In den 25 Jahren seit seinem Tod hat der Ruf Dmitri Schostakowitschs als musikalischer Chronist der sowjetischen Ära derartige Kontroversen ausgelöst, dass fast jedes Werk auf seine tiefere oder versteckte Bedeutung untersucht worden ist. Wenn die 24 Präludien und Fugen in dieser Hinsicht eine Ausnahme darstellen, so ist dies jedoch kein Zufall: sie entstanden zu einem Zeitpunkt, als abstrakte Komposition in der Sowjetunion nicht nur unerwünscht, sondern auch gefährlich war.
Ironischerweise fiel das effektive Verbot seiner Musik in eine Zeit ausgedehnter Reisetätigkeit, u.a. im Juli 1950 nach Leipzig anlässlich der Feierlichkeiten zur 200. Wiederkehr von Johann Sebastian Bachs Todesjahr. Als Schostakowitsch dort kurzfristig einen Solopart in Bachs Konzert d-moll für drei Klaviere übernahm, beeindruckte die junge Pianistin Tatjana Nikolajewa ihn derart, dass sie der eigentliche Auslöser für seinen Zyklus der 24 Präludien und Fugen Op. 87 wurde, die zwischen dem 10. Oktober 1950 und dem 25. Februar 1951 entstanden.
Bereits 17 Jahre zuvor hatte Schostakowitsch sein Interesse an abstrakter Komposition signalisiert, und zwar mit den 24 Präludien, kurzen aber abwechslungsreichen Stücken, die sich fast wie von selbst zu einem Zyklus reihen. Die 24 Präludien und Fugen sind dagegen vielmehr das Ergebnis eines vorgezeichneten Plans: interessanterweise nicht wie bei Bachs Wohltemperiertem Klavier in der Folge von Halbtonschritten, sondern in Quintenzirkelfolge wie bei Chopins 24 Préludes. Ob sich aus dieser Wahl ein musikalischer Stammbaum ableiten lässt, bleibe dahingestellt; vielmehr gab der Zyklus dem Komponisten unschätzbare Möglichkeiten, seine Kreativität ungeachtet sozialer oder politischer Strömungen unter Beweis zu stellen.
Schostakowitsch ging selbst so weit, den Zyklus beim Komponistenverband einzureichen und ihn im Mai 1951 einem Gremium vorzuspielen. Dennoch wurde das Werk nicht gerade mit Wohlwollen aufgenommen. Doch immerhin durfte er während der folgenden 18 Monate Teile daraus öffentlich aufführen, wenn auch meist nur für ein »geladenes« Publikum aus Parteifunktionären und Mitgliedern der Streitkräfte. Im Sommer 1952 setzte sich Tatjana Nikolajewa mit Erfolg für eine öffentliche »Absegnung« und Veröffentlichung ein. Am 23. und 28. Dezember gab sie die Uraufführung des vollständigen Zyklus. Trotz ihrer Überzeugung, dass das Werk nur in seiner Gesamtheit beurteilt werden könne, wurden während der folgenden drei Jahrzehnte Teilaufführungen zur Norm. Swjatoslaw Richters Aufnahme ausgewählter Stücke von 1963 wurde davon am berühmtesten. Der Komponist selbst nahm nur 16 Stücke des Zyklus auf. Seit Mitte der achtziger Jahre jedoch spielen viele Pianisten - nach Nikolajewas Beispiel - wieder den vollständigen Zyklus, gewöhnlich an zwei Abenden, wo sich die Dimensionen des Werks am eindrucksvollsten offenbaren.
Die 24 Präludien und Fugen sind paarweise nach Tonartenfolge angeordnet.
Nr. 1, C-Dur: Das Präludium ist ein nachdenklicher Choral im Sarabandenrhythmus, gefolgt von einer Fuge, die mit Bachscher Gewissheit innerhalb der Tonart verharrt.
Nr. 2, A-Moll: Das in raschen Sechzehnteln dahineilende Präludium geht einer leicht ironisierenden, frei modulierenden Fuge voraus.
Nr. 3, G-Dur: Ein ernstes Präludium, mit einem sanglichen Thema in Oktaven, bildet den Kontrast zum spielerischen Humor der Fuge.
Nr. 4, E-Moll: Das zarte Präludium verströmt eine an Tschaikowsky erinnernde Melancholie, während die Fuge auf einen kraftvollen Höhepunkt zusteuert.
Nr. 5, D-Dur: Leichte, arpeggierte Akkorde verleihen dem Präludium einen besonderen Reiz. Tonrepetitionen charakterisieren die Fuge.
Nr. 6, H-Moll: Die kernige Rhetorik des Präludiums wirkt gleich einer Folie für die besonnene Ruhe der Fuge.
Nr. 7, A-Dur: Ein elegant-klassisches Präludium geht einer zweistimmigen Fuge im Diskantregister des Klaviers voraus.
Nr. 8, Fis-Moll; Die gegenrhythmischen Figuren des Präludiums bilden den Kontrast zur seriösen Kontrapunktik der Fuge.
Nr. 9, E-Dur: Das neckische Frage-und Antwort-Spiel zwischen Bass und Diskant geht einer lebendigen, nahezu klassischen Fuge voraus.
Nr. 10, Cis-Moll: Das Präludium stellt wiederum einen Dialog zwischen linker und rechter Hand dar, diesmal in klassischer Eleganz. Die Fuge wirkt nachdenklich und zurückhaltend.
Nr. 11, H-dur: Ein herrlich spielerisches Präludium leitet fast ohne Pause in eine vorwärtstreibende Fuge über.
Nr. 12, Gis-Moll: Der ernste Gestus der Passacaglia des Präludiums geht einer eindrucksvollen Fuge voller emotionaler Tiefe und geballter Energie voraus. Hier ist deutlich erkennbar, dass der Mittelpunkt des Zyklus erreicht ist.
CD 1 Track 23: Präludium Nr. 12 in Gis-Moll
CD 1 Track 24: Fuge Nr. 12 in Gis-Moll
Nr. 13, Fis-Dur: Ein sanft wogendes Präludium geht einer gemessenen, nachdenklichen Fuge - der einzigen fünfstimmigen des Zyklus - voraus.
Nr. 14, Es-Moll: Die aufgeladene Atmosphäre und Sprunghaftigkeit des Präludiums sowie die zurückhaltende Reflektivität der Fuge haben die Wirkung einer dramatischen scena mit Postludium.
Nr. 15, Des-Dur: Die spöttische Ironie dcs Präludiums ist die ideale Einleitung zum frenetischen Ablauf der Fuge, wobei die instabile Tonalität optimal ausgenutzt wird.
Nr. 16, B-moll: Ein völliger Kontrast: das Präludium präsentiert sich als ein ruhiger, tonal statischer Variationensatz: die Fuge hingegen ist von ornamenthafter Textur und rhythmischer Souplesse.
Nr. 17, As-dur: Das erfrischende Präludium leitet ganz natürlich in eine keck-imaginative Fuge über.
Nr. 18, F-Moll: Ein scheu anmutendes Präludium geht einer gleichsam schweigsamen Fuge voraus.
Nr. 19, Es-Dur: Das Präludium, eines der kürzesten des Zyklus, lebt vom Kontrast zwischen Choral und Capriccio, während die Chromatik der Fuge eine absichtsvol1e Ruhe verströmt.
Nr. 20, C-Moll: Ein bizarres, an Mussorgsky gemahnendes Präludium, reich an modaler Akkordik, bildet die thematische Grundlage für die sich harmonisch und emotional langsam öffnende Fuge.
Nr. 21, B-Dur: Das Präludium ist ein rhythmisches moto perpetuo, während die Fuge mit synkopierten Tanzrhythmen aufwartet.
Nr. 22, G-Moll: Das Präludium kombiniert kreisende melodische Muster mit einer schreitenden Begleitung: Volksmusikelemente bestimmen die thematische Substanz der Fuge.
Nr. 23, F-Dur: Dem Präludium eignet eine an Bach erinnernde ruhige Ausgewogenheit, während die gedankentiefe Fuge einen bejahenden Schlusspunkt setzt.
Nr. 24, D-Moll: Hier wird die Summe des Zyklus gezogen: das Präludium, abwechselnd ernst und intim, bereitet die Fuge vor, die vom Temperament her so vielgestaltig ist wie der Form nach. Der triumphale Höhepunkt ist umso überzeugender, als er mit Mühe errungen wird.
CD 2 Track 23: Präludium Nr. 24 in D-Moll
CD 2 Track 24: Fuge Nr. 24 in D-Moll
Quelle : Richard Whitehouse (Deutsche Fassung: Bernd Delfs), im Booklet
TRACKLIST
Dmitri Schostakowitsch
(Dmitry Shostakovich)
24 Preludes and Fugues, Op. 87Konstantin Scherbakov, piano
CD 1 64:01
01. Prelude No. 1 in C major: Moderato
02. Fugue No. 1 in C major: Moderato
03. Prelude No. 2 in A minor: Allegro
04. Fugue No. 2 in A minor: Allegretto
05. Prelude No. 3 in G major: Moderato non troppo
06. Fugue No. 3 in G major: Allegro molto
07. Prelude No. 4 in E minor: Andante
08. Fugue No. 4 in E minor: Adagio
09. Prelude No. 5 in D major: Allegretto
10. Fugue No. 5 in D major: Allegretto
11. Prelude No. 6 in B minor: Allegretto
12. Fugue No. 6 in B minor: Moderato
13. Prelude No. 7 in A major: Allegro poco moderato
14. Fugue No. 7 in A major: Allegretto
15. Prelude No. 8 in F sharp minor: Allegretto
16. Fugue No. 8 in F sharp minor: Andante
17. Prelude No. 9 in E major: Moderato non troppo
18. Fugue No. 9 in E major: Allegro
19. Prelude No. 10 in C sharp minor: Allegro
20. Fugue No. 10 in C sharp minor: Moderato
21. Prelude No. 11 in B major: Allegro
22. Fugue No. 11 in B major: Allegro
23. Prelude No. 12 in G sharp minor: Andante24. Fugue No. 12 in G sharp minor: Allegro
CD 2 77:49
01. Prelude No. 13 in F sharp major: Moderato con moto
02. Fugue No. 13 in F sharp major: Adagio
03. Prelude No. 14 in E flat minor: Adagio
04. Fugue No. 14 in E flat minor: Allegro non troppo
05. Prelude No. 15 in D flat major: Moderato non troppo
06. Fugue No. 15 in D flat major: Allegretto
07. Prelude No. 16 in B flat minor: Allegro molto
08. Fugue No. 16 in B flat minor: Andante
09. Prelude No. 17 in A flat major: Allegretto
10. Fugue No. 17 in A flat major: Allegretto
11. Prelude No. 18 in F minor: Moderato
12. Fugue No. 18 in F minor: Moderato con moto
13. Prelude No. 19 in E flat major: Allegretto
14. Fugue No. 19 in E flat major: Moderato con moto
15. Prelude No. 20 in C minor: Adagio
16. Fugue No. 20 in C minor: Moderato
17. Prelude No. 21 in B flat major: Allegro
18. Fugue No. 21 in B flat major: Allegro non troppo
19. Prelude No. 22 in G minor: Moderato non troppo
20. Fugue No. 22 in G minor: Moderato
21. Prelude No. 23 in F major: Adagio
22. Fugue No. 23 in F major: Moderato con moto
23. Prelude No. 24 in D minor: Andante24. Fugue No. 24 in D minor: Moderato
Playing Time: 141:50
This recording is dedicated to Nina, whose love, patience and everyday support
made possible this, and other works of mine. - Konstantin Scherbakov
Recorded in St.Martin's Church, East Woodhay, Berkshire, UK
from 15th to 18th June, 1999
Producer: Andrew Walton - Engineer: Eleanor Thomason
Post-production: Arthur Ka Wai Jenkins, Andrew Walton
Cover Painting: Tim Smith: Once Upon a Red Sky
DDD (P) + (C) 2000
Gustave Flaubert: Das Wörterbuch der Gemeinplätze
Ideal. Völlig unnütz. Ideologen. Alle Journalisten.
Ilias. Immer gefolgt von »und Odyssee«.
Illusionen. Man gebärde sich, als habe man viele gehabt; man bedauere, sie verloren zu haben.
Imbroglio. Die Grundlage aller Theaterstücke.
Imperialisten. Durch die Bank ehrliche, friedliche, höfliche, vornehme Leute.
Impfen. Man verkehre nur mit geimpften Personen. Import. Volkswirtschaftsschädling.
Impresario. Künstlerwort, das »Direktor« bedeutet. Immer »wendig«.
Industrie. Als Laufbahn nobler denn Handel (vgl. Handel).
Industrie, Handel. Gute Laufbahn. Bietet alle Möglichkeiten. - Z. B. Aristoteles: Er war Parfümhändler in Athen.
Infinitesimal. Man weiß nicht, was das ist; es hat aber irgendwas mit Homöopathie zu tun.
Ingenieur. Der schönste Titel, das muß der Neid lassen; aber es genügt ja auch schon, Brillen zu verkaufen, um sich »staatlich geprüfter Optiker« zu nennen. - Die beste Laufbahn für einen jungen Mann - was man von allen Berufen sagen kann. Kennt alle Wissenschaften. - »Dem Ingenieur ist nichts zu schwör.«
Inkognito. Reisekleidung von Fürsten.
Inquisition. Man hat ihre Verbrechen stark übertrieben.
Inspiration. Was sie hervorruft: die Natur, die Frauen, der Wein etc.
Instinkt. Wiegt Intelligenz auf.
Institut (de France). Die Mitglieder des Institut de France sind alle Greise und tragen Augenschirme aus grünem Taft. - Man witzele darüber.
Integrität. Ist vor allem den Richtern eigen.
Intrige. Einzige Möglichkeit hochzukommen. Alles weitere ergibt sich daraus.
Italien. Ziel aller Hochzeitsreisen. - Italiam! Italiam! Ziemlich enttäuschend: nicht so schön, wie man immer sagt. - In Anwesenheit von Damen sage man nie: »Sie zogen gen Italien.«
Italiener. Alles Musikanten, alles Verräter.
Ius primae noctis. Nicht daran glauben.
Jäger. Alle Jäger sind Aufschneider. - Wenn man sie »Nimrod« nennt, sind sie immer geschmeichelt, ohne zu wissen, warum; desgleichen »großer Jäger vor dem Herrn«. - Das ganze Brimborium. »Morgenstund ... « - Das Schuhwerk ist besonders schwer und unbequem, da man ja viel gehen muß. - Gebärdet sich bäuerisch.
Jagd. Edles Waidwerk. Ausgezeichnet für die Gesundheit. - Man muß immer so tun, als sei man davon begeistert. - Ist Teil der Prachtentfaltung der Souveräne. - Hält die Gerichte in Atem.
Jagdhorn. Wirkt gut in den Wäldern (und abends auf dem Wasser). - »Trara, es tönt wie Jagdgesang.«
Jansenismus. Man weiß nicht, was das ist, aber es ist sehr chic, davon zu sprechen.
Japan. Dort ist alles aus Porzellan.
Jaspis. Alle Vasen aller Museen sind aus Jaspis.
Jesuiten. Söhne von Loyola. Haben bei allen Revolutionen die Hände im Spiel. Man ahnt ja nicht, wie viele es von ihnen gibt. - Kein Wort über die »Jesuitenschlacht«.
Jockey. Man bedaure die Gattung der Jockeys. Jockey-Club. Die Mitglieder sind alles leichtlebige, reiche junge Leute. Einfach »der Jockey« sagen, sehr chic, läßt denken, man gehöre dazu.
John Bull. Fällt einem der Name eines Engländers nicht ein, nenne man ihn so.
Jude. Sohn Israels. - Alle Juden handeln mit Opernguckern. - Dienten den Römern zur Zerstreuung.
Jugend. Schön ist die. - Kehrt nie zurück. - Schnell fertig mit dem Wort.
Junger Mann. Muß sich immer die Hörner abstoßen. Man wundere sich, wenn er es nicht tut. »Was! Sie als junger Mann ... « - Zu seinen Pflichten gehört: singen, tanzen, Schulden haben, allerdings nicht zu große.
Jungfrau. Immer »von Orleans«.
Junggesellen. Alles Egoisten und Wüstlinge, gehen mit ihren Dienstmädchen ins Bett. Man wettere dagegen. - Müßten eine Extrasteuer zahlen. - »Was für ein trauriges Leben die mal haben werden!«
Junggesellenbude. Immer schmutzig, verstaubt, unordentlich. Obszöne Bilder an den Wänden. Überall liegt Frauenkram herum. Abgestandener Zigarettenrauch. Und das Bett immer ungemacht. - Da käme allerhand zum Vorschein.
Kälte. Gesünder als Hitze.
Käse. Man zitiere den Aphorismus von Brillat-Savarin: »Ein Essen ohne Käse ist wie eine schöne Frau, der ein Auge fehlt.«
Kaffee. Nur gut, wenn er aus Le Havre kommt. - Verleiht Esprit. - Bei einem großen Diner im Stehen zu trinken. - Man trinke ihn ohne Zucker; sehr chic, erweckt den Eindruck, man habe im Orient gelebt.
Kahlköpfigkeit. Immer zu früh, verursacht durch jugendliche Ausschweifungen oder durch das Wälzen großer Gedanken.
Kaiserinnen. Alle schön.
Kaleidoskop. Man verwende das Wort nur im Zusammenhang mit Gemäldegalerien.
Kamel. Hat zwei Höcker und das Dromedar nur einen, oder: Das Kamel hat einen Höcker und das Dromedar zwei. Man vertut sich da leicht. - »Ausdauernd wie ein Kamel.«
Kamin. Qualmt immer. - Diskussionsgegenstand im Zusammenhang mit dem Heizen.
Kamm. Verursacht Haarausfall.
Kammerzofen. Oft hübscher als ihre Herrinnen. Kennen deren Geheimnisse und verraten sie. - Immer vom Sohn des Hauses entehrt.
Kaninchenfrikassee. Immer aus Katzenfleisch. Kanonade. Verändert das Wetter.- Man lege das Ohr auf die Erde, um eine weit entfernte zu hören.
