7. Januar 2019

Max Reger: Streichtrio a-moll op. 133 & Klavierquartett d-moll op. 141b

In Max Regers OEuvre nimmt die Kammermusik nicht nur den größten Teil ein, ihr galt auch sein kontinuierliches Interesse von der Violinsonate op. 1 bis zum kurz vor seinem Tod vollendeten Klarinettenquintett op. 146. Dabei überwiegt die Klavierkammermusik, die er als Pianist persönlich propagierte und mit höchst kompliziertem Klavierpart ausstattete; doch bedachte er auch die Streicher vom Solo bis zum Sextett mit bedeutenden Werken.

Drei Jahre hatte Reger als umjubelter Meininger Hofkapellmeister seine Kräfte verausgabt, bis ihn ein Zusammenbruch im Frühjahr 1914 zur Amtsniederlegung zwang. Während einer Kur in Meran plante er neben den Mozart-Variationen op. 132 auch ein Klavierquartett a-moll, das noch vor Abschluss des Orchesterwerks im Juli 1914 in Meiningen begonnen und im ersten Weltkriegsmonat als op. 133 fertiggestellt wurde. Vom Klangideal der Mozart-Variationen, in denen „jede Note auf Klang berechnet" sei, ist auch dieses Quartett beherrscht, dessen freiströmende Melodik durch starke Chromatik eine besondere Weichheit und Süße erhält.

Die Streicherstimmen werden als homogener Klangkörper behandelt, treten nicht in einen Wettstreit, sondern verdoppeln einander häufig paarweise oder im unisono, wodurch die Linien plastisch hervortreten und abschattiert werden. Auch das Klavier nutzt alle Klangregister, verdunkelt mit oktavierten Bässen oder leuchtet mit perlenden Läufen. An Ausdruckstiefe und Intensität Opus 113 nicht nachstehend, dämpft das a-moll Quartett dessen Ausbrüche: Das con passione des Kopfsatzes ist schwermütig gemildert, das Scherzo spukhaft, im langsameren Trioteil mit einem 55-taktigen Orgelpunkt der Bratsche träumerisch verhalten, das Largo con gran espressione innerlich wie ein Gebet; das der Ausdruckssphäre des Scherzos verwandte Finale con spirito neigt zu grimmigem Spaß. Über dem Ganzen liegt ein resignativer, ja pessimistischer Zug, aus dem die Stimmen nur mit Kraftanstrengung herausbrechen, um mit Ausnahme des Finales im ppp zu verebben. Das Quartett wurde von der Kritik sofort angenommen und „zum Schönsten, Reifsten und Geläutertsten" gezählt, das Reger geschrieben habe, „zugleich zum Gehaltvollsten, was die moderne Kammermusik hervorgebracht."

„Nun beginnt der freie jenaische Stil", kündigte Reger nach dem Umzug in die Universitätsstadt im Frühjahr 1915 an und fühlte sich von den Zwängen seines Amts, aber auch vom Druck, Repräsentant der Avantgarde zu sein, befreit. Wenige Monate gelang ihm auch die Befreiung vom Konzertleben, so dass ein Großteil seines Spätwerks in ungewohnter häuslicher Ruhe entstand. Der Rückzug ins Private hatte aber auch resignative Züge: Den Bruch mit der Tonalität, den Arnold Schönberg vollzogen hatte, wollte er nicht mitmachen, der einer Aufgabe seines Koordinatensystems gleich gekommen wäre. Als bewusster Einzelgänger blieb er sich selbst treu und bemühte sich mit jedem Werk zu steigern; und so überrascht es nicht, dass er seinen ästhetischen Standort von 1904 überprüfte und erneut eine Flötenserenade op. 141a mit einem diesmal nur dreisätzigen Streichtrio d-moll op. 141b als „Miniaturkammermusik“ konzipierte. „Das Werk ist wirklielt gut", konstatierte er befriedigt und tatsächlich ist das Streichtrio mit einem melodiösen Variationssatz und einer graziösen Schlussfuge ein ganz „echter Reger", der trotz der Beschränkung die Klangfülle seines Spätwerks aufbietet.

Quelle: Susanne Popp, im Booklet (gekürzt)

Max Reger.
Fotographie von Hermann Weiler, 08. 10. 1915

TRACKLIST


MAX REGER
(1873-1916)


Piano Quartet in A minor, Op. 133                   38:50

1 Allegro con passione (non troppo allegro) 12:54
2 Vivace                                     5:17
3 Largo con gran espressione                12:03
4 Allegro con spirito                        8:21

String Trio in D minor, Op. 141b                    20:55

5 Allegro                                    8:40
6 Andante molto sostenuto con variazioni     8:50
7 Vivace                                     3:19

                                      Playing Time: 59:52

Aperto Piano Quartet:
  Gernot Süßmuth, Violin (1-7)
  Stefan Fehlandt. Viola (5-7)
  Hans-Jakob Eschenburg. Cello (1-7) 
  Frank-Immo Zichner. Piano (1-4)  
Felix Schwartz, Viola (1-4)

Recorded at the Sendesaal des Hessischen Rundfunks, Frankfurt am Main,
16.-18. September 2002 (tracks 1-4) and at Siemensvilla, Berlin-Lankwitz,
27.-28. February 2007 (tracks 5-7).
Producer: Christoph Claßen (1-4), Christoph Franke (5-7)
Engineer: Rüdiger Orth (1-4), Henri Thaon (5-7)

Co-produced by Hessischer Rundfunk (1-4) and Deutschlandradio Kultur (5-7).
(P) + (C) 2008 


