23. März 2018

Anton Rubinstein (1829-1894): Cello Sonaten

Das Standesregister der Kleinstadt Berditschew belegt, dass Anton Grigoriewitsch Rubinstein, obwohl aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie stammend, im Juli 1831 getauft wurde. Seine erste musikalische Ausbildung sowie die Entdeckung seiner pianistischen Begabung verdankt er seiner Mutter. Als seine Eltern sich in Moskau niederließen, wurde er zusammen mit seinem Bruder Nikolaus (1855-1881) der künstlerischen Obhut des berühmten Pädagogen Alexandre Villoing (1804-1878) anvertraut. Dieser war französischer Abstammung und ein ehemaliger Schüler von John Field. Schon im Jahre 1859 nahm er die beiden Brüder nach Paris mit und ließ sie in Gegenwart von Chopin und Liszt vorspielen. Anton blieb bis 1841 in der französischen Hauptstadt und begleitete dann seinen Lehrer auf einer langen Tournee durch Europa (Holland, deutsche Herzogtümer, Wien, London, Oslo, Bergen und Stockholm). Die beiden Brüder wurden 1844 nach Berlin geschickt, wo Anton Komposition studierte, und zwar bei Siegfried Dehn (1799-1858), einem bedeutenden Musiktheoretiker dieser Zeit, der ihn ebensowohl mit der Musik Bachs und Händels vertraut machte als mit den ‘Modernen’: Beethoven, Hummel, Schumann‚ Chopin und Mendelssohn.

Nach einer Konzertreise mit dem Flötisten Heindl in Österreich-Ungarn, kehrte er nach Sankt-Petersburg zurück, wo ihm von nun an die Großherzogin Helene eine kunstsinnige Gönnerin war. Sie war es, die ihm nahe legte, für die Bühne zu komponieren. Er schrieb drei Opern: Dmitri Donskoi (1852), Sibirskie okhotniki (Die sibirischen Jäger) und Fomka Durachok (Thomas der Narr, 1855). Mit der diplomatischen und finanziellen Hilfe der Großherzogin unternahm er dann eine noch längere Tournee durch Europa (1854-58), ließ seine Werke in Berlin veröffentlichen und wurde nach seiner Rückkehr zum Hofpianisten und Hofkapellmeister ernannt. Im Jahre 1862 gründet er das Kaiserliche Konservatorium, das er bis 1867 selbst leitet. Dabei setzt er als Virtuose und Komponist seine internationale Karriere fort; als Klaviervirtuose erlangt er einen Ruhm, der sich mit dem Liszts vergleichen lässt, als Dirigent und Komponist mit dem Mendelssohns. 1872-75 reist er in die Vereinigten Staaten und gibt dort eine Reihe von Konzerten, die königlich belohnt werden. Er begleitet den Geiger Henryk Wienawski und erregt großes Aufsehen als der erste Pianist, der bei Klavierabenden auswendig spielt. Von 1887 bis 1891 leitet er aufs neue das Kaiserliche Konservatorium, bevor er sich bis 1894 in Dresden niederlässt. Erst im Sommer 1894 kehrt er, kurz vor seinem Tod, nach Russland zurück.

Franz Xaver Winterhalter: Porträt der Großfürstin
Helena Pawlowna (1807-1873, Mäzenin des jungen
Rubinstein), 1862. 123 x 89,5 cm,
Hermitage Museum, St. Petersburg
Rubinsteins geschichtliche Bedeutung ist deshalb sehr groß, weil durch sein Wirken möglich wurde, dass sich die russische Musik das abendländische Erbe von Bach bis Chopin aneignete‚ ohne dabei die spezifisch russische melodische Erfindung, die aus den Quellen der Volksmusik schöpft, preiszugeben. Ohne Rubinsteins pädagogischen Beitrag, was die Grundlagen der musikalischen Formen betrifft, hätte das sinfonische Werk eines Borodine oder eines Tschaikowsky keinen so hohen Grad an Universalität erreichen können. Im Bereich der Instrumentalmusik hat er das Fundament der russischen Klavierschule gelegt und damit Rachmaninow sowie Skrjabin die Wege geebnet. Rubinstein wurde wegen seiner perfekten Technik, seines kraftvollen Spiels bewundert: seine Oktavenläufe waren berühmt. Man schätzte ebenfalls die gleichsam philosophische Tiefe seiner Interpretationen: als erster vermochte er, die als ‘schwierig’ empfundenen Sonaten von Beethoven durchzusetzen.

Komponiert hat er ein halbes Jahrhundert lang: in seiner ersten Schaffensphase (1849-1857) stand er natürlicherweise unter dem Einfluss von Mendelssohn, Hummel und Schumann. Zu dieser Phase gehört das im vorliegenden Album enthaltene Originalprogramm für Cello und Klavier. Als Komponist war Rubinstein zu Lebzeiten nicht weniger berühmt denn als Klaviervirtuose: den größten Beifall erntete er mit seiner 2. Sinfonie (er schrieb deren 6) ‘Der Ozean’ (1851-1880), die in Berlin, London und New York aufgeführt wurde, mit seinem 4. Klavierkonzert op.70 (er schrieb deren 5), sowie mit seiner Oper ‘Der Dämon’ nach Lermontow (1875), die neulich (2002) dank Valeri Gergiew ihr Wiedererstehen auf der Bühne erlebte. Dennoch haben fast ein Jahrhundert lang nur wenige Werke Rubinsteins einen festen Platz im Repertoire gehabt: dazu gehören einige beliebte Stücke für Soloklavier wie die Melodie in F-Dur, die Romanze und Kamennoi Ostrow.

Die beiden Sonaten für Cello und Klavier sind verhältnismäßig groß angelegte Kompositionen, in denen Rubinstein dem Cello die Rolle des gefühlvollen Sängers eindeutig zuschreibt, während das Klavier eine deshalb nicht weniger große Bedeutung beibehält. Sie dokumentieren die menschlich verinnerlichte Tendenz, die ihm das Studium der Sonaten op. 5 und 69 Beethovens sowie der Sonaten op. 45 und 58 Mendelssohns nahegebracht hatte, während die 1854 geschriebenen Stücke op.11 — die ebenfalls in einer Fassung für Violine und Klavier vorliegen — sich mit Eleganz und Bravour an gewisse Lieder ohne Worte anlehnen. In ihren nie schleppenden Tempi unterstreichen sie prachtvoll die spezifischen Vorzüge des Cellos. Im Kopfsatz Andante quasi adagio erscheint dieses in der Nachfolge von Schumanns ersten Stücken als gern zur Melancholie neigendes, manchmal launiges Melodieinstrument; im zweiten Satz Allegro con moto erweist es sich als ebenbürtiger Partner des Tasteninstruments‚ besonders im mittleren Register (D-Saite). Im Schlusssatz Allegro risoluto behauptet sich die traditionelle Vorherrschaft des Klaviers; der Cellist hat jedoch immer wieder Gelegenheit, seine Bogentechnik (Détaché) bewundern zu lassen.

Ilja Repin: Porträt Anton Rubinstein, 1887. Öl auf Leinwand,
 110 x 85 cm. Russisches Staatsmuseum, St. Petersburg
Die Sonate Nr. 1 op. 18 (1852) zeigt die vorklassische dreisätzige Struktur. Wie in zahlreichen Sonaten Boccherinis fehlt hier eine ausgesprochen langsame Episode. Das erste Thema in D-Dur wird unvermittelt vorgetragen: dieser heitere Marsch in Schuberts Manier erfahrt nach und nach eine reiche Ausschmückung im Dialog zwischen Klavier und Streichinstrument. Das zweite Thema in d-moll hat einen weiträumigeren Zug und erweist sich in seiner durch ausdrucksvolle Pausen gekennzeichneten Phrasierung als zurückhaltender und sinniger. Der Cellopart bewahrt sich seinen wesentlich melodischen Charakter, wenn man von der vor der Wiederholung stehenden Kadenz absieht, als das Klavier die originelle Gestaltung dieses Eingangs allegro brillant krönt. Der Mittelsatz, ein Moderato assai in d-moll, zeigt die Form eines Sicilianos im 6/8-Takt und besitzt einen russischen Duft, der den nichtslawischen Interpreten oft entgangen ist. Im abschließenden Teil moduliert dieses Wiegenlied nach F-Dur und damit erreicht das reizvolle Stück seine höchste Ausdruckskraft. Das Finale Allegro molto strotzt von Vitalität, ist technisch sehr anspruchsvoll, und gipfelt in einer glühenden Hymne, die an die leidenschaftliche Art Mendelssohns im Opus 45 erinnert.

Die Sonate Nr. 2 op. 39 (1857) verbirgt in allen vier Sätzen ihren romantischen Charakter nicht. Hier ist die technische Entwicklung des Komponisten zu erkennen, der die Form der Durchführungsepisoden variiert und selbstbewusst seinen Willen kundgibt, hier eine Kompositionsweise von Beethovenscher Kraft zu erzielen. Das Werk wird ohne vorbereitende Episode vom Cello in G-Dur eingeleitet, moduliert dann nach D-Dur. In den zwei aufeinander folgenden Themen wird ein geschwinder Marschrhythmus einer weiträumigen Kantilene entgegengesetzt, welche dem Cello Gelegenheit gibt, vom wesentlich lyrischen Register zu einem betont heroischen überzugehen. Das Allegro con moto in g-moll ersetzt ein Scherzo; dieser kurze Satz ist durch einen markierten Rhythmus charakterisiert, dem zwar ein virtuoser Zug eigen ist, aber der nichtsdestoweniger eine ergreifende Größe erreichen kann, insbesondere im mittleren Trio, das gleich dem Scherzo allegro im Erzherzogstrio Beethovens mit Basseffekten spielt. Die Reexposition leitet zum Es-Dur-Andante über, das Stellen voller Ernst und Intensität mit ruhelosen, fast fiebrigen vom Klavier ausgelösten Momenten alternieren lässt. Diese ambivalente Stimmung scheint das sehnsüchtig Vorwärtsdrängende in Brahms Frühwerken (Klaviertrio Nr. 1, op. 8; Sonate für Violoncello und Klavier Nr. 1, op. 38) vorwegzunehmen. Ein Klaviervorspiel leitet das Finale Allegro ein, mit dem Vortrag des Appassionato—Themas am Cello erreicht die expressive Spannung ihren Gipfelpunkt. Dieses Thema wird dann vom Klavier kommentiert und erweitert, das hier von der berühmten Oktaventechnik des Virtuosen Rubinstein Gebrauch macht.

Quelle: Pierre E. Barbier, im Booklet. Deutsche Fassung: Prof. Jean Isler


CD 2, Track 2: Cello Sonata No 2 in G, Op. 39 - II. Allegretto con moto


TRACKLIST


Anton Rubinstein
(1829-1894)

Cellosonaten


CD 1                                44:39

Sonata for cello and piano No. 1 in D major, Op. 18 (1852)
Cellosonate Nr. 1 D-Dur op. 18
Sonate pour violoncelle et piano n 1 en ré majeur op. 18

1. I.   Allegro con moto            11:43
2. II.  Allegretto                  06:39
5. III. Allegro molto               09:28

Three pieces, for cello and piano, Op. 11/3
Drei Stücke für Klavier und Violoncello, op. 11
Trois morceaux pour piano et violoncelle op. 11

4. I.   Andante quasi adagio        04:22
5. II.  Allegro con moto            06:22
6. III. Allegro risoluto            05:46

CD 2                                37:08

Sonata for cello and piano No. 2 in G major, Op. 39 (1857)
Cellosonate Nr. 2 G-Dur op. 39
Sonate pour violoncelle et piano n 2 en sol majeur op. 39

1. Allegro                          13:20
2. Allegretto con moto              05:29
3. Andande                          09:14
4. Allegro                          08:59

Total Playing Time:                 81:47


Michal KANKA, cello / Violoncello / violoncelle
Jaromir KLEPAC, piano / Klavier


Recorded in St. Vavrinec Church, Prague, September 3-4, 2003
Recording Producer: Jiri Gemrot
Sound Engineers: Jan Lzicar and Karel Soukenik

Illustration: Ilja Repin: Anton Rubinstein, Russian Museum, Saint Petersburg
(P) 2004 


Manlio Brusatin:


Auftauchen und Verschwinden der Bilder


Tizian: Venus mit dem Spiegel, 1555. National Gallery of Art, Washington
Unter Kaiser Hadrian wurden Bronzemünzen mit dem Bild seines Günstlings Antinoos geprägt — der wohl den Tod des Narziß gestorben ist —, die so gearbeitet sind, daß die Münze seitlich einen Schlitz hat. In ihrem Inneren verbirgt sich eine hauchdünne Scheibe versilberter Bronze: ein Spiegel. Doch einzig die Münzen, die Antinoos zeigen, sind nach diesem Verfahren gefertigt. Der Spiegel war damals ein Werkzeug, das zwar faszinierte, doch noch nicht wirklich vollendet war: ein mit glänzender Silberfolie überzogener Metallträger, der täglich von neuem schwärzlich anlief und den man fortwährend putzen mußte.