Kanonenkugel. Der Luftzug einer vorbeifliegenden Kanonenkugel verschlägt einem den Atem. Macht blind.
Kartäuser. Verbringen ihre Zeit damit, Chartreuse herzustellen, ihr Grab zu schaufeln und zu sagen: »Bruder, es muß gestorben sein.«
Kastanie. Mutter der Kastagnette.
Kastell. Ist immer unter Philippe-Auguste belagert worden.
Katholizismus. Hat auf die Künste einen sehr günstigen Einfluß gehabt. - Man beweise das Gegenteil.
Katzen. Sind falsch. - Sie »Salontiger« nennen (chic). - Ihnen den Schwanz abschneiden, um die Drehkrankheit zu vermeiden. - Daher das Wort »katztrieren«.
Kauderwelsch. Sprechweise der Ausländer. - Man lache immer über den Ausländer, der schlecht Französisch spricht. - Mit Ausländern spreche man immer Kauderwelsch, egal aus welchem Land sie kommen; etwas anderes verstehen sie nicht. - Wird auch für Telegramme verwendet.
Kerker. Das Stroh darin ist immer feucht. - Immer »schaurig«. Ein heimeliger ist einem noch nie untergekommen.
Kiesel. Vom Strand immer welche mitbringen.
Kinder. Man schütze geradezu lyrische Zärtlichkeit für sie vor - wenn jemand dabei ist.
Kindsmord. Wird nur im einfachen Volk begangen.
Kiosk. Pavillon der Lustbarkeiten in einem Park.
Klarinette. Man wird arm und blind, wenn man sie spielt. Beweis: Alle blinden Bettler spielen Klarinette.
Klassiker. Sollte man kennen.
Klavier. Unerläßlich in einem Salon.
Knoblauch. Tötet Bauchwürmer ab und schafft Stimmung für Liebesgefechte. - Als Heinrich IV. zur Welt kam, rieb man ihm damit die Lippen ein.
Knoten, gordischer. Antike Form, die Krawatte zu binden.
Knüppel. Furchtbarer als das Schwert.
Knute. Wort, das die Russen ärgert.
Körper. Wenn wir wüßten, wie unser Körper gebaut ist, würden wir keine Bewegung wagen.
Körpersäfte. Sich freuen, wenn sie austreten, und sich wundern, daß der Körper derartige Mengen davon enthält.
Kollegium, Lyzeum. Feiner als »Internat«.
Kolonien (unsere). Betrübt dreinblicken, wenn davon die Rede ist.
Kometen. Man lache über die Leute, die sich davor fürchteten.
Komfort. Kostbare moderne Entdeckung.
Komisch. Bei jeder Gelegenheit verwenden. - »Nein, wie komisch!«
Kommunion. Die Erste Kommunion: der schönste Tag des Lebens.
Komödiant. Immer »Schmieren-« davorsetzen.
Komödie. Castigat ridendo mores. - Verskomödie: nicht mehr zeitgemäß. - Indessen muß man die große Komödie gelten lassen.
Kompilation. Kann jeder zusammenschustern.
Konditor. Alle Bewohner von Rouen sind Konditoren.
Konkurrenz. Belebt das Geschäft.
Konservativer. Politiker mit dickem Bauch. - »Sie Stockkonservativer!« - »Ja, mein Herr; der Stock hält mir die Kläffer vom Leibe.«
Kontra-Alt. Da klingelt gar nichts.
Kontur. Von jeder Statue, die man betrachtet, sagen: »Es fehlt ihr nicht an harmonischer Kontur.«
Konversation. Politik und Religion sind auszuklammern.
Konzert. Gesellschaftsfähiger Zeitvertreib.
Konzertreihe. Ein Konzertabonnement ist unerläßlich.
Konzession. Nie welche machen; sie haben Ludwig XVI. den Kopf gekostet.
Kopaivabalsam. So tun, als ob einen das nicht jucken könnte.
Kopfkissen. Man gebrauche nie eines, macht bucklig.
Kopulation/Koitus. Man vermeide diese Wörter. Man sage: »Sie hatten eine intime Beziehung ... «
Koran. Buch von Mohammed, in dem es nur um Frauen geht.
Korsett. Da kriegt man keine Kinder.
Kosaken. Fressen Kerzen.
Kranker. Um einen Kranken aufzuheitern, lache man über seine Erkrankungen und leugne seine Leiden.
Krebs. Krebse gehen rückwärts. - Reaktionären immer »Krebsgang« nachsagen.
Kreise. Man sollte »besseren« angehören.
Kreole. Lebt in einer Hängematte.
Kreuzzüge. Nur nützlich für den Handel Venedigs.
Krieg. Man wettere dagegen.
Kritiker. Literaturpapst. Großkritiker. - Soll alles kennen, alles wissen, alles gelesen, alles gesehen haben. - Wenn er einem mißfällt, nenne man ihn einen Beckmesser, Kritikaster oder Eunuchen (sie wissen wie, aber sie können nicht).
Kröte. Weibchen des Frosches. - Ihr Gift ist sehr gefährlich. - Lebt im Innern eines Steins.
Krokodil. Aussprache: nicht Kokodrill oder Korkidyll. - Ahmt Kindergeschrei nach, um Menschen anzulocken. - Seine Haut eignet sich vorzüglich für die Herstellung von Handschuhen. - Krokodilstränen.
Kruzifix. Macht sich gut überm Bett - und der Guillotine.
Küche. Im Restaurant: liegt immer schwer im Magen. - Bürgerliche: immer gesund. - Im Süden: zu stark gewürzt oder alles in Öl. - Der Eintopf schmeckt nur hausgemacht.
Künstler. Man muß über alles lachen, was sie sagen. Alles Faxenmacher. - Ihre Uneigennützigkeit rühmen (veraltet). - Sich wundern, daß sie angezogen sind wie jedermann (veraltet). - Eine Künstlerin ist sowieso ein Flittchen oder ein Blaustrumpf. - Verdienen ungeheure Summen, werfen sie aber zum Fenster raus. - Was die tun, kann man nicht arbeiten nennen. - Sind oft zum Essen eingeladen.
Kunst. Führt ins Armenhaus. - Völlig unnütz, da sie ohnehin durch Maschinen ersetzt wird, die auch noch »schneller und besser« sind. - Schöne Künste, Kunstgewerbe.
Kuppel. Architektonischer Kraftakt. - »Wie das bloß hält?« - Man nenne zwei Beispiele: die Kuppeln des Invalidendoms und der Peterskirche in Rom.
Kurtisanen. Man bezeichne sie als: Kreaturen, Hetären, Liebesdienerinnen, Schlampen. - Ein notwendiges Übel. - Schutz und Schirm unserer Töchter und Schwestern (solange es Junggesellen gibt). Oder: Die müßten unbarmherzig verjagt werden. Man kann ja mit seiner Frau nicht mehr ausgehen, die Boulevards wimmeln dermaßen von ihnen. - Es sind immer Mädchen aus dem Volk, die von reichen Bürgern verführt worden sind.
Kuß. Man sage Umarmung, das ist dezenter. - Ein Kuß wird »geraubt« oder appliziert auf die Stirn des Mädchens, die Wange der Mama, der Hand der schönen Frau, den Hals des Kindes, die Lippen der Geliebten.
Laboratorium. Auf dem Lande muß man einfach eines haben.
La Fontaine. Man betone, daß man seine Erzählungen nie gelesen habe. - Man nenne ihn: »der Gute« - »der unsterbliche Fabulist«.
Lagune. Stadt an der Adria.
Laken. Die genormten kommen alle aus Dinslaken.
Lakonismus. Tote Sprache.
Land. Die Leute vom Land: besser als die aus der Stadt; man beneide sie um ihr Los. - Auf dem Land ist alles erlaubt: Man muß es sich immer bequem machen, alte Klamotten, dröhnende Fröhlichkeit, derbe Scherze, man sitzt auf der Erde, raucht Pfeife.
Landjunker. Krautjunker. Man zeige für ihn tiefste Verachtung.
Landmann. Immer »fröhlich« und »wohlgemuth«.
Landschaften (von Malern). Immer »lauter Grünzeug«.
Landwirte. Alle wohlhabend.
Landwirtschaft. Eine der Zitzen des Staates (der Staat ist männlichen Geschlechts, macht aber nichts). Sollte gefördert werden. - Es fehlt ihr an Arbeitskräften. - Aktuelles Gesprächsthema.
Languste. Weibchen des Hummers.
Latein. Natürliche Sprache des Menschen. - Verdirbt den Stil. - Ist nur nützlich, um die Inschriften an öffentlichen Brunnen zu lesen. - Aufgepaßt bei lateinischen Zitaten, sie bergen immer irgend etwas Schlüpfriges. Cum grano salis sollte man einige Zitate beherrschen.
Lehrerinnen. Müssen immer sehr häßlich sein. Tragen alle dunkle Brillen.
Leibesübung. Stählt die Gesundheit. - Bewahrt vor allen Krankheiten. - Kann man nie genug machen.
Lethargie. Man hat welche gesehen, die Jahre dauerten.
Libertinage. Gibt es nur in Großstädten.
Licht. Man sage immer Fiat lux!, wenn man eine Kerze anzündet.
Linkshänder. Furchtbarer Gegner beim Fechten. Geschickter als Rechtshänder.
Literatur. Beschäftigung für Müßiggänger.
Littré. Man lache höhnisch, wenn man seinen Namen hört: »Dieser Herr, der sagt, wir stammten von den Affen ab!«
Löwe. Gut gebrüllt, Löwe! - Brüllt, wenn er nicht schweigt. - »Und wenn man bedenkt, daß Löwen und Tiger Katzen sind!« - Großmütiger als der Tiger. - Spielt immer mit einem Ball. - Gefährlich ist's, ihn zu wecken.
Lorbeeren. Sind kein gutes Ruhekissen.
Lord. Reicher Engländer.
Lorgnon. Hochmütig und vornehm.
Luchs. Tier, berühmt für seine Augen.
Ludwig XVI. Man sage immer: »Dieser glücklose Monarch«.
Lüneburger Heide. Da wächst kein Gras.
Luft. Vor Zugluft soll man immer auf der Hut sein. Die Luft steht im Grunde unweigerlich im Widerspruch zur Temperatur: wenn diese warm ist, ist jene kalt, und umgekehrt.
Gustave Flaubert (1821-1880)
Nachwort von Julian Barnes
Na, hat Ihnen gefallen, was sie gerade gelesen haben? Haben Sie es verstanden? Hat es Ihnen vielleicht gefallen, ohne daß Sie es verstanden haben, oder haben Sie es verstanden, ohne daß es Ihnen gefallen hat? Beides wären ehrenwerte Reaktionen, denn das Wörterbuch ist ein eigenartiges und schwer faßbares ... Werk. Beinahe hätte ich »Buch« gesagt, doch nach normalen Kriterien kann es sich kaum als Buch ausweisen. Zunächst einmal ist es nur Teil eines Buches; oder, um genauer zu sein, Teil eines Teils eines Buches, denn letztendlich sollte es einen Abschnitt der 'Copie', des zweiten Bandes von Bouvard et Pécuchet bilden. Es sollte eine gewaltige Materialsammlung sonderbarer und beispielhafter Dummheiten werden, welche die beiden Schreiber sich herauskopieren, nachdem sie den Versuch, die Welt zu verstehen, aufgegeben haben. Und diese Materialien wollte Flaubert mit einem Pokerface hinblättern.
Fernerhin liegt uns dieses Fragment auch nicht in einer fertigen Gestalt vor. Es existieren zwei Manuskripte; nichts weist auf eine endgültige Fassung hin; und eine beträchtliche Anzahl der Definitionen existiert nicht einmal in Flauberts eigener Handschrift, sondern in der seines Freundes Edmond Laporte. (Der Status dieser Definitionen ist unklar: Hat Flaubert sie Laporte diktiert, hat Laporte sie geschrieben und dann Flaubert zur Absegnung oder Verbesserung unterbreitet, oder dokumentieren sie irgendeine Form von Zusammenarbeit?) Und schließlich werden einige der Flaubertschen Definitionen, die er im Manuskript eigenhändig gestrichen hat, in modernen Ausgaben des Wörterbuchs weiterhin gedruckt: so groß ist die Gier, die Liebe und die ungehorsame Neugier der Flaubertisten.
Warum also sollten wir uns für dieses vagabundierende Fragment mit wechselndem Manuskriptstatus interessieren? Erstens, weil das Wörterbuch nicht nur ein intellektuelles jeu d'esprit, sondern ein zentrales und sein ganzes Schriftstellerleben hin anhaltendes Anliegen des Autors war. Zweitens, weil kaum je ein Werk geschrieben worden ist, dessen Ironie so rein war: Die Welt kommt in Flauberts Olivenpresse und wird ausgequetscht, bis das reine Öl der Ironie herausrinnt. Drittens, weil es bei aller Kürze und Eingeschränktheit als ein Werk angesehen werden kann, in dem die Flaubertsche Methode in ihrer sarkastischen Fülle verwirklicht ist.
Maxime du Camp sagt, Flaubert habe ab seinem zwanzigsten Lebensjahr vom Wörterbuch-Projekt gesprochen; als es zum ersten Mal in der Korrespondenz auftaucht - 1850 in einem Brief aus Damaskus an Louis Bouilhet -, da ist die Idee zweifellos schon ausgereift: »Du tust gut daran, an das Dictionnaire des idées reçues zu denken. Dieses Buch, wenn man es vollständig macht und mit einem guten Vorwort versieht, in dem man angibt, das Werk sei in der Absicht geschaffen worden, die Leserschaft zurückzuführen zu Tradition, Ordnung und allgemeinen Konventionen; und wenn man das so einrichtet, daß der Leser nicht weiß, ob er verarscht wird oder nicht - das wäre vielleicht ein seltsames Werk und könnte auch noch Erfolg haben, denn es wäre ja absolut aktuell.« […]
Zwei Jahre nach dem Brief an Bouilhet beschreibt Flaubert Louise Colet das Projekt ausführlicher: »Mir ist ein alter Gedanke wieder in den Kopf gekommen, nämlich der zu meinem Dictionnaire des idées reçues (weißt du, was das ist?). Das Vorwort reizt mich ungemein, und so wie ich es konzipiert habe (es soll ein ganzes Buch werden), könnte mir kein Gesetz etwas anhaben, obwohl ich alles attackieren würde. Es wäre die historische Glorifizierung all dessen, was allgemein als richtig gilt. Ich würde demonstrieren, daß die Mehrheiten immer recht und die Minderheiten immer unrecht haben. Ich würde die großen Männer allen Dummköpfen opfern, die Märtyrer allen Henkern, und das in einem aufs äußerste, zu einem Feuerwerk gesteigerten Stil.« Nach dem Vorwort, »dieser Apologie der menschlichen Gemeinheit in all ihren Zügen, ironisch und brüllend von Anfang bis Ende«, käme dann das Wörterbuch selbst. Von den Beispielen, die Flaubert gibt, bleiben die Definitionen von »Languste«, »Erektion«, und »Negerin« über die nächsten dreißig Jahre unverändert. »Ich glaube«, fährt er fort, »das Ganze wäre von ungeheurem Schrot. Im ganzen Buch dürfte kein einziges auf meinem Mist gewachsenes Wort vorkommen, und nach der Lektüre dürfte man gar nicht mehr zu reden wagen vor Angst, aus Versehen einen der Sätze zu gebrauchen, die darin stehen.«
Gustave Flaubert (Statue von Léopold
Bernhard Bernstamm, 1907, Rouen,
Place des Carmes)
Wie begegnet der Schriftsteller der Dummheit seines Zeitalters? Das ist eine zentrale Frage, denn die himmelschreiende, sich blähende, selbstgefällige Dummheit der Welt kann keinem Schriftsteller - es sei denn einem unverzeihlich desinteressierten - entgehen. […] Aber wenn sie einem nicht entgangen ist, wie stellt man sich dann dazu? Wie begegnet man ihr einerseits ästhetisch, andererseits mit welcher persönlichen Haltung? Als vergnügte Optimistin wie George Sand? Als vorsichtige Melioristin wie George Eliot? Vielleicht als Satiriker? Wollen Sie der Welt Vernunft einbleuen, ihre Torheiten lächerlich machen, ihr ein gigantisches Furzkissen unter den dicken Hintern schieben? Wir plazieren die Satiriker gern am äußersten Rand des ästhetischen Spektrums: als Pessimisten, die die Verzweiflung mit schwarzem Humor in Schach alten, die am Galgen baumelnd darüber diskutieren, wo man ein billigeres und strapazierfähigeres Seil kaufen könnte. In der Satiregleichung ist jedoch ein Faktor automatisch mit drin: Die Welt, hielte sie inne und hörte auf den Satiriker, würde, könnte, möchte sich vielleicht gerade noch ändern; die Schlinge des Henkers würde sich in einen magischen Knoten verwandeln, der aufschlüpft, sobald er zugezogen wird. Somit steht der Satiriker doch nicht ganz am äußersten Rand des Spektrums. Sicher, er leuchtet in einem dramatischen Indigo. Aber es gibt eine Farbe jenseits von Indigo. Violett ist die Farbe des Ironikers. Ein Violett, das ins Ultraviolett übergeht - jenen Farbton, den die Welt nicht sehen kann. […]
Der Satiriker schiebt die Welt auf die Bühne, bewirft sie mit Sahnetorten, läßt ihr die Hosen runter und verhöhnt ihren Schmerbauch. Der Ironiker schiebt die Welt auf die Bühne, bietet ihr eine Quiche Lorraine an, lobt den modischen Schnitt ihrer Hosen und macht die Bemerkung, daß nur wirklich seriöse Leute große Bäuche haben. Der Satiriker ist ein Boxer, der versucht, seinen Gegner längelang vor sich auf die Bretter zu schicken; der Ironiker kann Judo und nutzt das Gewicht des anstürmenden Gegners, indem er ausweicht und ihm hinterrücks ein Bein stellt. Das ist Flauberts Methode im Wörterbuch. Was weiß die Welt über Spanien? Sie weiß, daß es dort dunkelhäutige Señoritas gibt, die Spitzenmantillas tragen, auf Balkonen sitzen und Kavalieren, die in engen Hosen unten im Staub die Mandoline zupfen, Blumen aus ihrem Haar zuwerfen. Stimmt, sagt Flaubert zur Welt, stimmt ganz genau; jeder, den ich von Spanien erzählen höre, sagt, daß es genau so ist, und deshalb muß es so sein. Paganini hat seine Geige nie gestimmt? Zuviel Schlaf verdickt das Blut? Hätte Napoleon sich nicht scheiden lassen, säße er noch immer auf dem Thron? Sie haben bestimmt recht, sagt Flaubert, tritt beiseite, winkt die wohlbeleibte Idee zur Verbeugung nach vorn und bleibt wie ein dezenter Theaterdirektor im Hintergrund.
