26. August 2016

Bertolt Brecht, gesungen von Antoni und Schall (1999)

Carmen-Maja Antoni und Johanna Schall haben sich zusätzlich zu ihren großen Theater- und Filmrollen auch mit ihren herausragenden Brecht-Interpretatonen einen Namen gemacht. Sie präsentieren hier eine Auswahl der bekanntesten Balladen, Lieder und Gedichte Brechts. Um 1996 für ein Londoner Gastspiel entwickelt, haben sie dieses Programm mittlerweile in über 100 Aufführungen im In- und Ausland vorgetragen.

Vorgestellt werden u.a. „Über die Verführung von Engeln“, „Die Seeräuber-Jenny“, „Die Zuhälterballade“, „Der Kanonen-Song“, „Das Eifersuchtsduett“ und „Erinnerung and Marie A.“. Diese Einspielung gehört zu den seltenen Brecht-Weill-Eisler-Produktionen der Neuzeit.

Carmen-Maja Antoni, Mitglied des Berliner Ensembles, hat unzähligen Theateraufführungen ein charakteristisches Profil gegeben. Den Fernsehzuschauern ist sie u.a. durch ihre Rolle in »Der Laden« bekannt (Grimme-Preisträger). Die außergewöhnliche darstellerische Vielfalt verleiht auch ihren zahlreichen Hörbuchproduktionen einen eigenen Charakter.

Johanna Schall, Enkelin von Bertolt Brecht, ist erfolgreiche Schauspielerin und Regisseurin am Deutschen Theater Berlin und an vielen anderen großen Bühnen. Auch viele Fernseh- und Rundfunkproduktionen sind durch ihr Mitwirken zu Publikumslieblingen geworden.

Karl-Heinz Nehring, der jahrzehntelange Pianist, Korrepetitor am Berliner Ensemble, ist der sehr genaue, unbarmherzige, aber stets einfühlsame Begleiter der singenden Schauspieler und Schauspielerinnen des Brecht-Theaters. Mit ihm wird die vokale und instrumentale Interpretation zu einer überzeugenden künstlerischen Einheit.

Quelle: Klappentext und Booklet der CD


TRACKLIST

Bertolt Brecht 
gesungen von Antoni & Schall 

Interpreten: Carmen-Maja Antoni und Johanna Schall 
Klavier: Karl-Heinz Nehring
Komponisten (in Klammern)

