selber zu beweisen, daß er die Techniken seiner Vorgänger perfekt beherrschte, um sie dann abzulegen und sich neuen Stilen zu widmen. Offensichtlich wollte Purcell noch zahlreiche weitere Stücke schreiben, da sein eigenes Manuskript leere Seiten mit der Überschrift enthält "Here Begineth the 5 Part: Fantazias" ("Hier beginnen die fünfstimmigen Fantasien") und "Here Begineth the 6, 7 & 8 part Fantazias" ("Hier beginnen die sechs-, sieben- und achtstimmigen Fantasien").

Die dreistimmigen Fantasien sind einer Sammlung von Orlando Gibbons verpflichtet, die Mitte der l620er Jahre gedruckt wurde und stilistisch bereits mit einem Fuß in der neuen Musik des "Barock" steht. Die vierstimmigen Fantasien scheinen eher dem Modell von Matthew Lockes Consort of 4 Parts zu folgen, die um 1660 entstanden sind und, wie diejenigen Purcells, die Satzfolge schnell-langsam-schnell, schnell-langsam-schnell-langsam oder langsam-schnell-langsam-schnell aufweisen, wobei die letztere Variante vermutlich zu der klassischen barocken Triosonate führt. Das Fragment a-moll besteht aus dem ersten Abschnitt oder "Point" eines unvollendeten vierstimmigen Stücks, dessen Stil erheblich italienischer ist als in dieser Sammlung üblich und das etwas später entstanden sein mag.

Anthony van Dyck: "The Sheperd Paris",
ca. 1632, Wallace Collection
Die Pavane g-moll für drei Violinen greift ebenfalls auf das frühe 17. Jahrhundert zurück und besteht - wie die Pavanen von Jenkins, die Purcell als Modell verwendet haben könnte - typischerweise aus drei stark kontrastierenden Abschnitten, von denen jeder eigenes Material vorstellt.

Die Chaconne g-moll ist das einzige Stück, zu dem Charles II. mit den Füßen gewippt haben könnte. Purcell behält das charakteristische rhythmische Gerüst bei, versieht es aber mit einer Chromatik und einer Kühnheit, die man in den französischen Vorbildern selten findet.

Die Tradition der In-Nomine-Komposition reicht geradewegs zurück in das 16. Jahrhundert. Aus unbekannten Gründen - vielleicht einer kryptoreligiösen Tagesordnung - entnahmen Komponisten dem Benedictus aus Taverners Messe Gloria tibi trinitas eine Phrase ("qui venit in nomine Dei") und verwendeten es als Cantus firmus für eine Fantasie. Diese Tradition dauert von 1550 bis ungefähr 1640, wobei Purcells rund vierzig Jahre später entstandenen Beiträge die letzten Vertreter darstellen. Siebenstimmiger Satz ist äußerst selten, und sicher hat Purcell seine Feder nicht ohne eine gewisse Freude aus der Hand gelegt, als er den letzten und größten dieser Art niedergeschrieben hatte. Die Fantasie über eine Note reduziert das Konzept des Cantus firmus ins Absurde; das Stück selber ist genauso witzig wie seine Idee.

Unsere Einspielung entspricht der Reihenfolge und dem Inhalt eines Manuskripts, das "aus Henry Purcells eigenem Manuskript von Mr. Tho' Barrow, Gentleman der Chapel Royal Seiner Majestät, gewissenhaft abgeschrieben wurde". Wir haben uns für Instrumente der Violinfamilie entschieden, zum Teil, weil einige der Stücke (insbesondere die Fantasie über eine Note) offenkundig "violinistisch" sind, zum Teil wegen einer Bemerkung von Anthony a Wood, derzufolge Amateurmusiker im Oxford der späten l650er bereits von den Violen zu den Violinen übergingen. Außerdem schrieb Roger North, der Purcell persönlich gekannt hat, daß Lockes Consort of 4 Parts die letzte Komposition für Violen-Consort gewesen sei.