Im Hintergrund bleiben: Die Idee der Unsichtbarkeit des Autors ist zentral in Flauberts Ästhetik. (»Es wäre recht angenehm für mich, meine Meinung zu sagen und Herrn Gustave Flauberts Gefühlen durch solche Äußerungen Luft zu verschaffen; jedoch was soll uns dieser Herr?«) Im Wörterbuch erreicht Flaubert das Maximum an Unsichtbarkeit. Seine Abwesenheit als Autor ist so total, daß man fast sagen könnte, das Wörterbuch sei die Arbeit von anderen. Er hat bloß den Stimmen der rechtdenkenden Leute gelauscht und aufgeschrieben, was sie sagten; er hat ihre Äußerungen weder geändert noch übertrieben, sondern sie bloß mit der Pinzette (keine Fingerabdrücke!) aufgesammelt und für uns in einem Sammelalbum alphabetisch geordnet. Sie möchten wissen, was Flaubert gedacht hat? Was er »wirklich« gedacht hat? Das ist nirgendwo sichtbar und überall gegenwärtig.
»Der arme große Mann, die Ironie weicht ihm nicht von der Seite«, schrieb Flaubert 1878, als er erfuhr, daß die Feierlichkeiten anläßlich von Voltaires hundertstem Todestag von einer Schokoladenfirma organisiert wurden. Erwartete er, daß er selbst von der Ironie verschont bleiben würde? Der Eintrag im Wörterbuch für DREIZEHN lautet: »Man vermeide es, dreizehn bei Tisch zu sein, das bringt Unglück. Freigeister dürfen keinesfalls zu witzeln versäumen: 'Was soll's, dann eß ich halt für zwei'; oder, wenn Damen anwesend sind, zu fragen, ob eine von ihnen schwanger sei.« Nach Flauberts Beerdigung setzte sich eine Gruppe trauernder Schriftsteller in Rouen zu Tisch. Als der Dichter Théodore de Banville bemerkte, daß sie dreizehn waren, bestand er als rechtdenkender Mensch darauf, einen weiteren Gast zu finden. Man durchkämmte die Straßen, und schließlich ließ sich ein Soldat auf Urlaub überreden, am Leichenschmaus teilzunehmen. Der Soldat hatte nie von Flaubert gehört, war aber ganz wild darauf, den Dichter François Coppée kennenzulernen.
Für Rachmaninow war das Komponieren eine Leidenschaft, eine Notwendigkeit. Es war nicht seine Art, sich zu rechtfertigen, aber in vorgerücktem Alter bezog er sehr klar Stellung: »In der Musik eines Komponisten sollte das Land seiner Herkunft zu spüren sein, seine Liebesgeschichten, seine Religion, die Bücher, die ihn beeindruckt haben, die Bilder, die er liebt. Sie sollte die Summe der Erfahrungen eines Komponisten sein.« Das wird nirgendwo deutlicher als in den 82 Liedern, die er zwischen 1890 und 1916 komponiert hat, Lieder, die auch ein sehr brauchbarer Gradmesser seiner Stilentwicklung in dieser Zeit sind, von den Moskauer Studienjahren bis zu seiner dramatischen Flucht im Jahr 1917, als er aus dem von der Oktoberrevolution erschütterten Rußland in die Vereinigten Staaten floh.
Die ersten drei Lieder des op.4 sind in dem idyllischen Sommer 1892 entstanden, den Rachmaninow auf dem Landsitz eines reichen Kaufmanns in Charkov verbrachte. Er arbeitete in einem kleinen pagodenartigen Turm, der eigens für ihn gebaut worden war, und berichtete begeistert einer seiner zahlreichen Verehrerinnen: »Ich komponiere von 9 bis 12 und spiele dann drei Stunden Klavier. Ich achte auch sehr auf meine Gesundheit: kalte Abreibungen und vier Gläser Milch jeden Tag!« Es ist typisch für den Komponisten, daß trotz seiner ausnehmend guten Stimmung alle sechs Lieder einen introvertierten Charakter haben.
Im Herbst des gleichen Jahres komponierte Rachmaninow einen weiteren Zyklus von sechs Liedern, sein op.8, auf deutsche und ukrainische Texte in Übersetzungen des russischen Dichters Alexei Pleschtschejew. Hier dominiert das dem Komponisten eigene melodische Gespür, das ein breiteres Spektrum des Stimmungsgehalts hervorbringt als in den Liedern des op.4 mit ihrer eher einförmig tristen Farblosigkeit, dies insbesondere in Traum (Nr.19 dieser CD), einem Meisterwerk im kleinen, das er für seine Cousine Natalia Skalon geschrieben hat, eine seiner besten Freundinnen, die sehr an ihm hing.
Die zwölf Lieder op.14 (1896) kehren zurück zu dem Tonfall sehnsuchtsvoller Hoffnungslosigkeit des op.4. In der gesteigerten Expressivität der Musik und dem leidenschaftlich erregten Klaviersatz spiegelt sich die Gemütslage Rachmaninows in dieser Zeit wider, das Auf und Ab heftiger Gefühle, denn er hatte sich unglücklich in eine verheiratete Frau verliebt, eine bemerkenswerte Frau aus einer Zigeunerfamilie. Vor diesem Hintergrund wirken die vereinzelt verwendeten fremdartigen Harmonien und das Kolorit der Melodie von In meiner Seele (Nr.17) wie ein persönliches Bekenntnis. Ein anderer Satz, in dem in besonderer Weise die Gefühle Rachmaninows mitschwingen, ist Nacht (1899; Nr.8): als er dieses Lied komponierte, waren seine Gedanken bei Vera Skalon (der jüngeren Schwester Natalias), die er innig liebte, die sich aber gerade anschickte, einen anderen Mann zu heiraten. Es läßt tief blicken, daß Vera kurz vor der Hochzeit ihren gesamten Briefwechsel verbrannte.
Die Ehe ist auch ein zentrales Thema der zwölf Lieder op.21 (1902), nur handelt es sich diesmal um Rachmaninows eigene Vermählung mit Natalia Satin, einer anderen Cousine, die ihn bewunderte. Er komponierte die Lieder in einem atemberaubenden Tempo während der Flitterwochen in Luzern im Anschluß an Aufenthalte in Wien und Venedig. Die 3000 Rubel, die er dafür als Honorar erhielt, waren eine willkommene Einnahme, um einen Teil der Kosten dieser Reise quer durch Europa zu bestreiten, die sie vor der Rückkehr nach Rußland auch nach Bayreuth führte.
Seine fünfzehn Lieder op.26 (1906) tat Rachmaninow als "bloße Kleinigkeiten" ab, aber das kann eigentlich nur der Versuch gewesen sein, ihre wahre Qualität herunterzuspielen. Christ ist erstanden (Nr.9) ist ein Satz von schwelgender Melodik, beseelt von unbändiger Freude, noch eindrucksvoller aber ist das letzte Lied der Werkgruppe Alles muß vergehen (Nr.15), eine eindringliche Anklage gegen die revolutionären Umtriebe des vorausgegangenen Jahres.
Die Politik hatte auch erheblichen Anteil an der faszinierenden Schlichtkeit der Liederzyklen, die Schostakowitsch in der Zeit von Anfang bis Mitte der 1950er Jahre geschrieben hat und unter denen insbesondere die fünf Dolmatowski-Vertonungen op.98 (1954) und die sechs Spanischen Lieder Op.100 (1956) zu nennen sind.
Im Jahr 1948 hatte Andrei Schdanow, der Zuchtmeister Stalins, schwere Vorwürfe gegen mehrere Komponisten erhoben - u.a. gegen Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturjan und Mjaskowski - und sie wegen ihres fortgesetzten Kokettierens mit einem »dekadenten Formalismus« (im Grunde jede Art von Musik, die es versäumte, den Parteiapparat zu verherrlichen) verwarnt. Schostakowitsch spulte pflichtschuldigst eine unterwürfige öffentliche Abbitte herunter, die von jedermann als beißender Hohn zu durchschauen gewesen sein muß, außer anscheinend von den Funktionären der Kommunistischen Partei: »Ich weiß, die Partei hat recht. Ich will immer wieder von neuem versuchen, sinfonische Werke zu schreiben, die dem Empfinden des Volkes entsprechen.«.
Nach Stalins Tod im Jahr 1953 widerrief die Prawda, das Organ der Kommunistischen Partei, den Erlaß von 1948 und räumte den Komponisten größere Freiheiten für eigene Stilexperimente ein. Vorerst blieb Schostakowitsch jedoch bei der einmal eingenommenen Haltung, er ließ sich stilistisch nicht in die Karten schauen und ließ sich darin auch nach dem Tod seiner Frau Nina im Jahr 1954 nicht beirren. Ungeachtet des sarkastischen Scherzos der Sinfonie Nr.10 (1953), das er sich insgeheim als ein giftiges Stalin-Porträt gedacht hatte, lassen die gleichzeitig entstandenen Lieder eine Wesensverwandtschaft mit den entzückenden Miniaturen erkennen, die in Schostakowitschs Filmmusik zu Die Hornisse (The Gadfly, 1955) eingestreut sind.
Die Lieder op.98 sind ein Glücksfall und dem Umstand zu verdanken, daß der Dichter Jewgeni Dolmatowski Schostakowitsch eine Reihe von Gedichten über kleine Begebenheiten einer Freundschaft schickte, die dieser kongenial vertont hat. Auf dem Papier mögen diese Texte einem kurzsichtigen, im Umgang mit Fremden notorisch argwöhnischen und unbeholfenen Kettenraucher zunächst wenig ergiebig erschienen sein, dann empfand Schostakowitsch die Unmittelbarkeit und Schlichtheit ihres Gefühlsgehalts aber als wohltuend und als eine willkommene Abwechslung, um Abstand von der verrätselten Doppelbödigkeit seiner großen sinfonischen und kammermusikalischen Kompositionen zu gewinnen - das ist deutlich spürbar in den unbeschwerten Walzerrhythmen von Tag der Liebeserklärung (Nr.22).
Die Spanischen Liederop.l00 sind großartige Konzentrate volkstümlicher Melodien, die sich auf eine eigens für den Komponisten angefertigte Tonaufnahme der berühmten Sängerin Sara Doluchanowa stützen. Schostakowitsch hatte offenbar großes Vergnügen daran, das schwierige Unterfangen zu wagen, diese Glanzstücke der spanischen Musik einem unverkennbar russischen Tonfall anzuverwandeln, wovon insbesondere Das erste Mal (Nr.3) zeugt.
Quelle: Julian Haylock (Übersetzung: Heidi Fritz), im Booklet.
Track 8 - Rachmaninow: Noch (Nacht), 1899
TRACKLISTDMITRI SHOSTAKOVICH (1906-1975)
Spanish Songs Op. 100, from folk melodies & texts (1956) 14'58
Mélodies espagnoles / Spanische Lieder
01 Proshchai, Grenada! S. BOLOTIN 2'37
(Farewell, Granada! / Adieu à Grenade / Abschied von Granada)
02 Zvyozdochki T. SIKORSKAYA 2'01
(Starlets / Petites étoiles / Kleine Sterne)
03 Pervaya vstrecha S. BOLOTIN 3'21
(The First Encounter / Première rencontre / Das erste Mal)
04 Ronda T. SIKORSKAYA 1'57
(The Round Dance / Ronde / Ronda)
05 Chernookaya T. SIKORSKAYA 2'56
(The Dark-Eyed Girl / La fille aux yeux noirs / Schwarzäugiges Mädchen)
06 Son T. SIKORSKAYA & S. BOLOTIN 2'02
(The Dream, Barcarole / Rêve / Traum)
SERGEI RACHMANINOV (1873-1943)
07 My otdokhnyom Op. 26/3 (1906) A. CHEKHOV 2'20
(We shall find rest / Nous jouirons du repos / Wir werden aufatmen)
08 Noch (1899) D. RATHAUS 3'23
(Night / Nuit / Nacht)
09 Khristos voskres Op. 26/6 (1906) D. MERESHKOVSKY 2'29
(Christ is risen / Le Christ est ressuscité / Christ ist erstanden)
10 Koltso Op. 26/14 (1906) A. KOLTSOV 2'55
(The Ring / L'anneau / Der Ring)
11 Va zhdu tebya Op. 14/1 (1896) M. DAVIDOVA 1'39
(I await you / Je t'attends! / Ich warte auf dich!)
12 Duma Op. 8/3 (1893) A. PLESHCHEYEV, AFTER SHEVTCHENKO 3'12
(Brooding / Méditation / Trübe Gedanken)
13 O net, molyu, ne ukhodi! Op. 4/1 (1892) D. MERESHKOVSKY 1'50
(I beg you, stay, forsake me not! / Oh reste, je t'en prie, ne pars pas!
O bleib, ich bitt dich, geh nicht fort!)
14 O ne grusti Op. 14/8 (1896) A.APUKHTIN 3'04
(O, do not grieve! / Oh, ne t'afflige pas! / O gräme dich nicht!)
15 Prokhodit vsyo Op. 26/15 (1906) D. RATHAUS 1'51
(All things depart / Tout passe / Alles muß vergehen)
16 Kak mne bolno Op. 21/12 (1902) G. GALINA 1'46
(How it pains me / Camme je souffre / Wie schmerzt es mich)
17 V moyei dushe Op. 14/10 (1896) N. MINSKY 2'23
(Within my soul / Dans mon Âme / In meiner Seele)
18 Utro Op. 4/2 (1892) M. YANOVA 1'54
(Morning / Matin / Morgen)
19 Son Op. 8/5 (1893) A. PLESHCHEYEV, AFTER HEINE 1'11
(A Dream / Rêve / Traum)
20 V molchanii nochi tainoi Op. 4/3 (1892) A. FET 2'44
(In the silence of the secret night / Dans le Secret de la nuit paisible
In der Stille der heimlichen Nacht)
DMITRI SHOSTAKOVICH
Five Romances on poems by Yevgheny Dolmatovsky, Op. 98 (1954) 13'07
Cinq chansons sur des poèmes de E. Dolmatovski
Fünf Lieder auf Gedichte von Jewgeni Dolmatowski
21 Den vstrechi 2'27
(The Day of Meeting / Jour de la rencontre / Tag der Begegnung)
22 Den priznanil 2'37
(The Day of Confessing / Jour des aveux / Tag der Liebeserklärung)
23 Den obid 3'05
(The Day of Hurt / Jour des affronts / Tag der üblen Nachrede)
24 Den radosti 1'46
(The Day of Rejoicing / Jour de joie / Tag der Freude)
25 Den vospominanil 3'04
(The Day of Reminiscing / Jour des souvenirs / Tag der Erinnerungen)
Total Time: 57'53
Iris Oja, mezzo-soprano
Roger Vignoles, piano
Recorded November 2006 at Air Lyndhurst Studios, London
Producer: Robina G. Young Engineer & Editor: Brad Michel
Cover picture: Mikhail Vroubel, The Swan Princess, 1900
Drawings of Rachmaninov and Shostakovich by Iris Oja
(P) 2008
Ist es erlaubt, ein Porträt in jeder beliebigen Weise zu deuten, wenn es ein offener Spiegel ist? Wenn in einem einzigen Porträt wie im Falle Pablo Picassos eine Vielzahl von Gesichtern und Gesten, von Chiffren und Stilen enthalten ist - wie sollen wir es dann mit unserer persönlichen Erfahrung, mit unserem eigenen Vokabular in Einklang bringen?
Die Entwicklung des wohl vielseitigsten Porträtmalers des 20. Jahrhunderts verlief nicht linear, sondern räumlich. Jeder neue Stil, den er vorfand und in sein Werk integrierte, baute auf den vorangegangenen auf und bereicherte sie rückwirkend, brachte neue Stile hervor und vermischte sich mit ihnen. Wie ein Lumpensammler bewahrte Picasso auf, was ihm unter die Finger kam: Bleistiftstummel, Schachteln, Gerümpel aller Art. Ebenfalls wie ein Lumpensammler bewahrte er seine vielen unterschiedlichen Stilansätze in sich auf, so daß er im hohen Alter, lange nach den grellen Schreckensbildern von Avignon und den bukolischen Rundungen von Juan-les-Pins, zu den schwarzen Linien und blassen Farben seiner spanischen und frühen Pariser Anfänge zurückkehren konnte, in denen schon alles Spätere enthalten schien. Er war ein Paradox: ein Künstler, der eine klar erkennbare Entwicklung vollzog und für den die Zeit stillstand.
Auch seine Porträts - insbesondere die Frauenporträts - sind von diesem Paradox betroffen. Jacqueline, Marie-Thérèse, Olga, Dora haben mit ihren Nachnamen auch ihre eigene Identität verloren und statt dessen die Identität angenommen, die Picasso ihnen mit seinen künstlerischen Mitteln verlieh, als sie in sein fließendes und zugleich fest umrissenes Universum eintauchten und sich in eine Sitzende, eine Lesende, eine Frau mit Strandball verwandelten, manchmal in eine Jacqueline oder eine Marie-Thérèse - wobei ihre Namen nur noch fiktiv oder zufällig erscheinen. […] Picassos Frauen - weich oder in wütende Scherben zersplittert, mit leichter Hand skizziert oder in Säure geätzt - erscheinen nicht im Gestus ihrer eigenen Wahl, sondern als Reflexionen Picassos, ihres selbsternannten Meisters.
