6. März 2017

Schubert: Arpeggione Sonate (Benjamin Britten, Mstislav Rostropovich, 1968)


Als Britten 1960 Mstislav Rostropovitsch kennenlernte, befand er sich auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn, nicht nur als Komponist, sondern auch als praktizierender Musiker. Kurz darauf ließ er sich, wie Prokofjev und Schostakovitsch vor ihm, von dem bedeutenden russischen Cellisten inspirieren. Rostropovitsch war sogar nach Peter Pears der bedeutendste Anreger für Brittens schöpferische Arbeit: Wir verdanken dieser Freundschaft immerhin die Cellosonate, das gewaltige Cellokonzert, drei Cellosuiten und mehrere - glücklicherweise auf Schallplatten erhaltene - erstklassige Interpretationen von Werken anderer Komponisten.

Durch seine musikalische Erziehung war Britten für die Zusammenarbeit mit Rostropovitsch bestens vorbereitet, nicht nur für die Kompositionen, die er für ihn schrieb, sondern auch für die Rolle als Klavierbegleiter, wie die vorliegenden Aufnahmen bezeugen.

Britten gilt vor allem als bedeutender Komponist von Vokalmusik, so daß man darüber oft vergißt, wie sehr er auch von Anfang an mit Streichinstrumenten vertraut war. Auch als Interpret konnte er sich auf diesem Gebiet durchaus behaupten. Als Junge versuchte er, seiner Schwester Beth Violinunterricht zu geben: sein zweites Instrument war jedoch eigentlich die Bratsche, die er mit der Begeisterung eines begabten Amateurs spielte. Seine Fähigkeit, Musik für Streicher zu schreiben und die Instrumente einfühlsam zu begleiten, erweist seine Kenntnis ihrer Eigenheiten.

In diesen Aufnahmen hören wir einige der besten Beispiele für eine kongeniale Klavierbegleitung, die je auf Schallplatten verewigt wurden. Solist und Begleiter sind in idealer Weise aufeinander abgestimmt: sie respektieren einander und überwinden die alte Rollenverteilung von führendem und untergeordnetem Instrument: Kammermusik wird hier als ein dramatisches Erlebnis verstanden, wie der Dialog zweier Schauspieler.

Britten bereichert seinen Part durch geradezu orchestrale Klangfarben: das Klavier erklingt bald im Hintergrund, bald im Vordergrund, bald als Element des Celloklangs selbst. Nuancierte Tonfärbungen und Notenlängen im Cellopart finden beim Pianisten ihre Entsprechung, und einige Akkorde scheinen von einem einzigen Instrument zu kommen. Viele Komponisten beklagten sich über die Schwierigkeit, eine Synthese von Streicher- und Klavierklang zu erzielen, aber Britten erreicht das Unmögliche.

Britten erbrachte seine besten Leistungen in einem kleinen Repertoire einiger ausgewählter Komponisten. Beethoven und Brahms lagen ihm offensichtlich weniger als Tschaikovskij und Grieg: er verehrte Mozart, aber er liebte Schubert vielleicht noch mehr. Er schlug die hier eingespielte Schubert-Sonate Rostropovitsch für eine Aufführung beim Aldeburgh Festival vor - ein ursprünglich für die Arpeggione (eine sechssaitige Streichgitarre mit Griffbrett) geschriebenes Stück, das auf dem Cello nur unter großen Schwierigkeiten zu spielen ist. Rostropovitsch erinnert sich:

Benjamin Britten und Mstislav Rostropovich
proben in Aldeburgh
»Ich hatte Schuberts Sonate vorher noch nie gespielt und lernte das Werk erst sehr spät, in Aldeburgh, wenige Tage vor dem Konzert. Bei den Proben stolperte ich über einige der schwierigeren Passagen. Britten entdeckt sie natürlich sofort ... Er unterlegte meiner Stimme einen so wundervoll wiegenden Klavierpart, daß ich ohne Panik alle Noten spielen konnte.«

"Ohne Panik" - das ist der Schlüssel zu dieser Interpretation, die Schuberts Musik in einem ganz neuen Licht vorstellt, sehr im Gegensatz zu Brittens düsterer Auslegung der Winterreise. Das Stück zeigt Schubert schließlich von einer anderen Seite: Die gemäßigten Tempi legen eine lyrisch-verinnerlichte Interpretation nahe, weit entfernt von der tiefen Tragik des Müllerschen Liederzyklus: den Ausführenden bleibt Zeit für die Erkundung immer neuer Details und Nuancen in dieser freundlichen musikalischen Landschaft. Durch raschere Tempi könnte man dem Werk eine selbstzufriedene Gemütlichkeit verleihen, aber Rostropovitsch und Britten vermeiden diese Gefahr - sie schaffen stattdessen eine Stimmung abgeklärter, weiser Ergebung in die Freuden und Leiden des Lebens, fern aller Biedermeierlichkeit.