01. Der große Bert Brecht (Text)                                          [00:29]
02. Die Zuhälterballade (Kurt Weill)                                      [03:59]
03. Sehet die Jungfrau (Text)                                             [00:12]
04. Der Barbara-Song (Kurt Weill)                                         [04:03]
05. Die Seeräuber-Jenny (Kurt Weill)                                      [03:16]
06. Und das Lächeln, das mir galt (Text)                                  [00:10]
07. Das Eifersuchtsduett (Kurt Weill)                                     [02:21]
08. Der Kanonen-Song (Kurt Weill)                                         [02:13]
09. Jetzt ist alles Gras aufgefressen (Text)                              [00:41]
10. Paragraph 1 (Karl-Heinz Nehring)                                      [01:49]
11. Paragraph 111 (Karl-Heinz Nehring)                                    [00:43]
12. Balade zum § 218 (Hanns Eisler)                                       [02:31]
13. Mein Sohn, was immer auch aus dir werde (Hanns Eisler)                [02:17]
14. Auch der Himmel bricht manchmal ein, indem Sterne auf die Erde fallen [00:14]
15. Das Lied vom SA-Mann (Hanns Eisler)                            (Text) [02:00]
16. Ballade von der "Judenhure" Marie Sanders (Hanns Eisler)              [02:17]
17. Kälbermarsch (Hanns Eisler)                                           [01:21]
18. Die protestiert haben sind erschlagen worden (Text)                   [01:00]
19. Vom kriegerischen Lehrer (Hanns Eisler)                               [00:53]
20. Vom Kind, das sich nicht waschen wollte (Karl-Heinz Nehring)          [01:00]
21. Kleines Lied (Bertolt Brecht)                                         [01:11]
22. Ihre Worte waren bitter (Text)                                        [00:10]
23. In dem zarten Alter (Karl-Heinz Nehring)                              [01:32]
24. Mutter Beimlen hat ein Holzbein (Bertolt Brecht)                      [01:07]
25. Mit den Gesetzestafeln (Text)                                         [00:28]
26. Nannas Lied (Kurt Weill)                                              [02:23]
27. Allem, was du empfindest, gib die kleinste Größe (Text)               [00:24]
28. Ballade von der Höllenlili (Kurt Weill)                               [02:59]
29. Der Song von Mandaley (Kurt Weill)                                    [02:29]
30. Als ich einst im Flügelkleide in den Himmel gegangen bin (Text)       [00:13]
31. Über die Verführung von Engeln (Karl-Heinz Nehring)                   [02:31]
32. Ich habe gehört, dass man vom Leben einen dicken Hals kriegt (Text)   [00:14]
33. Gegen Verführung (Hans Leo Hassler)                                   [01:30]
34. Ach, nur der flüchtige Blick (Text)                                   [00:29]
35. Sieben Rosen hat der Strauch (Paul Dessau)                            [00:47]
36. Das Lied vom kleinen Wind (Hanns Eisler)                              [02:02]
37. Erinnerung an Marie A. (Bertolt Brecht)                               [02:26]
38. Ballade von der Hanna Cash (Ernst Busch)                              [03:23]
39. Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte müssen genügen (Text)[00:18]
40. Ballade von den Seeräubern (Bertolt Brecht)                           [04:26]
41. Das Lied vom Surabaya-Johnny (Kurt Weill)                             [04:15]
42. Der Lernende (Text)                                                   [00:45]
43. Denn wie man sich bettet (Kurt Weill)                                 [00:58]

                                                             Gesamtlänge: [70:52]

Konzept und Zusammenstellung: Carmen-Maja Antoni, Johanna Schall 
Ton: Tonstudio Bergner, Berlin 
Produktion: Karin Lorenz 
(P) 1999 

Jenseits aller Ordnung. Albrecht Dürer besucht in Venedig Giorgione


Giorgione (1478-1510): Das Gewitter, circa 1508.
Öl auf Leinwand, 82 x 73 cm, Gallerie dell’Accademia, Venedig
Zu Lebzeiten hätten Albrecht Dürer und Giorgione nie daran gedacht, dass man einst versuchen würde, jeden ihrer Schritte zu rekonstruieren. Ein halbes Jahrtausend hat man alles, was sie betraf, aufgeschrieben; vielleicht sogar Dinge, die nie stattgefunden haben und die sie selbst am allermeisten erstaunt hätten. Nur über eines hat bisher noch nie jemand geschrieben: über ihre Begegnung. Obwohl es in ihrem Leben wohl kaum ein wichtigeres Ereignis gegeben hat. Und doch hüllt sich die Kunstgeschichte über diese Begegnung in tiefes Schweigen. Was durchaus verständlich ist: Es gibt dafür keinerlei Belege. Das widerlegt aber nicht, dass sie sich begegnet sind. Denn sie müssen sich sehr wohl begegnet sein – auch wenn dafür natürlich nur Indizien angeführt werden können. Die sind allerdings überzeugender als die taube Stille, die das Fehlen unmittelbarer Beweise umgibt.

Freundeskreise

Wenn irgendwo, dann müssen sie sich im Gebäude des Fondaco dei Tedeschi zum ersten Mal begegnet sein, am Canal Grande, ein paar Schritte von der Rialto-Brücke entfernt. Und zwar 1506, als die Renovierungsarbeiten an dem 1318 errichteten Gebäude, das am 27. Januar 1505 abgebrannt war, bereits in vollem Gange waren. Dürer war zu diesem Zeitpunkt fünfunddreissig Jahre alt; Giorgione hatte die Dreissig noch nicht erreicht, sein Freund Giulio Campagnola, der die beiden vermutlich miteinander bekannt gemacht hatte, war erst vierundzwanzig Jahre alt. Dürer suchte verständlicherweise eher die Bekanntschaft älterer Künstler; vor allem die Giovanni Bellinis, der damals bereits um die achtzig war und nicht müde wurde, die Fähigkeiten des jungen Deutschen, vor allem die Art, wie er Haare und Felle malen konnte, zu rühmen.