Was über alle Stilwechsel hinweg wahrscheinlich immer gleich blieb, war der Umgang mit seinen Modellen. Vielleicht war er, wie Freunde und Geliebte versicherten, tiefer Empfindungen gegenüber anderen Menschen unfähig und so dazu verurteilt, immer nur sich selbst zu porträtieren. »Niemand ist mir wirklich wichtig. Was mich betrifft, sind andere Leute wie Staubkörnchen, die in der Sonne tanzen«, gestand er einmal Françoise Gilot. Statt im menschlichen Kontakt lebte er seine Empfindungen auf der Leinwand aus und verlieh den Gebilden aus »Staubkörnchen« künstlerische Gestalt. John Berger bemerkte, Picassos Frauenporträts seien »oft seine Selbstporträts, die er in ihnen vorfand«. Picasso, schrieb er weiter, »kann sich nur dann in seiner Gänze sehen, wenn er sich in einer Frau spiegelt«. Es könnte sein, daß er alle seine Modelle in fast physischem Sinne als Leinwand benutzte und sie mit Schmeichelei, Einschüchterung, liebevoller Zuwendung, Geld oder Freundlichkeit auf ihre Bestimmung vorbereitete. Und es könnte sein, daß er in seinen Modellen die Emotionen provozierte, die er am eigenen Leib erleben wollte. […]
Eins der eindrucksvollsten Picasso-Porträts ist ohne Zweifel die Weinende Frau vom Oktober 1937, die der Kunstkritiker Ronald Penrose im selben Jahr von ihm erwarb (später verkaufte er das Gemälde an die Londoner Tate Gallery, wo es heute zu sehen ist). Das kleine Bild, nicht größer als ein menschliches Gesicht, brennt in allen Komplementärfarben: grün und rot, violett und gelb, orange und blau. Das scharfkantig geknüllte Taschentuch greift die Umrisse der Finger und der gebleckten Zähne auf. Vor dem Hintergrund aus goldbraunen und gelben Tönen (teils Blattgoldgrundierung wie auf Ikonen mit geheiligten Motiven, teils Pariser Bistro-Wand als Hintergrund profaner Leidenschaften) bewegt mich der rote Hut mit der tiefblauen Kornblume mehr als jedes andere Detail des Bildes. Die Frau hat sich zurechtgemacht, hat einen lustigen Hut aufgesetzt, um glückliche Stunden zu verleben, und nun sitzt sie da, für jeden sichtbar, heulend, mit verzerrtem Gesicht, der Hut ein Hohn auf ihren Kummer, neckisch und gänzlich unbekümmert. Wie können wir diesen grenzenlosen Jammer ertragen? Was fehlt in diesem Bild, daß wir als Außenstehende ohne weiteres in das Geschehen einzudringen vermögen, Mitleid und Bewunderung zugleich empfinden können? Bietet uns die Geschichte dieses Gemäldes eine Anleitung zu seinem Verständnis aus einem Abstand von mehr als sechzig Jahren? […]
An einem Herbstabend des Jahres 1935 sah sich der vierundfünfzigjährige Picasso im Café Les Deux Magots einer Frau gegenübersitzen. Sie hatte blaßblaue Augen, kräftige dunkle Augenbrauen, tiefschwarzes Haar und trug schwarze, mit Rosen bestickte Handschuhe. Die linke Hand lag mit gespreizten Fingern auf der Tischplatte, während sie mit einem Taschenmesser versuchte, möglichst tief in die Zwischenräume zu stechen, ohne sich zu verletzen. Manchmal mißlang ihr das, und ihre Handschuhe wurden allmählich feucht vom Blut. Picasso schaute ihr lange zu und sagte dann auf spanisch zu einem Freund, der neben ihm saß, daß er die junge Frau außerordentlich schön finde. Offenbar verstand sie ihn, denn sie hob den Kopf und lächelte. Ein paar Tage später machte ihn Paul Eluard mit ihr bekannt. Sie hieß Dora Maar und war Fotografin. Später erbat sich Picasso die blutigen Handschuhe von ihr und bewahrte sie zusammen mit anderen Erinnerungsstücken in einer Vitrine auf.
Dora Maar wurde seine Geliebte und war immer für ihn da, wenn er sie brauchte. Selten besuchte sie sein Atelier in der Rue des Grands-Augustins (das sie ihm besorgt hatte) ohne seine ausdrückliche Aufforderung, und sie wartete Tag für Tag in ihrer Wohnung, daß Picasso sie anrief, um mit ihr auszugehen. Eines Abends lud sie der Maler André Beaudin zum Essen ein, doch sie erwiderte ihm, sie könne sich nicht entscheiden - Picasso würde wütend werden, wenn er anrief und herausfand, daß sie sich anderweitig verabredet hatte. Sie war, wie sie sagte, seine »private Muse«.
Picassos Freunde erinnerten sich später an die häufigen Streitereien zwischen den beiden - wegen ihrer angeblichen Untreue, wegen kleiner Fehler, die er künstlich aufbauschte, um sie lächerlich zu machen. Picasso provozierte sie, bis sie in Tränen ausbrach. Dann nahm er Notizblock und Bleistift und skizzierte die weinende Frau. »Ich habe sie nie anders gesehen, konnte sie mir nie anders vorstellen als in Tränen«, äußerte er einmal. Irgendwann verwandelten sich die Skizzen, von denen es Dutzende gab, in Gemälde. Um diese Zeit war Picasso noch mit der russischen Tänzerin Olga Koklova verheiratet und schon seit langem mit Marie-Thérèse Walter liiert. Die Porträts dieser beiden Frauen sind meist von weichen Rundungen bestimmt. Die meisten Porträts von Dora Maar hingegen zeigen ein verzweifeltes, in Tränen aufgelöstes Gesicht, kantige Umrisse und harte Farben. »Das sind alles Picassos, kein einziges ist Dora Maar«, urteilte Dora Maar später.
Fast ein Jahr nach der ersten Begegnung mit Dora Maar, am 13. Juli 1936, wurde der spanische Monarchist José Calvo Sotelo ermordet, und in Spanien brach der Bürgerkrieg aus. Von Anfang an stand Picasso entschieden auf der Seite der rechtmäßigen republikanischen Regierung. Im Januar 1937 erhielt er von der Regierung den Auftrag, ein großes Wandgemälde für den spanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung zu schaffen. Das Thema wurde seiner Wahl überlassen. Picasso nahm den Auftrag an, ohne zu wissen, was er malen würde. Es wurde April, und er hatte noch immer nicht mit der Arbeit begonnen.
Am Morgen des 28. April 1937 bombardierten deutsche Kampfflieger die baskische Kleinstadt Guernica, töteten zweitausend Zivilisten und hinterließen noch mehr Verwundete. Picasso hatte sein Thema gefunden - vielmehr, das Thema hatte ihn gefunden. Im Mai war der erste Entwurf des Kolossalgemäldes von 7,62 mal 3,35 Metern Größe fertig. Er entschied sich, keine Farben zu verwenden: die von Panik erfüllten Tiere, die schreienden Frauen bäumen sich in Blauschwarz und Schmutzigweiß über dem Betrachter auf. Im linken Brennpunkt des Bildes sieht man eine Frau, die ihr totes Kind umklammert, ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Es ist das Gesicht der tränenlos weinenden Dora Maar. […]
Die Verbindung von Dora Maar und Guernica läßt ein neues Paradox zutage treten, nämlich die offenbare Tatsache, daß ein Akt vorsätzlicher Grausamkeit in einen bildnerischen Ausdruck verwandelt werden kann, der dazu dient, die Grausamkeit zu verdammen. Wie ist es möglich, daß sich ein Symbol des Hasses (oder der Liebe) in einem Kunstwerk in sein Gegenteil verkehrt? Und wie hat dieses neue Symbol Eingang in unser ikonographisches Vokabular gefunden?
Pablo Picasso: Weinende. Aus dem Guernica-Zyklus In der abendländischen Kultur sind Gefühlsroheit und Brutalität zu Attributen einer pervertierten Männlichkeit geworden. Theseus, der Sohn einer sterblichen Mutter und des Meergottes, gebraucht seine männliche Kraft, um eine Reihe schier unüberwindlicher Hindernisse zu bewältigen, aber er ist auf Ariadnes weibliche Intelligenz angewiesen, um aus dem Labyrinth herauszufinden und den Minotauros zu töten. Nachdem er sich ihrer bedient hat, läßt er sie schnöde im Stich; später wird er zum König von Athen gekrönt und als Held gefeiert. Der französische Romancier Andre Gide betrachtete die alte Sage mit neuzeitlichem Blick und sah in Theseus ein männliches Vorbild, weil es ihm gelang, sich aus der weiblichen Umgarnung Ariadnes zu befreien. Für Gide ist diese Tat gerechtfertigt, weil sie einem höheren sozialen Zweck gilt. Der Bezwinger des Minotauros muß sich der Ariadne bedienen und sie dann fallenlassen, um das Staatswesen zu retten (oder, wie im Fall Picasso, der Kunst zu dienen).
Wie in der Theseus-Legende werden auch in Picassos Werk beide Seiten dieses Konflikts erkennbar: Dora Maar, die Weinende Frau, wird in ihrem privaten Kummer vorgeführt; auf dem Gemälde Guernica wird sie zur Chiffre eines öffentlichen Leids. Picasso malte die Weinende Frau im Oktober 1937, nachdem er über ein Jahr lang das schmerzverzerrte Gesicht der Dora Maar studiert und skizziert hatte. Guernica war im Mai 1937 vollendet, aber er befaßte sich noch ein Jahr lang mit den verwendeten Motiven, mit Stieren, Pferden, Vögeln und massakrierten Menschen. Unser Blick auf die beiden Meisterwerke hängt davon ab, welche Chronologie wir ihnen zugrunde legen. Wenn wir davon ausgehen, daß die Weinende Frau vor der Entstehung von Guernica bereits vorhanden war (und das war der Fall), haben wir es mit einem Bild zu tun, dessen Ausdruck persönlichen und absichtlich zugefügten Leidens dazu diente, die Morde von Guernica anzuklagen. Setzen wir aber Guernica an die erste Stelle, ergibt sich der Eindruck, daß Picasso ein Motiv der Anklage gegen faschistische Gewalt dazu benutzte, um mit klinischer Grausamkeit Experimente an einer liebenden Frau vorzunehmen. In jedem Fall steht auf der einen Seite der Gleichung eine künstlerische Formulierung des Leidens, die in ihrer aufrüttelnden Kraft unvergeßlich ist, auf der anderen Seite jedoch die kalkulierte Zufügung von Schmerzen. Und nur beide Seiten zugleich machen die ganze Wahrheit des Gemäldes aus. […]
Niobe. Kopie nach einem Original aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. Über Picassos Verhältnis zu Frauen bemerkte Cocteau scharfsinnig: »Dieser Frauenliebhaber entpuppt sich in seinen Arbeiten als Frauenfeind. Dort rächt er sich für die Macht, die Frauen auf ihn ausüben, für die Zeit, die sie ihm rauben, dort verwüstet er ihre Gesichter und ihren Aufputz. Auf der anderen Seite schmeichelt er dem Mann, und da er ihm nichts vorzuwerfen hat, erweist er ihm mit Stift und Feder seine Reverenz.«
Die Geschichte der abendländischen Kunst hat uns gelehrt, das Bildnis einer weinenden Frau als ästhetisches Phänomen zu betrachten. Das klassische Vorbild ist die in der griechischen Plastik verbreitete Niobe, die neun Tage und neun Nächte den Tod ihrer Kinder beweinte (zwölf Tage sind es bei Homer, vierzehn bei Ovid): Sie waren von Apollo und Diana umgebracht worden, nachdem Niobe über deren Mutter Leto gespottet hatte, sie habe nur einen Sohn und eine Tochter zur Welt gebracht. Das klassische Vorbild der Niobe wurde auf andere Sujets übertragen: auf die trauernden Mütter beim Bethlehemitischen Kindermord, auf die trauernden Töchter in Historiendarstellungen wie Davids Die Liktoren bringen Brutus die Leichen seiner Söhne, auf die weinenden Frauen der Kreuzigungsszenen, auf Rachel (die Personifizierung Israels), die in den Weissagungen Jeremias um ihre Kinder weint. Im 18. Jahrhundert wurden Frauentränen, zuvor ein Zeichen der Schwäche, zu lobenswerten Beweisen gesteigerter Empfindsamkeit geadelt, und zeitweise war es sogar Männern erlaubt, Tränen zu vergießen. […]
Jacques-Louis David: Die Liktoren bringen Brutus die Leichen seiner Söhne, 1789, Öl auf Leinwand, 323 x 422 cm, Musée du Louvre Die meisten Männer in der abendländischen Kunst tragen ihr Leid jedoch mit Fassung. Laokoon, der trojanische Priester, der mitsamt seinen zwei Söhnen von den Schlangen der Athene erwürgt wird, legt in der berühmten Marmorgruppe aus der Zeit um 25 v. Chr. eine »beherrschte Agonie« an den Tag, während Heilige und Sünder einen gewissen Anspruch auf Tränen geltend machen dürfen. So Masaccios weinender Adam bei der Vertreibung aus dem Paradies; der weinende Lieblingsjünger Johannes unter dem Kreuz Jesu; der junge kastilische Edelmann El Cid, als er, fälschlich des Betrugs bezichtigt, aus dem Umkreis des geliebten Königs entfernt wird und unter Tränen fragt: »Warum lüftet Ihr den Vorhang meines Herzens?«; so Dante, den die ewige Höllenpein für seine Florentiner Mitbürger zu Tränen rührt; John Bunyans Christian, der weinend und zitternd ruft: »Was soll ich nur tun?«; oder Odysseus, der um seine von den Zyklopen verschlungenen Kameraden weint. Sie alle zeigen die erlaubten Formen männlichen Leids auf. Weinen darf man über die eigenen Verfehlungen (wirkliche oder eingebildete) oder um das Schicksal anderer Männer (selbst wenn es sich um Gottes Sohn handelt). Aber meistens galten männliche Tränen als unziemlich, und die »beherrschte Agonie« war die gegebene Art, männliche Gefühle zu beschreiben. […] Auf dem Gemälde Guernica gibt es keinen weinenden Mann. […]
1943 erkor sich Picasso die junge Françoise Gilot zur neuen Geliebten und versuchte sie zur Freundschaft mit Dora Maar zu bewegen. Deren Begegnung war zwar von Peinlichkeiten geprägt, aber sie endete nicht so gewaltsam wie die Dora Maars mit Marie-Thérèse - nämlich in einer Prügelei auf dem Fußboden von Picassos Atelier unter den Augen des belustigten Meisters. Kurz nach der Befreiung von Paris bat er Françoise zu sich, setzte sich zu ihr aufs Bett und gestand ihr seine tiefe Sorge um Dora Maar. Er hatte sie zu Hause aufgesucht, um mit ihr essen zu gehen, aber nicht vorgefunden. Als sie kam, waren ihre Kleider zerrissen, ihr Haar zerzaust, und sie berichtete ihm, sie sei von einem Mann überfallen worden, der ihr den Hund, ein Geschenk Picassos, gestohlen habe. Zwei Abende danach wurde sie in einem ähnlichen Zustand in der Nähe des Pont Neuf von einem Polizisten aufgegriffen und behauptete diesmal, ein anderer Mann habe sie überfallen und ihr das Fahrrad gestohlen. Das Fahrrad fand sich unversehrt an der Stelle, wo sie es hinterlassen hatte. Wieder ein paar Tage später bekam sie religiöse Visionen, die sie als »Offenbarungen der inneren Stimme« bezeichnete. Eines Nachmittags forderte sie Picasso und Eluard mit mystischer Inbrunst auf, vor ihr niederzuknien und ihre Sünden zu bereuen (beide waren Atheisten). Als sich Picasso weigerte, schrie sie ihn an: »Als Künstler bist du groß, aber moralisch bist du ein Nichts!« Das war nur die erste ihrer »Szenen« (so Picasso), die bald an Häufigkeit und Heftigkeit zunahmen.
Picasso und Eluard schickten Dora Maar zu ihrem Freund, dem Analytiker Jacques Lacan, der sich gerade den Ruf erwarb, »die Fragen beantworten zu können, die Freud offengelassen hatte«. Lacan behielt sie drei Wochen in seiner Klinik und überredete sie zu einer Analyse. Inzwischen schoben sich Picasso und Eluard gegenseitig die Schuld an Dora Maars Zustand zu. Eluard behauptete, Picasso habe sie unglücklich gemacht und zerstört, Picasso warf Eluard vor, er habe ihr den Kopf mit surrealistischem Unsinn vollgestopft. Zu Françoise Gilot sagte Picasso, er fühle sich »angewidert von Doras Verhalten«. Es ist seltsam, daß einem Mann, der das Leiden so eindrucksvoll gestalten konnte, jegliches Verständnis dafür abging, was zu dessen Linderung vonnöten war: die Gegenwart eines menschlichen Wesens, das ihren Schmerz erkannte, ihr Gehör und Trost schenkte - und nicht nur den geschulten Blick des Psychiaters.
Aus Lacans Sicht war Dora Maars Leiden eine Bestätigung der psychoanalytischen Identitätstheorie, die er in den Jahren davor entwickelt hatte und die davon ausgeht, daß sich unsere Identität aus den Spiegelbildern zusammensetzt, von denen wir umgeben sind. Das Selbstbild, das wir erwerben, besteht demzufolge aus unzähligen zufälligen und aufgesplitterten Fremdeindrücken wie ein kubistisches Gemälde. Unser Ich ist nach Lacans Worten eine »inauthentische Agentur«, die dazu da ist, das grundsätzliche Fehlen einer inneren Identität zu verbergen.