Für Besitz eines Spiegels bezichtigte man Apuleius der Zauberei, und er schrieb auf ihn eine einfache und effektvolle Lobeshymne. In seiner Eigenschaft, die Bilder einzufangen, übertrifft der Spiegel die Tonarbeit, die ohne Energie ist, den weißen Marmor, der keine Farbe hat, die gemalte Tafel, die weder Körper noch Volumen besitzt, und vor allem hat er die Fähigkeit, in seinem engen Rahmen die Bewegung des Bildes einzufangen. Indem er die einzelnen Bewegungen der an ihm vorüberziehenden Objekte und Personen erfaßt, stellt der Spiegel fragmenthaft den Raum der Lebensjahre eines Menschen und seiner Veränderungen still. Apuleius weist auch darauf hin, daß diese glänzende Erfindung zugleich ein Fließen ist: die Existenz der Figuren ist eine erfundene, weil das Bild keinen Körper hat. Der Spiegel ist unerschütterlich und passiv, sammelt Erinnerungen auf unvergleichliche Weise und stürzt doch die Bilder um, zerlegt sie auch in materieller Hinsicht, indem er sie einige Momente lang fixiert.

Tizian: Junge Frau zwischen zwei Spiegeln, 1515.
 Louvre, Paris.
Ibn Arabî berichtet uns, daß die Königin von Saba fürchtete, ihre Gewänder könnten naß werden, als sie im Palast des Salomo über einen Kristallfußboden schritt, der vielleicht aus schwarzem, spiegelblank poliertem Marmor war, der am ehesten wie die Tiefe eines stehenden Wassers aussieht. Der Spiegel beglaubigt die Spiele von »Gleichheit und Unähnlichkeit« und ist damit ein wunderbares Instrument der Offenbarung zwischen göttlicher Schöpfung und menschlicher Erkenntnis, die einander spiegeln, um sich ineinander zu erkennen. Zugleich ist er Täuschung: der Träger einer Verschleierung der Wahrheit, wie in der Anekdote vom Wettstreit zwischen einem östlichen und einem westlichen Maler zu sehen ist (die zur Zeit des späten Manierismus nach den Orientreisen des Paters Matteo Ricci in Europa zirkulierte). Ein chinesischer Maler, der sich bewußt war, daß die Kunst der Miniatur und die zeichnerische Fähigkeit nicht mit der Klarheit und der Suggestivkraft der Kunst der Perspektive würde mithalten können, stellte unbemerkt einen Spiegel vor sein Gemälde. Das Spiegelbild vervielfachte die Tiefenwirkung des Bildes, welche die westliche Malerei mit solcher Leidenschaft anstrebte. Und gerade sollte er den Preis entgegennehmen, als ein Vorhang zwischen den beiden Gemälden fiel, der Spiegel seine Leere offenbarte und der simple Betrug aufgedeckt wurde.

Man sollte stets daran denken, daß der Spiegel das Leben der Dinge und der Erfindungen lebt. Daß er in spätrömischer Zeit solchen Erfolg hatte, lag an seiner Seltenheit. Die spärlichen und schwarz angelaufenen Überreste der versilberten Folien römischer Spiegel, die zudem stark geschrumpft sind, reichen nicht an die moderne Machart von Spiegeln heran. Die ersten mittelalterlichen Spiegel entstanden eher zufällig aus quecksilbergefüllten Fläschchen, bevor man das Verfahren herausfand, Quecksilber auf die Oberfläche einer Kugelkappe aus Glas aufzutragen. Der makellose Glanz der neuen Spiegel läßt einen der zauberischen Begrenztheit der Silberfolie oder der versilberten und polierten Scheibchen nachtrauern, die noch bis Ende des 13. Jahrhunderts in Gebrauch waren. Das Verfahren der Glasbläserei erlaubte es, eine Kugel von ausreichender Größe herzustellen, um ein zufriedenstellendes und nicht besonders entstelltes Bild zu erhalten.

Die Hoffart. Aus: Sebastian Brant, Das Narrenschiff.
Bei der Betrachtung ihrer selbst in runden Konvexspiegeln aber mußten die Damen schon fest von ihrer Schönheit überzeugt sein, um vor dem Spiegel zu verweilen und mit dem Blick die Deformationen korrigieren zu können, die das Gesicht aus der Nähe erfuhr. Vielleicht war es gar nicht einmal die Betrachtung des eigenen Gesichts als vielmehr die Untersuchung eines jeden Details, die nur der Spiegel des Blickes der anderen zu einem Ganzen zusammensetzte: und vor allem für sie waren wohl all die Handgriffe der weiblichen Toilette bestimmt, vom Schminken bis zur Frisur, dem Pudern mit Zypernpuder und der Farbe von »Drachenblut«. Im Spiegel aber vereinen sich unmittelbar das Vorher und das Nachher der Effekte der Kosmetik und der Maskerade der Schönheit, die der Zeit hinterherläuft und den Moden.

Die Herstellung von Spiegeln, unauflöslich an die Glasbearbeitung gebunden, wird zur exklusiven Angelegenheit der Venezianer, die ab dem 16. Jahrhundert neben Konvexspiegeln zunehmend auch Planspiegel fertigen und das Problem der Fabrikation von Spiegeln mit flacher Oberfläche schließlich lösen. Anstelle der Kugeln werden dazu zylinderförmige Ballons geblasen, die eine ganz und gar flache Schicht ergeben. Die Produktion dieser Spiegel untersteht der strengen Kontrolle der Venezianer, die das Patent darauf bis zu den Zeiten des Sonnenkönigs halten können.

Die venezianische Malerei des 16. Jahrhunderts von Giorgione, Lorenzo Lotto und Tizian‚ die gerade an der Seite des Spiegels steht, zelebriert ihr Primat im »Reich der Bilder« in Konkurrenz und im Triumph über die Rundplastik der Skulptur. Das Dreifach-Porträt (Frontalansicht, Profil und Rückansicht) gemahnt in deutlich belehrender Aussage an die drei Lebensalter des Menschen und ist damit Emblem der »Umsicht«. Ebenso beim (nackten) Amor sacro und dem (bekleideten) Amor profano Tizians, wo es eines Spiegels bedarf, um das Trugbild der eigenen Vanitas in Richtung Jenseits auszudehnen. Neben einem raffinierten Verweischarakter, der die heimlichen Bestrebungen des Primats der Malerei weitestgehend erfüllt, bewirkt der quadratische Planspiegel auch einen deutlichen sittlichen Eindruck, den das Bild ausstrahlt, welcher der Körperhaftigkeit der Malerei eine taktile Erweiterung verleiht (Bildnis des Gaston de Foix von Savoldo). Nicht die Vorrangstellung des Zeichens und des Zeichnens, das nach der toskanischen Schule das moralische Privileg der Ideation und des Entwurfs nach sich zieht, wird hier bekräftigt, sondern eine neue Dreidimensionalität des »Effekts« wird auf eine Stufe mit den anderen Verführungskünsten der Malerei gestellt und bewegt sich dort neben dem genuin venezianischen Gegenstand der Farbe, innerhalb eines Wertesystems zwischen »Weisheit« und »Umsicht«, das konstruiert ist von der auf Dauer ausgerichteten Kunst des Künstlers, die den menschlichen Unternehmungen und dem Bild der Mächte ein längeres Leben verleiht, als deren relativ kurze Dauer es vermöchte.

Lorenzo Lotto: Drei Ansichten des Goldschmieds, 1530,
 Kunsthistorisches Museum, Wien.
Wie Paolo Pino und Vasari berichten, verstand es keiner der italienischen Maler besser als Giorgione, dieser Forderung mit einem malerischen Trick nachzukommen. Eine Person mit entblößten Schultern spiegelt sich in einem Teich; von der einen Seite sieht man ihre rechte Seite in einer glänzenden Rüstung gespiegelt, auf der anderen Seite befindet sich ein Spiegel, der die Ansicht zur Linken reflektiert. An keinem anderem Ort als in Venedig, der Hauptstadt der Spiegel, konnte diese malerische »Reflektion« besser formuliert werden, in der sich der Vorzug der Malerei im goldenen Wettstreit der Künste behauptete. Ähnlich dem wissenschaftlichen Offenbarungsvermögen des Spiegels konnte die Malerei in einem Augen-Blick enthüllen, mit einer Unmittelbarkeit und Simultaneität, die dem Bildhauer nicht zu Gebote stand. In diesem nachgerade vierfachen Blick, der universale Symbole in eins bringt, verbirgt sich der Blick des Philosophen vor dem Spiegel, sein »einzigartige« bärtiges Antlitz in naiver Nachdenklichkeit versunken angesichts der metaphysischen Kraft, die stets in den Falten und Leeren des Gesichts wohnt, wie jede Wahrheit des Spiegels in der Figur der Masken.

Im Eigensatz zum Planspiegel und seiner aufklärenden Funktion kommen der Konvex- und auch der Konkavspiegel (mit seiner Brennwirkung einer Sonne, die eine Fackel entzündet) im Spiegel-Porträt von Parmigianino (1530) zum Stehen, das sich heute im Kunsthistorischen Museum Wien befindet. Die Freuden des Sehens gehen in abgemilderter Form weiter, als die Betrachtung einer natürlichen Form, die man nicht in der Schönheit sieht, fragil, weil sie zuviel zeigt. Spiegel und »venustas« gelten Malern wie Jan Brueghel als Allegorie des Sehens, während er bei anderen, etwa bei Abraham Bosse, mehr und mehr zum Emblem der Malerei selbst wird, die nicht nur Zeichnung und Farbe ist, sondern vor allem Technik, während sich nach und nach die staunenerregenden und fesselnden Motive der »Vanitas« des 17. Jahrhunderts entfalten, wie sie Guido Cagnacci, Mattia Preti und Francesco del Cairo gestalten.

Girolamo Savoldo: Mann in Rüstung. Genannt "Bildnis Gaston de Foix",
um 1529. Louvre, Paris
Doch das Antlitz, vom Grund des Spiegels geholt und bestaunt in der unergründlichen Geographie seiner Physiognomie, läßt sich wie eine Landkarte darstellen und durchqueren, als der sichtbare Teil der Seele, die im Inneren des Körpers verborgen liegt.

Die physiognomische Erforschung der verschiedenen Ansichten eines Gesichtes, um aus den verschiedenen Gesichtsausdrücken und Modulationen die Diversität der Charaktere zu erkennen, ist eine naturalistische und sophistische Praktik. Seit der klassischen Antike gibt es physiognomische Traktate mit echt aristotelischem Einschlag, etwa die eines Pseudo-Aristoteles, des Akademikers Polemon (4. Jhdt. v. Chr.) und des Sophisten Adamantius (4. Jhdt. n. Chr.), die als Grammatiken gedacht sind, um Menschen an der offensten aller Sprachen zu erkennen, nämlich ihrem Gesicht. Diese Werke verbergen nicht ihre Funktion als praktische Handbücher, die nach Aristoteles nützlich für diejenigen waren, die Diener brauchten und vorweg deren charakterliche Anlagen beurteilen wollten: Rechtschaffenheit, Hingabe und Ehrlichkeit, Gaben, die man in genau definierten Eigenheiten der Gesichtszüge und des Körperbaus ansiedelte.