Quelle: Charles Medlam, (Übersetzer: Horst A. Scholz), im Booklet

Track 15 Chacony a 4 in G minor


TRACKLIST

PURCELL, Henry (1659-1695) 

01 Fantasia a 3 in D minor                         2'45
02 Fantasia a 3 in F major                         3'30
03 Fantasia a 3 in G minor                         2'32
04 Fantasia a 4 in G minor (lOth June 1680)        3'37 
05 Fantasia a 4 in B f1at major (11th June 1680)   4'13 
06 Fantasia a 4 in F major (l4th June 1680)        3'39
07 Fantasia a 4 in C minor (l9th June 1680)        3'58
08 Fantasia a 4 in D minor (22nd June 1680)        3'39
09 Fantasia a 4 in A minor (23rd June 1680)        3'51
10 Fantasia a 4 in E minor (30th June 1680)        3'29
11 Fantasia a 4 in G major (l9th August 1680)      3'14 
12 Fantasia a 4 in D minor (31st August 1680)      3'09
13 Fantasia a 4 in A minor, fragment               1'14
14 Pavan a 4 for three violins                     4'24
15 Chacony a 4 in G minor                          4'30
16 Fantazia a 5 upon one Note in F major           2'50 
17 In nomine a 6 in G minor                        2'00
18 In nomine a 7 in D minor                        3'22

                              Total playing time: 62'50 
London Baroque:

Ingrid Seifert, vio1in 
Jean Paterson, vio1in (tracks 17 & 18) 
Richard Gwilt, viola / violin (tracks 13, 14, 15 & 16) 
Irmgard Schaller, viola (track 15) 
Mark Andrews, viola (tracks 16, 17 & 18) 
Charles Medlam, violoncello 
Richard Campbell, violoncello (track 18) 

Recording data: January 2000 at St. Martin's, East Woodhay, Hampshire, England 
Balance engineer/Tonmeister: Jens Braun - Producer: Jens Braun 
Front cover: Anthony van Dyck (1599-1641), Paris (c.1632) 
© 2000 (P) 2001

Von der Schriftrolle zum Codex



Aus der Vorlesung »Buchmalerei des Mittelalters« (1967/68) von Otto Pächt

Abb. 1 Sternbilder. Chronologische und astronomische
Schriften, Salzburg, um 818
Für das Verständnis der Genese der mittelalterlichen Buchmalerei ist der erste Transkriptionsprozeß, der der Spätantike aus der Rolle in den Codex, von kapitaler Bedeutung. Beim Kopieren der Texte blieb der Inhalt erhalten, dies war ja der Zweck der Übung, Veränderungen ergaben sich nur aus Irrtümern des Abschreibens. Wie aber stand es mit der Form der Schrift und, wenn es eine solche gab, der Ausstattung, des Buchschmucks und der Illustration? Wollte man, konnte man diese reproduzieren, kopieren, war es überhaupt möglich, sie unverändert zu übernehmen? Man braucht diese Fragen nur zu stellen, um zu erkennen, welche Fülle von Problemen sich aus der praktisch-technischen Umstellung ergaben.

Papyrusrollen waren in schmalen, hohen Kolumnen mit kurzen Zeilen geschrieben, beim Übergang von einem kontinuierlichen Schriftband von ansehnlicher Länge zu einer Folge von relativ kleinen separaten Blättern ließen sich bestenfalls zwei bis vier solcher Schriftkolumnen auf einer Seite vereinen (Abb. 1). Man war früher geneigt, das Nebeneinander mehrerer Kolumnen auf einer Codexseite als Nachleben der in der Schriftrolle beheimateten und ihr genehmen Textanordnung zu interpretieren, als Zeichen einer Unfreiheit gegenüber einer in einem verschiedenen Medium erwachsenen Tradition.

Abb. 2 Illustration zu Psalm 11.
Utrecht-Psalter, Reims, um 830
Seit wir von dem besonderen Attachement der frühen Christen zum Codex wissen, drängt sich uns eine ganz andere Deutung der Fakten auf. Der frühe christliche Papiercodex, der von bescheidenem Format war, besaß höchstwahrscheinlich in der Regel nur eine einzige Schriftkolumne, mit etwas breiteren Zeilen als es bei den Textkolumnen der Rollen üblich war. Prachtausgaben der Bibel auf Pergament aber, wie etwa der berühmte Codex Sinaiticus, der in vier Spalten geschrieben ist - eine der wenigen fast vollständigen spätantiken Prachtausgaben der Bibel, die sich erhalten haben -, dürften als Produkte einer archaisierenden Richtung zu verstehen sein, für das vornehme Publikum, die herrschende Klasse gedacht, an deren in die heidnische Zeit zurück reichende Gewohnheiten das christliche Buch sich angepaßt hatte.