Manches davon muß Dora Maar plausibel vorgekommen sein, wenn sie an die vielen zerrissenen, splitterartigen Porträts dachte, die Picasso von ihr angefertigt hatte. Aber sie spürte auch etwas, was dem analytischen Blick Lacans wahrscheinlich entging. Wenn ihr Liebhaber Picasso das, was sie war, zerbrochen hatte, um sich aus den Scherben sein eigenes Bild von ihr zusammenzusetzen, wer war sie dann in Wirklichkeit? Als vernachlässigte Liebhaberin, als unfertige Künstlerin, wahrgenommen nur in ihrer Rolle als angeschlagene Muse, versuchte sie mit allen Kräften, diese Seiten ihrer Persönlichkeit - es waren die einzigen, die für Picasso zählten - zur Vollendung zu bringen. Seit ihr Selbstbild zerstört war, fühlte sie sich verlassen und schutzlos, aber auch von allen Schranken befreit. Sie wollte nicht mehr nur Picassos Gewaltopfer sein, sondern das Gewaltopfer jedes beliebigen Mannes, aller Männer, ein williges Opfer für Raub und Überfall auf offener Straße. Sie wollte nicht nur Picassos Muse sein, sondern auch seine Götterbotin, die Stimme der Offenbarung. Ihrer selbsterrichteten Identität beraubt, wollte sie, daß die übermächtige Identität des Männlichen und des Göttlichen von ihr Besitz ergriff und Gebrauch von ihr machte, so wie ihr Geliebter sie besessen und benutzt hatte.
Und wenn sie denn schon verloren war, sollte es ein eigener Willensakt sein, ihr letzter selbstbestimmter Schritt. Sie wollte sich aus jedem Porträt zurückziehen, aus jeder Skizze, jedem Abbild der Schmerzen, die Picasso ihr zugefügt und so raffiniert ausgebeutet hatte. Sie wollte zur Abwesenheit ihrer selbst werden. Sie wollte (wäre es möglich gewesen) ihre Seele von der Leinwand zurückrufen und nichts hinterlassen als ihre Hülse, ihren meisterhaft verfertigten Kokon. Und sie wollte nicht leise verschwinden, nein, so laut wie möglich wollte sie sich selbst verlieren. Es war ein Akt der Gewalt, aber das Gegenteil von Selbstmord. Wenn wir, vor Picassos Bildern stehend, die Frau anstarren, von der es heißt, sie sei Dora Maar, können wir uns durchaus vorstellen, daß sie ihr Ziel erreicht hat - jenseits der zufälligen Berühmtheit, die sie durch uns, die voyeuristischen Museumsbesucher, erlangte.
Dora Maar starb im Juli 1997 im Alter von neunundachtzig Jahren in Paris.
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Dimitri Schostakowitsch kam der Gedanke, sich auf die Gattung Streichquartett einzulassen, erst nach der Fünften Sinfonie; seine Nr.1 trägt die Opuszahl 49. Umso nachdrücklicher hat ihn das Streichquartett danach beschäftigt. Fünfzehn Quartette wurden es schließlich, ebenso viele wie die Sinfonien, und im Gesamtwerk sind sie auch ebenso schwergewichtig wie diese. Wenn die Quartette auch einzeln nicht in direktem Gegensatz zu den Sinfonien stehen, dann beschreiben sie doch als Gattung zwei janusartig entgegengesetzte Gesichter des russischen Komponisten.
Diese Aufspaltung geschah allerdings erst mit der Fünften Sinfonie. Im Frühwerk hätte sich eine so feine Gattung wie ein Streichquartett seltsam ausgenommen, denn da war er vor allem ein frecher Hund. Gewiss, der Neunzehnjährige hatte 1925 mit einer klassischen Sinfonie weltweit Aufsehen erregt. Aber das war seine Diplomarbeit am Leningrader Konservatorium, und mit ihr wollte er sowohl seine formale Meisterschaft, als auch die nötige Portion Respektlosigkeit gegenüber der Tradition beweisen – etwa, indem er eine Korrektur, die sein ihm sehr wohlgesonnener Lehrer Glasunow in der Harmonisierung angebracht hatte, vor der Aufführung hinter dessen Rücken wieder rückgängig machte. Auch das Präludium und Scherzo für Streichoktett aus dem gleichen Jahr sind kompositorische Virtuosenstücke. Überhaupt sind Scherzi und fantastische Tänze die häufigsten Namen seiner ersten Kompositionen.
Höchstens das 1. Klaviertrio op. 8 bemüht sich um ein konventionelles Kammermusik-Genre, doch auch hier spielt der Siebzehnjährige sehr gekonnt mit einer alten Form und imitiert den Ton der Tradition, um ein hintergründiges Bild zu geben. Das entscheidende Instrument ist hier das Klavier, Schostakowitschs eigenes Instrument, auf dem seine große Virtuosität ihn bis zum ersten Preis beim Warschauer Wettbewerb brachte. Schostakowitsch war, wie wir von Zeitgenossen ebenso wie durch Aufnahmen wissen, ein ganz unglaublicher Pianist mit einem eigenartig scharfen und pointierten Anschlag; Pedal benutzte er fast nie – und solche Charakteristika sind auch ganz allgemein nicht unwesentlich für seine Musik. Für sich schrieb er denn auch die 1. Klaviersonate und die 10 Aphorismen, die die radikale Sprache seiner 2. und 3. Sinfonie vorbereiteten – wie ihre Titel "Oktober" und "1. Mai" schon zeigen, ging es da um die Verbindung experimenteller Klänge mit Anforderungen des Agitprop. Das Streichquartett war für ihn zu diesem Zeitpunkt eine wenn nicht antiquierte, so doch äußerst entlegene Sache.
Viel lieber schrieb Schostakowitsch für das Theater, das ihn in die Zusammenarbeit mit Meyerhold,Majakowski und Rodtschenko brachte, oder für das neue Medium des Films, wo er mehrfach mit den großen Regisseuren Kosinzew und Trauberg arbeitete, die bald Freunde wurden. Es entstanden die drei Ballette auf Stoffe, wie sie in der jungen Sowjetrepublik aktuell waren, und die beiden sozialkritischen Opern "Die Nase" und "Lady Macbeth". Hinter diesen engagierten Arbeiten hatte die reine Konzertmusik zurückzustehen.
Das 1. Klavierkonzert mit seiner witzigen Trompetenstimme war eher eine Persiflage auf das romantische Konzert. Immerhin deuten die 24 Klavierpräludien und die Cellosonate darauf hin, dass ihm auch in politisch brisanter Zeit das Konzertpodium als solches wichtig war. Die Konzeption einer rein instrumentalen vierten Sinfonie brachte ans Licht, was Schostakowitsch auch in einer "Deklaration der Pflichten eines Komponisten" publizierte: Die Flucht der Komponisten ins Theater habe zur Produktion von bloßen Schablonen geführt, aber die Musik ruiniert, er könne nun nicht weiter der eigenen Entpersönlichung zusehen.
Der herausragende Musikwissenschaftler Iwan Sollertinski, mit dem Schostakowitsch sich eng befreundet hatte, impfte dem bisherigen Bürgerschreck die Achtung vor der Musik "von Bach bis Offenbach" ein und bestärkte ihn in der Auffassung, dass nur die künstlerische Qualität, nicht aber irgendeine gute politische Absicht der sowjetischen Musik Achtung eintragen könne.
Doch dann kam der Januar 1936. In der Prawda erschien der von Stalin initiierte Artikel "Chaos statt Musik", in dem an Schostakowitsch das Exempel statuiert wurde, das die gesamte sowjetische Avantgardekunst auslöschen sollte. Für Schostakowitsch begann die lange Reihe von Versammlungen, in denen seine Musik von den Bürokraten verurteilt und er zum Volksfeind abgestempelt wurde. Anderen Künstlern, darunter vielen Freunden wie dem Marschall Tuchatschewski, ging es bekanntlich weit schlimmer, sie wurden in Lager deportiert oder ermordet.
Zunächst war Schostakowitsch wie gelähmt und schrieb in diesem Jahr neben einer Film- und einer Theatermusik nur vier Puschkin-Lieder. Die Fertigstellung der Vierten Sinfonie schleppte sich hin, und vor der Uraufführung zog er sie plötzlich zurück. Er war nun 30 Jahre alt und hatte Familie. Er suchte nach einer Möglichkeit, zu überleben ohne sich aufzugeben. Er fand sie mit der nach klassischem Schema viersätzig angelegten Fünften Sinfonie. Unter dem politischen Druck formte sich seine Musik um. Sie erhielt einen doppelten Boden. Nach außen hin war sie demonstrativ klassizistisch und klang, als erfülle sie die Anforderungen der offiziellen Doktrin vom "Sozialistischen Realismus", doch für den Musikkenner enthielt sie verborgene Botschaften: die Volkstümlichkeit war sarkastische Posse, jüdische Melodik solidarisierte sich mit Verfolgten, bestimmte Themen und Motive bedeuteten ebenso konkrete Hinweise wie die Benutzung von Formen der Tradition und ihre anders gerichtete Verwendung. Das war die Maske Schostakowitschs in der Zeit des Stalinismus, mit der er sich die Rehabilitierung erkaufte, die in der Berufung zum Professor am Leningrader Konservatorium gipfelte.
Da er selbst in den letztlich doch immer als Großereignis angelegten Sinfonien die Grenzen des Möglichen immer wieder ausreizte und seine Gegner provozierte, bezahlte er für das Überleben mit dem frühen Ruin seiner Gesundheit, hoher Nervosität und psychischen Problemen. Gegenüber der Vortäuschung des Klassischen in den Sinfonien rückte nun das Streichquartett in den Mittelpunkt seines Interesses. Hier konnte er die kompositorische Meisterlichkeit in der Stille erproben. Kammermusik war für die Parteibürokraten nicht so interessant. Welcher feindlichen Agitation konnte die zahlenmäßig unbedeutende Besucherschar dort schon zum Opfer fallen!
Die Gefühlswelt des Ersten Quartetts aus dem Jahr 1938 ist denn auch reich an Schattierungen. Nachdenklichkeit und Verzicht auf äußerliche Effekte, eine ruhige Heiterkeit statt aufgeputzter Fröhlichkeit, rein musikalische Formlösungen befreien vom Krampf der Verstellung. Das Stück steht ausgerechnet in der "naiven" Tonart C-Dur und ist völlig unprätentiös – nach der bedeutungsschweren Geschichte der Gattung Streichquartett hätte dieser Anfang auch ganz anders ausfallen können. Im entspannten, wenn auch untergründig nicht sorgenfreien Ton des Stücks drückt sich eine Haltung aus, die allem politischen Druck mit souveräner Distanz zu begegnen weiß.
Hier erinnert alles an den frühen, unbekümmerten Schostakowitsch, den frechen Parteigänger der Avantgarde. Wie in der Ersten Sinfonie des 19-jährigen ist im Ersten Streichquartett des 32-jährigen Komponisten die traditionelle viersätzige Form eingehalten, aber im Inneren geht er natürlich wieder ganz eigene Wege. Das Stück dauert nicht mehr als eine gute Viertelstunde und hätte auch anders enden können, als in diesem Wirbel von Ausgelassenheit. Der erste Satz ist kein schnelles Allegro, sondern ein Moderato, und es gibt auch keine Durchführung. Die Themen entfalten sich lyrisch und zeigen sich in überraschenden harmonischen und rhythmischen Perspektiven. Die Musik erfreut sich am freien Spiel der einzelnen Stimmen.
Tröstlich in diesem Quartett ist vor allem, dass Schostakowitsch mit der russischen Tradition auch noch ganz positiv umgehen kann: Tritt uns in den Sinfonien immer mehr die Fratze des Nationalismus, der stumpfen Selbstbeweihräucherung entgegen, sobald russisches Kolorit benutzt wird, demonstriert er uns im zweiten Satz des Quartetts, wie anregend die russische Musiktradition auf seine Musik wirkt, so lange es um rein Kompositorisches geht. Hier kann er sich ganz entspannt seinen Vorbildern Tschaikowsky und vor allem Mussorgski beigesellen. Zauberspuk von Mendelssohnischer Leichtigkeit beherrscht den dritten Satz.
Zunächst schien es, als sei das C-Dur-Quartett nur ein kleiner Seitensprung gewesen. Sechs Jahre sollte es dauern, bis das Zweite entstand, und da schrieb man schon das Jahr 1944 und es herrschte Krieg. In der Zwischenzeit schrieb Schostakowitsch die sarkastische Sechste Sinfonie und gestaltete in den groß angelegten Bildern der Siebten (der "Leningrader") und der Achten die europäische Tragödie des Totalitarismus. Während der Krieg tobte, seine Stadt Leningrad von den Deutschen belagert und er selbst in den Ural evakuiert wurde, entstand das Klavierquintett, dessen Uraufführung 1940 mit ihm selbst am Klavier ein überaus bedeutendes Ereignis für die russische Musik war; auch die zweite Klaviersonate ging zwei Jahre später den kammermusikalischen Weg weiter, der 1944 zu einem dritten Werk mit Klavierbeteiligung führte: dem großen Zweiten Klaviertrio op.67, das für das Achte Quartett so wichtig werden sollte.
Ein bedeutungsvoller Hinweis war in der Sechsten Sinfonie, dass sie keinen Kopfsatz hat, sondern nur aus einem langsamen Satz und zwei Scherzi besteht: Kopflosigkeit angesichts unauflösbarer Widersprüche. In seinem Zweiten Streichquartett op. 68 vom Jahr 1944 legte Schostakowitsch hingegen großen Wert auf den Kopfsatz, der das umfangreiche Stück einleitet. Die Unbefangenheit des Ersten Quartetts hat die Musik verloren, sie ist von großer Verstörtheit. So kann man das Finale zwar als einen Variationssatz bezeichnen, doch was mit diesem russischen Thema geschieht, ist so wenig bloße kompositorische Virtuosität wie das Variationenfinale von Tschaikowskys Vierter Sinfonie.
Hatte man in der Klassik noch vom Streichquartett als der vernünftigen Unterhaltung von vier gebildeten Personen gesprochen, wird die Gattung mit diesem Stück zur einsamen Zwiesprache. Zur Zwiesprache mit sich selbst, mit einem imaginären oder mit einem ebenfalls einsamen Zuhörer in einer Zeit, in der die Massen gefährlich geworden sind. Dem entspricht das Rezitativ, die Deklamation eines Instruments nach der Art menschlicher Rede: kein "Lied ohne Worte", sondern eine Ansprache ohne Worte – ob an ein vertrautes Gegenüber, an einen erhofften Empfänger, in das Nichts hinein oder als ein Gebet: in jedem Fall eine Flaschenpost. War der Komponist in diesem Quartett mit vielem bereits auf die Neunte Symphonie zugegangen, weist das genannte Rezitativ noch zwei Jahre weiter in die Zukunft, auf die große Kadenz des Ersten Violinkonzerts.
Nach dem Ende des Krieges mit allen seinen furchtbaren Verwüstungen und Opfern hatte Schostakowitsch das Pech, dass er bei der Nummerierung seiner Sinfonien bei der Neun angelangt war. Stalin, und nicht nur er, erwartete nun natürlich eine "Sowjetische Neunte" auf den Sieg seiner siegreichen Armee, und Schostakowitsch selbst war so unvorsichtig gewesen, mehrmals eine große Chorsinfonie auf Worte der marxistischen Klassiker anzukündigen. Was bei der Uraufführung 1945 ans Tageslicht kam, war jedoch ein klassizistisches Leichtgewicht, nicht mal eine halbe Stunde lang, ein kleines Stückchen nach der Art von Haydn kam zum Vorschein, das auch noch kräftig ironische Töne anschlug und Galgenhumor zum Ausdruck brachte. Die Wiederkehr des Spötters Schostakowitsch wurde nicht verziehen. Vor Stalins Tod wagte er keine Sinfonie mehr. Der Komponist zog es vor, seine nächsten Werke entweder für Kammermusik zu schreiben oder ganz in der Schublade verschwinden zu lassen.
Schlimmer wäre es freilich gewesen, die Kultur-Gängler hätten die Neunte verstanden. Was sie witzig formulierte, die Ängste der Unterdrückten wie ihren Galgenhumor, das bringt das Dritte Streichquartett op. 73 ein Jahr später in vollem Ernst. Es gehört zu den schwergewichtigen Kammermusikwerken, die Schostakowitsch in jenen Jahren schrieb. Hier hallen noch einmal die Ungeheuerlichkeiten der Achten Sinfonie nach. Auch die fünfsätzige Anlage entspricht ihr. Wie dort steht vor dem Finale als langsamer Satz eine Passacaglia. Diese Form diente Schostakowitsch seit der Oper "Lady Macbeth", wo er ein Zwischenspiel als Passacaglia gestaltet hatte, als Ausdruck eines unausweichlichen Verhängnisses. Ein Bassthema wird ostinato, d.h. unverändert immerfort wiederholt, während sich die oberen Stimmen frei bewegen, bis sie auf dem Höhepunkt das Passacaglia-Thema übernehmen.
Die beiden Themen des ersten Satzes sind höchst gegensätzlich; das erste ist eine sarkastische Polka in neoklassischem Stil, das zweite eine zarte Melodie. Doch was geschieht mit diesen unscheinbaren Geschöpfen in der Durchführung! Sie wenden sich unvermuteter Gewalttätigkeit zu und stürzen sich in eine enorme Kollision, die etwas vom Trotz eines Kindes hat. Hier zeigt sich Schostakowitsch als ein phänomenaler Meister der Durchführung, der mühelos das Niveau Beethovens erreicht. Der Satz ist in seiner Haltung dem Kopfsatz der Vierten Symphonie von Gustav Mahler nicht fern.
Neu im Streichquartett ist der Marionettenmarsch im ersten Scherzo, eine typische Ausdrucksform Schostakowitschs in der Stalinzeit, die meist im Allegretto-Tempo auftaucht, eine traurige Karikatur. Auch dieser zweite Satz „Moderato con moto“ hat zwei Themen, das erste energisch federnd, das zweite fiebernd, durchbrochen von Seufzermotiven in den höheren Registern. Nach einer Reihe von Veränderungen endet er mit versöhnlichen Tönen. Auf einen langen Quartsextakkord in c-moll legen sich tiefe Terzen in e-moll, was eine Dissonanz ergibt, die an eine düstere Höhle erinnern mag. Der teuflische Rhythmus des Scherzos wechselt zwischen Zweier- und Dreiertakt und schafft dadurch eine ungeheure Spannung, die bis zum Ende nicht nachlässt. Danach erklingt das erwähnte Adagio mit der Passacaglia. Ohne Unterbrechung folgt der fünfte Satz „Moderato“. Sein erstes Thema klingt wie eine Barkarole. Dem gesangvollen zweiten Thema folgt überraschend ein kecker Tanz in A-Dur, dessen Anflug von Wehmut aber seine Herkunft aus einem jüdischen Tanz verrät – Schostakowitsch liebte die jüdische Musik besonders, da sie das Lachen durch Tränen hindurch ausdrücken konnte und so das tiefe Leid des Musikanten zugleich verbarg als auch offenbarte.