Die Blütezeit der rhetorischen Techniken der Sophistik‚ welche die wahren Absichten der Personen verbergen können, gibt einen plausiblen Anlaß für jene naturalistischen Kataloge wie zum Beispiel die Charakterbilder des Theophrast, in denen die Tugenden und Laster der Menschen zusammengefaßt werden, um sie überhaupt unterscheiden zu können. Theophrast gibt an, seine Beobachtungen noch mit neunundneunzig Jahren anwenden zu können, und stellt fest, daß die Bewohner ein und derselben Stadt, mit dem gleichen Gesetz, der gleichen Sprache, der selben Religion nach einigen wohldefinierten Unterschieden, das heißt Charakteren eingeordnet werden könnten, die nach der theophrastischen Typologie von der Ironie bis zum Geiz reichen — wobei erstere die subtile Kunst der Verstellung ist und letztere damit beginnt, daß man sich Kleinigkeiten leiht, die nicht der Rede wert sind und die zurückzufordern man sich schämen würde, um sie den Gebern dann nie zurückerstatten.

Parmigianino: Selbstbildnis im konvexen Spiegel,
1523-34. Kunsthistorisches Museum, Wien.
Die mittelalterlichen Texte zur Physiognomie von Michael Scot (Physiognomia), Pietro d’Abano (Liber compilationis physionomiae), Giovanni Buridano (Quaestiones super Physianomicam) und Michele Savonarola (Speculum Physionamiae) stehen unter deutlich naturalistischem Einfluß, dominierend aber ist die Astrologie: Noch ließ sich nicht denken, daß das Leben des Menschen allein von den Zeichen des Gesichts und des Körpers und nicht von den Planeten abhängig sei. Die Physiognomik ist die Kunst der Menschenkenntnis ausgehend vom Gesicht, das heißt von ihrer Gestalt, in der das zukünftige Schicksal der jeweiligen Person angedeutet ist. Dies läßt sich nicht trennen von der Herrschaft der Astrologie, welche die Natur des Menschen zugleich beherrscht und mit ihr in einem Wechselverhältnis steht. Die Humana Physionomia (1586) von Giambattista della Porta fällt jedoch (nach den Traktaten von Coclès, 1531 und Johannes Indagine, 1549) in eine regelrechte Krisenzeit jener »richterlichen« Astrologie, welche die Zukunft der Menschen voraussagt.

Wir wissen, daß diese Praxis bis ins 16. Jahrhunderts nicht nur drohende Katastrophen und Sintfluten heraufbeschworen und damit die Bevölkerungen in Angst und Schrecken versetzt hatte, sondern auch den Tod von Herrschern und Kirchenfürsten verkündete und damit beunruhigende anarchische Tendenzen unter Untertanen und Gläubigen säte, welche sich auf die »Wissenschaftlichkeit« der Weissagung der Gestirne stützen konnten. Doch mit der Bulle von Papst Sixtus V. (1589), in der die Abweichungen der Astrologie mit dem Kirchenbann belegt werden, eröffnen sich neue Wege und Möglichkeiten für eine Astronomie, die an obskuren Weissagungen und unheilverkündenden Horoskopen über das Leben Einzelner kein Interesse mehr hat. Sind die astronomischen Fernrohre gen Himmel gerichtet, lassen sich auch heliozentrische Theorien legitim begründen, welche die feststehenden Prinzipien des Verhältnisses zwischen Untertanen und Machthabern nicht im geringsten stören. Damit aber eröffnet sich die Physiognomia, nach der Corporis humani fabrica von Andreas Vesalius (1543), einen eigenen, indirekt wahrsagerischen Raum jenseits von Charaktereinteilung und -analyse und legt ein Verhältnis präzise bestimmbarer Zeichen fest, die das Gesicht, der Körperbau und am besten die Stirn offenbart, um — in einem Wort — Gott im Antlitz des Menschen aufzusuchen.

Verschiedene Physiognomien. Aus: Giuseppe Rosaccio,
 Fabrica universale dell'huomo, Venedig 1627.
In der Metoposcopia von Gerolamo Cardano (1550) und Giovanni Antonio Magini (1605) wird die menschliche Stirn zum Hauptgegenstand physiognomischen Interesses, deren Linien und Temperaturschwankungen den Projektionsschirm der medizinischen Untersuchung des Kranken bildet.

Die zwischen dem 16. und dem l7. Jahrhundert vielfach aufgelegte Humana Physionomia von Giambattista della Porta, die zahlreiche Nachahmungen erfuhr, faßte nicht nur die vielfältigen Anforderungen naturwissenschaftlicher Untersuchung und Klassifizierung zusammen, sondern stellte auch und zugleich eine Form der Erkenntnis des Menschen dar, die im Vergleich zu dem experimentell nachprüfbaren Wissenschaften nachgerade psychologisch war; sie schloß aber auch die irreversible Zerrissenheit der protestantischen Welt hinsichtlich der Vorherbestimmtheit der Seele. Die eigentliche Ambiguität der Physiognomia ist ihre wissenschaftliche Wahrheit. Es handelt sich um eine durchaus praktische, »autoptische« und »heteroptische« Erkenntnis des Blicks auf sich selbst und auf den Anderen, die keine bloßen Vergleiche zieht, sondern Unterschiede hinsichtlich möglicher Wahrheiten bestimmt, deren Klassifizierung auf den Modifikationen der Form beruht, ohne einem starren Gesamtbild zu folgen, aus dem stets nur a posteriori Schlüsse zu ziehen wären.

Es läßt sich also zeigen, daß ein schwacher Psychologismus, dem sich keine wissenschaftliche Beobachtung entziehen kann, ein Aspekt der Physiognomie war, der diese jedoch immer wieder auch in die Nähe einer stets suspekten Parawissenschaft rückte. Der Magier Della Porta bekam das Siegel eines entschiedenen Anti-Galileo verpaßt, eine doppelsinnige Auffassung, die über Lavater, Gall und Lombroso bis zu den letzten Auswüchsen des Positivismus fortdauerte — und dies gerade in den Wissenschaften, die direkte soziologische Anregungen bereitwilligst aufnehmen. In diesem Sinne lassen sich auch in der modernen Biologie, die »archetypisch« etwas von der physiognomischen Praxis an sich hat, jene Spiele unbegründeter Weissagungen hinsichtlich des Verlaufs des Lebens der Individuen wiederentdecken und ans Licht bringen, etwa was das mögliche Auftreten von Krankheiten betrifft, die sich an der ausgedehnten Landkarte der »Risikofaktoren« ablesen lassen.

Gesichtsausdrücke. Aus: Charles Le Brun,
Nouveaux principes de dessein et différents caractères de passion. 
Wie kann man an dem, was erscheint und was nicht anders kann, als zur Erscheinung zu kommen — einem Gesicht, einem Körper —, das erraten, was sich verbirgt und verborgen zu bleiben wünscht? — nicht allein Schicksale und Tugenden, sondern auch Wünsche und Absichten? Bis zu welchem Punkt können die Geheimnisse der Seele von den Körperzeichen erzählt werden, und wie können sie ihre eigene Form besitzen, die uns die Zukunft vorauszusehen hilft?

Die »neue Phvsiognomie« jenseits des 17. Jahrhunderts folgt nicht nur der Maxime der klassischen Moral des »Erkenne dich selbst«, sondern ist eine Art und Weise der Erkenntnis der Anderen trotz ihrer selbst. Eine milde Technik der Gesichtsinspektion, die Techniken der Vortäuschung und des Verhehlens aufdeckt. Denn Vortäuschen bedeutet, etwas zu zeigen, was man nicht hat. Verhehlen heißt, etwas zu verbergen, was man doch besitzt. Und wenn uns nun etwas schadet, wie kann man es so drehen, daß es uns womöglich, zum Leidwesen der anderen, nützt? Von diesem Aspekt wird im nächsten Kapitel zu reden sein, wenn es um die »Lebensbilder« geht, hier interessiert uns die Erkenntnis, daß das Antlitz nicht eigentlich der Spiegel der Seele ist, sondern das Fenster zu etwas, was innen liegt, sich jedoch nicht so ohne weiteres eröffnet. Dafür gibt es den erfahrenen Blick der Physiognomik, der es versteht, im Wahren etwas zu entdecken, was sich offen verbirgt.

Die Werke der Nächstenliebe, so warnten die Prediger, seien auf keine Weise von geistlichem Nutzen, wann immer sie an den »Falschen und Gottlosen« verübt würden. Um die eigenen Werke der Barmherzigkeit ins rechte Licht zu rücken, sah sich daher jeder Gläubige gezwungen, die wahren von den falschen Bedürftigen zu unterscheiden, ebenso die wahren von den falschen »Guten«. Physiognomische Beobachtungen unterster Stufe unterstützten den umsichtigen Bürger darin, niemals jemandem Geld zu leihen, der es ohnehin nicht zurückgeben könnte, und niemandem Vertrauen zu schenken, der es nur mißbrauchen würde. Aber erkennt man nicht die Laster an den Taten, und müssen nicht Verurteilungen sich nach schlechten Angewohnheiten richten, und wie sollte man all dies vorneweg an der Bindehaut der Augen, den Mundwinkeln und dem Stirnansatz ablesen können?

Giambattista della Porta:
De humana physiognomonia libri IIII, 1586. Seite 60 [Quelle]
Der offenste Feind der Humana Physiognomia von Della Porta zu ihrer Blütezeit sind die neuen experimentellen Naturwissenschaften, die sich »wiederholen und nachprüfen« lassen. Diese Gewißheiten einer schlichten Wissenschaft von der Wahrheit werden brüchig, obschon sie ihre disziplinierende Funktion beibehalten, sobald sie sich den Techniken mehr oder weniger offener, mehr oder weniger einfallsreicher Vortäuschung gegenüber finden. Torquato Accetto (La dissimulazione honesta, 1641) und Baltasar Gracián (Agudeza y Arte de Ingenio, 1642-48) erläutern verführerisch die Techniken scharfsinniger Durchdringung der Gefühle anderer, ohne die eigenen durchschimmern zu lassen. Sie reflektieren auch die cartesische Untersuchung der »Leidenschaften der Seele«‚ die als solche zu Erkenntnisinstrumenten werden, ohne als besondere Kennzeichen ihres Trägers wahrgenommen zu werden.

Verwandt damit sind die im 17. Jahrhundert florierenden Techniken zum Abfassen von Geheimbotschaften. Durch die »steganografischen« Künste läßt sich eine ganz gewöhnliche Botschaft zu etwas undurchdringlichem synthetisieren. Es wird zur verbreiteten Ansicht, daß ein reines Bild nicht die Wahrheit enthüllen könne, und daß häufig gerade die sichtbarsten Aspekte dazu dienen können, etwas Ungeheuerliches zu verbergen, was nicht entdeckt werden soll. »Gesten« ebenso wie »Episteln« bestehen aus hochkomplizierten Anspielungen, die nach außen hin naiv wie ganz banale Wahrheiten aussehen, zwischen den Zeilen jedoch völlig andere Bedeutungen zu verstehen geben. Die überaus nützlichen Künste der Andeutungen (Bonifacio, 1616) sind eine Seitenlinie der klassischen Physiognomik und dennoch deren Folge, indem sie gerade am Schwachpunkt eines äußeren Zeichens ansetzen, um dessen Wahrheit einzufangen und sich seiner zu unseren Gunsten und, wenn man will, zu seinem Schaden zu bedienen. Es stimmt nicht ganz, daß die Wahrheit vom professionellen Simulanten immer vorgetäuscht sein muß. Wer sich klug der Simulation bedient, muß sie immer gegenüber verschiedenen Personen anwenden, sonst könnte ihm überhaupt nie Glauben geschenkt werden, auch wenn der perfekte Simulant an der Simulation zugrunde gehen muß.

Lateinische Ausgabe von Descartes "Passions de l'âme",
 1650, bei Ludovicum Elzevirium, Amstelodami
(Erste lateinische Quart-Ausgabe) [Quelle]
Wie also der Zwickmühle der falschen Wahrheiten, der wahren Lügen entkommen? — wie sich dieses Rüstzeugs klug und auf raffinierte und ganz besondere Weise bedienen‚ mit all seinen verschiedenen Verhaltensweisen, die zum Gelingen und zum Triumph verhelfen? Eine Anleitungsliteratur beginnt aufzublühen, in der Hofmänner, Sekretäre und Minister in die Lebenskunst eingeführt werden, um lächerliche oder falsche Schritte zu vermeiden und um die Ordnungen (oder die unausgesprochene Unordnung) der Konventionen der Gesellschaft und bei Hofe zu beachten. Die einfache pädagogische Kunst der aristotelischen Physiognomie sollte dem Herrscher helfen, seine Diener auszuwählen, nun wird gelehrt, ein Leben nach Herrscherart zu führen und dabei, wenn überhaupt, Diener zu sein, nachzulesen etwa im Breviarium politicorum (1684) nach Kardinal Mazarin.