Man hat oft behauptet, daß sich in Schumanns späten Werken ein Nachlassen der künstlerischen Phantasie bemerkbar mache. Britten verwarf diese These und widersetzte sich überhaupt allen Versuchen, den Stellenwert eines Komponisten (sich selbst eingeschlossen) in der Musikgeschichte zu bestimmen. Er setzte sich beispielsweise für Schumanns vielgeschmähtes Violinkonzert ein und spielte erstmals die Szenen aus Goethes Faust ein, die seinen Glauben an die späten Früchte von Schumanns Genie vollkommen bestätigten. Die Interpretation der Fünf Stücke im Volkston beweist Brittens tiefes Verständnis des Schumannschen Spätstils. In den Händen anderer Musiker könnte diese Musik ungelenk und unzusammenhängend klingen, aber Britten und Rostropovitsch geben ihr eine überzeugende ländliche Schlichtheit und Kraft, und die Phrasierung zeigt sowohl den köstlichen Humor als auch das ausgeglichene Zusammenspiel der beiden Meister. Es ist eine einleuchtende Realisierung einer ausgesprochen problematischen Komposition, deren Geheimnisse sich nur wenigen Kennern erschließen.

Britten beschrieb Debussys Welt einmal als geprägt von "Fröhlichkeit, Empfindsamkeit, Geheimnis und Ironie", und all diese Eigenschaften gab er seiner Interpretation der Sonate. Viele meist betont klar artikulierten Passagen wirbeln in verwirrenden Klangwellen vorüber und erinnern an die mysteriendurchwebte Landschaft von Pelléas et Mélisande: andere, gewöhnlich vom Pedal weichgezeichnet, erklingen in schlichter Transparenz. Die Interpretation wirkt im ganzen großformatiger, vielleicht, weil hier ein bedeutender Opernkomponist die Musik eines nicht minder begabten Musikdramatikers spielt. Die Aufnahme ist voller Überraschungen, alles andere als konventionell und heute noch so aufregend wie vor 30 Jahren, als diese beiden genialen Interpreten sie einspielten.

Quelle: Graham Johnson, im Booklet (Übersetzt von Gerd Uekermann)

Rostropovich und Britten, 1965

TRACKLIST

FRANZ SCHUBERT 1797-1828     

Sonata for arpeggione and piano, D821     
[01] I   Allegro moderato              13.34   
[02] II  Adagio                         4.36   
[03] III Allegretto                    10.32   

ROBERT SCHUMANN 1810-1856     

Fünf Stücke im Volkston, Op.l02     
[04] I   Mit Humor                      3.30   
[05] II  Langsam                        3.32   
[06] III Nicht schnell                  5.39   
[07] IV  Nicht zu rasch                 2.32   
[08] V   Stark und markiert             3.05

CLAUDE DEBUSSY 1862-1918     

Sonata for cello and piano     
[09] I   Prologue                       5.06   
[10] II  Serenade                       3.29   
[11] III Finale                         3.52   

ADD                      Total timing: 59.36

MSTISLAV ROSTROPOVICH cello     
BENJAMIN BRITTEN piano     
    
Recording locations: The Kingsway Hall, London, July 1961 [4]-[11];
The Maltings, Snape, July 1968 [1]-[3] 
Producers: John Mordler [1]-[3]; Andrew Raeburn [4]-[11] 
Recording engineers: Gordon Parry [1]-[3]; Alan Reeve [4]-[11] 
Remastering: Andrew Wedman 

(c) 1999 

Das allgemeine Dreieck



Von Bernhard Tergan [1]

Summary: The concept of the general triangle is introduced, the general triangle and its most important properties are described. This concept is a valuable aid for the teaching of geometry.

Nach dem LAUMEschen Spezialisierungsprinzip [2] neigt der Lernende dazu. abstrakte Gesetzmäßigkeiten an konkreten Beispielen festzumachen und im Bedarfsfalle anhand der Beispiele zu rekonstruieren. Kühnhackl und Schloder [3] weisen darauf hin, daß der Lernerfolg, nämlich die Sicherheit, mit der die allgemeine Regel reproduziert wird, wesentlich von der Art des kognifizierten Beispiels abhängt. Untersuchungen an Primarstufenlehrern haben gezeigt, daß eine formale Gesetzmäßigkeit oft besser behalten wird als die ihr zugrundeliegenden Voraussetzungen: Der Satz von Pythagoras [4] und der von der Winkelsumme im Dreieck [5] werden leichter wiedergegeben als die Tatsache, daß ersterer nur für rechtwinklige, letzterer hingegen für alle Dreiecke gilt.