Noch eine weitere formale Neuerung greift der Komponist im Dritten Quartett auf. Im Zweiten Klaviertrio hatte er sie zum ersten Mal angewandt: Im Finale erklingt auf dem Höhepunkt das ostinate Passacaglien-Thema, die Quartettsätze werden auf diese Weise thematisch zyklisch verknüpft. Auch im Sechsten und Zehnten Quartett wird diese Form eine wichtige Rolle spielen, zunächst aber im Violinkonzert von 1947, in dem das Gewaltthema aus der Oper "Lady Macbeth" auch das Passacaglia-Thema abgibt – ein Symbol des fortwährenden Verhängnisses und in der Schluss-Apotheose auch dessen Triumph.
In der Reprise tritt das jüdische Tanzthema nach a-moll gewendet wieder auf. Nach unsteten harmonischen Wechseln findet die Musik schließlich zurück nach F-Dur und zeigt den Ausdruck tief empfundener Versöhnung. Bis zuletzt klingt dieser Akkord ostinato nach, während die erste Violine uns einen Abschiedsgruß zusendet.
Obwohl es zunächst wie eine private Oase in den Wüsteneien der Zeit wirkte, ist das Streichquartett auf diese Weise nun doch sehr rasch in Schostakowitschs System des Komponierens mit doppeltem Boden hineingezogen worden. Sowieso gab es kein Entrinnen aus einer nach Kriegsende wieder verschärften Reglementierung des Lebens und der Künste. Die Musik war diesmal die letzte, die es traf, als Andrej Schdanow die Keule gegen die Kultur schwang. Im Februar 1948 fand die große Versammlung statt, auf der mit Prokofjew, Schostakowitsch und Chatschaturjan die besten sowjetischen Komponisten als Abweichler und Volksfeinde gegeißelt und ihrer Lehrämter an den Hochschulen enthoben wurden. Der sonst so korrekte Sergej Prokofjew hatte demonstrativ in legerer Kleidung vorne Platz genommen. Schostakowitsch saß ganz hinten und lief alle fünf Minuten hinaus, um eine Zigarette zu rauchen.
Die folgenden fünf Jahre bis zu Stalins Tod 1953 wurden schwierig. Materiell ungesichert, musste Schostakowitsch wieder als Pianist auf Konzerttourneen gehen. Was er in diesen Jahren neben Stücken für ein Massenpublikum wie dem "Lied von den Wäldern" oder den "Zehn revolutionären Poemen" schrieb, wanderte in die Schublade. Stalin hatte zur gleichen Zeit eine antisemitische Kampagne angefacht, auf deren Höhepunkt auch der Leiter des Jüdischen Theaters, Solomon Michoëls, umgebracht wurde, den Schostakowitsch gut kannte. Der Komponist Moissej Weinberg, mit dem Schostakowitsch befreundet war, wurde eingekerkert und gefoltert. Da die jüdische Folklore ihn schon lange fasziniert hatte – im Zweiten Klaviertrio hatte das zum ersten Mal Ausdruck gefunden – verwendete er sie jetzt erst recht, im Violinkonzert, im Liederzyklus "Aus jüdischer Volkspoesie", im Vierten Streichquartett op. 83, das 1949 entstand, ebenfalls für die Schublade.
Auf den ersten Blick erscheint das Vierte Quartett als typisches Produkt der Inneren Emigration, der Welt abhanden gekommen und nur für sich selbst da. Doch man muss nur auf die jüdischen Motive achten, und man hört anders. Wie viele andere Stücke Schostakowitschs ist auch dieses ein Requiem, hier ein Gedenken an die jüdischen Opfer des Regimes. Rudolf Barschai, der die bekannte Orchesterfassung des Achten Quartetts schuf, hat mit seiner Fassung des Vierten Quartetts sozusagen mit der Röntgenkamera des bunten Kammerorchesters in die Tiefenschichten hineingeleuchtet, und da war es mit der Gemütlichkeit schlagartig vorbei. Die im Galopp-Trio des Scherzos verborgenen Mahlerischen Militärsignale kann man nun ebenso wenig ignorieren wie den letzten Trompetengruß an den toten Freund am Ende. Im Finale finden die orientalischen Skalen, Orgelpunkte und Tanzrhythmen in einfach gebauten Liedthemen zusammen: Die Verbindung chromatischer Klagemotive mit fröhlichem Tanzcharakter und die hier deutlich hervorgehobene übermäßige Sekunde sind Charakteristika jüdischer Folklore, heute sagen wir Klezmer dazu. Dies war Schostakowitschs Kommentar zum staatlich geförderten Antisemitismus.
Barschai, erst Schüler Schostakowitschs am Moskauer Konservatorium, dann sein Kammermusikpartner, hatte sich über jene Stelle gewundert, in der ein orthodoxer Choral neben einem jüdischen Tanzthema steht, das ganz sarkastisch wirkt. Als sie beide einmal in Schostakowitschs Wohnung alleine arbeiteten, fragte er ihn danach. "Seine Augen blitzten auf und sahen mich genau an, und darin habe ich vieles gelesen. Zuerst las ich, dass er sehr zufrieden sei, dass das jemand versteht. Aber dann beherrschte er sich sofort und schloss sich völlig ab. Er sah nach unten und sagte ganz kalt und scharf: Aber das bedeutet nichts, das ist Musik, das ist alles. Da war mir alles klar."
Das beispiellos herbe Fünfte Quartett op. 92 ist der letzte Zeuge der ausweglosen Situation der späten Stalinzeit, die den Komponisten soweit demütigte, dass er sich als "Volksvertreter" in den Obersten Sowjet der Russischen Republik wählen lassen musste. In der nach dem Tod des Diktators erschienenen Zehnten Sinfonie bricht der angestaute Hass auf, wird ein Triumphlied auf den Individualismus angestimmt, das in der ständigen Wiederholung des Wörtchens "Ich" gipfelt – musikalisch tut Schostakowitsch das durch die Verwendung der deutschen Umschrift seiner Initialen D.Sch., also in den Noten d-es-c-h.
In Wirklichkeit brachte ihm die Befreiung jedoch ein Erlöschen der Produktivität. Er begann sich bereits als Rossini zu fühlen, bis er 1956 das schöne Sechste Quartett op. 101 und im Jahr darauf die Elfte Sinfonie komponierte. Im Sechsten Quartett macht gleich zu Beginn das bei Schostakowitsch so häufige Klagemotiv auf sich aufmerksam, eine fallende Tonfolge. Die Widersprüche in dieser Komposition werden versöhnt, indem jeder Satz mit der gleichen kadenzierenden Floskel harmonisch abgeschlossen wird – die resignierende Ironie ist nicht zu überhören. Das Gewaltmotiv deutet tiefergründige Schichten dieser Musik an, die aus einem Höhenflug schwindelnd abstürzt und im bekannten Marionettentrott endet. 1958 brachte eine Operette und 1959 ein Cellokonzert, erst das Jahr 1960 wurde wieder produktiver. Hier entstanden gleich zwei Streichquartette. Das knappe, in Erinnerung an seine erste Frau Nina geschriebene Siebte Quartett op. 108 steht freilich im Schatten des Achten Streichquartetts op. 110, Schostakowitschs berühmtester Quartettkomposition überhaupt.
Doch so häufig das Achte Quartett gespielt wird, so selten wird es verstanden. Dabei ist es das Schlüsselwerk, das uns das ganze Rätsel Schostakowitsch mit einem Schlag auflöst. Er hat es natürlich selbst verschleiert, indem er die pathetische Widmung "Den Opfern von Faschismus und Krieg" darüber setzte. Wenn man aber die Themen hört, die aus seinen eigenen Werken und Tschaikowskys Sechster Sinfonie sind, dazu das an den wichtigsten Stellen auftauchende "d-es-c-h"-Motiv, kann man eigentlich nicht übergehen, dass nur von ihm selbst die Rede ist.
Es war auch immer bekannt, dass das Quartett nach Schostakowitschs Eintritt in die Kommunistische Partei entstanden war – ein Schritt, den niemand recht verstand. Sicher, in der Tauwetter-Periode unter Chruschtschow schrieb er Musik, die nach Hoffnung auf eine Rettung des sozialistischen Gedankens aussah, aber wenn er unter dem ärgsten Druck nicht in die Partei eingetreten war, warum sollte er es jetzt tun? Man wollte ihn zum Vorsitzenden des Komponistenverbandes der Russischen Republik machen – an der Spitze des Allunionsverbandes amtierte seit 1948 sein Feind Tichon Chrennikow, und der sollte es bis 1993 tun – und die Voraussetzung für diese Position war die Parteizugehörigkeit.
Von Zeitzeugen wissen wir, dass Schostakowitsch sich mit allen Mitteln dagegen sträubte und dass er Ausreden suchte bis dahin, dass er noch nicht genug vom Marxismus verstehe und religiös sei; wir wissen, dass er aus Moskau floh und dass er hysterisch weinte. Es half alles nichts. Danach schickte man ihn nach Dresden, um die Musik zu Arnstams Film "Fünf Tage – Fünf Nächte" zu schreiben. An seinen intimen Freund Isaak Glikman schrieb er einen Brief, der vom Empfänger erst 1991 veröffentlicht wurde. Darin berichtet er, dass er zwar von der Sächsischen Schweiz begeistert sei und ein Streichquartett komponiert habe, aber von der Filmmusik keinen Takt geschrieben habe.
Das Achte Streichquartett sei eine Pseudotragödie und "der Erinnerung des Verfassers dieser Musik" gewidmet, schrieb Schostakowitsch: sarkastisch beschreibt er sich als einen Toten. Die Selbstdemütigung gipfelt in der Bemerkung, er habe geweint – aus Glück darüber, wie schön die Form gelungen sei. Der erste Satz erinnert an die Wendepunkte seines Komponistenlebens: aus weiter, nebelhafter Ferne steigen der Anfang der Ersten Sinfonie, deren Uraufführungstag er jedes Jahr zu feiern pflegte, und das zweite Thema der Fünften Sinfonie empor.
Die gehetzte Flucht des zweiten Satzes führt zu immer grelleren "d-es-c-h"-Rufen, die sich schließlich mit dem in dreifachem Forte ausbrechenden jüdischen (2.) Thema aus dem Finale des Zweiten Klaviertrios verbinden – die Identifikation mit den jüdischen Opfern nicht nur des Holocaust, sondern auch der stalinistischen Pogrome. Im dritten Satz mit seiner untertänigen Beflissenheit enthüllt Schostakowitsch das Hauptthema des Cellokonzerts vom Vorjahr als eine Entstellung des "d-es-c-h"-Motivs: das angepasste Mitglied des Komponistenverbandes, das seine Stücke gerne kritisieren lässt und stets als Helfer zur Stelle ist, als Maske des Komponisten D.Sch. Auch die fiesen Achtelfiguren geben Hinweise auf entsprechende Stellen in der Vierten und Fünften Sinfonie. Revolutionäre Trauerlieder und die sehnsuchtsvolle Klage der Lady Macbeth um ihren verlorenen Liebhaber Serjoscha stellen das "d-es-c-h"-Motiv wieder richtig, das dann den desolaten Schluss-Satz beherrscht.
Schwer zu glauben, dass danach die Zwölfte Sinfonie zum Gedenken an Lenin entstand, zu der die Dreizehnte vom Jahr darauf mit ihren provozierenden Jewtuschenko-Texten wieder jene kritische Solidarität mit dem Chruschtschow-Regime praktiziert, die es bei seinem moralischen Anspruch packt. Der neuerliche Konflikt mit den Behörden war damit vorprogrammiert. Im Jahr 1964, in Chruschtschows letzten Monaten, entstanden wieder zwei Streichquartette: Nr. 9 op. 117 und Nr. 10 op. 118. Das Neunte Streichquartett op. 117 besteht aus fünf Sätzen, die ineinander übergehen. Ein bizarres, abgründiges und sehr eindrucksvolles Werk, dem schon im ersten Satz bei aller scheinbaren Leichtfüßigkeit die Grundierung durch eine gleichförmige Achtelbewegung im Halbtonschritt und ein marionettenhafter Marsch den Anschein des Leidens am gleichmütigen Trott geben. Das mittlere Allegretto wird von zwei Adagios umrahmt. Im Finale, auf das beinahe die Hälfte der Takte entfallen, ballen sich die aufgestauten Widersprüche. Ein Kernthema beherrscht alle Sätze und wird auf vielerlei Weise variiert; mit ihm beginnt das Quartett und mit ihm schließt es auch. Es ist in seiner schnellen Form dem »Anpfiff« aus dem dritten Satz des Achten Streichquartetts ähnlich, jener Karikatur der eilfertigen Beflissenheit. Der erste und der vierte Satz bekommen durch die stetige Wiederholung eines Halbtonschritts einen monotonen Ausdruck. Das erinnert (wie im ersten Satz der Zehnten Symphonie) an das Klage-Motiv, das hier im ersten Satz einmal auftritt, sonst aber durch ein – jedes Mal wiederholtes – Dreitonmotiv würdig vertreten ist, das durch das ganze Werk geistert und aus dem zweiten Takt des Kernthemas entwickelt ist.
Im Mittelsatz, einem ebenso witzigen wie schließlich gespenstischen Galopp (einer wilden Jagd: nach dem Erfolg?), kommen russische Intonationen in einem märchenhaften Ton hinzu, die mit jenem kräftigen, russischen »Uach!« enden. Der vierte Satz reißt den Fluss der Musik auf, zuerst mit jener bohrenden Wiederholung des Halbtonschritts, lähmend langsam, ganz wie im ersten Satz der Zehnten Symphonie, dann mit ff-Pizzicato-Akkorden ähnlich wie in der Kadenz des Ersten Cellokonzerts. Solche Aufhebung der motorischen Bewegung schafft den Eindruck völliger Einsamkeit. Drei aufeinander folgende fahle Quint- bzw. Quartakkorde erzeugen eine schauerliche Stimmung: In der Fünfzehnten Symphonie wird sich so der Tod melden. Dazu ertönt eine deklamatorische Wendung – ein Aufruf, eine Mahnung? –, die jenes wiederholte Dreitonmotiv enthält, das auch in der Mitte des Allegretto die Antwort auf den »Anpfiff« war.
Das Finale beginnt in größter Hast und völlig verstört. Die Formulierungen ähneln der »Flucht« am Beginn des Allegro-Finales der Vierten Symphonie. Die bisherigen Gestalten werden dabei verarbeitet, es dominiert zunächst das wiederholte Dreitonmotiv, das in einem Zwischenteil vorübergehend von einem harten, schweren, russischen Lied verdrängt wird. Schließlich tritt die deklamatorische Stelle aus dem zweiten Adagio auf, gefolgt von den Pizzicato-Akkorden und schließlich den monotonen Halbtonschritten. In die Lähmung hinein wird das schlichte Galoppthema aus dem Mittelsatz eingeführt, das nach weiteren heftigen, zeitweise scharf dissonierenden Entwicklungen zusammen mit dem Kernthema und dem russischen »Uach!«-Juchzer das Streichquartett unvermutet zu einem fff-Schluss von hysterischer Ausgelassenheit führt.
Das Werk bietet keine simple Pauschallösung der Formfrage und ist auch in kein programmatisches Schema einzuzwängen. Es öffnet sich dem Hörer bei der ersten Bekanntschaft noch lange nicht, sondern zwingt ihn zum Nachdenken, es gehorcht also nicht der herrschenden Ästhetik. Stücke wie dieses zeigen den Komponisten wieder auf der Höhe seiner Fähigkeiten. Sie erklären auch die Anziehungskraft Schostakowitschs auf die junge Generation, die von seiner kunstvollen Satztechnik fasziniert war.
Das unmittelbar danach begonnene und am 24. Juli 1964 beendete Zehnte Streichquartett op. 118 setzt an vergleichbar marionettenhaften Formulierungen an. In schärfstem Kontrast zu dem einleitenden gleichmütigen Andante steht der grobe zweite Satz, ein aggressives »Allegretto furioso« vom Typus des sarkastischen Scherzo, das wildeste Scherzo aller Quartette, das an das Stalin-Portrait im Scherzo der Zehnten Sinfonie erinnert. Dem dritten Satz, einer ernsten Passacaglia mit elf Durchgängen, folgt das Finale erneut mit einem mechanisch bewegten Thema. Wenn die Musik schließlich in abstoßend aggressive Töne übergeht, wird von Cello und Bratsche das Passacaglia-Thema dagegengesetzt. In den nach diesem Höhepunkt mechanisch weitertrottenden Marsch dringt eine Erinnerung an den ersten Satz. Schließlich verliert sich die Musik im Irgendwo.
Das Marionettenhafte hatte sich in Schostakowitschs Musik einen immer größeren Stellenwert erobert. Folglich sah er darin die größte Bedrohung: dass sich wieder die Anpassung, das Kuschen, die Doppelmoral, der Opportunismus breit machen. In seiner Musik findet sich auch der Hinweis für ein Bewusstsein dafür, dass er mit seiner öffentlichen Rolle zu dieser Doppelmoral beigetragen hatte und sie erhalten half. In den Mittelpunkt seiner Musik rückte jetzt immer mehr der Tod, über den auch das Elfte Streichquartett op. 122 reflektiert, offenbar nach dem Motto »Carpe diem« (»Nutze den Tag!«), was im Systemzusammenhang aber doch nur wieder die moralisierende Erpressung zur Mitarbeit ist.
Es entstand 1966 noch in der Tauwetter-Periode, die dann durch Breschnews Machtübernahme und Restaurationspolitik ein jähes Ende nahm. Neben dem fantastischen Zweiten Cellokonzert schrieb Schostakowitsch in diesem Jahr auch ein bitter-ironisches "Vorwort zur vollständigen Sammlung meiner Werke und kurze Betrachtungen hinsichtlich dieses Vorworts". Selbst zu seinem 60. Geburtstag, zu dem man ihn allseitig mächtig ehrte, war an eine solche Gesamtausgabe natürlich nicht zu denken. Er war in einer Stimmung, wie ein Brief an Glikman sie ausdrückt: Es gebe Komponisten, die zu früh sterben, welche, die zum richtigen Zeitpunkt sterben, und welche, die zu lange leben. Mussorgski beispielsweise sei zu früh gestorben, Schubert dagegen zum richtigen Zeitpunkt, während Tschaikowsky zu lange gelebt habe. Auch er selber habe sich überlebt und sei ein mausgrauer, durchschnittlicher Komponist.
