Die ersten drei Lieder des op.4 sind in dem idyllischen Sommer 1892 entstanden, den Rachmaninow auf dem Landsitz eines reichen Kaufmanns in Charkov verbrachte. Er arbeitete in einem kleinen pagodenartigen Turm, der eigens für ihn gebaut worden war, und berichtete begeistert einer seiner zahlreichen Verehrerinnen: »Ich komponiere von 9 bis 12 und spiele dann drei Stunden Klavier. Ich achte auch sehr auf meine Gesundheit: kalte Abreibungen und vier Gläser Milch jeden Tag!« Es ist typisch für den Komponisten, daß trotz seiner ausnehmend guten Stimmung alle sechs Lieder einen introvertierten Charakter haben.
Im Herbst des gleichen Jahres komponierte Rachmaninow einen weiteren Zyklus von sechs Liedern, sein op.8, auf deutsche und ukrainische Texte in Übersetzungen des russischen Dichters Alexei Pleschtschejew. Hier dominiert das dem Komponisten eigene melodische Gespür, das ein breiteres Spektrum des Stimmungsgehalts hervorbringt als in den Liedern des op.4 mit ihrer eher einförmig tristen Farblosigkeit, dies insbesondere in Traum (Nr.19 dieser CD), einem Meisterwerk im kleinen, das er für seine Cousine Natalia Skalon geschrieben hat, eine seiner besten Freundinnen, die sehr an ihm hing.
Die zwölf Lieder op.14 (1896) kehren zurück zu dem Tonfall sehnsuchtsvoller Hoffnungslosigkeit des op.4. In der gesteigerten Expressivität der Musik und dem leidenschaftlich erregten Klaviersatz spiegelt sich die Gemütslage Rachmaninows in dieser Zeit wider, das Auf und Ab heftiger Gefühle, denn er hatte sich unglücklich in eine verheiratete Frau verliebt, eine bemerkenswerte Frau aus einer Zigeunerfamilie. Vor diesem Hintergrund wirken die vereinzelt verwendeten fremdartigen Harmonien und das Kolorit der Melodie von In meiner Seele (Nr.17) wie ein persönliches Bekenntnis. Ein anderer Satz, in dem in besonderer Weise die Gefühle Rachmaninows mitschwingen, ist Nacht (1899; Nr.8): als er dieses Lied komponierte, waren seine Gedanken bei Vera Skalon (der jüngeren Schwester Natalias), die er innig liebte, die sich aber gerade anschickte, einen anderen Mann zu heiraten. Es läßt tief blicken, daß Vera kurz vor der Hochzeit ihren gesamten Briefwechsel verbrannte.
Die Ehe ist auch ein zentrales Thema der zwölf Lieder op.21 (1902), nur handelt es sich diesmal um Rachmaninows eigene Vermählung mit Natalia Satin, einer anderen Cousine, die ihn bewunderte. Er komponierte die Lieder in einem atemberaubenden Tempo während der Flitterwochen in Luzern im Anschluß an Aufenthalte in Wien und Venedig. Die 3000 Rubel, die er dafür als Honorar erhielt, waren eine willkommene Einnahme, um einen Teil der Kosten dieser Reise quer durch Europa zu bestreiten, die sie vor der Rückkehr nach Rußland auch nach Bayreuth führte.
Seine fünfzehn Lieder op.26 (1906) tat Rachmaninow als "bloße Kleinigkeiten" ab, aber das kann eigentlich nur der Versuch gewesen sein, ihre wahre Qualität herunterzuspielen. Christ ist erstanden (Nr.9) ist ein Satz von schwelgender Melodik, beseelt von unbändiger Freude, noch eindrucksvoller aber ist das letzte Lied der Werkgruppe Alles muß vergehen (Nr.15), eine eindringliche Anklage gegen die revolutionären Umtriebe des vorausgegangenen Jahres.
Die Politik hatte auch erheblichen Anteil an der faszinierenden Schlichtkeit der Liederzyklen, die Schostakowitsch in der Zeit von Anfang bis Mitte der 1950er Jahre geschrieben hat und unter denen insbesondere die fünf Dolmatowski-Vertonungen op.98 (1954) und die sechs Spanischen Lieder Op.100 (1956) zu nennen sind.