Die Passions de l'âme (1645-46) von Descartes zeichnen systematisch und eindrücklich, fast gekünstelt die jeweiligen Ausdrücke der Leidenschaften nach, wenn die Gesichtszüge von Gefühlen durchdrungen sind, von Begierde, Angst, Freude, Wut, Reue oder Flehen. Auch der Maler und Theoretiker Charles Le Brun unterzieht die verschiedenen Ausdrücke des menschlichen Geistes seiner Betrachtung. In der großen Aufgabe, der sich die Malerei stellen muß, um die Würde der Gefühle wiederzugeben und dabei das Heroische dem Erbärmlichen und Niedrigen gegenüberzustellen, sollte es nicht dabei sein Bewenden haben, dem menschlichen Antlitz die Züge des Löwen, des Schweins, des Adlers, des Affen zu verleihen, an denen die Leidenschaften durch das einfache physische Aussehen der Tiere unmittelbar zu erkennen wären. Explizit didaktisch wird das Werk, wenn Le Brun auf die Wiedererkennbarkeit der Prinzipien und Modelle pocht (Nouveaux principes de dessein et différents caractères des Passions), doch weisen diese unendliche Variationen und Möglichkeiten auf. Auch die Bilder des beigefügten Illustrationsteils machen auf das Auge des Betrachters einen doppelsinnigen Eindruck (die Stimmung des Betrachters ist nicht unabhängig vom Urteil). Wer kann mit Gewißheit sagen, daß das Lachen Lachen ist und nicht Überheblichkeit? Die Freude Freude und nicht einfach Heiterkeit, die Ruhe Ruhe und nicht stumpfe Blödheit, die Traurigkeit Traurigkeit und nicht Reue, die Hochachtung Hochachtung und nicht Eigeninteresse oder Schmeichelei, die Verwunderung Verwunderung und nicht Furcht oder, schlimmer noch, Angst?

Quelle: Manlio Brusatin: Geschichte der Bilder. Diaphanes, Berlin 2003. ISBN 3-935300-19-0. Zitiert wurden die Seiten 57 bis 73.


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12. März 2018

Carl Reinecke: Klavierquartette, Klavierquintett

Obgleich sich die meisten Historiker längst von der Vorstellung verabschiedet haben, derzufolge die Musik des 19. Jahrhunderts mit dem Oberbegriff »Romantik« passend etikettiert sei, wirken die Selbstbilder jener historischen Phase untergründig weiter. Zu den Konnotationen, die der Ausdruck »Romantik« hervorruft, gehört die Vorstellung vom innerlich zerrissenen, unerbittlich nach innovativem Ausdruck strebenden Künstler, der sich weniger für die Gattungs- und Formkonventionen als deren Unterwanderung interessiert. Und allen gegenteiligen Bemühungen zum Trotz dominiert weithin noch immer die Idee eines einsträngigen Geschichtsbildes, demzufolge jeweils die hervorragendsten Künstler einer historischen Phase das Bestehende in Frage gestellt haben. Bleibt man nur bei der deutsch-österreichischen Musik nach 1850, so dient als Leitlinie einer musikhistorischen Ausdifferenzierung die Gegenüberstellung zwischen einem progressiven Lager um Wagner und Liszt sowie einer bürgerlich-konservativen Gegenseite, die vom Erbe Mendelssohns, Schumanns und vor allem Beethovens gezehrt habe. Unter diesen sei einzig Brahms kraft seiner skrupulösen Arbeitsweise und Inspiration im Repertoire verblieben.

Derartige Vereinfachungen sorgen für scheinbare Übersicht und klären die Fronten. Über weite Strecken des 20. Jahrhunderts interessierten sich nur einzelne Hartnäckige für die Komponisten der »zweiten« und »dritten« Reihe, die es zwar noch bis zu Einträgen in den großen Musiklexika brachten, dort aber hinter griffigen Schlagwörtern verschwanden. Allenfalls in Biographien über Mendelssohn, Schumann, Wagner oder Brahms tauchten sie als Regionalgrößen, Uraufführungsmusiker und Briefpartner auf. Ihre eigene Musik hingegen, oft schon vor 1900 aus den Konzertsälen verschwunden, erlebt weiterhin nur dank einzelner Initiativen und zumeist auf Tonträgern eine Renaissance, Doch welche Konsequenzen zieht das nach sich? Sind Woldemar Bargiel, Louise Farrenc, Friedrich Kiel, Carl Reinecke, Clara Schumann oder Robert Volkmann verkannte Genies?

Kaum jemand wird diese Frage bejahen. Im direkten Vergleich mit den berühmten Komponisten wirkt ihre Musik insgesamt weniger innovativ, häufig weniger prägnant und strukturell vorhersehbarer. Doch so sehr man das Wort vom historischen »Unrecht« meiden sollte, so wenig bringt andererseits die Einsicht, daß grandiose Entdeckungen die Ausnahme bleiben. Zu überdenken ist vielmehr das Bild vom »romantischen« Künstler selbst, wie es noch immer gepflegt und an jegliche Musik des 19. Jahrhunderts herangetragen wird, obwohl es bestenfalls für Einzelfälle plausibel wirkt.

Carl Reinecke
Im Hinblick auf Carl Reinecke (1824—1910) zielt diese Erwartungshaltung jedenfalls ins Leere und verstellt den Blick auf eine Persönlichkeit, die als Komponist, Dirigent, Pianist, Pädagoge und Schriftsteller über viele Jahrzehnte hinweg ein wichtiger Zeitzeuge einer besonders weiten historischen Spanne gewesen ist. Als Reinecke in den 1830er Jahren seine ersten von über 300 Werken schrieb, befanden sich Mendelssohn, Schumann und Liszt in der Blüte ihrer Jahre; seine letzten Partituren wiederum gingen zur selben Zeit in Druck, als Schönberg und seine Schüler, aber auch Skrjabin und Debussy zu neuen musikalischen Dimensionen vordrangen. Reinecke verkehrte mit fast allen namhaften Komponisten seiner Zeit, führte so manches Hauptwerk des heutigen Konzertbetriebs in die Musikwelt ein und galt als einer der besten Pianisten für das Repertoire von Mozart bis Schumann (wovon die hochbetagt aufgenommenen Klavierrollen allerdings nur eine skurrile Ahnung vermitteln]. Insofern liegt es einem am Repertoire des 19. Jahrhunderts interessierten Musikfreund eigentlich nahe, sich auch einmal auf Reineckes eigene Werke einzulassen. Die vorliegende Ersteinspielung der beiden Klavierquartette bietet dafür ebenso eine Gelegenheit wie die Neuaufnahme des großen Klavierquintetts aus Reineckes bester Zeit.

Als Carl Reinecke im März 1910 in Leipzig starb, wurde dieses Ereignis überregional kaum zur Kenntnis genommen. Einige Zeitungsartikel blickten auf seinen Lebenslauf zurück, wobei bisweilen unterschwellig hinzugefügt wurde, daß Reinecke an den musikalischen Weiterentwicklungen seit Jahrzehnten nicht mehr teilgenommen habe. Er selbst hatte dies in seinen Erinnerungen durchblicken lassen, resümierte beispielsweise im Zusammenhang einer Aussage über den Kollegen Ferdinand Hiller: Seine »Hauptschwäche war, daß er zu hastig schrieb, er arbeitete seine Werke nicht bis zur größtmöglichen Vollendung durch und ließ, da er eine sehr gewandte Feder führte, rastlos ein Werk auf das andere folgen, stets in der Hoffnung, doch einmal ein größeres Werk zu schaffen, das einen durchschlagenden Erfolg haben müsse. […] Sicherlich schuf er manches Werk, das damals, namentlich am Rhein, viele Freunde fand, aber jetzt hat man seine Werke meist ad acta gelegt, ein Schicksal, das Viele trifft, die einst gefeiert wurden, und dem auch ich mit Resignation entgegensehe, wenngleich ich mir mit gutem Gewissen das Zeugnis geben kann, daß ich nicht Mühe noch Arbeit oder Zeit gescheut habe, um meine Werke stets bis auf die höchste mir erreichbare Stufe der Vollendung zu bringen.«

Im Jahre i824 als Sohn eines Musiklehrers im damals noch dänisch verwalteten Altona geboren, verdankte er die gesamte schulische Ausbildung seinem gestrengen Vater, der den Jungen aufgrund von dessen schwächlicher Physis daheim unterrichtete und auch das musikalische Einmaleins von Grund auf beibrachte.

»Nachdem er die allgemeine Musiklehre mit mir durchgearbeitet hatte, mußte ich mit ihm Türks Generalbaßlehre, Gottfried Webers weitschichtige Theorie der Tonsetzkunst, Albrechtsbergers Lehre vom Kontrapunkt, Marpurgs Abhandlung von der Fuge und schließlich zwei Bände der dickleibigen Kompositionslehre von A.B. Marx durchstudieren.« In gleichermaßen akribischer Weise eignete sich der junge Reinecke eine hervorragende pianistische Technik an. Diese quasi-autodidaktische Schulung unter der Obacht des Vaters beurteilte er später durchaus kritisch: »In strengen Formen konnte ich mich mit einiger Sicherheit bewegen, weit weniger aber in der freien, und wenn mir Derartiges dennoch einmal leidlich gelang, so war das wohl infolge eines gewissen Instinkts, denn einen genügend klaren Begriff von dem Wesentlichen einer schönen Melodiebildung und von der logischen, organischen Entwicklung eines Satzes nach seiner harmonischen und architektonischen Seite hin besaß ich nicht, weil mein trefflicher Vater mich gerade dies nicht hatte lernen können.«

Erst mit zunehmender Routine überwand Reinecke dieses Manko, Seine musikalische Begabung blieb ohnedies nicht lange unbemerkt, und da die Familie ständig unter Geldmangel litt, wurde er bereits ab dem elften Lebensjahr in den Broterwerb eingebunden. Erteilte er nicht gerade Instrumentalunterricht, so half er in einem der Hamburger Orchester- oder Chorvereine aus. Dadurch lernte er nicht nur einen respektablen Ausschnitt des einschlägigen Repertoires kennen, sondern erhielt häufig Gelegenheit, eigene Kompositionen vor Ort zur Aufführung zu bringen. Neben Klavierstücken entstanden in der Hamburger Zeit verschiedene Ouvertüren, Konzertstücke, Quartette, Sonaten und Vokalmusik. Allerdings verschenkte, verlor oder vernichtete Reinecke im Laufe der Jahre die meisten seiner frühen Kompositionen. Und auch sonst steht es um seinen kompositorischen Nachlaß nicht zum Besten, denn während in verschiedenen Archiven zahlreiche Briefe aufbewahrt werden, ist lediglich ein Bruchteil der musikalischen Autographe verfügbar.

Als op. 1 erschien 1838 ein Heft Klavierstücke im Druck, und von nun an beschenkte Reinecke die Musikwelt alljährlich mit neuen Werken, in denen sich das gesamte Spektrum der geläufigen Gattungen wiederfand, vom Lied bis zur Oper, von der Klaviersonate bis zur Symphonie. Abgesehen von 288 Kompositionen mit Opuszahl entstand in den nachfolgenden 71 (!) Jahren eine Fülle weiterer, teilweise ungedruckter Werke, doch vermittelt bislang keine monographische Studie tiefere Einblicke in sein unübersehbares Gesamtschaffen. Abgesehen von den privat gepflegten Kinderliedern und pädagogischen Klavierstücken wurde lange Zeit allein die elegante Flötensonate »Undine« häufiger gespielt. In jüngerer Zeit hört man freilich auch einige Kompositionen für gemischte Trio-Besetzung in Konzertsälen. Hingegen erwarten die Bühnenwerke, speziell die musikalisch bedeutende Oper »König Manfred« (1866), noch immer ihre Wiederentdeckung.