In dieser Sicht scheint uns eine Untersuchung guter Beispiele dringend erforderlich, und dieser Aufsatz soll ein erster Schritt dazu sein. Er behandelt eine Situation, in der gute Beispiele besonders schwer zu finden und dabei gleichwohl außerordentlich wichtig sind, nämlich die Dreieckslehre in der elementaren Geometrie (vergl. auch das obige Beispiel!). Jeder, der einmal Elementargeometrie gelehrt hat, weiß um folgende Schwierigkeit: Man möchte einen Sachverhalt an einem spitzwinkligen Dreieck demonstrieren, zeichnet ein solches an die Tafel und stellt fest, daß man entweder ein rechtwinkliges oder ein gleichschenkliges Dreieck gezeichnet hat. Eben das hat man vermeiden wollen, damit nicht die Lernenden eine im Sinne des Laumeschen Prinzips zu enge Spezialisierung treffen.


Der Frage, ob es überhaupt möglich ist, ein Dreieck anzuzeichnen, welches weder rechtwinklig noch gleichschenklig ist, scheint bisher nicht nachgegangen worden zu sein, wohl weil diese Frage dem Mathematiker lächerlich erscheint: Natürlich ist es leicht, ein solches Dreieck anzugeben. Die Praxis des Unterrichts zeigt aber, daß diese Antwort wirklichkeitsfremd ist:

Ein Dreieck mit den Winkeln 89°, 45°, 46° ist für den Unterricht nicht besser als ein gleichschenklig-rechtwinkliges. Es kommt für das Spezialisierungsprinzip nicht darauf an, ob das an die Tafel gezeichnete Dreieck wirklich rechtwinklig oder gleichschenklig ist, wesentlich ist, ob es vom Lernenden als rechtwinklig bzw. gleichschenklig empfunden wird. Darin liegt der oft übersehene Schlüssel zum guten Beispiel; wir wollen daher ein spitzwinkliges Dreieck im folgenden ein allgemeines Dreieck nennen, wenn es von einem befriedigend großen Anteil der Lernenden weder für rechtwinklig noch für gleichschenklig gehalten wird.

Zunächst gilt es also zu bestimmen, wann zwei Winkel in der Empfindung des Lernenden identifiziert werden. Dankenswerterweise hat Herr OStDir. Dr. Schrulle vom Chlodwig-Poth-Gymnasium in Bramme diesen Vorschlag aufgegriffen (seine Ergebnisse liegen in Kürze zur Veröffentlichung vor); einer seiner Studienreferendare hat in einem Feldversuch mit den Schülern der Klasse 11d des genannten Gymnasiums die Unterscheidungsfähigkeit von Schülern bezüglich ebener Winkel untersucht.

Dazu wurden den Schülern Winkelpaare vorgelegt, von denen sie spontan entscheiden sollten, ob es sich um gleiche oder verschiedene Winkel handelt. Die Ergebnisse sind in nachfolgender Tabelle dargestellt.


Zeichnet man diese Zahlen in einer Graphik auf (s. Treppenkurve), so erkennt man, daß die Werte normalverteilt liegen, und man kann die Standardabweichung [6] berechnen: Es ergibt sich dafür


Eine Faustregel der Statistik besagt nun, daß weniger als 1% der Fälle um 2,6 Sigma oder mehr vom Mittelwert abweichen. Wir dürfen also davon ausgehen, daß wenigstens 99% aller Schüler (und das halten wir sehr wohl für einen befriedigend hohen Anteil!) zwei Winkel als verschieden erkennen, wenn diese sich um 15° oder mehr unterscheiden. Die Zahl 99% mag willkürlich gegriffen erscheinen, wir werden aber später sehen, daß aus ganz anderen Gründen ein höheres Signifikanzniveau nicht erreicht werden kann.


Wir wissen nun also genauer, wie wir das allgemeine Dreieck zu definieren haben: Ein spitzwinkliges Dreieck ist allgemein, wenn sich jeder seiner Winkel um wenigstens 15° vom rechten Winkel unterscheidet und sich je zwei seiner Winkel voneinander ebenfalls um mindestens 15° unterscheiden.