Wenn man in karolingischer Zeit oder später noch mehrspaltig schrieb - man denke an den Utrecht-Psalter (Abb. 2) -, so tat man es zweifellos auch, um der Handschrift ein besonderes Dekorum und ein altehrwürdiges Aussehen zu geben. Ist doch der Utrecht-Psalter sogar statt in der damals modernen Minuskel in archaisierenden Kapitalien, Großbuchstaben, geschrieben. […] In einer zweiten - im 12.Jahrhundert - in England entstandenen Kopie hat man dann eine rationale Motivierung der Mehrspaltigkeit gefunden: Es ist ein Psalterium triplex, d. h. eine Konkordanz der drei lateinischen Übersetzungen des Psalters (Abb. 3: es ist dreimal dieselbe Textstelle, der Beginn des 11. Psalms - »Salva me ...« bzw. »Salvum me fac ...« - zu lesen).

Abb. 3 Illustration zu Psalm 11.
Eadwine-Psalter, Canterbury (Christ Church), um 1150
Dem Pergamentcodex verdanken wir also die Rettung des literarischen Vermächtnisses der Antike; wie ist es aber bei der Umstellung von der Rolle zum Codex dem Gewand ergangen, in das man in der Antike den Inhalt kleidete, dem dekorativen Schmuck des Buches und seiner bildkünstlerischen Ausstattung? Was ist von dem reichen Schatz des im antiken Buch in schaubarer Form Gesagten in die Folgezeit hinübergerettet worden? Um diese Frage zu beantworten, wird man sich drei Grundfakten vergegenwärtigen müssen.

Erstens, daß es in der Antike nur eine sehr beschränkte Anzahl von Texten gegeben hat, die Illustrationen enthalten oder anderweitige künstlerische Ausstattung besessen haben, zumal im Zeitalter der Buchrolle. Es hat reich illustrierte Bücher damals gegeben, sogar wahre Bilderbücher, aber sie waren die verschwindende Ausnahme. In dem Transponierungsprozeß war es wiederum nur eine kleine Auswahl, deren Bebilderung oder Zierschmuck in den Codex mitkopiert wurde, bzw. dort ein Äquivalent erhielt. Von den zahlreichen Papyri, Fragmenten von Buchrollen, die in Ägypten wieder ans Licht gekommen sind, ist nur ein sehr geringer Teil illustriert oder geschmückt; keine einzige Rolle antiken Ursprungs, die eine Bilderfolge enthielte, nicht einmal ein nennenswertes Bruchstück einer solchen ist bis auf uns gekommen. Von der Buchmalerei der griechischen Welt, in der die Schriftrolle das Monopol hatte, können wir uns nur in zum Teil sehr gewagten Rekonstruktionen eine Vorstellung machen.

Abb. 4  Sternbilder. Komputistisch-Astronomisches
Lehrbuch, Metz, zwischen 820 und 840
Dieser fast totale Verlust erschwert es ungemein, zu ermessen oder abzuwägen, was in der Sphäre des bildlichen Schmuckes der antike Codex von der Schriftrolle übernommen hat. Daß man von einer nachantiken Bildrolle, der mittelbyzantinischen Josuarolle der Biblioteca Vaticana (Abb. 9) auf das Aussehen der antiken illustrierten Rolle direkt Schlüsse ziehen darf - wie man lange Zeit glaubte - wird heute von einem Teil der Forschung ernstlich bestritten. Als erschwerender Umstand kommt hinzu, daß auch vom antiken illustrierten Pergamentcodex, also dem direkten Nachfolger der illustrierten Rolle, nur eine ganz geringe Anzahl von Originalen erhalten geblieben ist [z.B. der Vergilius Vaticanus, Italien, Anfang 5. Jh.]; die Kenntnis einiger weiterer Beispiele verdanken wir karolingischen Kopisten, zu deren Zeit noch eine größere Anzahl antiker Handschriften existierte. So ist auch unsere Kenntnis des Buchschmucks des antiken Pergamentcodex eine recht beschränkte.