Neunzehnjöhrig gelangte Reinecke erstmals nach Leipzig, wo er außer Niels W. Gade auch Felix Mendelssohn und Robert Schumann kennenlernte, nach Mozart und Beethoven seine größten Vorbilder. Obgleich die Urteile dieser Komponisten über Reineckes Musik nicht ungeteilt ausfielen, ermunterten sie den aufstrebenden Künstler immerhin nachhaltig. Einstweilen noch ohne Ansehen und Stellung, ließ Reinecke sich zunächst für drei Jahre in Leipzig nieder und trat vor allem als Pianist auf,

»Das erste, was ich in Leipzig komponierte, war ein Streichquartett, später als Op. 16 erschienen […]. Neben manchen vernichteten oder niemals veröffentlichten Sachen entstanden dann in ziemlich rascher Folge die als Op. 6 erschienenen Variationen für 2 Klaviere, die etwa 40 Jahre nach ihrem Entstehen noch einmal gestochen werden mußten, das Klavierquartett, nach vielen Jahren als Op. 34 gedruckt, und eine ziemliche Anzahl von Liedern und Klavierstücken.«

Dieses erste Klavierquartett folgt etablierten Formmustern und reiht dem einleitenden Sonatensatz (Es-Dur) ein Andante [cis-Moll/Des-Dur], ein heiteres Intermezzo (As-Dur) sowie ein umfangreiches Finale (Es-Dur) an. Der Kopfsatz beginnt wie eine Hommage an Robert Schumann, dessen Quintett op. 44 just zu jener Zeit erschienen war, als Reinecke nach Leipzig kam, und das er regelmäßig aufführte. Zwei Hauptgedanken, deren erster vornehmlich rhythmische Akzente setzt, während der zweite für ausschwingendes Melos sorgt, dominieren die Komposition, in deren Zentrum ein neuer, volksliedhafter Einfall erklingt. Der prägnanteste Satz ist jedoch das Andante, das von einer düsteren Cello-Kantilene eröffnet und von den übrigen Streichern fortgesponnen wird, ehe sich auch das Klavier mit wuchtigen Oktavgängen — Reinecke wünscht sie, selten genug, »grandioso« gespielt — bemerkbar macht. Dann wird der Mollbereich verlassen und das Thema in der Durvariante abermals entfaltet. Das Intermezzo streift den vorwaltenden Ernst des langsamen Satzes im Handumdrehen ab und gibt sich als schlitzohrige Posse mit markigen Klavierakzenten, Auch das etwas zu ausgedehnte Finale bleibt dieser Empfindungslage treu, streut jedoch einige hübsche melodisch-rhythmische Pointen ein.

Ab Mitte der vierziger Jahre wurde Reinecke mobiler und wechselte seine Stellungen in kurzen Intervallen. Eine Zeit lang fungierte er als Leibpianist des dänischen Königs, bereiste Paris und ließ sich auf Einladung Ferdinand Hillers ans Kölner Musikkonservatorium verpflichten. Dann wartete der Posten eines Musikdirektors in Barmen — heute ein Teil von Wuppertal —, ehe Reinecke für eine Saison nach Breslau wechselte. Im Jahre 1860 schließlich lockte den 36-Jährigen ein Ruf ans Leipziger Gewandhaus, wo er dreieinhalb Jahrzehnte lang als Kapellmeister des berühmten Orchesters firmierte und am Konservatorium unterrichtete. In der sächsischen Musikmetropole schrieb Reinecke auch den Großteil seiner Kompositionen. Wiewohl er seine Musiksprache nicht mehr grundlegend änderte, nahm er Elemente führender Komponisten auf und gelangte vor allem im Bereich der Harmonik zu Verfeinerungen, während er in der Beherrschung großer Formen an Sicherheit gewann. Das zeigt sich nicht zuletzt im Klavierquintett op. 83, einer Komposition, die Reinecke auf höchster Höhe seines Könnens zeigt und ein aufeinander eingeschworenes Ensemble herausfordert.

Auf dem Boden diatonischen Komponierens liebt Reinecke vorübergehende Verschleierungen und Infragestellungen der Tonalität. Dies erreicht er durch Verfahren wie die chromatisch gleitende Modulation und die für ihn typische Melodieführung mit ihren eingelagerten Halbtonschritten und Vorhaltbildungen. Obwohl auch in diesem Werk die Anhänglichkeit an Schumanns Musiksprache deutlich zu spüren ist, sorgt die verstärkte Hinwendung zu chromatisch durchsetzten Melodiebildungen für eigene Nuancen, die durch inspirierte Erfindung ins schönste Licht gesetzt werden. Eine vierzehntaktige Lento-Einleitung eröffnet den Kopfsatz. Hier treibt Reinecke die tonale Offenheit ins Extrem, indem er den Klavierbaß in Halbtonschritten aufsteigen läßt, während die Streicher in einen intensiv geführten, von herben Klangreibungen gekennzeichneten Dialog treten. Vorübergehende Härten sind durchaus erwünscht. Um so nachdrücklicher erfolgt die zu Beginn des Allegroteils erfolgende Verankerung der Tonart A-Dur, die nach einer neuntaktigen Vorbereitung das markante, optimistisch gefärbte Hauptthema hervortreten läßt. Demgegenüber macht sich im Seitensatz und seinem aus gleichmäßigen Viertelbewegungen bestehenden fis-Moll-Thema ein melancholisch-schwärmerischer Grundzug breit. Diese beiden Einfälle beherrschen auch die ausgedehnte Durchführung, in der ein weiter Tonartenkreis durchlaufen wird. Den zweiten Satz eröffnet Reinecke mit einer zögerlichen, die Introduktion in Erinnerung bringenden Wendung, ehe eine schlichte Baßstimme den Unterbau für vier abwechslungsreiche Variationen abgibt. Nach einem sprunghaften, modulationsfreudigen Intermezzo sorgt das extrovertiert-verspielte Finale für den passenden Abschluß einer der überzeugendsten Partituren des Komponisten.

In Leipzig erwarb sich Reinecke bald Ansehen und gehörte zu den tonangebenden Musikerpersönlichkeiten des nord- und ostdeutschen Raums, Nach 1880 allerdings mehrten sich kritische Stimmen, bemängelten Reineckes Musik, vor allem aber seine Dirigiertätigkeit und konservative Repertoirepflege am Gewandhaus. In einem unter dem Pseudonym M. Charles verfaßten Buch über Zeitgenössische Tondichter (1888) nahm der Musikkritiker Max Chop kein Blatt vor den Mund, als es darum ging, Reineckes Wirken zu charakterisieren. »Carl Reinecke ist ein Mann von vierundsechzig Jahren, von durchaus bescheidenem Aeußern und Auftreten. Sein prononcirter und scharfgezeichneter Gesichtsausdruck läßt Niemand, der ihn nicht kennt, errathen, welch’ einflußreichem Manne er gegenübersteht. Im Verkehr trägt sein Benehmen und Geriren fast mädchenhafte Schüchternheit und Geziertheit, die erst dann von ihm weicht, wenn er in seinem Elemente waltet und den Taktstock schwingt […]. Er ist ein fleißiger Componist und sucht in seinen Werken mit anerkennenswerthem Eifer ein hohes Vorbild zu realisiren. Wenn ihm dies nicht gelingt, so liegt es am Mangel und einer Gedankenarmuth, wie sie selten mit produktivem Schaffen und seiner Fülle sich gepaart hat.« […]

Als um die Wende zum 20. Jahrhundert die Klavierkonzerte immer massiger und schwieriger wurden, schrieb Reinecke mit dem h-Moll-Konzert op. 254 ein Werk, von dem er sich erhoffte, es könne dank seiner moderaten Anforderungen in die Welt der aktuellen Virtuosenkonzerte einführen und sich vor allem an Hochschulen bewähren. Und auch im Bereich der Kammermusik versuchte er aufstrebenden Vereinigungen und Studierenden den Weg zu den schwierigen Brahms-Partituren zu ebnen. Als Musterbeispiel hierfür sei das 1904 gedruckte Klavierquartett Nr. 2 D-Dur op. 272 benannt. Schon auf dem Titelblatt macht es durch den Zusatz »im leichteren Stile« auf sich aufmerksam. Mit weniger als zwanzig Minuten Spieldauer ist die viersätzige Komposition recht knapp bemessen; vor allem aber wirkt sie innerhalb der gewählten Grenzen sehr konzis. Die kurze Durchführung des ersten Satzes macht den Nachwuchsmusiker mit klassischen Techniken der Motivverarbeitung vertraut und färbt das thematische Material reizvoll um. Es sind vor allem die Details, in denen Reinecke Feinarbeit leistet — so beispielsweise im Anschluß an die Vorstellung des Hauptthemas, wenn die Violine den Faden aufnimmt und das Klavier mit der tonalen Entwicklung beginnt. In der Reprise wird dieser Abschnitt noch etwas erweitert und trägt eine vorübergehende Nachdenklichkeit in den Satz hinein.

Nach einem kurzen Scherzo in G-Dur kehrt das Adagio als lyrisches Zentrum des Werkes zur Haupttonart D-Dur zurück. Typisch für Reinecke ist dessen Hauptgedanke mit seinen kleinen chromatischen Wendungen und weichen Phrasenenden. Während seine Kollegen um 1900 die Partituren immer weiter ausdehnten und pathetisch befruchteten, blieb Reinecke bei seinem transparenten Tonsatz und wirkte — etliche Kammermusikpartituren belegen das — im hohen Alter frischer als in den meisten Kompositionen vor 1850. Ein idyllischer, von Krisen unangefochtener Tonfall prägt seine unaufdringIich-charmante, wirkungsvoll gesetzte Musik, die auch heute noch viele Freunde finden sollte.

Quelle: Matthias Wiegandt, im Booklet (leicht gekürzt)


Track 12: Klavierquintett A-Dur op. 83 - IV. Finale. Allegro con spirito


TRACKLIST


Carl Reinecke 
(1824-1910)

Piano Quartet op. 34 in E flat major (1853)        25'23
01 Allegro molto e con brio                  7'16
02 Andante                                   7'27
03 Intermezzo. Allegretto grazioso           4'05
04 Finale. Allegro molto vivace              6'35

Piano Quartet op. 272 in D major (1905)            17'57
05 Allegro                                   5'54
06 Scherzo. Moderato´                        2'20
07 Adagio                                    4'53
08 Rondo Finale. Allegretto                  4'50

Piano Quintet op. 83 in A major (1866)             28'37
09 Lento. Allegro con brio                  10'03
10 Andante con variazioni                    7'2l
11 Intermezzo. Allegretto                    4'49
12 Finale. Allegro con spirito               6'24
         
                                             T.T.: 72'21
Linos-Ensemble:
Konstanze Eickhorst, Piano
Winfried Rademacher, Violine
Sidsel Garn Nielsen, Violine
Mathias Buchholz, Viola
Mario Blaumer, Violoncello

Recording: June 7-9, 1999, Kammermusikstudio des SWR Stuttgart
Recording Supervisor: Michael Sandner 
Recording Engineer: Friedemann Trumpp - Editing: Sabine Kluntzinger
Executive Producers: Marlene Weber-Schäfer / Burkhard Schmilgun

Cover Painting: Konstantin Iwan Aiwassowkij: "Abendlandschaft mit Meer
mit erleuchteter Villa", Christie's London

(P) 2002 


Der Schwierige


Lustspiel in drei Akten von Hugo von Hofmannsthal

Uraufführung am 8.11.1921 am Residenztheater in München
Österreichische Uraufführung am 16.4.1924 am Theater an der Josefsstadt in Wien


ERSTER AKT

Mittelgroßer Raum eines Wiener älteren Stadtpalais, als Arbeitszimmer des Hausherrn eingerichtet.

...

DRITTE SZENE

LUKAS tritt ein und meldet
Frau Gräfin Freudenberg.

CRESCENCE ist gleich nach ihm eingetreten.

Lukas tritt ab, Vinzenz ebenfalls.

CRESCENCE -
Stört man dich, Kari? Pardon —

HANS KARL
Aber meine gute Crescence.

CRESCENCE
Ich geh’ hinauf, mich anziehen — für die Soiree.

HANS KARL
Bei Altenwyls?

CRESCENCE
Du erscheinst doch auch? Oder nicht? Ich möchte nur wissen, mein Lieber.