Im Mai 1966 erlitt er einen Schlaganfall. Die letzten neun Jahre seines Lebens war er immer öfter kränklich und mehr und mehr auch ans Krankenhausbett gefesselt. Das Spätwerk, das mit der Liederfolge nach Texten von Alexander Block und dem düsteren Zweiten Violinkonzert einsetzt, ist die vierte, stilistisch eigenständige Periode in Schostakowitschs Werk. Ihr Thema ist der Tod, am unmittelbarsten in der Vierzehnten Sinfonie von 1969, die in elf Liedern ausschließlich den Tod betrachtet. Illusionen gibt es nicht mehr, die Musiksprache wird spröde, überschreitet bisweilen die Grenzen der Tonalität.
Hässliche Motive im Zwölften Streichquartett op. 133 (1968) erinnern an jene »schmierigen« Passagen früherer Werke wie im Scherzo der Vierten Symphonie. Interessant ist hier, mit welchen Einführungsworten Schostakowitsch selbst dieses knappe, zweisätzige Werk vorstellte: »Der erste Satz portraitiert die Welt hoher Ideale. Der zweite Satz steht in scharfem Kontrast dazu. Sein erster (wie dritter) Teil stellt ein beunruhigendes Scherzo dar, eine Agonie, die unfähig ist, die Widersprüchlichkeiten des Lebens zu lösen.«
Zur Ausgestaltung der beklemmenden Episoden im zweiten Satz dieses Quartetts setzte Schostakowitsch bisher ungewohnt »moderne« Formulierungen ein, die die Musik sozusagen »grölen« lassen und auch den lauten Schluss sehr ungemütlich machen. Seit diesem Werk benutzte Schostakowitsch übrigens auch Zwölftonthemen, allerdings ohne eine strenge Reihentechnik anzuwenden; offiziell beteiligte er sich gleichzeitig an der Verteufelung der Zwölftonmusik. Seine aus sämtlichen 11 bzw. 12 Halbtönen der Tonleiter zusammengesetzten Themen bedeuten jedoch nur ein partielles Verlassen der Tonalität, der er – mit altrussischen Modifikationen – treu blieb. Zwölftonthemen im Zwölften Streichquartett und im ersten und letzten Satz der Violinsonate bleiben umso stärker Fremdkörper, als sie an den Finalsatz von Schönbergs Zweitem Streichquartett anklingen, an das George-Lied »Entrückung« (»Ich fühle luft von anderem planeten«): als gleite die Musik ins Irreale.
Die Primitivismen in diesem Werk sind jedoch nichts im Vergleich zu denen des B-Teils des Dreizehnten Streichquartett op. 138 (1970). Das einsätzige Werk ist nach dem Schema A-B-C-B'-A' strukturiert, also wieder in Bogenform. Die Adagio-Außenteile werden vom Klage-Motiv dominiert. Der B-Teil entwickelt sich zur Horror-Vision, mit einem Crescendo- Aufschrei vom fp zum sffff, der nicht nur am Schluss wiederkehren wird, sondern auch in der »Serenade« des Fünfzehnten Streichquartetts, zusammen mit den Schreckensfiguren, die ihn hier umgeben. Der Mittelteil ist ein marschähnliches Gehopse, ziellos, ohne jede Entwicklung, dessen gespenstischer Ausdruck durch Schläge mit dem Bogen auf den Corpus der Instrumente verstärkt wird und über das sich ein schauderhaftes Grölen legt. Klagend und völlig desolat versickert die Musik dann schließlich, und am Ende steht ein pfeifendes Crescendo des b’’’ vom pp zum sffff.
Solche Klänge standen im Gegensatz zur Ästhetik des Komponistenverbandes, als dessen Funktionär Schostakowitsch wortreich den Modernismus bekämpfte. Auch der alte Schostakowitsch erfüllte die ihm auferlegten Pflichten treulich und hielt die geforderten Reden gegen den widerlichen westlichen Avantgardismus. Als Lehrer und Funktionär setzte er sich jedoch stets für das Recht der jungen Komponisten ein, aufgeführt zu werden, auch wenn ihre Stücke nicht nach seinem Geschmack waren. Er kümmerte sich sogar darum, dass gerade die Radikalsten von ihnen im Ausland wahrgenommen wurden. Der radikale Bruch der neuen Generation mit der alten Garde nahm Schostakowitsch daher bewusst aus. Auch Interpreten, die in den Westen emigierten, spielten dort weiterhin Schostakowitsch – oder erst recht, denn in der Sowjetunion standen immer noch viele seiner Werke auf dem Index, wenn auch in den 60er Jahren etliches aus dem Frühwerk wieder aufgeführt und sogar die Uraufführung der Vierten Sinfonie nachgeholt worden war.
Viel konnte Schostakowitsch in den letzten Jahren nicht mehr schreiben. Mit der Fünfzehnten erschien 1971 seine letzte Sinfonie, der 1973 und 1974 die letzten beiden Quartette folgten. Neben dem Vierzehnten Quartett op. 142 entstanden die sechs Lieder nach Gedichten der unglücklichen Marina Zwetajewa. Das letzte ist Anna Achmatowa gewidmet, der großen Dichterin der Stalinzeit, mit der Schostakowitsch eine tiefe gegenseitige Wertschätzung verband, ohne dass sie persönlich in Kontakt traten. Die Nachbarwerke des Fünfzehnten Quartetts op. 144 sind die nach dem Muster der Vierzehnten Sinfonie komponierte elfsätzige Michelangelo-Suite und die Lieder des Hauptmanns Lebjadkin aus Dostojewskis "Dämonen" – ein Preislied auf die Unsterblichkeit des schöpferischen Genies neben den primitiven Schundprodukten eines Widerlings.
Das Fünfzehnte rundet den Kreis von Schostakowitschs Streichquartetten auf würdige Weise ab: formal beschreitet es mit der Folge von sechs Adagio-Sätzen, die doch ganz unterschiedlichen Charakters sind und frühere Stücke heranzitieren, wiederum Wege, die noch unbekannt sind. So ist auch das letzte Werk vor seinem Tod am 9. August 1975, die Bratschensonate op. 147 mit ihren beiden langsamen Sätzen, die sich um ein mildes Scherzo gruppieren, wiederum ein intimes Kammermusikwerk.
Obwohl sie erst spät in seinem Gesamtwerk auftauchen, gibt doch der Zyklus seiner Streichquartette wie keine andere Werkgruppe Nachricht von dem Menschen Dimitri Schostakowitsch, der seit 1936 alles getan hatte, um die Wahrheit über sich zu verschleiern. Vor allem im Westen ist man lange genug auf die Maske hereingefallen, die er trug, um zu überleben. Dass er dadurch auf die intelligenteste Weise einem totalitären System als in ihm lebender und auftretender Künstler opponiert hat, die uns bisher bekannt geworden ist, zeigen vor allem die Quartette. Sie reden zu uns auf jene Weise, die Anna Achmatowa in dem Gedicht "Musik" beschrieben hat, das sie 1958 Dimitri Schostakowitsch widmete:
Ein wundertätig Brennen ist in ihr,
Und außen sieht man Edelsteine sprühen.
Sie führt alleine ein Gespräch mit mir,
Wenn andre furchtsam meine Nähe fliehen.
Und als der Freunde letzter fortgeblickt,
Da ist sie in mein Grab herabgekommen
Und sang – da hat Gewitter mich erquickt,
zu sprechen haben Blumen da begonnen.
Zwei Jahrzehnte lang war Bernd Feuchtner einer der profiliertesten deutschsprachigen Musikpublizisten, bevor er von der Theorie in die Praxis wechselte und im Jahr 2005 Operndirektor in Heidelberg wurde. Auslöser dieser Laufbahn war 1986 das Erscheinen seines Buches über Dimitri Schostakowitsch (...Und Kunst geknebelt von der groben Macht...), in dem er zum ersten Mal nachwies, wie der russische Komponist unter dem Druck des Stalinismus seine Musik mit einem doppelten Boden versehen hatte, mit einem System verborgener Bedeutungen, die der äußeren Erscheinung der Werke oft Hohn sprechen und vom Leiden der Menschen unter der Diktatur zeugen. Bernd Feuchtner Webpräsenz enthält lesenswerte Artikel zur Musik des 20.Jahrhunderts
TRACKLIST
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975)
String Quartets completeRubio Quartet
Dirk van de Velde, violin I
Dirk van den Hauwe, violin II
Marc Sonnaert, viola
Peter Devos, cello
Recording: April-September 2002, Church in Mullem, Belgium
Producer & Engineer: Johan Kennivé, Signum Sound Productions
Disk 1 Track 8 String Quartet Nr 8 in C minor Op 110 - IV. Largo
CD 1 total time: 77'05
String Quartet No. 2 in A major Op. 68 (1944)
01. Overture (moderato con moto) 8'03
02. Recitative & Romance (adagio) 10'53
03. Waltz (allegro) 5'59
04. Theme & variations (adagio) 10'47
String Quartet No. 8 in C minor Op. 110 (1960)
05. Largo 4'40
06. Allegro molto 2'45
07. Allegretto 4'16
08. Largo 4'33
09. Largo 4'04
String Quartet No. 13 in B flat minor Op. 138 (1970)
10. Adagio 20'44
Disk 2 Track 2 String Quartet Nr 3 in F major Op 73 - II. Moderato con moto
CD 2 total time: 71'38
String Quartet No. 3 in F major Op. 73 (1946)
01. Allegretto 6'40
02. Moderato con monto 4'54
03. Allegro non troppo 4'01
04. Adagio 5'41
05. Moderato 10'40
String Quartet No. 7 in F sharp minor Op. 108 (1960)
06. Allegretto 3'33
07. Lento 3'36
08. Allegro 6'03
String Quartet No. 9 in E flat major Op. 117 (1964)
09. Moderato con moto 4'20
10. Adagio 4'34
11. Allegretto 3'47
12. Adagio 3'32
13. Allegro 9'54
Disk 3 Track 11 String Quartet Nr 12 in D flat major Op 133 - I. Moderato
CD 3 total time: 76'15
String Quartet No. 5 in B flat major Op. 92 (1952)
01. Allegro non troppo 10'44
02. Andante 10'41
03. Moderato 10'25
String Quartet No. 11 in F minor Op. 122 (1966)
04. Introduction (andantino) 2'15
05. Scherzo (allegretto) 2'57
06. Recitativo (adagio) 1'18
07. Etude (allegro) 1'19
08. Humoresque (allegro) 1'08
09. Elegy (adagio) 4'15
10. Conclusion (moderato 3'41
String Quartet No. 12 in D flat major Op. 133 (1968)
11. Moderato 6'41
12. Allegretto 20'29
Disk 4 Track 11 String Quartet Nr 10 in A flat major Op 118 - III. Adagio
CD 4 total time: 75'18
String Quartet No. 4 in D major Op. 83 (1949)
01. Allegretto 4'27
02. Andantino 6'35
03. Allegretto 4'07
04. Allegretto 10'28
String Quartet No. 6 in G major Op. 101 (1956)
05. Allegretto 6'42
06. Moderato con moto 4'56
07. Lento 5'57
08. Lento-allegretto 7'44
String Quartet No. 10 in A flat major Op. 118 (1964)
09. Andante 4'32
10. Allegretto furioso 4'16
11. Adagio 6'13
12. Allegretto 9'08
Disk 5 Track 9 String Quartet Nr 15 in E flat major Op 144 - II. Serenade
CD 5 total time: 78'00
String Quartet No. 1 in C major Op. 49 (1935)
01. Moderato 3'57
02. Moderato 4'43
03. Allegro molto 2'12
04. Allegro 3'03
String Quartet No. 14 in F sharp major Op. 142 (1973)
05. Allegretto 8'22
06. Adagio 10'57
07. Allegretto 8'44
String Quartet No. 15 in E flat minor Op. 144 (1974)
08. Elegy (adagio) 12'23
09. Serenade (adagio) 5'15
10. Intermezzo (adagio) 1'49
11. Nocturne (adagio) 4'54
12. Funeral March (adagio molto) 4'38
13. Epilogue (adagio) 6'40
Paul Klee, Meister am Bauhaus in Weimar, umschrieb im Eröffnungsvortrag zur Ausstellung in Jena 1924 seinen Traum vom großen Werk: »Manchmal träume ich ein Werk von einer ganz großen Spannweite durch das ganze elementare, gegenständliche, inhaltliche und stilistische Gebiet.« Es ist der Traum vom Meisterwerk, dem einen und absoluten Werk, das alle Teile der Kunst in sich zusammenfassen würde. [...]
Ein Jahr vor Klees Vortrag hatte Marcel Duchamp nach elf Jahren die Arbeit am Großen Glas in New York aufgegeben. Das zweigeteilte Werk aus Glas, Ölfarbe, Firnis, Bleifolien, Bleidrähten und Staub zeigt im oberen Teil die der Braut als »Sex Cylinder«, im unteren die Junggesellenmaschine. Die Teile sind durch einen »Kühler« getrennt. Eine Fotografie von Katherine S. Dreiers Ausstellung von 1926 im Brooklyn Museum zeigt Duchamps durchsichtiges Werk im Galeriekontext mit neueren Gemälden von Piet Mondrian und Fernand Leger. 1937 würdigte der Architekt Frederick Kiesler das Große Glas als Meisterwerk, das Architektur, Skulptur und Malerei in sich vereinige, während es heute als Negation des Meisterwerks und als Demystifikation des Künstlers gilt.
Der Traum vom Meisterwerk ist zu unterscheiden von der Fiktion des vollkommenen Werks, das die Kunstliteratur im 16. Jahrhundert der Malerei als Ziel vorgab. Die Künstler sollen sich in der Kunst vervollkommnen, aber das perfekte Werk muß unerreichbar sein, weil die Begabungen einseitig sind und die gloriose Kongruenz von ars, der Kunst, und opus, dem Werk, die Geschichte der Kunst beenden würde. Die Fiktion des vollkommenen Werks beruht auf der Vorgabe von Leon Battista AlbertisUmschreibung der historia, die nicht auf das Historienbild zielt, sondern auf das große Werk des Malers, das von der Seite der Kunst das umfassendste - opus amplissimum -, von der Seite der Erfindung das höchste - summum opus - und darum das letzte und absolute Werk des Künstlers heißt - ultimum et absolutum pictoris opus. Das 16. Jahrhundert setzte das exemplum fictum des vollkommenen Bildes aus unterschiedlichen personalisierten Perfektionen zusammen. Nach der ausführlichsten Bestimmung von Gian Paolo Lomazzo 1590 wäre es ein Adam, gezeichnet von Michelangelo, gemalt von Tizian, und eine Eva nach der Zeichnung von Raffael und im Kolorit von Correggio. Die Idee des vollkommenen Werks blieb eine nachsichtige Fiktion, weil nach verbreiteter Überzeugung kein Künstler in allen Teilen der Kunst vollkommen sein kann. Roger de Piles führte dies zur Belehrung der Kenner 1708 in einer detaillierten Benotung berühmter Maler in der Balance des peintres vor.
Das Meisterwerk im modernen Sinn ist dagegen eine grausame Fiktion, denn hier sollen Kunst und Werk zugleich von einem Individuum hervorgebracht werden. Diese neue Fiktion taucht mit dem Ausstellungskünstler und dem Ausstellungsbild in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf, und »modern« bezieht sich auf diesen entscheidenden Wandel im Kunstsystem. Kants Bestimmung des opus der schönen Kunst als Produkt des Genies in der Critik der Urtheilskraft von 1790 läßt sich dem zuordnen: Das Genie bringt ohne Regeln der Kunst, aber durch die Regel der Natur, seine Produkte hervor, die exemplarisch, d. h. nicht nachahmend sein müssen. Die Beseitigung der Kunstregeln durch und für die künstlerische Subjektivität hat zur Konsequenz, daß ein Genie mit dem Werk zugleich die Kunst erschaffen müßte. Diese Anforderung umschreibt das moderne Meisterwerk und bereitet das Scheitern des Künstlers vor.
Die moderne Fiktion und das Scheitern des Unternehmens Meisterwerk werden manifest in Balzacs Erzählung Le chef-d'oeuvre inconnu von 1831. Sie handelt vom Maler Frenhofer, der seit zehn Jahren in seinem verbarrikadierten Atelier an seinem Meisterwerk arbeitet, das nicht vollendbar ist. Die Katastrophe, die zur Zerstörung des Künstlers und seiner Werke führt, wird ausgelöst von der erzwungenen Öffnung des Ateliers für das Publikum, repräsentiert von den naiven jungen Malern Porbus und Poussin, und von der Demystifikation des alten Frenhofer. Dessen Meisterwerk erscheint bei Balzac als Wahn des isolierten und troglodytischen Künstlers. Der Wahn wird zerrissen durch das Auftreten des Publikums, und diese Demystifikation führt zum Tod des Malers. Mit dem verhängnisvollen Moment im Atelier, wo die Besucher auf der Leinwand statt der lebendigen Figur nur ein formloses Chaos von Farben erblicken, beschäftigte sich Cezanne in einer frühen Zeichnung.