Im Jahr 1948 hatte Andrei Schdanow, der Zuchtmeister Stalins, schwere Vorwürfe gegen mehrere Komponisten erhoben - u.a. gegen Schostakowitsch, Prokofjew, Chatschaturjan und Mjaskowski - und sie wegen ihres fortgesetzten Kokettierens mit einem »dekadenten Formalismus« (im Grunde jede Art von Musik, die es versäumte, den Parteiapparat zu verherrlichen) verwarnt. Schostakowitsch spulte pflichtschuldigst eine unterwürfige öffentliche Abbitte herunter, die von jedermann als beißender Hohn zu durchschauen gewesen sein muß, außer anscheinend von den Funktionären der Kommunistischen Partei: »Ich weiß, die Partei hat recht. Ich will immer wieder von neuem versuchen, sinfonische Werke zu schreiben, die dem Empfinden des Volkes entsprechen.«.
Nach Stalins Tod im Jahr 1953 widerrief die Prawda, das Organ der Kommunistischen Partei, den Erlaß von 1948 und räumte den Komponisten größere Freiheiten für eigene Stilexperimente ein. Vorerst blieb Schostakowitsch jedoch bei der einmal eingenommenen Haltung, er ließ sich stilistisch nicht in die Karten schauen und ließ sich darin auch nach dem Tod seiner Frau Nina im Jahr 1954 nicht beirren. Ungeachtet des sarkastischen Scherzos der Sinfonie Nr.10 (1953), das er sich insgeheim als ein giftiges Stalin-Porträt gedacht hatte, lassen die gleichzeitig entstandenen Lieder eine Wesensverwandtschaft mit den entzückenden Miniaturen erkennen, die in Schostakowitschs Filmmusik zu Die Hornisse (The Gadfly, 1955) eingestreut sind.
Michail Alexandrowitsch Wrubel (1856-1910): Die Schwanenprinzessin, 1900
Die Lieder op.98 sind ein Glücksfall und dem Umstand zu verdanken, daß der Dichter Jewgeni Dolmatowski Schostakowitsch eine Reihe von Gedichten über kleine Begebenheiten einer Freundschaft schickte, die dieser kongenial vertont hat. Auf dem Papier mögen diese Texte einem kurzsichtigen, im Umgang mit Fremden notorisch argwöhnischen und unbeholfenen Kettenraucher zunächst wenig ergiebig erschienen sein, dann empfand Schostakowitsch die Unmittelbarkeit und Schlichtheit ihres Gefühlsgehalts aber als wohltuend und als eine willkommene Abwechslung, um Abstand von der verrätselten Doppelbödigkeit seiner großen sinfonischen und kammermusikalischen Kompositionen zu gewinnen - das ist deutlich spürbar in den unbeschwerten Walzerrhythmen von Tag der Liebeserklärung (Nr.22).
Die Spanischen Lieder op.l00 sind großartige Konzentrate volkstümlicher Melodien, die sich auf eine eigens für den Komponisten angefertigte Tonaufnahme der berühmten Sängerin Sara Doluchanowa stützen. Schostakowitsch hatte offenbar großes Vergnügen daran, das schwierige Unterfangen zu wagen, diese Glanzstücke der spanischen Musik einem unverkennbar russischen Tonfall anzuverwandeln, wovon insbesondere Das erste Mal (Nr.3) zeugt.
Quelle: Julian Haylock (Übersetzung: Heidi Fritz), im Booklet.
Track 8 - Rachmaninow: Noch (Nacht), 1899
TRACKLIST DMITRI SHOSTAKOVICH (1906-1975) Spanish Songs Op. 100, from folk melodies & texts (1956) 14'58 Mélodies espagnoles / Spanische Lieder 01 Proshchai, Grenada! S. BOLOTIN 2'37 (Farewell, Granada! / Adieu à Grenade / Abschied von Granada) 02 Zvyozdochki T. SIKORSKAYA 2'01 (Starlets / Petites étoiles / Kleine Sterne) 03 Pervaya vstrecha S. BOLOTIN 3'21 (The First Encounter / Première rencontre / Das erste Mal) 04 Ronda T. SIKORSKAYA 1'57 (The Round Dance / Ronde / Ronda) 05 Chernookaya T. SIKORSKAYA 2'56 (The Dark-Eyed Girl / La fille aux yeux noirs / Schwarzäugiges Mädchen) 06 Son T. SIKORSKAYA & S. BOLOTIN 2'02 (The Dream, Barcarole / Rêve / Traum) SERGEI RACHMANINOV (1873-1943) 07 My otdokhnyom Op. 26/3 (1906) A. CHEKHOV 2'20 (We shall find rest / Nous jouirons du repos / Wir werden aufatmen) 08 Noch (1899) D. RATHAUS 3'23 (Night / Nuit / Nacht) 09 Khristos voskres Op. 26/6 (1906) D. MERESHKOVSKY 2'29 (Christ is risen / Le Christ est ressuscité / Christ ist erstanden) 10 Koltso Op. 26/14 (1906) A. KOLTSOV 2'55 (The Ring / L'anneau / Der Ring) 11 Va zhdu tebya Op. 14/1 (1896) M. DAVIDOVA 1'39 (I await you / Je t'attends! / Ich warte auf dich!) 12 Duma Op. 8/3 (1893) A. PLESHCHEYEV, AFTER SHEVTCHENKO 3'12 (Brooding / Méditation / Trübe Gedanken) 13 O net, molyu, ne ukhodi! Op. 4/1 (1892) D. MERESHKOVSKY 1'50 (I beg you, stay, forsake me not! / Oh reste, je t'en prie, ne pars pas! O bleib, ich bitt dich, geh nicht fort!) 14 O ne grusti Op. 14/8 (1896) A.APUKHTIN 3'04 (O, do not grieve! / Oh, ne t'afflige pas! / O gräme dich nicht!) 15 Prokhodit vsyo Op. 26/15 (1906) D. RATHAUS 1'51 (All things depart / Tout passe / Alles muß vergehen) 16 Kak mne bolno Op. 21/12 (1902) G. GALINA 1'46 (How it pains me / Camme je souffre / Wie schmerzt es mich) 17 V moyei dushe Op. 14/10 (1896) N. MINSKY 2'23 (Within my soul / Dans mon Âme / In meiner Seele) 18 Utro Op. 4/2 (1892) M. YANOVA 1'54 (Morning / Matin / Morgen) 19 Son Op. 8/5 (1893) A. PLESHCHEYEV, AFTER HEINE 1'11 (A Dream / Rêve / Traum) 20 V molchanii nochi tainoi Op. 4/3 (1892) A. FET 2'44 (In the silence of the secret night / Dans le Secret de la nuit paisible In der Stille der heimlichen Nacht) DMITRI SHOSTAKOVICH Five Romances on poems by Yevgheny Dolmatovsky, Op. 98 (1954) 13'07 Cinq chansons sur des poèmes de E. Dolmatovski Fünf Lieder auf Gedichte von Jewgeni Dolmatowski 21 Den vstrechi 2'27 (The Day of Meeting / Jour de la rencontre / Tag der Begegnung) 22 Den priznanil 2'37 (The Day of Confessing / Jour des aveux / Tag der Liebeserklärung) 23 Den obid 3'05 (The Day of Hurt / Jour des affronts / Tag der üblen Nachrede) 24 Den radosti 1'46 (The Day of Rejoicing / Jour de joie / Tag der Freude) 25 Den vospominanil 3'04 (The Day of Reminiscing / Jour des souvenirs / Tag der Erinnerungen) Total Time: 57'53 Iris Oja, mezzo-soprano Roger Vignoles, piano Recorded November 2006 at Air Lyndhurst Studios, London Producer: Robina G. Young Engineer & Editor: Brad Michel Cover picture: Mikhail Vroubel, The Swan Princess, 1900 Drawings of Rachmaninov and Shostakovich by Iris Oja (P) 2008
Pablo Picasso: Weinende Frau, 1937, Öl auf Leinwand, 59,5 x 49 cm, Sammlung Roland Penrose, Tate Gallery, London
Pablo Picasso
Das Bild als Gewalttat
Ist es erlaubt, ein Porträt in jeder beliebigen Weise zu deuten, wenn es ein offener Spiegel ist? Wenn in einem einzigen Porträt wie im Falle Pablo Picassos eine Vielzahl von Gesichtern und Gesten, von Chiffren und Stilen enthalten ist - wie sollen wir es dann mit unserer persönlichen Erfahrung, mit unserem eigenen Vokabular in Einklang bringen?
Die Entwicklung des wohl vielseitigsten Porträtmalers des 20. Jahrhunderts verlief nicht linear, sondern räumlich. Jeder neue Stil, den er vorfand und in sein Werk integrierte, baute auf den vorangegangenen auf und bereicherte sie rückwirkend, brachte neue Stile hervor und vermischte sich mit ihnen. Wie ein Lumpensammler bewahrte Picasso auf, was ihm unter die Finger kam: Bleistiftstummel, Schachteln, Gerümpel aller Art. Ebenfalls wie ein Lumpensammler bewahrte er seine vielen unterschiedlichen Stilansätze in sich auf, so daß er im hohen Alter, lange nach den grellen Schreckensbildern von Avignon und den bukolischen Rundungen von Juan-les-Pins, zu den schwarzen Linien und blassen Farben seiner spanischen und frühen Pariser Anfänge zurückkehren konnte, in denen schon alles Spätere enthalten schien. Er war ein Paradox: ein Künstler, der eine klar erkennbare Entwicklung vollzog und für den die Zeit stillstand.