Der zweite Faktor, den wir bei Beantwortung unserer Frage nach dem schöpferischen Anteil der Rollenillustration am Schmuck des Blätterbuches zu berücksichtigen haben, ist der Anpassungskoeffizient an das neue Buchformat, das neue Medium, die veränderte Aufgabe. Hatte beispielsweise eine Schriftkolumne kurze Zeilen wie bei der Rolle, dann mußte auch ein Bild, das in diese schmale Kolumne inseriert wurde, knapp gehalten werden - Kolumnenbilder neigen zu lapidarer Kürze. Ändert sich der Satzspiegel und längen sich die Zeilen wie beim Codex, dann wird das für die Illustration freigelassene Intervall innerhalb der Schriftkolumne viel zu breit für das Bild der Rollenvorlage. Wird die Vorlage ohne Veränderung kopiert - wie das aus Respekt vor dem altehrwürdigen Vorbild nicht selten verlangt worden sein mochte -, dann kann die wörtlich getreue Wiederholung des Urbildes unmöglich den breiten Streifen füllen, es entstehen Löcher auf der Buchseite. Das mag dann den Anreiz bilden, Füllmotive zu erfinden, um die Löcher zu stopfen, also die Vorlage zu verändern.

Abb. 5 Der Hirsch an der Quelle, Illustration zu Psalm 41,2.
 Stuttgarter Psalter, Saint-Germain-des-Prés (?), 1. Hälfte 9.Jh.
In einer karolingischen - über ein Zwischenglied von einer antiken Handschrift kopierten - Arataea-Handschrift ist im wesentlichen noch das antike Bild übernommen, aber in das Intervall der sehr breit gewordenen Schriftkolumne gesetzt (Abb.4 links), frei schwebend, ohne irgendwie fest verankert zu sein. Ein anderes Blatt derselben Handschrift (Abb. 4 rechts) zeigt zwei Illustrationen in eine Kolumne nebeneinandergeschoben. Daß die Verlockung bestand, die Schriftkolumne - wenn das Motiv selbst nicht dazu ausreichte ergänzend auszufüllen, daß sich hier Anlaß zu Bereicherungen bot, mag - mit Vorbehalt, denn das Urbild ist nicht leicht zu bestimmen - an einem Beispiel aus dem Stuttgarter Psalter veranschaulicht werden (Abb. 5): Es ist die Illustration zu Psalm 41,2 »Quemadmodum desiderat cervus ad fontes aquarum, ita desiderat anima mea ad te Deus« - »wie der Hirsch nach der Quelle dürstet, so dürstet meine Seele nach dir mein Gott«. Das Zentrum der Darstellung ist der Hirsch, der an der Quelle trinkt, hinzugesellt hat sich der Psalmist, der auf die Hand Gottes und den Hirschen weist. So ungefähr muß man sich vorstellen, daß eine Reihe von ursprünglich sehr knappen Illustrationen erweitert wurde.
Abb. 6 Evangelist Johannes.
Evangeliar, Byzantinisch, Mitte 10.Jh.
Wir sehen: beim Bild führt das Postulat der Buchstabentreue gegenüber dem Urtext sofort zu Konflikten, kann nicht mehr, wie beim sprachlichen Text, ein absoluter Wert sein. Veränderungen des Textes schleichen sich unabsichtlich ein, sind die Folge von Verlesen und Unachtsamkeit; wir sprechen von Textkorruption. Natürlich gibt es auch bei der Tradierung von Bildvorlagen Korruption, Sinnverstümmelung infolge mangelnder Fähigkeit und Geschicklichkeit des Kopisten, Mißverstehen des Vorbildes, denn auch das passivste Kopieren beinhaltet schon eine unwillkürliche Interpretation.

Es ist aber auch ein Mißverstehen-Müssen, im Sinn von ›in der neuen Sprache ausdrücken müssen‹, welches die neue Form mitbestimmt. Ein Umdeuten, Übersetzen in eigene, für die Zeitgenossen bestimmte, verständlichere Formen. Zur Veranschaulichung des Gesagten stelle ich eine jener zahlreichen byzantinischen Evangelistendarstellungen, die wir noch als Vertreter des spätantiken Autorenporträts ansehen können (Abb. 6) und eine nordische, frühmittelalterliche Kopie dieses Typus (Abb. 7) gegenüber. Die Philosophenhaltung - das in die Hand Stützen des Kinns - ist dieselbe. Zu beachten ist die Transponierung des Schaftes des Lesepults. Der Kopist kannte natürlich das Naturvorbild, den Delphin, nicht; er hat ihn in ein Drachenwesen mit scharfen Zähnen und besonderer, dekorativer Ausbildung des Auges übersetzt, d.h. er dachte sicherlich auch, es in seinem Sinn zu verbessern, ausdrucksvoller zu gestalten, indem er ihm diese Form gab. Es sind intendierte Veränderungen, sie entspringen einem anders Müssen, einem anders Wollen, nicht einem Unvermögen, sind nicht bloß Äußerungen der Inferiorität und Primitivität des Kopisten.