An dieser Stelle erlebte der Autor eine (und er kann nicht verhehlen: freudige) Überraschung. Betrachten wir nämlich die möglichen Formen des allgemeinen Dreiecks genauer, so ergibt sich folgendes:


Fürwahr ein ästhetisch befriedigendes und zugleich angenehmes Ergebnis: Es ist nunmehr klar, was man zu tun hat, wenn man ein allgemeines Dreieck an die Tafel zeichnen will. Hinzu kommt, daß das allgemeine Dreieck eine Reihe von besonders erfreulichen Eigenschaften hat (der Leser möge selbst versuchen, solche herauszufinden). Eine davon ist, daß die Höhe auf der längsten Seite das allgemeine Dreieck in ein rechtwinklig-gleichschenkliges Dreieck und ein Dreieck mit den angenehmen Winkeln 30°, 60° und 90° zerlegt. Wir werden dies unten noch benutzen.


Der Leser wird nun zu recht fragen, wie er eigentlich das allgemeine Dreieck an die Tafel zeichnen soll. Natürlich ist ja auch das allgemeine Dreieck auf seine Art speziell, und der Schüler darf, im Sinne des Laumeschen Prinzips, das allgemeine Dreieck auf keinen Fall als ein spezielles Dreieck identifizieren. Eine Konstruktion des allgemeinen Dreiecks, etwa mit dem Winkelmesser, muß daher unbedingt vermieden werden, es würde den beabsichtigten Effekt ja ins Gegenteil verkehren. Als Faustregel kann formuliert werden:

FAUSTREGEL: Das allgemeine Dreieck ist nur solange allgemein, wie es unauffällig gezeichnet wird.

Die Herren Kollega vom Studienseminar IV in Bramme waren so freundlich, die Verwendung des allgemeinen Dreiecks im Unterricht zu erproben. Von ihren demnächst erscheinenden Ergebnissen sei soviel vorweggenommen:

1) Ein Freihandzeichnen des allgemeinen Dreiecks ist auch bei guter Übung riskant; nur wenige Kollegen brachten es soweit, daß sie das allgemeine Dreieck auf Anhieb richtig zeichnen konnten.

2) Zu guten Ergebnissen führt das unauffällige Markieren der Eckpunkte an der Tafel. Bei Holztafeln genügt das Einschlagen und wieder Entfernen eines dünnen Nagels, bei Glastafeln kann der gleiche Effekt mit einer guten Bohrmaschine erzielt werden (wegen der Glasbruchgefahr sollte man dies vom Hausmeister vornehmen lassen). Diese Methode hat mehrere Nachteile: Erstens ist sie mit einem gewissen Arbeitsaufwand verbunden, und zweitens wurden in einigen Fällen die Markierungen von den Schülern bemerkt und durch das Anbringen weiterer Markierungspunkte konterkariert.

Es wurde bereits die Anregung gemacht, Schultafeln in Zukunft schon bei der Produktion mit einer unauffälligen Kennzeichnung des allgemeinen Dreiecks zu versehen.

3) In den meisten Fällen sind solche Vorbereitungen aber überflüssig, nämlich dann, wenn eine Tafel mit Karomuster zur Verfügung steht. In diesem Falle ist es sehr einfach, eine ausreichend gute Näherung des allgemeinen Dreiecks anzuzeichnen. Wir machen uns dabei die Tatsache zunutze, daß 42 + 72 = 65, also annähernd gleich 82 ist. Damit erkennt man leicht, daß man auf folgende Weise eine gute Annäherung an das allgemeine Dreieck erhalten kann:


Man zeichne die Grundseite 11 Einheiten lang, errichte dann die Höhe über der Grundseite so, daß sie die Grundseite 4 : 7 teilt. Die Höhe wird 7 Einheiten lang gezeichnet, das Dreieck hat also die Eckpunkte (0,0), (11,0) und (4,7). Man sieht sofort (und verifiziert rechnerisch), daß dieses Dreieck nahezu exakt das allgemeine Dreieck darstellt. Versuche haben ergeben, daß man ohne viel Übung schnell in der Lage ist, das allgemeine Dreieck von den Schülern unbemerkt nach diesen Angaben zu zeichnen. Diese Näherung des allgemeinen Dreiecks hat den weiteren Vorteil, daß auch die anderen Seiten nahezu ganzzahlige Länge haben: Man erhält neben 11 die Werte 10 und 8 Einheiten. Der Flächeninhalt mit ca. 38,5 Quadrateinheiten hingegen wirkt auf die Schüler glaubwürdig allgemein. Der Autor ist der Ansicht, daß das allgemeine Dreieck in das Repertoire jedes Geometers gehört. Er ist für Erfahrungsberichte aus der Anwendungspraxis, aber auch für den Hinweis auf weitere Eigenschaften dieses mathematischen Objekts denkbar.

Quelle: Friedrich Wille: Humor in der Mathematik. Eine unnötige Untersuchung lehrreichen Unfugs, mit scharfsinnigen Bemerkungen, durchlaufender Seitennumerierung und freundlichen Grüßen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1983. ISBN 3-525-40726-2. Seiten 94-99


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