Auch seine Porträts - insbesondere die Frauenporträts - sind von diesem Paradox betroffen. Jacqueline, Marie-Thérèse, Olga, Dora haben mit ihren Nachnamen auch ihre eigene Identität verloren und statt dessen die Identität angenommen, die Picasso ihnen mit seinen künstlerischen Mitteln verlieh, als sie in sein fließendes und zugleich fest umrissenes Universum eintauchten und sich in eine Sitzende, eine Lesende, eine Frau mit Strandball verwandelten, manchmal in eine Jacqueline oder eine Marie-Thérèse - wobei ihre Namen nur noch fiktiv oder zufällig erscheinen. […] Picassos Frauen - weich oder in wütende Scherben zersplittert, mit leichter Hand skizziert oder in Säure geätzt - erscheinen nicht im Gestus ihrer eigenen Wahl, sondern als Reflexionen Picassos, ihres selbsternannten Meisters.
Dora Maar
Was über alle Stilwechsel hinweg wahrscheinlich immer gleich blieb, war der Umgang mit seinen Modellen. Vielleicht war er, wie Freunde und Geliebte versicherten, tiefer Empfindungen gegenüber anderen Menschen unfähig und so dazu verurteilt, immer nur sich selbst zu porträtieren. »Niemand ist mir wirklich wichtig. Was mich betrifft, sind andere Leute wie Staubkörnchen, die in der Sonne tanzen«, gestand er einmal Françoise Gilot. Statt im menschlichen Kontakt lebte er seine Empfindungen auf der Leinwand aus und verlieh den Gebilden aus »Staubkörnchen« künstlerische Gestalt. John Berger bemerkte, Picassos Frauenporträts seien »oft seine Selbstporträts, die er in ihnen vorfand«. Picasso, schrieb er weiter, »kann sich nur dann in seiner Gänze sehen, wenn er sich in einer Frau spiegelt«. Es könnte sein, daß er alle seine Modelle in fast physischem Sinne als Leinwand benutzte und sie mit Schmeichelei, Einschüchterung, liebevoller Zuwendung, Geld oder Freundlichkeit auf ihre Bestimmung vorbereitete. Und es könnte sein, daß er in seinen Modellen die Emotionen provozierte, die er am eigenen Leib erleben wollte. […]
Eins der eindrucksvollsten Picasso-Porträts ist ohne Zweifel die Weinende Frau vom Oktober 1937, die der Kunstkritiker Ronald Penrose im selben Jahr von ihm erwarb (später verkaufte er das Gemälde an die Londoner Tate Gallery, wo es heute zu sehen ist). Das kleine Bild, nicht größer als ein menschliches Gesicht, brennt in allen Komplementärfarben: grün und rot, violett und gelb, orange und blau. Das scharfkantig geknüllte Taschentuch greift die Umrisse der Finger und der gebleckten Zähne auf. Vor dem Hintergrund aus goldbraunen und gelben Tönen (teils Blattgoldgrundierung wie auf Ikonen mit geheiligten Motiven, teils Pariser Bistro-Wand als Hintergrund profaner Leidenschaften) bewegt mich der rote Hut mit der tiefblauen Kornblume mehr als jedes andere Detail des Bildes. Die Frau hat sich zurechtgemacht, hat einen lustigen Hut aufgesetzt, um glückliche Stunden zu verleben, und nun sitzt sie da, für jeden sichtbar, heulend, mit verzerrtem Gesicht, der Hut ein Hohn auf ihren Kummer, neckisch und gänzlich unbekümmert. Wie können wir diesen grenzenlosen Jammer ertragen? Was fehlt in diesem Bild, daß wir als Außenstehende ohne weiteres in das Geschehen einzudringen vermögen, Mitleid und Bewunderung zugleich empfinden können? Bietet uns die Geschichte dieses Gemäldes eine Anleitung zu seinem Verständnis aus einem Abstand von mehr als sechzig Jahren? […]
Dora Maar, Selbstporträt, 1930
An einem Herbstabend des Jahres 1935 sah sich der vierundfünfzigjährige Picasso im Café Les Deux Magots einer Frau gegenübersitzen. Sie hatte blaßblaue Augen, kräftige dunkle Augenbrauen, tiefschwarzes Haar und trug schwarze, mit Rosen bestickte Handschuhe. Die linke Hand lag mit gespreizten Fingern auf der Tischplatte, während sie mit einem Taschenmesser versuchte, möglichst tief in die Zwischenräume zu stechen, ohne sich zu verletzen. Manchmal mißlang ihr das, und ihre Handschuhe wurden allmählich feucht vom Blut. Picasso schaute ihr lange zu und sagte dann auf spanisch zu einem Freund, der neben ihm saß, daß er die junge Frau außerordentlich schön finde. Offenbar verstand sie ihn, denn sie hob den Kopf und lächelte. Ein paar Tage später machte ihn Paul Eluard mit ihr bekannt. Sie hieß Dora Maar und war Fotografin. Später erbat sich Picasso die blutigen Handschuhe von ihr und bewahrte sie zusammen mit anderen Erinnerungsstücken in einer Vitrine auf.