Marcantonio Raimondi (1470/82-1527/34) nach
Albrecht Dürer (1471–1528):
Die Visitation, circa 1508. Kupferstich, 29 x 21 cm,
Szépmvészeti Múzeum (Museum of Fine Arts),
Budapest
Die anderen waren eher eifersüchtig auf ihn; wie Dürer in einem Brief schreibt, wurde er zwar fortwährend geschmäht, seine Technik insgeheim aber nachgeahmt. Manche wie Marcantonio Raimondi schreckten nicht einmal vor dem Fälschen zurück und boten mit Dürer-Monogrammen versehene Stiche zum Kauf an – laut Vasari reiste Dürer im Spätherbst 1505 mit dem ausdrücklichen Ziel nach Venedig, ein Verfahren gegen Raimondi in die Wege zu leiten. Das war verständlich; Dürer ging ein Ruf voraus. Als er sich im Herbst 1494 zum ersten Mal in Venedig aufgehalten hatte, war er noch unbekannt gewesen. Diesmal, bei seiner zweiten Reise, kam er bereits als ein weithin bekannter Maler in die Stadt. Er wurde sogar davor gewarnt, dass seine italienischen Malerkollegen nicht einmal zurückschrecken würden, ihn aus Eifersucht zu vergiften. Indessen lernte auch er von seinen italienischen Kollegen; seine Gemälde aus dieser Zeit belegen, dass er zu einem Meister der venezianischen Farbbehandlung, des colorito, geworden war, und widerlegen damit die Eifersüchtigen, die ihm zwar zugestanden, ein guter Kupferstecher zu sein, ihn aber für einen schwachen Maler hielten.

Beim ersten Mal hatte Dürer im Gebäude des Fondaco dei Tedeschi, des Sitzes der deutschen Händler in Venedig, gewohnt. Während seines zweiten Aufenthalts, der mit einigen kürzeren Unterbrechungen von Herbst 1505 bis Anfang 1507 dauerte, wohnte er nun ein paar Schritte weiter, im teuren und vornehmen Gasthaus des Schweizers Peter Bender am Campo San Bartolomeo. Indessen liefen die Renovierungsarbeiten am Fondaco. Da die deutschen Händler dank ihren beträchtlichen Steuerzahlungen Venedig grosse Profite bescherten, hielt die Stadt die Institution und das Gebäude hoch in Ehren.

Albrecht Dürer (1471–1528): Das Rosenkranzfest, 1506.
Öl auf Pappelholz, 162 x 194,5 cm, Nationalgalerie, Prag
Dürer arbeitete in der Kirche San Bartolomeo des Fondaco an seinem Gemälde «Das Rosenkranzfest», das die Bewunderung ganz Venedigs erfuhr; der Doge selbst suchte Dürer in seinem Atelier auf, um das im Entstehen befindliche Gemälde zu besichtigen. Venedig hätte es nur zu gern gesehen, wenn Dürer sich für immer dort niedergelassen hätte; man bot ihm sogar eine Lebensrente an. Hätte Dürer sie angenommen, hätte vermutlich er die Fresken des erneuerten Fondaco anfertigen dürfen. Statt seiner wurden zwei junge, weniger bekannte Maler damit beauftragt: Giorgione und Tizian.

Dürers Bewunderer

Es ist ausgeschlossen, dass sie Dürer, der auf dem Weg zur nahe gelegenen Kirche des Fondaco vermutlich regelmässig dort eingekehrt war, nie begegnet wären. Bei einem dieser gemeinsamen Besuche, noch während der Renovierungsarbeiten, müssen sie sich begegnet sein. Und später vielleicht bei einem der gemeinsamen festlichen Abendessen, bei denen Dürer wohl ohnehin offizieller Gast war, Giorgione aber auch, denn laut Vasari hatte trotz seiner niederen Herkunft auch er an den Festen und Zusammenkünften der Honoratioren teilgenommen und sie mit Musik und Gesang gewürzt.