Abb. 7 Evangelist Matthäus.
Codex millenarius, Salzburg, um 800
Wichtiger als historisches Phänomen ist jedoch eine zweite Folgeerscheinung des Umstellungs- und Anpassungsprozesses. Jeder Buchtypus scheint von sich aus nicht nur ihm allein entsprechende Bildformate zu verlangen, sondern auch ihm allein kongeniale Schmucksysteme und - was das Wichtigste ist - ihm kongeniale bildliche Erzählweisen. Jeder Buchtypus ist ein anderes Medium, in dem andere Gestaltungsmöglichkeiten schlummern. Das kontinuierliche Band der Schriftrolle legt es nahe, die Motorik der Buchform, das Abrollen - das noch in dem heute ganz anderes bezeichnenden Terminus Volumen nachklingt - in die Bildform und bildliche Erzählweise hineinzutragen, seitlich offene Bildkompositionen zu schaffen. Der Codex mit seiner Folge relativ kleiner, separater Blätter wiederum drängt auf seitlichen Abschluß, auf Unterteilung, Insichgeschlossensein des Bildes wie der Buchseite (Abb. 8).

Abb. 8 Illustration der Eigenschaften des
Löwen. Bestiar. Peterborough (?), Anfang 13.Jh.
Wie immer man sich die Entstehung der Bilderfolge des vatikanischen Josuarotulus (Abb. 9) zu denken hat - worüber jetzt die Meinungen der Forschung auseinandergehen - ob sie als archaisierende Neuschöpfung der mazedonischen Renaissancebewegung zu verstehen ist, wie Weitzmann vorschlägt, und das hieße als Bilderstreifen, der durch Aneinanderflicken und Auffädeln einer großen Anzahl ursprünglich getrennter Einzelepisoden entstanden ist, - aus in sich geschlossenen, gerahmten Bildern, wie sie die ikonographisch aufs engste verwandten Josuazyklen der wenig späteren mittelbyzantinischen Oktateuchillustrationen (Abb. 10) besitzen - oder aber ob die Josuaillustrationen schon ursprünglich als szenischer Film, als fortlaufendes Geschehensband erfunden worden sind, wie man lange, Wickhoffs Interpretation folgend, glaubte, auf jeden Fall ist es eine aus dem Geist des Mediums entwickelte Erzählweise - die kontinuierliche Erzählung -, für die es monumentale Gegenbeispiele in der Spätantike gibt, wie das um eine Säule spiralig gewundene Reliefband der Marc-Aurel- oder der Trajan-Säule. Besteht Weitzmanns These zu Recht, derzufolge wir im Bilderzyklus der Josuarolle eine künstliche Rekonstruktion einer antiken Bilderrolle zu erblicken haben, die genuine antike Rollenillustration jedoch den kontinuierlichen Erzählstil nicht kannte, dann stünden wir vor dem höchst seltsamen historischen Phänomen, daß die der Buchrolle kongeniale Erzähltechnik erst post mortem des Rollenbuches von einem gelehrten Kopf erdacht worden sei. Eine für mich nur schwer vollziehbare Vorstellung.

Abb. 9 Die Gibeoniter vor Josua. Josuarolle, Byzantinisch, 10.Jh.
Schließlich der dritte Grundfaktor, den wir bei einer Beurteilung der epochalen Umstellung des Buchwesens von Anfang an in Rechnung stellen müssen: Die Wende von der Schriftrolle zum Codex fiel zusammen mit einem Umschwung in der Bewertung der sinnlichen Erfahrung und Anschauung, einer Entwertung des anschaulich Erlebbaren, was natürlich die Haltung zum Bild und Abbild zutiefst berühren mußte und im östlichen Mittelmeerbecken bekanntlich zur extremen Form der Bilderfeindlichkeit geführt hat. Wo man noch bilderfreundlich war oder blieb, begann man in der als vergänglicher Schein gestempelten äußeren Wirklichkeit ein Simile zu erblicken, das für ein primär nicht Sichtbares, die übersinnliche Welt, das wahre Sein, steht. Man begann, zwischen dem leiblichen und dem geistigen Auge zu unterscheiden, und was man mit dem leiblichen Auge sah, hatte nur Wert als Abglanz, Andeutung, Wegweiser auf ein Anderes, hinter der Oberfläche der materiellen Erscheinung Verborgenes - kurz als Zeichen, als Symbol.