Dora Maar wurde seine Geliebte und war immer für ihn da, wenn er sie brauchte. Selten besuchte sie sein Atelier in der Rue des Grands-Augustins (das sie ihm besorgt hatte) ohne seine ausdrückliche Aufforderung, und sie wartete Tag für Tag in ihrer Wohnung, daß Picasso sie anrief, um mit ihr auszugehen. Eines Abends lud sie der Maler André Beaudin zum Essen ein, doch sie erwiderte ihm, sie könne sich nicht entscheiden - Picasso würde wütend werden, wenn er anrief und herausfand, daß sie sich anderweitig verabredet hatte. Sie war, wie sie sagte, seine »private Muse«.
Picassos Freunde erinnerten sich später an die häufigen Streitereien zwischen den beiden - wegen ihrer angeblichen Untreue, wegen kleiner Fehler, die er künstlich aufbauschte, um sie lächerlich zu machen. Picasso provozierte sie, bis sie in Tränen ausbrach. Dann nahm er Notizblock und Bleistift und skizzierte die weinende Frau. »Ich habe sie nie anders gesehen, konnte sie mir nie anders vorstellen als in Tränen«, äußerte er einmal. Irgendwann verwandelten sich die Skizzen, von denen es Dutzende gab, in Gemälde. Um diese Zeit war Picasso noch mit der russischen Tänzerin Olga Koklova verheiratet und schon seit langem mit Marie-Thérèse Walter liiert. Die Porträts dieser beiden Frauen sind meist von weichen Rundungen bestimmt. Die meisten Porträts von Dora Maar hingegen zeigen ein verzweifeltes, in Tränen aufgelöstes Gesicht, kantige Umrisse und harte Farben. »Das sind alles Picassos, kein einziges ist Dora Maar«, urteilte Dora Maar später.
Pablo Picasso: Guernica, 1937, Öl auf Leinwand, 349 x 777 cm, Museo Reina Sofía, Madrid
Fast ein Jahr nach der ersten Begegnung mit Dora Maar, am 13. Juli 1936, wurde der spanische Monarchist José Calvo Sotelo ermordet, und in Spanien brach der Bürgerkrieg aus. Von Anfang an stand Picasso entschieden auf der Seite der rechtmäßigen republikanischen Regierung. Im Januar 1937 erhielt er von der Regierung den Auftrag, ein großes Wandgemälde für den spanischen Pavillon der Pariser Weltausstellung zu schaffen. Das Thema wurde seiner Wahl überlassen. Picasso nahm den Auftrag an, ohne zu wissen, was er malen würde. Es wurde April, und er hatte noch immer nicht mit der Arbeit begonnen.
Am Morgen des 28. April 1937 bombardierten deutsche Kampfflieger die baskische Kleinstadt Guernica, töteten zweitausend Zivilisten und hinterließen noch mehr Verwundete. Picasso hatte sein Thema gefunden - vielmehr, das Thema hatte ihn gefunden. Im Mai war der erste Entwurf des Kolossalgemäldes von 7,62 mal 3,35 Metern Größe fertig. Er entschied sich, keine Farben zu verwenden: die von Panik erfüllten Tiere, die schreienden Frauen bäumen sich in Blauschwarz und Schmutzigweiß über dem Betrachter auf. Im linken Brennpunkt des Bildes sieht man eine Frau, die ihr totes Kind umklammert, ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Es ist das Gesicht der tränenlos weinenden Dora Maar. […]
Die Verbindung von Dora Maar und Guernica läßt ein neues Paradox zutage treten, nämlich die offenbare Tatsache, daß ein Akt vorsätzlicher Grausamkeit in einen bildnerischen Ausdruck verwandelt werden kann, der dazu dient, die Grausamkeit zu verdammen. Wie ist es möglich, daß sich ein Symbol des Hasses (oder der Liebe) in einem Kunstwerk in sein Gegenteil verkehrt? Und wie hat dieses neue Symbol Eingang in unser ikonographisches Vokabular gefunden?