So mochten sie einander begegnet sein. Dürer und Giorgione. Und der noch jüngere Giulio Campagnola, der sich ständig und überall zuständig fühlte, weshalb er von niemandem wirklich ernst genommen wurde. Dürer erwähnt ihn kein einziges Mal. Allerdings erwähnt er auch Giorgione nicht. Campagnola wird es wohl gewesen sein, der Giorgione mit Dürer, von dem er ihm schon vorher erzählt haben mag, bekannt gemacht und vermutlich auch selbst alle ihm zugänglichen Werke Dürers eingehend studiert hat.

Giulio Campagnola (1482-1515?): Saturn. Kupferstich.
Campagnola gehörte auch zu Dürers Bewunderern, hatte von einem seiner Stiche sogar eine Kopie erstellt und griff in anderen Stichen auf Motive von ihm zurück. Auch während Dürers Aufenthalt in Venedig fertigte er einen Stich an, dessen Hintergrund eindeutig an Dürers Landschaftsbilder erinnert. Im Vordergrund liegt ein bärtiger Mann, auf seinen rechten Ellbogen gestützt, mit nacktem Oberkörper, und starrt ins Nichts. Unter seinem Ellbogen befindet sich ein schwer bestimmbarer Gegenstand – ein Kissen? Ein Steinbrocken? Ein Totenkopf? –, darauf die Aufschrift: «SATURNUS». Der Gott der Melancholie. Jener Melancholie, von der Dürer gewiss auch schon früher gehört hatte. Für Campagnola war die Melancholie kein beliebiges Thema. Um diese Zeit kamen in Venedig die sich mit der Deutung und Erläuterung von Hieroglyphen befassenden Bücher auf, und Campagnola, der auch Lateinisch, Griechisch und Hebräisch lesen konnte, kannte sie vermutlich.

Vermutlich waren sie sich in einem der Räume des Fondaco dei Tedeschi oder der nahe gelegenen Unterkunft Dürers begegnet. Und vielleicht hatten sie sich als Erstes über die Familie Fugger unterhalten, die in dem Gebäude einen eleganten Saal besass. Giovanni Bellini hatte das Porträt Georg Fuggers bereits 1474 gemalt, Dürer arbeitete in Venedig im Auftrag Jacob Fuggers gerade an seinem Gemälde «Das Rosenkranzfest». Und später malte auch Giorgione das Porträt eines Mitglieds der Familie Fugger – jedenfalls berichtet Vasari über ein solches Bild –, und es ist gut möglich, dass die Fuggers Giorgione gerade auf Dürers Vermittlung damit beauftragten.

Giovanni Bellini (1437-1516):
Porträt Georg Fugger von der Lilie (1453-1506), 1474.
 Öl auf Holz, 26 x 20 cm.
Ein Atelierbesuch

Nach diesen «offiziellen» Treffen kam es wohl zu einem Atelierbesuch. Und was erblickte Dürer als Erstes auf der Staffelei seines jungen Kollegen? Natürlich «Das Gewitter», an dem Giorgione damals gerade arbeitete. Vielleicht näherte er sich schon den letzten Pinselstrichen. Und Dürer sah ihm wohl wie gebannt zu. Vor allem mochte er sich geschmeichelt gefühlt haben. Das Trio des dunkelhaarigen jungen Mannes und der nackten, ihr Kind stillenden Frau erinnerte doch sehr an einen Stich, den er selbst zehn Jahre zuvor angefertigt hatte («Der Orientale und sein Weib»), von dem mehrere Kopien in Venedig im Umlauf waren. Und die Zweige des Strauchs im Vordergrund, die den Unterleib der nackten Frau verdecken, hatte Giorgione – nach Ansicht des Kunsthistorikers Theodor Hetzer – nach einem Stich aus der sechs bis acht Jahre zuvor entstandenen «Apokalypse»-Serie (1496–98) gemalt.