HANS KARL
Wenn's dir ganz gleich gewesen wäre, hätte ich mich eventuell später entschlossen und vom Kasino aus eventuell abtelephoniert. Du weißt, ich binde mich so ungern.

CRESCENCE
Ah ja.

HANS KARL
Aber wenn du auf mich gezählt hättest —

CRESCENCE
Mein lieber Kari, ich bin alt genug, um allein nach Hause zu fahren — überdies kommt der Stani hin und holt mich ab. Also du kommst nicht?

HANS KARL
Ich hätt’ mir’s gern noch überlegt.

CRESCENCE
Eine Soiree wird nicht attraktiver, wenn man über sie nachdenkt‚ mein Lieber. Und dann hab’ ich geglaubt, du hast dir draußen das viele Nachdenken ein bißl abgewöhnt. Setzt sich zu ihm, der beim Schreibtisch steht. Sei Er gut, Kari, hab’ Er das nicht mehr, dieses Unleidliche, Sprunghafte, Entschlußlose, daß man sich hat aufs Messer streiten müssen mit Seinen Freunden, weil der eine Ihn einen Hypochonder nennt, der andere einen Spielverderber, der dritte einen Menschen, auf den man sich nicht verlassen kann. — Du bist in einer so ausgezeichneten Verfassung zurückgekommen, jetzt bist du wieder so, wie du mit zweiundzwanzig Jahren warst, wo ich beinah’ verliebt war in meinen Bruder.

HANS KARL
Meine gute Crescence, machst du mir Komplimente?

CRESCENCE
Aber nein, ich sag’s, wie’s ist: da ist der Stani ein unbestechlicher Richter; er findet dich einfach den ersten Herrn in der großen Welt, bei ihm heißt’s jetzt, Onkel Kari hin, Onkel Kari her, man kann ihm kein größeres Kompliment machen, als daß er dir ähnlich sieht, und das tut er ja auch — in den Bewegungen ist er ja dein zweites Selbst — er kennt nichts Eleganteres als die Art, wie du die Menschen behandelst, das große air, die distance, die du allen Leuten gibst — dabei die komplette Gleichmäßigkeit und Bonhomie auch gegen den Niedrigsten — aber er hat natürlich, wie ich auch, deine Schwächen heraus; er adoriert den Entschluß, die Kraft, das Definitive, er haßt den Wiegel-Wagel, darin ist er wie ich!

HANS KARL
Ich gratulier dir zu deinem Sohn, Crescence. Ich bin sicher, daß du immer viel Freud’ an ihm erleben wirst.

CRESCENCE
Aber — pour revenir à nos moutons, Herr Gott, wenn man durchgemacht hat, was du durchgemacht hast, und sich dabei benommen hat, als wenn es nichts wäre ...

HANS KARL geniert
Das hat doch jeder getan!

CRESCENCE
Ah, pardon, jeder nicht. Aber da hätte ich doch geglaubt, daß man seine Hypochondrien überwunden haben könnte!

HANS KARL
Die vor den Leuten in einem Salon hab ich halt noch immer. Eine Soiree ist mir ein Graus, ich kann mir halt nicht helfen. Ich begreife noch allenfalls, daß sich Leute finden, die ein Haus machen, aber nicht, daß es welche gibt, die hingehen.

CRESCENCE
Also wovor fürchtest du dich? Das muß sich doch diskutieren lassen. Langweilen dich die alten Leut’?

HANS KARL
Ah, die sind ja scharmant, die sind so artig.

CRESCENCE
Oder gehen dir die Jungen auf die Nerven?

HANS KARL
Gegen die hab’ ich gar nichts. Aber die Sache selber ist mir halt so eine Horreur, weißt du, das Ganze — das Ganze ist so ein unentwirrbarer Knäuel von Mißverständnissen. Ah, diese chronischen Mißverständnisse!

CRESCENCE
Nach allem, was du draußen durchgemacht hast, ist mir das eben unbegreiflich, daß man da nicht abgehärtet ist.

HANS KARL
Crescence, das macht einen ja nicht weniger empfindlich, sondern mehr. Wieso verstehst du das nicht? Mir können über eine Dummheit die Tränen in die Augen kommen — oder es wird mir heiß vor Gêne über eine ganze Kleinigkeit, über eine Nuance, die kein Mensch merkt, oder es passiert mir, daß ich ganz laut sag’, was ich mir denk’ — das sind doch unmögliche Zuständ’, um unter Leut’ zu gehen. Ich kann es dir gar nicht definieren, aber es ist stärker als ich. Aufrichtig gestanden: ich habe vor zwei Stunden Auftrag gegeben, bei Altenwyls abzusagen. Vielleicht eine andere Soiree, nächstens, aber die nicht.

CRESCENCE
Die nicht. Also warum grad die nicht?

HANS KARL
Es ist stärker als ich, so ganz im allgemeinen.

CRESCENCE
Wenn du sagst, im allgemeinen, so meinst du was Spezielles.

HANS KARL
Nicht die Spur, Crescence.

CRESCENCE
Natürlich. Aha. Also, in diesem Punkt kann ich dich beruhigen.

HANS KARL
In welchem Punkt?

CRESCENCE
Was die Helen betrifft.

HANS KARL
Wie kommst du auf die Helen?

CRESCENCE
Mein Lieber, ich bin weder taub, noch blind, und daß die Helen von ihrem fünfzehnten Lebensjahr an, bis vor kurzem, na, sagen wir, bis ins zweite Kriegsjahr, in dich verliebt war bis über die Ohren, dafür hab’ ich meine Indizien, erstens, zweitens und drittens.

HANS KARL
Aber Crescence‚ da redest du dir etwas ein ...

CRESCENCE
Weißt du, daß ich mir früher, so vor drei, vier Jahren, wie sie eine ganz junge Debütantin war, eingebildet hab’, das wär’ die eine Person auf der Welt, die dich fixieren könnt’, die deine Frau werden könnt’. Aber ich bin zu Tod froh, daß es nicht so gekommen ist. Zwei so komplizierte Menschen, das tut kein gut.

HANS KARL
Du tust mir zuviel Ehre an. Ich bin der unkomplizierteste Mensch von der Welt. Er hat eine Lade am Schreibtisch herausgezogen. Aber ich weiß gar nicht, wie du auf die Idee — ich bin der Helen attachiert, sie ist doch eine Art von Cousine, ich hab’ sie so klein gekannt — sie könnte meine Tochter sein. Sucht in der Lade nach etwas.

CRESCENCE
Meine schon eher. Aber ich möcht sie nicht als Tochter. Und ich möcht erst recht nicht diesen Baron Neuhoff als Schwiegersohn.

HANS KARL
Den Neuhoff? Ist das eine so ernste Geschichte?

CRESCENCE
Sie wird ihn heiraten.

HANS KARL stößt die Lade zu.

CRESCENCE
Ich betrachte es als vollzogene Tatsache, dem zu Trotz, daß er ein wildfremder Mensch ist, dahergeschneit aus irgendeiner Ostseeprovinz, wo sich die Wölf’ gute Nacht sagen ...

HANS KARL
Geographie war nie deine Stärke, Crescence, die Neuhoffs sind eine holsteinische Familie.

CRESCENCE
Aber das ist doch ganz gleich. Kurz, wildfremde Leut’.

HANS KARL V
Übrigens eine ganz erste Familie. So gut alliiert, als man überhaupt sein kann.

CRESCENCE
Aber, ich bitt’ dich, das steht im Gotha. Wer kann denn das von hier aus kontrollieren?

HANS KARL
Du bist aber sehr acharniert gegen den Menschen.

CRESCENCE
Es ist aber auch danach! Wenn eins der ersten Mädeln, wie die Helen, sich auf einen wildfremden Menschen entêtiert, dem zu Trotz, daß er hier in seinem Leben keine Position haben wird ...

HANS KARL
Glaubst du?

CRESCENCE
In seinem Leben! dem zu Trotz, daß sie sich aus seiner Suada nichts macht, kurz, sich und der Welt zu Trotz ...

Eine kleine Pause.

HANS KARL zieht mit einiger Heftigkeit eine andere Lade heraus.

CRESCENCE
Kann ich dir suchen helfen? Du enervierst dich.

HANS KARL
Ich dank’ dir tausendmal, ich such’ eigentlich gar nichts, ich hab' den falschen Schlüssel hineingesteckt.

SEKRETÄR erscheint an der kleinen Tür
Oh, ich bitte untertänigst um Verzeihung.

HANS KARL
Ein bissel später bin ich frei, lieber Neugebauer.

SEKRETÄR zieht sich zurück.

CRESCENCE tritt an den Tisch
Kari, wenn dir nur ein ganz kleiner Gefallen damit geschieht, so hintertreib' ich diese Geschichte.

HANS KARL
Was für eine Geschichte?

CRESCENCE
Die, von der wir sprechen: Helen-Neuhoff. Ich hintertreib’ sie von heut’ auf morgen.

HANS KARL
Was?

CRESCENCE
Ich nehm’ Gift darauf, daß sie heute noch genau so verliebt in dich ist wie vor sechs Jahren, und daß es nur ein Wort, nur den Schatten einer Andeutung braucht —

HANS KARL ‚
Die ich dich doch um Gottes willen nicht zu machen bitte —

CRESCENCE
Ah so, bitte sehr. Auch gut.

HANS KARL
Meine Liebe, allen Respekt vor deiner energischen Art, aber so einfach sind doch gottlob die Menschen nicht.

CRESCENCE
Mein Lieber, die Menschen sind gottlob sehr einfach, wenn man sie einfach nimmt. Ich seh’ also, daß diese Nachricht kein großer Schlag für dich ist. Um so besser — du hast dich von der Helen desinteressiert, ich nehm’ das zur Kenntnis.

HANS KARL aufstehend
Aber ich weiß nicht, wie du nur auf den Gedanken kommst, daß ich es nötig gehabt hätt’, mich zu desinteressieren. Haben denn andere Personen auch diese bizarren Gedanken?

CRESCENCE
Sehr wahrscheinlich.

HANS KARL
Weißt du, daß mir das direkt Lust macht, hinzugeben?

CRESCENCE
Und dem Theophil deinen Segen zu geben? Er wird entzückt sein. Er wird die größten Bassessen machen, um deine Intimität zu erwerben.

HANS KARL
Findest du nicht, daß es sehr richtig gewesen wäre, wenn ich mich unter diesen Umständen schon längst bei Altenwyls gezeigt hätte? Es tut mir außerordentlich leid daß ich abgesagt habe.

CRESCENCE
Also laß wieder anrufen: es war ein Mißverstandnis durch einen neuen Diener und du wirst kommen.

LUKAS tritt ein.

HANS KARL zu Crescence
Weißt du, ich möchte es doch noch überlegen.

LUKAS
Ich hatte für später untertänigst jemanden anzumelden.

CRESCENCE zu Lukas
Ich geh. Telephonieren Sie schnell zum Grafen Altenwyl, Seine Erlaucht würden heut’ abend dort erscheinen. Es war ein Mißverständnis.

LUKAS sieht Hans Karl an.

HANS KARL ohne Lukas anzusehen
Da müßt er allerdings auch noch vorher ins Kasino telephonieren, ich laß den Grafen Hechingen bitten, zum Diner und auch nachher nicht auf mich zu warten.

CRESCENCE
Natürlich, das macht er gleich. Aber zuerst zum Grafen Altenwyl, damit die Leut’ wissen, woran sie sind.

LUKAS ab.

CRESCENCE steht auf.
So, und jetzt laß ich dich deinen Geschäften. Im Gehen. Mit welchem Hechingen warst du besprochen? Mit dem Nandi?

HANS KARL
Nein, mit dem Adolf.

CRESCENCE kommt zurück
Der Antoinette ihrem Mann? Ist er nicht ein kompletter Dummkopf?

HANS KARL
Weißt du, Crescence, darüber hab’ ich gar kein Urteil. Mir kommt bei Konversationen auf die Länge alles sogenannte Gescheite dumm und noch eher das Dumme gescheit vor ...

CRESCENCE
Und ich bin von vornherein überzeugt, daß an ihm mehr ist als an ihr.