Pablo Picasso: Weinende. Aus dem Guernica-Zyklus
In der abendländischen Kultur sind Gefühlsroheit und Brutalität zu Attributen einer pervertierten Männlichkeit geworden. Theseus, der Sohn einer sterblichen Mutter und des Meergottes, gebraucht seine männliche Kraft, um eine Reihe schier unüberwindlicher Hindernisse zu bewältigen, aber er ist auf Ariadnes weibliche Intelligenz angewiesen, um aus dem Labyrinth herauszufinden und den Minotauros zu töten. Nachdem er sich ihrer bedient hat, läßt er sie schnöde im Stich; später wird er zum König von Athen gekrönt und als Held gefeiert. Der französische Romancier Andre Gide betrachtete die alte Sage mit neuzeitlichem Blick und sah in Theseus ein männliches Vorbild, weil es ihm gelang, sich aus der weiblichen Umgarnung Ariadnes zu befreien. Für Gide ist diese Tat gerechtfertigt, weil sie einem höheren sozialen Zweck gilt. Der Bezwinger des Minotauros muß sich der Ariadne bedienen und sie dann fallenlassen, um das Staatswesen zu retten (oder, wie im Fall Picasso, der Kunst zu dienen).
Wie in der Theseus-Legende werden auch in Picassos Werk beide Seiten dieses Konflikts erkennbar: Dora Maar, die Weinende Frau, wird in ihrem privaten Kummer vorgeführt; auf dem Gemälde Guernica wird sie zur Chiffre eines öffentlichen Leids. Picasso malte die Weinende Frau im Oktober 1937, nachdem er über ein Jahr lang das schmerzverzerrte Gesicht der Dora Maar studiert und skizziert hatte. Guernica war im Mai 1937 vollendet, aber er befaßte sich noch ein Jahr lang mit den verwendeten Motiven, mit Stieren, Pferden, Vögeln und massakrierten Menschen. Unser Blick auf die beiden Meisterwerke hängt davon ab, welche Chronologie wir ihnen zugrunde legen. Wenn wir davon ausgehen, daß die Weinende Frau vor der Entstehung von Guernica bereits vorhanden war (und das war der Fall), haben wir es mit einem Bild zu tun, dessen Ausdruck persönlichen und absichtlich zugefügten Leidens dazu diente, die Morde von Guernica anzuklagen. Setzen wir aber Guernica an die erste Stelle, ergibt sich der Eindruck, daß Picasso ein Motiv der Anklage gegen faschistische Gewalt dazu benutzte, um mit klinischer Grausamkeit Experimente an einer liebenden Frau vorzunehmen. In jedem Fall steht auf der einen Seite der Gleichung eine künstlerische Formulierung des Leidens, die in ihrer aufrüttelnden Kraft unvergeßlich ist, auf der anderen Seite jedoch die kalkulierte Zufügung von Schmerzen. Und nur beide Seiten zugleich machen die ganze Wahrheit des Gemäldes aus. […]
Niobe. Kopie nach einem Original aus dem 2. Jahrhundert v.Chr.