Aber noch mehr als diese vermeintlichen Anleihen mochte Dürer die Kühnheit überwältigt haben, mit der Giorgione seine drei Figuren in die Landschaft gestellt hat. So etwas war ihm bis dahin nicht begegnet. Während seiner Studien zur Perspektive hatte er bereits in Leon Battista Albertis Abhandlung «Über die Malkunst» (1436) gelesen, zu deren Grundthesen gerade das gehörte, wonach er jetzt vergeblich suchte: dass ein Bild eine Geschichte (istoria) haben müsse, die die dargestellten Figuren authentisch und lebendig werden lässt und sie auch miteinander verknüpft, so dass sie alle zu Gestalten einer gut nachvollziehbaren, auch für den Betrachter verständlichen Geschichte werden. Das alles suchte Dürer in Giorgiones Gemälde vergeblich.

Giorgione: Das Gewitter. Detail.
Hätte Dürer Vasaris viel später erschienene Biografie lesen können, hätte er ihm recht gegeben. Auch Vasari fand, dass Giorgione die Figuren des Bildes seiner eigenen flatterhaften Phantasie angepasst habe, und er gestand, dass weder er noch sonst jemand verstanden habe, was diese Figuren miteinander zu tun hätten und was das Ganze überhaupt zu bedeuten hätte. Dürer war betört von der Schönheit des Bildes; doch je mehr er den geheimnisvollen Anblick zu entschlüsseln versuchte, desto verlorener mag er sich vorgekommen sein.

Alles ist makellos verteilt im Raum. Und doch. Es ist nicht mehr der mathematisch konstruierte Raum früherer Generationen, sondern ein launenhafter, sich willkürlich organisierender Raum. Der gewittrige Himmel unterminiert systematisch, gleichsam von oben, den Aufbau des Raumes, während das plätschernde Wasser des Baches, wie es Wasser allgemein tut, von unten etwas Unbestimmtes in den Raum schmuggelt und die Vorstellung des Unendlichen weckt. Ein phantastischer Raum, mag Dürer zu Giorgione gesagt haben. Ein Raum der Phantasie also. Denn mag er noch so realistisch erscheinen, es ist ein Raum der Phantasie, in dem alles in einer Weise real ist, dass es als Ganzes dennoch etwas Traumhaftes hat. Alles ist so vertraut, und doch sucht man vergeblich nach einem umfassenden Sinn.

Albrecht Dürer (1471–1528):
Der Orientale und sein Weib, 1496.
Kupferstich, 109 x 77 mm.
Herzog Anton Ulrich-Museum.[Quelle]
Wilde Melancholie

Vermutlich entstand in Dürer bei der Betrachtung des «Gewitters» zum ersten Mal eine klare Vorstellung dessen, was Melancholie sei. Und vielleicht erinnerte er sich auch an den Saturn-Stich Campagnolas, der vielleicht mit ihm dort im Atelier stand. Dieser sonst nicht besonders bedeutsame Stich hat Dürers Phantasie wohl derart angeregt, dass er 1526, fast zwei Jahrzehnte später, seinerseits eine Zeichnung anfertigte, in der ein Mann in einer an Campagnolas Saturn erinnernden Pose liegt. Zwar stützt er seinen Kopf nicht auf seine Hand auf, und es deutet auch nichts darauf hin, dass er irgendeinen Bezug zu Saturn hätte. Dennoch sind sich die beiden nicht fremd, und vielleicht zitierte Dürer den Stich, den er einst in Italien gesehen hatte, auch nicht bewusst.

Die Melancholie kann vieles miteinander in Verbindung setzen, was – in den Augen der Nicht-Melancholiker – sonst nichts miteinander zu tun hat. Dürer wusste damals schon sehr wohl, was Melancholie war, er hatte darüber gelesen, noch zu Hause, denn gerade sein Taufpate Anton Koberger, mit dem er auch noch in derselben Strasse wohnte, hatte 1497 in Nürnberg die Briefe Ficinos gedruckt. Und vielleicht kannte er auch Jacopo Sannazaros Schäferroman «Arcadia», der erst kurz zuvor, im Jahr 1504, in Neapel erschienen war, als Raubkopie allerdings schon seit 1502 in Venedig im Umlauf war, in dem von der «wilden Melancholie» (fiera malinconia) die Rede ist. Diese wilde Melancholie strahlt auch der Blick von Campagnolas Saturn aus: Sein Blick starrt ins Nichts und ist deshalb so melancholisch, weil die Welt, die sich ihm darbietet, in Stücke zerfallen ist. Genauer gesagt erscheint ihm alles bruchstückhaft, er ist es, der die Dinge nicht in Einklang zu bringen vermag.