HANS KARL
Weißt du, ich hab’ ihn ja früher gar nicht gekannt, oder er hat sich gegen die Wand gewendet und richtet an einem Bild, das nicht gerade hängt — nur als Mann seiner Frau — und dann draußen, da haben wir uns miteinander angefreundet. Weißt du, er ist ein so völlig anständiger Mensch. Wir waren miteinander, im Winter fünfzehn, zwanzig Wochen in der Stellung in den Waldkarpathen, ich mit meinen Schützen und er mit seinen Pionieren, und wir haben das letzte Stückl Brot miteinander geteilt. Ich hab’ sehr viel Respekt vor ihm bekommen. Brave Menschen hat’s draußen viele gegeben, aber ich habe nie einen gesehen, der vis-à-vis dem Tod sich eine solche Ruhe bewahrt hätte, beinahe eine Art Behaglichkeit.

CRESCENCE
Wenn dich seine Verwandten reden hören könnten, die würden dich umarmen. So geh hin zu dieser Närrin und versöhn sie mit dem Menschen, du machst zwei Familien glücklich. Diese ewig in der Luft hängende Idee einer Scheidung oder Trennung, g’hupft wie g’sprungen, geht ja allen auf die Nerven. Und außerdem wär es für dich selbst gut, wenn die Geschichte in eine Form käme.

HANS KARL
Inwiefern das?

CRESCENCE
Also, damit ich dir’s sage: es gibt Leut’, die den ungereimten Gedanken aussprechen, wenn die Ehe annulliert werden könnt’, du würdest sie heiraten.

HANS KARL schweigt.

CRESCENCE
Ich sag’ ja nicht, daß es seriöse Leut’ sind, die diesen bei den Haaren herbeigezogenen Unsinn zusammenreden.

HANS KARL schweigt.

CRESCENCE
Hast du sie schon besucht, seit du aus dem Feld zurück bist?

HANS KARL
Nein, ich sollte natürlich.

CRESCENCE nach der Seite sehend
So besuch’ sie doch morgen und red’ ihr ins Gewissen.

HANS KARL bückt sich, wie um etwas aufzuheben
Ich weiß wirklich nicht, ob ich gerade der richtige Mensch dafür wäre.

CRESCENCE
Du tust sogar direkt ein gutes Werk. Dadurch gibst du ihr deutlich zu verstehen, daß sie auf dem Holzweg war, wie sie mit aller Gewalt sich hat vor zwei Jahren mit dir affichieren wollen.

HANS KARL ohne sie anzusehen
Das ist eine Idee von dir.

CRESCENCE
Ganz genau so, wie sie es heut’ auf den Stani abgesehen hat.

HANS KARL erstaunt
Deinen Stani?

CRESCENCE
Seit dem Frühjahr. Sie war bis zur Tür gegangen, kehrt wieder um, kommt bis zum Schreibtisch. Er könnte mir da einen großen Gefallen tun, Kari ...

HANS KARL
Aber ich bitte doch um Gottes willen, so sag Sie doch! Er bietet ihr Platz an, sie bleibt stehen.

CRESCENCE
Ich schick’ Ihm den Stani auf einen Moment herunter. Mach’ Er ihm den Standpunkt klar. Sag’ Er ihm, daß die Antoinette — eine Frau ist, die einen unnötig kompromittiert. Kurz und gut, verleid’ Er sie ihm.

HANS KARL
Ja, wie stellst du dir denn das vor? Wenn er verliebt in sie ist?

CRESCENCE
Aber Männer sind doch nie so verliebt, und du bist doch das Orakel für den Stani. Wenn du die Konversation benützen wolltest — versprichst du mir’s?

HANS KARL
Ja, weißt du — wenn sich ein zwangloser Übergang findet —

CRESCENCE ist wieder bis zur Tür gegangen, spricht von dort aus
Du wirst schon das Richtige finden. Du machst dir keine Idee, was du für eine Autorität für ihn bist. Im Begriff hinauszugehen, macht sie wiederum kehrt, kommt bis an den Schreibtisch vor. Sag ihm, daß du sie unelegant findest — und, daß du dich nie mit ihr eingelassen hättest. Dann laßt er sie von morgen an stehen. Sie geht wieder zur Tür, das gleiche Spiel. Weißt du, sag’s ihm nicht zu scharf, aber auch nicht gar zu leicht. Nicht gar zu sous-entendu. Und daß er ja keinen Verdacht hat, daß es von mir kommt — er hat die fixe Idee, ich will ihn verheiraten, natürlich will ich, aber — er darf’s nicht merken: darin ist er ja so ähnlich mit dir: die bloße Idee, daß man ihn beeinflussen möcht’ —! Noch einmal das gleiche Spiel. Weißt du, mir liegt sehr viel dran, daß es heute noch gesagt wird, wozu einen Abend verlieren? Auf die Weise hast du auch dein Programm: du machst der Antoinette klar, wie du das Ganze mißbilligst — du bringst sie auf ihre Ehe — du singst dem Adolf sein Lob — so hast du eine Mission, und der ganze Abend hat einen Sinn für dich. Sie geht.


Quelle: Hugo von Hofmannsthal: Gesammelte Werke Band II. Dramen und Opernlibretti. [Hrgr. Dieter Lamping und Frank Zipfel] Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2004. ISBN 3-538-05433-9. Seiten 636-647.


Die bereits klassische Inszenierung des "Schwierigen" von 1991 in Salzburg als DVD bestellen bei Arthaus Musik


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2. März 2018

Giovanni Bottesini (1821-1889): Musik für Kontrabass und Klavier

Es war schon eine merkwürdige Wendung des Schicksals, durch die der führende Kontrabassvirtuose des 19. Jahrhunderts entstand. Als Bürschlein von vierzehn Jahren hatte Giovanni Bottesini bereits als Chorknabe, Geiger und Paukist ein erhebliches musikalisches Talent entwickelt. Jetzt suchte sein Vater für ihn einen Ausbildungsplatz am Mailänder Konservatorium, wo aber nur zwei Stellen frei waren — für Fagott und für Kontrabass. Die Entscheidung fiel zugunsten des Kontrabasses. Binnen weniger Wochen bereitete sich der junge Bottesini erfolgreich auf das Vorspiel vor, und nach der für damalige Verhältnisse erstaunlich kurzen Zeit von vier Jahren verließ er, noch immer ein Teenager, das Institut mit einem Preisgeld von 300 Francs, mit denen man sein Solospiel ausgezeichnet hatte. Diese Summe verwandte er für den Erwerb eines Instruments von Carlo Testore, und dann begann die Reisekarriere dieses „Paganini des Kontrabasses.“

Man sollte diese Anekdote nicht nur als kurioses Kapitel aus der Vita eines Wunderkindes betrachten, sondern auch als frühes Indiz für die außerordentliche Vielseitigkeit, die Bottesini im weiteren Verlauf seines Lebens an den Tag legte. Er bereiste ganz Europa, Lateinamerika und die USA, und er beeindruckte das Publikum durch seine Musikalität in demselben Maße, wie er durch die technische Beherrschung des „schwerfälligen“ Instruments verblüffte. Ein englischer Autor, der 1849 sein Londoner Debüt hörte, erinnerte sich: „Das war nicht nur eine wunderbare tour de force, sondern aufgrund seines unerhörten Könnens war der Künstler in der Lage, selbst den anspruchsvollsten Musikern im Publikum ein vergnügliches Ereignis zu bescheren.“

Die angeborene Musikalität eröffnete Bottesini zwei weitere, einander ergänzende Wege als Dirigent und Komponist. Man erwartete damals natürlich, dass ein Instrumentalvirtuose seine eigenen Werke schrieb, um damit die persönlichen Leistungen vorzuführen. So brachte Dragonetti, der größte Bassist der vorherigen Generation, mehrere Dutzend etwas mechanischer Stücke hervor, die den Hörer eher blenden als bewegen; ein genialer Komponist und Musiker wie Franz Liszt hingegen vermochte virtuose Stücke zu schreiben, die über die bloße Zurschaustellung hinausgehen und tatsächlich auch das eigene Instrument transzendieren konnten. Giovanni Bottesini steht irgendwo zwischen diesen Extremen. Er komponierte rund ein Dutzend Opern — von Cristoforo Colombo, den er 1846/47 während seines Aufenthaltes in Havanna verfasste, über Vinciguerro il bandito, der 1870 in Paris vierzig Vorstellungen erlebte, bis zu der 1880 für Turin entstandenen Regina di Nepal. Des weiteren schrieb er Lieder, ein paar geistliche Werke und Orchesterstücke sowie elf Streichquartette, womit er sich einer Gattung widmete, die im Italien des 19. Jahrhunderts kaum zur Kenntnis genommen wurde. Uberlebt haben ihn freilich nur einige seiner Kompositionen für Kontrabass.

Giovanni Bottesini (1821-1889)
Als Dirigent und Musikdirektor war Bottesini verschiedentlich an Theatern in London, Paris, Palermo, Madrid, Barcelona und anderen Orten tätig. Die Musikgeschichte registriert allerdings vor allem, dass er 1871 zur Einweihung des neuen Opernhauses von Kairo die Uraufführung der Aida dirigierte. Giuseppe Verdi war ein enger Freund geworden, seit man sich zwanzig Jahre vorher in Venedig kennengelernt hatte, und er nominierte Bottesini noch fast zwei Jahrzehnte nach Aida als Direktor des Konservatoriums von Parma. Dieses letzte Amt konnte er allerdings nur noch wenige Monate wahrnehmen, bevor er 1889 starb.

Die italienische Oper im Stile Donizettis und des jüngeren Verdis bildete die offensichtliche Grundlage für Bottesinis Instrumentalmusik, und daraus folgte, dass der Melodie der unbedingte Vorrang zukam. Die kunstvolle chromatische Harmonik und Motivarbeit eines Wagner, die subtilen und abstrakten Formstrukturen eines Brahms wird man hier nicht finden. Statt dessen hält Bottesinis Sprache an einer recht einfachen Gesanglichkeit fest, die mitunter deklamatorischer Art sein kann, sich aber meist im Rahmen regulärer, lyrischer Phrasen bewegt, zwischen denen nur eine lockere motivische Verwandtschaft besteht. Oft lösen sich diese am Ende eines formalen Abschnitts in kleine Kadenzen auf, worauf ein neuer Zyklus beginnt.

Die größte Herausforderung eines Interpreten besteht darin, die „Reinheit des Tones und der Intonation, den perfekten Geschmack der Phrasierung“ zu treffen, um es mit den Worten zu sagen, mit denen man das Spiel des Komponisten selbst beschrieben hat. Die üblichste Virtuosengeste besteht in raschen Läufen durch den gesamten Tonumfang des Instruments, der im hohen Register noch enorm durch die Verwendung von Flageoletts gesteigert wird (den flötenartigen Klängen, die man dadurch erzeugt, dass die Saiten nicht fest auf das Griffbrett gedrückt, sondern von den Fingern nur an bestimmten Punkten berührt werden). Doppelgriffe und reges Passagenwerk, die unverzichtbaren „Tricks“ der Dragonetti-Generation, sind bei Bottesini eher die Ausnahme als die Regel.

Giovanni Bottesini in concert
Es ist kein Wunder, dass die Bibliothek des Konservatoriums von Parma die beste Quelle für das Schaffen Bottesinis darstellt. Bei der Untersuchung des dortigen Bestands fand Joel Quarrington Reinschriften von der Hand des Komponisten, die keine Skizzen oder Entwürfe darstellten, sondern vielleicht als letztgültige Fassungen: (womöglich für das Archiv) gedacht waren. Natürlich gibt es oftmals verschiedene autorisierte Versionen: Ein Solostück kann beispielsweise sowohl mit Klavier—, Streichquartett- und Orchesterbegleitung existieren. Da Bottesini den größten Teil seiner Karriere auf Reisen verbrachte, bei denen er nicht immer von einem festen Partner begleitet wurde, musste er die unterschiedlichsten Mittel mit sich führen, um mit den jeweiligen lokalen Musikern arbeiten zu können, die ihm die einzelnen Konzertveranstalter zur Verfügung stellten. Diese Konzerte waren fast immer „gemischt“, enthielten also „für jeden etwas“ — wie die typischen Fernsehshows der 1950er Jahre — und dauerten nach heutigen Maßstäben sehr lange. Bei einem Londoner Konzert des Jahres 1865 standen unter anderem eine symphonische Ouvertüre mit Scherzo, ein Flötenstück, ein Klavierduo, ein Walzer, zwei Arien sowie das hier eingespielte Duetto für Klarinette und Bass auf dem Programm, und das alles vor der Pause.