Der literarischen Fiktion vom unmöglichen Meisterwerk sind erfolgreiche Beispiele von chef-d'oeuvres gegenüberzustellen. Unter vielen figuriert Thomas Coutures Gemälde Les Romains de la decadence, das im Pariser Salon von 1847 Furore machte, weil man es als Kritik an der Juli-Monarchie verstand. Gustave Courbet legte 1855 mit seinem riesigen L'atelier du peintre, der realen Allegorie auf sieben Jahre seines Lebens und seiner Kunst, gemalt für die erste Weltausstellung in Paris, ein Meisterwerk vor. Die Jury der Weltausstellung reagierte wie vorgesehen mit einer Zurückweisung, und demzufolge wurde das Gemälde zum publizistisch angekündigten Mittelpunkt im Pavillon Du Réalisme, der in unmittelbarer Nähe der Weltausstellung um den Eintrittspreis von einem Franc zu besichtigen war. Delacroix, der die Ausstellung besuchte, als der Eintrittspreis um die Hälfte gesunken war, nannte in seinem Tagebuch das Atelier ein chef-d'oeuvre und eines der außerordentlichsten Werke seiner Zeit. Die Erwartung, daß Delacroix im Dictionnaire des beaux-arts das Meisterwerk umschreiben würde, wird allerdings enttäuscht. Delacroix beteuert hier bloß, daß kein Künstler ohne Meisterwerk groß sei, ein einziges aber für die Größe nicht ausreiche. Darauf erörtert er das Problem der Wahrnehmung und Beurteilung der Werke mit der Behauptung, daß die modische Reaktion zu irrtümlichen Bewertungen führe, während »wahrhafte Meisterwerke« verkannt oder angegriffen und erst später ihre Anerkennung finden würden.
Das moderne Meisterwerk ist mit Balzac und Klee zu umschreiben als das eine absolute und notwendige Werk, mit dem sich der Künstler total herausfordert zur endgültigen Lösung der künstlerischen Probleme und zur Darstellung seiner Legitimation. An Balzacs Vorstellung ist Hans Beltings Problemgeschichte vom »unsichtbaren Meisterwerk, als Traum von absoluter Kunst« entwickelt. Sowohl die Ausstellungsbilder von Couture und Courbet wie die Erzählung von Balzac und die Erörterungen von Delacroix zeigen aber die Notwendigkeit einer weiteren Bestimmung. Die Wirkung in der Welt, die Reaktion der Öffentlichkeit, die allgemeine Zustimmung oder auch der Streit werten ein Produkt zum Meisterwerk auf, und nur die Akklamation oder die Verwerfung der Ablehnung kann dem Künstler zur Rechtfertigung dienen. Diese problematische Verknüpfung, die seit der Etablierung des Ausstellungskünstlers besteht, muß analysiert werden, wenn man »Meisterwerk« nicht bloß als subjektiven Wahn oder als Anpreisung der Kunstpropaganda behandeln will.
Cézannes Jugendfreund Émile Zola veröffentlichte 1886 den Roman L'Œuvre, dessen Hauptfigur, der geniale und unfähige Maler Claude Lantier, nach anhaltenden Mißerfolgen und psychischer Zerstörung zu seinem Unglück auf ein riesiges Ausstellungsbild als chef-d'oeuvre verfällt, einer Allegorie von Paris. Sein Vorhaben vernichtet alle sozialen Beziehungen, das Gemälde als dämonisches sexuelles Monstrum treibt den Künstler zur Verzweiflung und schließlich zum Selbstmord. Lantier wird zum Opfer des Kunstbetriebs und des unbarmherzigen Elends und zum Opfer der künstlerischen Hybris und ihres Produkts, des mörderischen Meisterwerks. Die künstlerische Ohnmacht - impuissance - entfaltet bei Zola ihre volle Fatalität, und gleichzeitig entwickelt sich das scheiternde Chef-d'oeuvre zum monströsen Götzenbild, das vom Künstler den Tod fordert.
In der Figur des Lantier faßte Zola die gescheiterten Maler seiner Erzählungen und die Beurteilung der zeitgenössischen französischen Künstler zusammen. Cézanne sah sich von Zola bösartig nachgezeichnet, was zum Bruch der Jugendfreundschaft führte und zu Zolas schmählicher Bemerkung in der Salonbesprechung von 1896, man erkenne bei Cézanne allmählich »die genialen Seiten des großen gescheiterten Malers«. [...]
Cézanne stellte bei Rodin die gleiche Unfähigkeit wie bei sich selbst fest, nämlich nicht mehr ein Ganzes, eine Komposition, bilden zu können, sondern zu Teilen, Stückwerken, morceaux, verdammt zu sein. Rodins Höllenpforte könnte das Beispiel für die Unmöglichkeit eines Chef-d'OEuvre sein und auch für die Hybris des Künstlers als Prometheus und Pygmalion. Dennoch hat das Verfahren, Stücke aus dem Zusammenhang zu lösen, einzeln zu bearbeiten oder sie in andere Projekte einzubringen, eine andere, produktive Seite. Das unmögliche Vorhaben Meisterwerk generiert durch die Fragmentierung und die Kombination eine ausgedehnte Serie von Arbeiten.
1904 mußte Cézanne darauf verzichten, die Apotheose von Delacroix noch auszuführen. In einem Brief an Émile Bernard nannte er das Projekt seinen Traum: »Ich weiß nicht, ob meine schwankende Gesundheit mir je erlauben wird, meinen Traum, seine Apotheose zu verwirklichen.« Eine erhaltene Ölskizze zeigt in einer Landschaft eine Reihe von Gestalten, die ihre Hände applaudierend in die Höhe strecken, niederknien, herankommen oder an einer Staffelei arbeiten. Die Rückenfigur mit Barbizonhut, Maltasche und Stock ist Cézanne selbst, vor dem Motiv arbeitet Camille Pissarro, rechts steht Claude Monet mit Sonnenschirm, eine der beiden Figuren, die auf der linken Seite applaudieren, ist Victor Chocquet, und der bellende Hund stellt die Kritik dar. Von zwei Engeln wird der nackte Leichnam Delacroix' auf Wolken nach oben getragen, ein dritter Engel schwebt voran. Für die Apotheose von Delacroix verknüpfte Cézanne die Beweinung des Leichnams durch die Engel mit der Himmelfahrt Christi.
1894 (oder 1904?) ließ sich Cézanne im Pariser Atelier vor der Staffelei mit der kleinen Ölskizze fotografieren. Die Aufnahme demonstriert das Bekenntnis Cézannes zu Delacroix und zu seinem Traum, auf dessen geplante Realisierung der zu große Pinsel hinweist. Cézannes Projekt einer Beweinung und Himmelfahrt war um 1894 so bizarr wie zehn Jahre später, als er die Skizze Émile Bernard zeigte. Die allegorische Darstellung der Kritik im bellenden Hund war 1894 wie 1904 ein Anachronismus. Die Apotheose von Delacroix ist ein retrospektives Bild, das sich auf das Todesjahr von Delacroix bezieht. Mit der Verklärung des Künstlers als Opfer spinnt es die Legende der unaufhörlichen Anfeindung des Malers und der fortdauernden Mißgunst der Kritik fort, die Delacroix und seine Sympathisanten geschaffen haben.
Kein anderer Maler erlangte seit 1833 derart kontinuierlich öffentliche Aufträge wie Delacroix. Trotzdem sah er sich als mißachteten Künstler, weil er erst mit seiner achten Kandidatur im Januar 1857 sein ersehntes Ziel erreichte, die Aufnahme in die Académie. [...] 1864 begann Théophile Gautier seinen Artikel über Delacroix, der ein Jahr nach dessen Tod im Moniteur und zur zweiten erfolgreichen Ausstellung dieses Jahres erschien, mit der Beschwörung eines während langer Zeit von Publikum und Kritik verfolgten Künstlers. Im gleichen Jahr präsentierte Fantin-Latour unter allgemeinem Beifall im Salon sein Gemälde Hommage à Delacroix als Demonstration für die Kunst der Gegenwart. Unter den zehn Malern, Kritikern und Schriftstellern vor dem Selbstbildnis von Eugène Delacroix in breitem goldenem Rahmen finden sich Manet und Whistler, nicht aber der unbekannte Cézanne. Die Auswahl von Delacroix' Verehrern rechtfertigte Edmond Duranty 1867: »Umstrittene Künstler würdigen das Andenken an einen der großen Umstrittenen dieser Zeit.«
Als Cézanne 1894 im Alter von fünfundfünfzig Jahren in Paris sich mit der Skizze zur Apotheose Delacroix' fotografieren ließ, war er noch immer ohne die öffentliche Anerkennung, die er stets erhofft hatte, und ohne finanziellen Erfolg, was er dank seines großen Erbes leichter verkraften konnte. Mit der Apotheose Delacroix', der Anerkennung und Verehrung nach dem Tod, reflektierte der alternde Maler die eigene Situation mit gelassener Bitterkeit. [...]
Der mürrische alte Misanthrop Cézanne betrachtete sich als gescheiterten Künstler im Sinn von Balzac, nicht aber von Zola. Der junge Bewunderer Émile Bernard berichtet, Cézanne habe, als im Gespräch die Rede auf den Maler Frenhofer in Balzacs Chef-d'oeuvre inconnu gekommen sei, auf sich selbst gezeigt. In Frenhofers Situation zeigte sich Cézanne im Selbstbildnis mit Filzhut, das er 1895 bei Vollard ausstellte. Er steht vor einem Bild, das Frenhofers Farbenchaos nachahmt, und nimmt eine Wendung zum Betrachter an, den er mit prüfendem Blick aus einem Auge fixiert. Andererseits folgte Cézanne der europäisch verbreiteten Vorstellung vom Künstler als Seher und Propheten. Der einsiedlerische Alte in Aix-en-Provence sah sich als Ersten einer neuen Kunst - »le primitif d'un art nouveau«. In einem Brief an Vollard von 1903 stellte er die ängstliche Frage, ob er nur ein Prophet und Führer wie Moses sei, oder ob er an sein Ziel kommen würde: »Ich arbeite hartnäckig, ich sehe das Gelobte Land vor mir. Wird es mir ergehen wie dem großen Führer der Hebräer, oder werde ich es betreten können?« Das Gelobte Land, das für Cézanne Prophetentum und Scheitern zugleich bestätigte, war das Projekt der Großen Badenden. Émile Bernard lieferte 1904 mit der Fotografie des alten, erschöpften und enttäuschten Meisters vor einer der großen Versionen - der Fassung in der Barnes Foundation - ein bewegendes Dokument des neuen Frenhofer im Atelier.
Cézanne nahm die Arbeit an der ersten der drei großen Fassungen der Badenden 1895 auf, kurz nachdem er die etwa zweijährige Arbeit an den mittelformatigen Baigneurs, heute im Musée d'Orsay in Paris, abgeschlossen hatte und die Ausstellung von etwa hundertfünfzig Werken bei Ambroise Vollard seine Anerkennung durch zahlreiche Künstler und Sammler einleitete. Das Datum liefert das Indiz für den Plan eines Meisterwerks.
Etwa um 1900 nahm Cézanne die Arbeit an den anderen großen Fassungen auf, die sich heute in Philadelphia und London befinden. In der Folge bearbeitete Cézanne im umgebauten Atelier alternierend die großen Leinwände. In den Badenden zog Cézanne ein malerisches Thema weiter, das ihn seit den sechziger Jahren kontinuierlich beschäftigt hatte. [...]
Cézanne arbeitete in den großen Fassungen der Badenden und den Kompositionsskizzen mit einem Figurenrepertoire. Im Basler Katalog von 1989 hat Mary Louise Krumrine das Repertoire einiger Gemälde aufgelistet und mit Bezeichnungen wie »Versucherin«, »schreitender Täufer« oder »Eremit« versehen, die aus dem von ihr bevorzugten psychologischen Ansatz stammen. Die aus den Kompositionen herausgelösten Figuren bilden das Repertoire, aus denen Cézanne in angestrengter Arbeit Kompositionen zu schmieden versuchte. Einzelne Figuren oder Gruppen studierte er in kleinformatigen Ölskizzen, doch sein Hauptproblem war die Bildung einer zusammenhängenden Gruppe von nackten Figuren in der Natur.
Alle diese Arbeiten sind fortgesetzte Variationen über das Thema der Badenden, oder vielmehr sind es Exerzitien über Linien und rhythmische Linienbewegungen, über bewegte Linien in Verbindung mit einer Farbfläche, über die Komposition von Körpern in der Landschaft, über die Bildung von Volumina in Verbindung mit dem Rhythmus von Linien und in Verbindung mit Blau, Grün und Inkarnat. Zeichnungen, Aquarelle und Ölskizzen zeigen mehrfach geführte schwingende Linien zur Verbindung der rhythmisch bewegten Fläche mit der Umschreibung der Volumina von Körpern durch bewegte Linienbündel. Die Zeichnungen und Ölskizzen bestätigen, daß Cezanne nach einem Ausgleich suchte zwischen der durch bewegte Linien umschriebenen Figurenkomposition, der Ausführung der Volumina der einzelnen Figuren und dem farbigen, blauen oder grünen Grund. [...]
Dies sind zwei unterschiedliche künstlerische Probleme: Das eine betrifft die Erarbeitung einer Raumdarstellung, das andere die Bewegungsdarstellung und die Komposition. Die neue Raumdarstellung Cézannes geht nicht vom leeren Raumkasten aus, der mit Dingen aufgefüllt und beleuchtet wird, sondern von der Körperlichkeit und der Plastizität der Dinge, die weniger durch Schattierung als durch die Modulation der Farbe hervorgebracht wird. Zugunsten dieses Körperraums verstieß Cézanne oft gegen die Regeln der Linear- und Luftperspektive. Der produktive Effekt und die Konsequenzen, die Picasso und Braque um 1907 daraus gezogen haben, sind bekannt. Wichtig ist, daß in Cézannes Körperraum die Figuren und Dinge nicht wie in einem Raumkasten virtuell verschiebbar und - durch den Verzicht auf die Beleuchtung - kaum mehr der zeitlichen Veränderung unterworfen sind.
Auf der anderen Seite steht, daß mit der Arbeit am Körperraum die Bewegungsdarstellung entscheidend zurückgedrängt oder verunmöglicht wird. Dieses künstlerische Problem hatte Cézanne in den siebziger Jahren außerordentlich beschäftigt, danach lebte es nur noch in den wunderbar bewegten Tüchern einiger Stilleben fort. Um 1895 griff er die Bewegung der Figuren in den Zeichnungen, Aquarellen und Ölskizzen für die Badenden wieder auf. Cézanne erprobte unterschiedliche Zusammenstellungen von Figuren, darunter finden sich auch solche mit erstaunlich heftiger Bewegung oder andere, in denen die rhythmische Bewegung den Farben Grün, Blau, Gelb und einem rötlichen Ton anvertraut ist. In den Kompositionsskizzen mit heftiger Bewegung wagte es Cézanne, das seit 1875 vergessene oder verdrängte Problem der leidenschaftlich bewegten Figuren wiederaufzunehmen. In einigen Aquarellen experimentierte Cézanne mit einer auf Blau gegründeten Harmonie zwischen der Bewegung und der Farbe.
Gegenüber den Skizzen und Aquarellen ist in den großen Fassungen eine Reduktion des Experimentellen festzustellen. Die Fassung der Barnes Foundation wurde offenbar in den elf Jahren der Bearbeitung immer dunkler, und sie zeigt zudem eine zerquälte Oberfläche. Ihrer Figurenkomposition steht die Fassung in London nahe, die von allen am intensivsten die Harmonie von Farben und Körpern verfolgt. Die Fassung in Philadelphia dagegen zieht sich auf eine starre Dreieckskomposition zurück, und nur hier versuchte Cézanne, einen Tiefenraum einzubeziehen und eine relativ starre geometrische Anordnung der Figuren und Bäume zu realisieren. Diese Fassung ist die skizzenhafteste der drei in bezug auf die Ausführung der Figuren, und sie entfernt sich in der Komposition am weitesten von den gemalten Skizzen und ihren Experimenten über die Bewegung in der Figurenkomposition, den Linien und der Farbenharmonie.
Was denn war Cézannes Traum, sein Gelobtes Land der Malerei? Zwei Umschreibungen sind möglich, die eine bezieht sich auf die künstlerischen Probleme, die andere auf die Geschichte der Kunst. Der künstlerische Traum ist die Verbindung von objektivem (d. h. nicht perspektivisch vorgeordnetem) Körperraum, harmonischer Komposition und rhythmischer Bewegung des Bildganzen und einer Art Farbenmusik. Das sind vier Probleme, die zur Bewältigung drängen. Cézanne bearbeitete sie einzeln und in einfachen Verbindungen in den Skizzen. Er vermochte nicht, sie in den großen Fassungen zusammenzuführen, den Traum seiner Kunst in einem Werk zu realisieren. [...]
Henri Matisse äußerte sich 1925 in einem Interview kurz über Cézannes Wiederholungen: »Beachten Sie, daß die Klassiker immer das gleiche Gemälde wiederholt haben, und immer auf unterschiedliche Weise. Von einem bestimmten Zeitpunkt an hat Cézanne immer die gleiche Leinwand der Badenden gemalt.« Matisse bezog sich nicht auf ein serielles Arbeiten wie das von Claude Monet an den Kathedralfassaden, Heuhaufen oder Pappelreihen, an denen sich Tag- und Jahreszeiten unterscheiden lassen. Vielmehr spricht er vom Gegenpol dieses Schaffens, vom Künstlertraum des einen und absoluten Werks, das alle Teile der Kunst zu einer Synthese bringen würde, der aber in der unablässigen Wiederholung sich zerstreut. Die Vielzahl von Wiederholungen bezeugt die Unerreichbarkeit des absoluten Werks. Matisse war nicht nur der Besitzer einer der Fassungen der Badenden, er griff das Thema zwischen 1904 und 1906 selbst wiederholt auf in den farbigen Wunderwerken der Farbe in Luxe, calme et volupté und in Le Bonheur de vivre, das die Bewegung des Bildganzen nach Cézanne verbindet mit Figurengruppen, die den Zeichnungen Rodins ähnlich sind. [...]
Einem Lebenswerk setzt der Tod ein Ende, und daher kann die Unmöglichkeit der Vollendung nicht der persönlichen Unfähigkeit zugerechnet werden. In der Vorstellung vom Lebenswerk, dem ein Ende gesetzt wird, und im Spätstil, der mit der Ahnung des Endes mystifiziert wird, kehrt die alte Künstlerlegende vom letzten Werk des Apelles wieder. Dieses bleibt zwar unfertig, weil der mißgünstige Tod dazwischenfährt, aber es zeigt die Kunst vollendet, so daß kein Maler sich an die Fertigstellung wagt, was bedeutet, daß die Kunst keine Fortsetzung finden kann. [...]
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