Giorgione: Das Gewitter. Detail.
Diese Melancholie mag Dürer in Giorgiones Gemälde gespürt haben. «Das Gewitter» ist durchdrungen von Melancholie. Aber nicht in seinen einzelnen Elementen, nicht in seinen Farben, nicht in seinen Figuren, nicht im gespenstischen Vogel auf dem Dach entdeckt Dürer sie, sondern in seiner Unerklärlichkeit. Es muss für ihn erschütternd gewesen sein, damit konfrontiert zu werden, dass ein jüngerer Maler, der sein Handwerk genauso gut beherrschte wie er selbst, statt sich anzupassen und in Venedig eine Karriere als Maler anzustreben, sich damit begnügte, zu seinem eigenen Entzücken zu malen, nicht nach links und rechts zu schauen, Erwartungen nicht zu beachten, sich nicht um Auftraggeber zu kümmern, nicht auf Alberti zu hören, sich nicht einmal um die Betrachter zu kümmern, sondern einzig und allein auf jenes geheimnisvolle, innere Universum zu achten, das in jedem Menschen schlummert, von den meisten aber beharrlich nicht zur Kenntnis genommen wird.

Das ist das Universum der Melancholie. Es hat keinen Anfang und kein Ende, sondern ist uferlos. Alles in ihm hängt mit allem anderen zusammen, obwohl nichts mit irgendetwas anderem in unmittelbarer Verbindung steht. Das Universum der Melancholie ist sich selbst überlassen; es gibt keinen Gott, der es überwachte. Das macht es so verschlossen, das lässt es aber auch so zerfallen wirken.

Nichts verdeutlicht das mehr als die auffällige, im Vordergrund des Gemäldes mutterseelenallein stehende Mauerruine mit einer Marmorplatte und den Bruchstücken zweier Säulen darauf. Ihre Gegenwart ist genauso unbegründet wie die eines undeutbaren gefundenen Gegenstandes. Eines objet trouvé. Oder einer Flaschenpost aus einer unbekannten Welt. In ihr nimmt das ganz «Andere» Gestalt an. Dürer mag sich gedacht haben, dass das Fehlen Gottes, sollte er sich einmal aus der Schöpfung zurückziehen, am eindringlichsten durch eine solche Bauruine gekennzeichnet wäre. Diese Ruine ist die fehlende Transzendenz.

Albrecht Dürer (1471–1528): Melencolia I, 1514.
Kupferstich, 24 x 19 cm. [Kommentar]
Der Bau, dieses Denkmal des fehlenden Gottes, verweist durch seinen ruinösen Charakter auf eine höhere Macht, die einst lebendig gewesen sein mag, sich nun aber aus der Welt zurückgezogen hat. Wäre sie noch anwesend, würde sie die verschiedenen Elemente des Bildes einfangen und zu einer einheitlichen Geschichte zusammenschweissen. Davon ist jedoch keine Spur; es gibt keine Geschichte, es gibt kein ordnendes, göttliches Prinzip.

Dürer mag zu Recht das Gefühl gehabt haben, beim Betrachten von Giorgiones «Gewitter» etwas entdeckt zu haben. Obwohl er zugleich auch etwas verloren hatte: seinen Glauben an die lückenlose Erklärung. Oder zumindest daran, dass das am wichtigsten sei. Das war die eigentliche Frucht ihrer Begegnung: Dürers Melancholie-Stich ruft Giorgiones «Gewitter» ins Gedächtnis zurück. Als er ein paar Jahre später, 1514, seinen Stich «Melencolia I», die bis heute bekannteste bildhafte Darstellung der Melancholie, vollendet hatte, schwebten ihm vermutlich seine venezianischen Erinnerungen vor Augen. Giorgiones Gemälde mit seiner Mauerruine. Und natürlich Campagnolas Saturn-Stich. Und was wäre naheliegender gewesen, als beide miteinander zu verknüpfen.