Wenn alles Schaubare nur stellvertretende Bedeutung hatte, dann mußte alle bildliche Darstellung symbolhaft werden, eine mehr oder minder abstrakte Zeichensprache. Als Bilderschrift war sie aber plötzlich in eine innere verwandtschaftliche Beziehung zur Zeichenschrift des Buches getreten, die Schranken zwischen zwei bisher heterogenen und in der Antike grundsätzlich unvermischbaren Sphären fielen. Weite Perspektiven für ein fruchtbares, schöpferisches Zusammenleben von Wort und Bild, von Buchstabe und Figur, von Schriftspiegel und Bildraum taten sich auf.

Abb. 10  Die Gibeoniter vor Josua. Oktateuch, Byzantinisch, 11.Jh.
Dieser Symbiose verdanken viele der originellsten Erfindungen der bildkünstlerischen Phantasie des Mittelalters ihre Entstehung und Entfaltung, etwa, um nur einige der spezifischen Möglichkeiten anzudeuten, die Figureninitiale, bei der der Buchstabenkörper durch Figuren oder ganze Szenen gebildet wird, die historisierte Initiale, bei der Figuren oder Szenen die Füllung des Buchstabens bilden, die Monogrammseite, die Schrift und Ornament in reich orchestrierten Kompositionen zusammenfügt, die Drolerie, die gleichsam einen Freiraum für groteske, naturalistische Drastik, Genreszenen u. ä. bietet (Abb. 11), didaktische Bilder mit ihrer Durchdringung von bildlichen und Schriftelementen, wie sie außerhalb des Buches nie möglich wäre, Bilderkonkordanzen wie etwa die Armenbibel, die mit ihren Gegenüberstellungen von Bildern des Alten und des Neuen Testaments spirituelle Zusammenhänge - Prophezeiung und Erfüllung - vor Augen führen will (Abb. 12), und noch vieles andere, Dinge, die nur im Lebensraum der Buchmalerei groß werden konnten und im Reich der Monumentalmalerei, sei es Fresko, Mosaik oder Tafelbild, nicht ihresgleichen haben.

Abb. 11 Drolerie. Robert de Boron,
 L'Histoire du Graal, Nordfrankreich, um 1280
Die Gewinne, die, wenn auch nicht dank der Umstellung von der Buchrolle zum Codex, so doch in ihrem Gefolge nach und nach erzielt worden sind, sind, wie ich eben anzudeuten versuchte, bei einigem guten Willen eher abzuschätzen als die Verluste, deren Umfang und Bedeutung wir heute nur mehr erahnen können. […] Die Bilderzyklen, die mit der Vernichtung der illustrierten Rollen zugrunde gegangen sind, wird kein Spaten eines Archäologen auch nur fragmentweise ausgraben können. Daß man die Verluste nicht hoch genug veranschlagen kann, wird man sich noch am ehesten am Beispiel der Bibelillustration vergegenwärtigen, deren Tradition begreiflicherweise trotz Wechsel des Mediums, trotz Kulturkatastrophen und Krisen der Kunst nie ganz abgerissen ist. Von den ältesten biblischen Zyklen, die sicherlich noch als Rollenillustration entworfen worden sind, hat die ganze frühmittelalterliche Bibelillustration einschließlich der romanischen Epoche gezehrt. Auszüge aus den ursprünglichen Bilderfolgen sind in frühchristliche Codices übernommen und später, wieder auszugsweise, in immer kleineren Dosen bis ins Hochmittelalter hinübergerettet worden.

In der Wiener Genesis, einem aus kaiserlich byzantinischem Besitz stammenden Purpurcodex, haben wir ein erstes, frühes Stadium dieser Reduktion vor uns: eine noch immer äußerst reich illustrierte Genesis-Folge (es ist ein 48 Seiten - von ursprünglich mindestens 200 Seiten - zählendes Fragment). In den karolingischen Bibeln bekommen dann die einzelnen Bücher - manchmal nur noch das Buch Genesis - lediglich Titelbilder, in denen auf einer Seite einige Bildstreifen zusammengedrängt wurden, und die wir, da wir die ikonographischen Übereinstimmungen leicht nachweisen können, als Auszüge aus unendlich viel reicheren Bilderzyklen ansehen dürfen.