Über Picassos Verhältnis zu Frauen bemerkte Cocteau scharfsinnig: »Dieser Frauenliebhaber entpuppt sich in seinen Arbeiten als Frauenfeind. Dort rächt er sich für die Macht, die Frauen auf ihn ausüben, für die Zeit, die sie ihm rauben, dort verwüstet er ihre Gesichter und ihren Aufputz. Auf der anderen Seite schmeichelt er dem Mann, und da er ihm nichts vorzuwerfen hat, erweist er ihm mit Stift und Feder seine Reverenz.«
Die Geschichte der abendländischen Kunst hat uns gelehrt, das Bildnis einer weinenden Frau als ästhetisches Phänomen zu betrachten. Das klassische Vorbild ist die in der griechischen Plastik verbreitete Niobe, die neun Tage und neun Nächte den Tod ihrer Kinder beweinte (zwölf Tage sind es bei Homer, vierzehn bei Ovid): Sie waren von Apollo und Diana umgebracht worden, nachdem Niobe über deren Mutter Leto gespottet hatte, sie habe nur einen Sohn und eine Tochter zur Welt gebracht. Das klassische Vorbild der Niobe wurde auf andere Sujets übertragen: auf die trauernden Mütter beim Bethlehemitischen Kindermord, auf die trauernden Töchter in Historiendarstellungen wie Davids Die Liktoren bringen Brutus die Leichen seiner Söhne, auf die weinenden Frauen der Kreuzigungsszenen, auf Rachel (die Personifizierung Israels), die in den Weissagungen Jeremias um ihre Kinder weint. Im 18. Jahrhundert wurden Frauentränen, zuvor ein Zeichen der Schwäche, zu lobenswerten Beweisen gesteigerter Empfindsamkeit geadelt, und zeitweise war es sogar Männern erlaubt, Tränen zu vergießen. […]
Jacques-Louis David: Die Liktoren bringen Brutus die Leichen seiner Söhne, 1789, Öl auf Leinwand, 323 x 422 cm, Musée du Louvre
Die meisten Männer in der abendländischen Kunst tragen ihr Leid jedoch mit Fassung. Laokoon, der trojanische Priester, der mitsamt seinen zwei Söhnen von den Schlangen der Athene erwürgt wird, legt in der berühmten Marmorgruppe aus der Zeit um 25 v. Chr. eine »beherrschte Agonie« an den Tag, während Heilige und Sünder einen gewissen Anspruch auf Tränen geltend machen dürfen. So Masaccios weinender Adam bei der Vertreibung aus dem Paradies; der weinende Lieblingsjünger Johannes unter dem Kreuz Jesu; der junge kastilische Edelmann El Cid, als er, fälschlich des Betrugs bezichtigt, aus dem Umkreis des geliebten Königs entfernt wird und unter Tränen fragt: »Warum lüftet Ihr den Vorhang meines Herzens?«; so Dante, den die ewige Höllenpein für seine Florentiner Mitbürger zu Tränen rührt; John Bunyans Christian, der weinend und zitternd ruft: »Was soll ich nur tun?«; oder Odysseus, der um seine von den Zyklopen verschlungenen Kameraden weint. Sie alle zeigen die erlaubten Formen männlichen Leids auf. Weinen darf man über die eigenen Verfehlungen (wirkliche oder eingebildete) oder um das Schicksal anderer Männer (selbst wenn es sich um Gottes Sohn handelt). Aber meistens galten männliche Tränen als unziemlich, und die »beherrschte Agonie« war die gegebene Art, männliche Gefühle zu beschreiben. […] Auf dem Gemälde Guernica gibt es keinen weinenden Mann. […]
1943 erkor sich Picasso die junge Françoise Gilot zur neuen Geliebten und versuchte sie zur Freundschaft mit Dora Maar zu bewegen. Deren Begegnung war zwar von Peinlichkeiten geprägt, aber sie endete nicht so gewaltsam wie die Dora Maars mit Marie-Thérèse - nämlich in einer Prügelei auf dem Fußboden von Picassos Atelier unter den Augen des belustigten Meisters. Kurz nach der Befreiung von Paris bat er Françoise zu sich, setzte sich zu ihr aufs Bett und gestand ihr seine tiefe Sorge um Dora Maar. Er hatte sie zu Hause aufgesucht, um mit ihr essen zu gehen, aber nicht vorgefunden. Als sie kam, waren ihre Kleider zerrissen, ihr Haar zerzaust, und sie berichtete ihm, sie sei von einem Mann überfallen worden, der ihr den Hund, ein Geschenk Picassos, gestohlen habe. Zwei Abende danach wurde sie in einem ähnlichen Zustand in der Nähe des Pont Neuf von einem Polizisten aufgegriffen und behauptete diesmal, ein anderer Mann habe sie überfallen und ihr das Fahrrad gestohlen. Das Fahrrad fand sich unversehrt an der Stelle, wo sie es hinterlassen hatte. Wieder ein paar Tage später bekam sie religiöse Visionen, die sie als »Offenbarungen der inneren Stimme« bezeichnete. Eines Nachmittags forderte sie Picasso und Eluard mit mystischer Inbrunst auf, vor ihr niederzuknien und ihre Sünden zu bereuen (beide waren Atheisten). Als sich Picasso weigerte, schrie sie ihn an: »Als Künstler bist du groß, aber moralisch bist du ein Nichts!« Das war nur die erste ihrer »Szenen« (so Picasso), die bald an Häufigkeit und Heftigkeit zunahmen.