Das Duetto für zwei Bässe dürfte das älteste und etüdenhafteste Werk dieser CD sein. Es stammt aus einer dreiteiligen Sammlung, die Bottesini seinem Lehrer Luigi Rossi gewidmet hat. Demgegenüber ist das zweite Konzert von seinem wohlproportionierten, etwas lakonischen ersten Satz über den schlicht gesanglichen zweiten bis hin zu dem Finale, das ein für die Polonaise (und den kubanischen Bolero) typischer Rhythmus antreibt, ein voll ausgereiftes Werk. Dass seine Tonart mal mit a-moll und dann wieder mit h-moll angegeben wird, beruht auf den komplizierten Fragen der alten Stimmungsmethoden.

Die andern hier ausgewählten Stücke unterstreichen, wie wesentlich Bottesini durch den Gesang inspiriert war. Besonders deutlich wird das in der Fantasie über Bellinis Beatrice di Tenda, doch dann auch im gesanglichen Stil der Stücke, die den Kontrabass mit einer Klarinette bzw. einer Sopranstimme kombinieren. In den anonymen Texten findet das verbreitete romantische Sentiment seinen typisch bürgerlichen Ausdruck: Im Falle des Tutto che il mondo ist die Musik allerdings sehr bekannt: Es handelt sich um die Etüde op. 25 Nr. 7 von Frédéric Chopin. Die Transkription der Air von Bach ist ganz einfach. Gibt es ein Instrument, für das dieses Stück nicht bearbeitet worden wäre? Das Adagio melancolico ed appassionata vermittelt die typisch elegische Stimmung und verlangt neben der puren Technik, die Bottesini in vielen seiner eigenständigen Solostücke perfektionierte, eine ebenso große Virtuosität des Empfindens.

Quelle: Jeffrey L. Stokes [Deutsche Fassung: Cris Posslac], im Booklet

Track 11: Meditazione: Aria de Bach, double bass & piano

TRACKLIST


Giovanni BOTTESINI
(1821-1889)

Music for Double Bass and Piano - Vol. 2

Gran Duetto, no. 3, 2 double basses 
01. Andantino                                             [04:03]
02. Presto                                                [07:57]

Concerto, no. 02, double bass & piano 
03. Moderato                                              [05:23]
04. Andante                                               [04:41]
05. Finale: Allegro                                       [04:16]

06. Adagio melancolico ed appassionato, double bass       [06:35]

07. Duetto, clarinet & double bass                        [09:39]

08. Fantasia on Bellini's Beatrice di Tenda, double bass  [11:03]

09. Une Bouche aimée, soprano & double bass               [05:12]

10. Tutto che il mondo serra: Chopin terzetto 
    (after etude op. 25 no. 7), 
    soprano, double bass & piano                          [04:47]

11. Meditazione: Aria de Bach, double bass & piano        [05:09]

                                            Playing Time: [68:51]
                                            
Joel Quarrington, Double bass                                              
Andrew Burashko, Piano            [03]-[11]
Harold Hall Robinson, Double Bass [01]-[02]
James Campbell, Clarinet          [07]
Monica Whicher, Soprano           [09]-[10]


[01]-[02]       Recorded at Grace Church on-the-Hill, Toronto, Canada, on 16th Feb. 2004
[03]-[08], [11] at the Performing Arts Centre, The Country Day School, King City,
                Ontario, from 27th to 29th July 2005
[09]-[10]       at Glenn Gould Studio, CBC, Toronto, on 3rd July 2006
Producers: Norbert Kraft and Bonnie Silver - Engineer: Norbert Kraft - Editior: Bonnie Silver

Cover Image: The Raincloud by Antonio Fontanesi (1818-1882), Galleria d'Arte Moderna, Florence.
(P)+(C) 2008 


Jan Wagner: Regentonnenvariationen



giersch

nicht zu unterschätzen: der giersch
mit dem begehren schon im namen — darum
die blüten, die so schwebend weiß sind, keusch
wie ein tyrannentraum.

kehrt stets zurück wie eine alte schuld,
schickt seine kassiber
durchs dunkel unterm rasen, unterm feld,
bis irgendwo erneut ein weißes wider—

standsnest emporschießt. hinter der garage,
beim knirschenden kies, der kirsche: giersch
als schäumen, als gischt, der ohne ein geräusch

geschieht, bis hoch zum giebel kriecht, bis giersch
schier überall sprießt, im ganzen garten giersch
sich über giersch schiebt, ihn verschlingt mit nichts als giersch.



schlehen

was war so blau wie abende im herbst
oder schwarz wie die bibel? hing durch nebelschleier,
oktoberschauer, war so herbe, herbst,
daß alles sich zusammenzog? die schlehe.

wir zogen ihnen nach dem ersten frost
am waldrand entgegen: busch um busch barbaren‚
verschanzt hinter den dornen — und vereist
der boden, wo wir knieten‚ nach den beeren

zu tasten, ihrer zarten und damas—
tenen haut, um vorsichtig hineinzugreifen,
zu suchen wie der ungläubige thomas
im wundmal. zeit genug, um abzuschweifen,

an anderes zu denken — an osmose,
die nächste klassenarbeit, nylonstrümpfe,
an nina wriggers’ brüste und den kosmos,
der irgendwann in naher zukunft seine
grenze, jenen punkt der größtmöglichen
ausdehnung erreichen und zu schrumpfen

beginnen würde, himmel, länder, schule
und stadt, wir selber, bis die ganze welt
von nichts als einem zweiglein hinge: schlehe.
kein wunder, wie schwer die eimer waren, gefüllt

mit tiefster bläue. hinter uns die sträucher —
ein text, fast ganz befreit von den vokalen,
ein dickicht, ein paar wirre federstriche.
die reste überließen wir den vögeln.



versuch über mücken

als hätten sich alle buchstaben
auf einmal aus der zeitung gelöst
und stünden als schwarm in der luft;

stehen als schwarm in der luft,
bringen von all den schlechten nachrichten
keine, dürftige musen, dürre

pegasusse, summen sich selbst nur ins ohr;
geschaffen aus dem letzten faden
von rauch, wenn die kerze erlischt,

so leicht, daß sich kaum sagen läßt: sie sind,
erscheinen sie fast als schatten,
die man aus einer anderen welt

in die unsere wirft; sie tanzen,
dünner als mit bleistift gezeichnet
die glieder; winzige sphinxenleiber;

der stein von rosetta, ohne den stein.



melde
                                                für Volker Braun

von staub bedeckt, wie alle pilger,
am rhein entlanggewandert, an der moldau,
eben zurückgekehrt aus Spanien, aus bulgar-

ien, fernost: so rastet sie am rand
von äckern und von straßen, nickt nur milde,
wenn wir vorüberrasen‚ unerkannt,

unkenntlich, winkt uns nach mit ihren zähen blättern;
geht in der landschaft auf wie im gemälde
der firnis, blüht bescheiden, blüht in schmetter-

lingen, solidarisch mit dem schutt,
nicht dem erschütterer, liebt das malade,
das brüchige: ihr staat

ist überall; von pfützen, wo die winzigen klammern
der wasserläufer die wolken halten, der mulde
voll schlamm und unkraut; von jenseits des rostigen hammer-

krans ruft es, von brache, schrottplatz, müllde-
ponie, durchs flirren eines ganzen, langen sommers,
meldet beharrlich, ungehorsamst, die melde.


im brunnen

sechs, sieben meter freier fall
und ich war weiter weg
als je zuvor, ein kosmonaut
in seiner kapsel aus feldstein,
betrachtete aus der ferne
das kostbare, runde blau.

ich war das kind
im brunnen. nur die moose
kletterten am geflochtenen
strick ihrer selbst nach oben,
efeu stieg über efeuschultern
ins freie, entkam.

ab und zu der weiße blitz
eines vogels, ab und zu
der weiße vogel blitz. ich aß,
was langsamer war. der mond,
der sich über die öffnung schob,
ein forscherauge überm mikroskop.

gerade, als ich die wörter assel und stein
als assel und stein zu begreifen lernte,
drang lärm herab, ein hasten‚ schreie,
und vor mir begann ein seil.

ich kehrte zurück ins läuten der glocken,
zurück zu brotgeruch und busfahrplänen,
dem schatten unter bäumen,
gesprächen übers werter, kehrte
zurück zu taufen und tragödien,
den schlagzeilen, von denen
ich eine war.



kentaurenblues

wir haben helden vergiftet, prinzen gelehrt,
haben helden vergiftet, faß um faß geleert,
und doch war alles irgendwie verkehrt.

wo hört das roß auf, wo beginnt der reiter?
wer weiß schon, ob er roß ist oder reitet?
etwas hielt inne. etwas galoppierte weiter.

die mutter, eine wolke, die uns aufzog,
bis jene düsterere wolke aufzog‚
unter den fesseln durch die wiesen flog —

und wir, berauscht vom raub, mit dampfendem fell,
ein lärm in den wäldern. heute dampft kein fell,
klappert kein huf mehr, und die nacht ist grell.

wenn du am fluß stehst aber, suche im dunst
nach den vertrauten schemen. rechne mit uns.



versuch über silberdisteln

                                               für Reiner Kunze

es gibt die konstellationen
des südlichen und des nördlichen himmels,
und es gibt sie: die silberdisteln.

zu finden beim vieh, auf den weiden,
nicht in den glashäusern und parks.
ihr trick: so dicht am boden
noch schweben zu können,

in asterisken zu glimmen,
bevor die frühe nacht
als Schatten einer kuh auf sie fällt.

auch jener astrologe,
der im dunkel zu lesen versteht,
barfuß über die wiese geht,
wird an sie denken.


versuch über zäune

manchmal klaffte ein loch im draht,
als hätte sich ein satellit
zu nah an die erde gewagt, aus sehnsucht
nach gräsern, nach dem roten tulpenfunk,

oder eine weiße planke hing
so lose, daß man sie ziehen konnte,
durchs grinsen eines vagabunden
in aufgeräumte gärten stieg.

alles begann ja erst hinter ihnen,
das ahnten wir, wenn sie uns lautlos folgten,
durch wiesen, elektrisch vom grillensommer,
vorbei an koppeln, am wippenden korn;

auf ihren warmen rücken zu sitzen,
mit rittersporn am fuß und einem pulk
von brennesseln im gefolge, hier
ein wimpel gelber wolle, dort

am holz der prachtvolle doppelmond
eines ackergauls, und hin und wieder einer,
der unbezwingbar blieb — nur das gespenst
des löwenzahns zog mühelos hindurch.

wo die große straße abbog,
trennten wir uns. aus einigen wurden diebe,
aus anderen kirschbäume. oh, die amsel glühte,
wenn wir am abend in den betten lagen.



requiem für einen friseur

weil montags alles ruht, nun alles montag bleibt,
verhängt die spiegel. nehmt der schere ihren schneid.

wer ließe finger kneten, kreisen, bis die wolke
des shampoos aufzieht über uns, wer dirigierte sein gefolge

von fläschchen und den duft, die öle im regal
mit einer schmalen hand? wer wirft die große orgel

aus fönen an und läßt sie brausen‚ läßt sie schwellen?
nehmt von den farben schwarz, vermischt es mit den hellen.

weil jetzt kein umhang mehr so prachtvoll, langsam wie ein zelt
herabsinkt überm körper, und wer innehält

nicht länger weiß, was es zu finden gilt, wonach zu suchen,
nur daß die haare weiter wachsen, weiter wuchern.



versuch über seife

ein stück war immer in der nähe,
folgte seinen eigenen phasen,
wurde weniger wie fast alles,
stand dann wieder voll
und leuchtend weiß in seiner schale.

wog wie ein stein in der faust,
schäumte auf, wurde weicher:
man wusch sich von kain zu abel.

einmal vergessen, verwitterte sie
zum rissigen asteroidensplitter,
doch ruht jetzt feucht und glänzend
wie etwas, das vom grund des sees
heraufgetaucht wird, sekundenlang kostbar,

und alle sitzen wir am tisch:
mondloser abend, duftende hände.



Quelle: Jan Wagner: Regentonnenvariationen. Gedichte. Fischer Taschenbuch 03597, Frankfurt/Main, 2016. ISBN 978-3-596-03597-7


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