Abb. 12 Kreuztragung mit zwei typologischen Szenen.
Armenbibel, Blockbuch, Holländisch, um 1430/1440
Wie diese fortschreitende Reduktion stattgefunden hat, der Strom der bildlichen Überlieferung immer dünner wurde, um schließlich auf einige Titelbilder zusammenzuschrumpfen, möchte ich noch am Beispiel der Illustration der Makkabäerbücher kurz skizzieren. Wir besitzen eine spätkarolingische, wahrscheinlich in St. Gallen entstandene Handschrift, in der auf 26 eigenen Bildseiten eine ganze Szenenfolge die Geschichte der Makkabäer erzählt (Abb. 13). Es ist kein Zweifel, daß diese karolingische Folge nur eine Kopie einer spätantiken Vorlage ist. In zwei Bibeln der romanischen Epoche, der von Citeaux und der von Winchester, sind gerade die Makkabäerbücher mit Titelbildern versehen (Abb. 14). Die in mehreren Bildstreifen übereinander angeordneten Szenenfolgen beinhalten enge Parallelen zu dem St. Gallener Zyklus, etwa, um nur auf zwei Details hinzuweisen, die Klagegesten der Trauernden in der jeweiligen Schlußepisode (Tod des Judas Makkabäus) oder die Ausschnitthaftigkeit der Darstellungen am Bildrand (St. Gallen und Winchester).

Abb. 13 Tod des Judas Makkabäus.
Makkabäerbücher, St. Gallen, 1. Hälfte 10.Jh.
Verfolgen wir die Geschichte dieser Tradierung, so kommen wir unweigerlich zu dem Schluß, daß die bei weitem reichsten, ausführlichsten biblischen Bilderzyklen am Anfang gestanden haben, ja daß der biblische Text nie wieder so eingehend und lückenlos illustriert worden ist. Allerdings gilt dies nur fur das Alte Testament, von frühen zyklischen Darstellungen der Evangelien ist keine Spur zu finden.

Lange wußte man nicht, was diese auffallende Diskrepanz bedeuten sollte. Die Beobachtung, daß die Alttestamentszyklen zahlreiche apokryphe jüdische Elemente enthielten, hat dann die Forschung auf die wahrscheinlich richtige Spur gebracht: Diese alttestamentarischen Bilderzyklen müssen vorchristlichen Ursprungs sein, in den vom Hellenismus infizierten und daher das Bilderverbot nicht mehr beachtenden jüdischen Gemeinden entstanden. Das heißt aber - und dies ist für uns im Augenblick das Entscheidende -, ihre Entstehung fällt in eine Zeit, in der es den Codex noch nicht gegeben hat. Mit einem Wort: das zyklische Erzählen, welches mit kontinuierlichem Erzählen nicht identisch ist, ist recht eigentlich das Vermächtnis der antiken Rollenillustration an die mittelalterliche Buchmalerei. Es hat, wie wir sehen konnten, im weiteren Verlauf der mittelalterlichen Entwicklung bisweilen genügt, wenn den Illuminatoren im geeigneten Moment Bruchstücke solcher Bilderzyklen in Kopien untergekommen sind, um narrative Kunst wie den Phönix aus der Asche wieder erstehen zu lassen. Eines der schönsten Beispiele für die Unsterblichkeit künstlerischer Ideen.

Abb. 14 König Antiochus erteilt seine Befehle,
Tod des Judas Makkabäus. Winchester-Bibel,
Winchester (St. Swithun's), um 1150-1180.
Quelle: Otto Pächt: Buchmalerei des Mittelalters. Eine Einführung. Prestel, München 1984, ISBN 3-7913-2455-1. Aus dem Kapitel »Einführung«, Seite 17 bis 31

OTTO PÄCHT war einer der großen Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts und bis zu seinem Tod 1988 der Nestor der Handschriftenforscher. Er hat sich durch seine Lehr- und- Forschungstätigkeit in London, Oxford, New York, Princeton und Cambridge schon früh einen internationalen Namen gemacht. Von 1963 bis 1972 lehrte er als Ordinarius an der Universität Wien. Otto Pächt befaßte sich vor allem mit der europäischen Kunst des 15. Jahrhunderts und mittelalterlicher Buchmalerei, Gebiete, auf denen er unangefochtene Autorität war.


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Reposted on November 17th, 2017


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