Dora Maar. 1941, Foto Rogi André
Picasso und Eluard schickten Dora Maar zu ihrem Freund, dem Analytiker Jacques Lacan, der sich gerade den Ruf erwarb, »die Fragen beantworten zu können, die Freud offengelassen hatte«. Lacan behielt sie drei Wochen in seiner Klinik und überredete sie zu einer Analyse. Inzwischen schoben sich Picasso und Eluard gegenseitig die Schuld an Dora Maars Zustand zu. Eluard behauptete, Picasso habe sie unglücklich gemacht und zerstört, Picasso warf Eluard vor, er habe ihr den Kopf mit surrealistischem Unsinn vollgestopft. Zu Françoise Gilot sagte Picasso, er fühle sich »angewidert von Doras Verhalten«. Es ist seltsam, daß einem Mann, der das Leiden so eindrucksvoll gestalten konnte, jegliches Verständnis dafür abging, was zu dessen Linderung vonnöten war: die Gegenwart eines menschlichen Wesens, das ihren Schmerz erkannte, ihr Gehör und Trost schenkte - und nicht nur den geschulten Blick des Psychiaters.
Aus Lacans Sicht war Dora Maars Leiden eine Bestätigung der psychoanalytischen Identitätstheorie, die er in den Jahren davor entwickelt hatte und die davon ausgeht, daß sich unsere Identität aus den Spiegelbildern zusammensetzt, von denen wir umgeben sind. Das Selbstbild, das wir erwerben, besteht demzufolge aus unzähligen zufälligen und aufgesplitterten Fremdeindrücken wie ein kubistisches Gemälde. Unser Ich ist nach Lacans Worten eine »inauthentische Agentur«, die dazu da ist, das grundsätzliche Fehlen einer inneren Identität zu verbergen.
Manches davon muß Dora Maar plausibel vorgekommen sein, wenn sie an die vielen zerrissenen, splitterartigen Porträts dachte, die Picasso von ihr angefertigt hatte. Aber sie spürte auch etwas, was dem analytischen Blick Lacans wahrscheinlich entging. Wenn ihr Liebhaber Picasso das, was sie war, zerbrochen hatte, um sich aus den Scherben sein eigenes Bild von ihr zusammenzusetzen, wer war sie dann in Wirklichkeit? Als vernachlässigte Liebhaberin, als unfertige Künstlerin, wahrgenommen nur in ihrer Rolle als angeschlagene Muse, versuchte sie mit allen Kräften, diese Seiten ihrer Persönlichkeit - es waren die einzigen, die für Picasso zählten - zur Vollendung zu bringen. Seit ihr Selbstbild zerstört war, fühlte sie sich verlassen und schutzlos, aber auch von allen Schranken befreit. Sie wollte nicht mehr nur Picassos Gewaltopfer sein, sondern das Gewaltopfer jedes beliebigen Mannes, aller Männer, ein williges Opfer für Raub und Überfall auf offener Straße. Sie wollte nicht nur Picassos Muse sein, sondern auch seine Götterbotin, die Stimme der Offenbarung. Ihrer selbsterrichteten Identität beraubt, wollte sie, daß die übermächtige Identität des Männlichen und des Göttlichen von ihr Besitz ergriff und Gebrauch von ihr machte, so wie ihr Geliebter sie besessen und benutzt hatte.
Dora Maar
Und wenn sie denn schon verloren war, sollte es ein eigener Willensakt sein, ihr letzter selbstbestimmter Schritt. Sie wollte sich aus jedem Porträt zurückziehen, aus jeder Skizze, jedem Abbild der Schmerzen, die Picasso ihr zugefügt und so raffiniert ausgebeutet hatte. Sie wollte zur Abwesenheit ihrer selbst werden. Sie wollte (wäre es möglich gewesen) ihre Seele von der Leinwand zurückrufen und nichts hinterlassen als ihre Hülse, ihren meisterhaft verfertigten Kokon. Und sie wollte nicht leise verschwinden, nein, so laut wie möglich wollte sie sich selbst verlieren. Es war ein Akt der Gewalt, aber das Gegenteil von Selbstmord. Wenn wir, vor Picassos Bildern stehend, die Frau anstarren, von der es heißt, sie sei Dora Maar, können wir uns durchaus vorstellen, daß sie ihr Ziel erreicht hat - jenseits der zufälligen Berühmtheit, die sie durch uns, die voyeuristischen Museumsbesucher, erlangte.
Dora Maar starb im Juli 1997 im Alter von neunundachtzig Jahren in Paris.
Quelle: Alberto Manguel: Bilder lesen. [Reading Pictures. A History of Love and Hate. Übersetzt von Chris Hirte] Volk & Welt, Berlin, 2001, ISBN 3-353-01150-1, Auszüge aus den Seiten 183-201. [Suche mit ZVAB]
Dora Maar: Biographie, Links, Bibliographie
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