Wie Campagnola schuf auch er einen Stich der Melancholie. Aber er hütete sich, eine abgerundete, lückenlos entschlüsselbare Erklärung mitzuliefern. Er wollte keine blosse Allegorie anfertigen. Er kannte zwar alle Symbole der Melancholie, bewegte sich heimisch in den bildlichen Symbolsystemen, aber er war wohl der Ansicht, dass sie im Widerspruch zur Melancholie standen. Allegorien, Symbole, ikonografische Zusammenhänge zwingen die Welt in das Netz der Logik. Die Melancholie mahnt aber gerade an die Ungültigkeit dieses Netzes. Dass auch die vernünftigsten Erklärungen irgendwo aufplatzen.

Giorgione: Das Gewitter. Detail.
Ein rätselhaftes Bildmotiv

Um die Melancholie erfahrbar zu machen, muss man auch die Unzulänglichkeit der Erklärungen, die sich auf sie beziehen, erfahrbar machen. Und dazu schien ihm das Polyeder in «Melencolia I» am besten geeignet, das in dem Stich genauso unerklärlich wirkt wie die Mauerruine in Giorgiones Gemälde. Ganze Bände sind über «Melencolia I» geschrieben worden, es gibt darin kein einziges Element, das noch nicht entschlüsselt worden wäre. Mit Ausnahme des Polyeders, mit dem bis heute niemand etwas anfangen kann.

Die Inspiration zum Polyeder mögen die Mauerreste in Giorgiones Gemälde gegeben haben. Es ist ein ähnlich regelmässig gehauener Steinblock, der aber dennoch unregelmässig, fast schon unsicher auf der Erde liegt. Ein undeutbarer Gegenstand, der den Ausblick etwas verstellt. Seine Gegenwart ist ungeheuer wichtig. Und doch gibt es niemanden, der ihn auch nur eines flüchtigen Blickes würdigte: weder die im Vordergrund sitzende weibliche Figur noch der Putto, noch der Hund. Wobei sie auch einander nicht beachten. Sie alle sind genauso in ihrer eigenen Welt versunken wie die Figuren in Giorgiones Bild.

Könnten sie sprechen, würde keiner von ihnen das Polyeder erwähnen. So wie auch Giorgiones Figuren die Mauerreste nicht zur Kenntnis nehmen. Die Welt ist für sie alle derart in ihre Teile zerfallen, dass sie kaum in der Lage wären, die wichtigen und die weniger wichtigen Dinge voneinander zu unterscheiden. Es gibt keine Rangordnung, denn es gibt keine Ordnung. Aber auch als Fehlen von Ordnung lässt sich das, was sie sehen, nicht bezeichnen.

Jenseits von Ordnung und Ungeordnetheit: Das ist die Melancholie, die Dürer in Giorgiones Atelier entdeckt hat.

Albrecht Dürer: Melencolia I. Detail.
Quelle: László F. Földényi: Jenseits aller Ordnung. Albrecht Dürer besucht in Venedig Giorgione, veröffentlicht in der NZZ vom 09.01.2016

Der Essayist und Kunsttheoretiker László F. Földényi ist Dozent am Institut für Vergleichende Literaturwissenschaften an der Loránd-Eötvös-Universität in Budapest. Übersetzung aus dem Ungarischen von Akos Doma.


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Life: Klaus Kinski singt und spricht Brecht (09.04.1959, Wiener Stadthalle).

Schon 2012 erschien ein Post über Giorgiones Sturm: "Exil in Arkadien" von Hans Belting. Gemeinsam mit den Klaviervariationen von Johannes Brahms.

Dürer hab ich hier noch nie einen Text gewidmet, ihn aber mehrmals als Illustrator beschäftigt, z.B. zur "Französischen Lyrik zwischen Villon und Baudelaire". Dazu die "Symphoniae sacrae I" von Heinrich Schütz (Venedig, 1629).


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