Giuseppe Tomasi di Lampedusa

Der Gattopardo


Die durch die geschlossenen Fensterläden von der Sonne still erhellten Kontorräume waren noch ausgestorben. Obwohl dies der Ort in der Villa war, in dem die meisten Unbesonnenheiten begangen wurden, strahlte er strenge Nüchternheit aus. Von den gekalkten Wänden spiegelten sich die riesigen Bilder der Lehnsgüter des Hauses Salina im glänzend gebohnerten Fußboden: die in lebhaften Farben zwischen den schwarz-goldenen Rahmen hervortretende Insel Salina, die Insel der Zwillingsberge, umgeben von einem schaumgekrönten Meer, auf dem beflaggte Galeeren schaukelten; Querceta mit seinen gedrängten Häusern rund um die Pfarrkirche, auf die bläuliche Pilgergruppen zustrebten; Ragattisi, geduckt zwischen den engen Schluchten; Argivocale, winzig in der Grenzenlosigkeit der mit fleißigen Schnittern gesprenkelten Getreidefelder; Donnafugata mit seinem Barockpalast, Ziel von scharlachroten Kutschen, hellgrünen Kutschen, goldenen Kutschen, die vermutlich mit Frauen und Flaschen und Fiedeln beladen waren; und viele andere mehr, alle unter dem klaren, tröstenden Himmel von der unter ihren langen Schnurrhaaren lächelnden Pardelkatze beschützt. Jedes fröhlich, jedes danach strebend, Galgen und Stock, die »lautere und vermengte Gewalt und Gericht« des Hauses Salina zu besingen. Naive Meisterwerke der Volkskunst des letzten Jahrhunderts; ungeeignet jedoch, Grenzen festzulegen, Gebiete und Einkünfte zu bestimmen; Dinge, die in der Tat niemanden kümmerten. Der Reichtum hatte sich in den vielen Jahrhunderten seines Vorhandenseins in eine Zierde verwandelt, in Luxus, in Vergnügen; in nichts anderes sonst; die Abschaffung der Lehnsrechte hatte die Pflichten und zugleich die Privilegien geköpft; der Reichtum hatte, wie ein alter Wein, den Bodensatz der Habgier, der Fürsorglichkeit, auch den der Umsicht im Faß abgesetzt, um nur die Glut und die Farbe zu bewahren. Schließlich hob er sich selber auf: dieser Reichtum, der seinen Zweck erfüllt hatte, setzte sich nur noch aus ätherischen Ölen zusammen, und wie die ätherischen Öle verflüchtigte er sich schnell. Bereits waren etliche jener fröhlichen Lehnsgüter fortgeflogen und überdauerten bloß durch die Namen und auf den bunten Leinwänden. Andere glichen den Septemberschwalben, die noch nicht weggezogen waren, sich aber, zum Abflug bereit, ohrenbetäubend zwitschernd auf den Bäumen versammelten. Doch es waren viele; es schien, als könnten nie alle weg sein.

Trotz dieser letzten Feststellung beschlich den Fürsten beim Betreten seines Arbeitszimmer jedesmal ein bedrückendes Gefühl. In der Mitte des Raums thronte ein Schreibtisch mit Dutzenden von Schubladen und Schublädchen, Nischen, Vertiefungen, Verstecken und schrägen Flächen. Das Ungetüm aus gelbem und schwarzem Holz war ausgehöhlt und mit Attrappen gespickt wie eine Bühne, voller ausziehbarer Regale, Geheimfächer, komplizierter Mechanismen, die, außer den Dieben, niemand mehr betätigen konnte. Er war mit Papieren bedeckt, obwohl die weise Voraussicht des Fürsten dafür gesorgt hatte, daß sich die meisten auf die unerschütterlichen‚ von der Astronomie beherrschten Regionen bezogen, aber der Rest reichte, um des Fürsten Herz mit Mißmut zu erfüllen. Er erinnerte sich plötzlich wieder an König Ferdinands Schreibtisch in Caserta, auch jener mit Dokumenten und zu fallenden Entscheidungen überhäuft, dank derer man sich der trügerischen Hoffnung hingeben konnte, auf den Sturzbach der Schicksale einwirken zu können, der aber, eigenmächtig, durch eine andere Schlucht zu Tale stürzte.

Don Fabrizio mußte an ein kürzlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika entdecktes Medikament denken, unter dessen Wirkung man während der qualvollsten Operationen keine Schmerzen verspürte und in der Bedrängnis heiter blieb. Morphium war es genannt worden, dieses primitive Surrogat des heidnischen Stoizismus, der christlichen Ergebung. Dem König ersetzte die schimärische Regentschaft das Morphium; er, Salina, hatte eines von erlesenerer Zusammensetzung: die Astronomie. Er verscheuchte die Bilder des verlorenen Ragattisi und des wankenden Argivocale und vertiefte sich in die Lektüre der jüngsten Ausgabe des Journal des savants. »Les dernières observations de l'Observatoire de Greenwich présentent un intérét tout particulier …«

Er mußte sich jedoch schon bald von den stillen Himmelsräumen abkehren. Don Ciccio Ferrara, der Buchhalter, kam herein. Er war ein hageres Männchen, der die enttäuschte gierige Seele eines Liberalen hinter einer beruhigenden Brille und einem makellosen Krawättchen verbarg. An jenem Morgen war er munterer als sonst: es war offensichtlich, daß die Neuigkeiten, die Pater Pirrone so entmutigt hatten, auf den Mann wie ein Tonikum gewirkt hatten. »Schlechte Zeiten, Exzellenz«, sagte er nach den zeremoniellen Begrüßungen, »es geschehen unerfreuliche Dinge, doch nach dem bißchen Durcheinander und den Schießereien wird wieder Ordnung herrschen, glorreiche neue Zeiten werden für unser Sizilien anbrechen; wenn nicht viele Mütter ihre Söhne opfern müßten, könnten wir uns darüber nur freuen.« Der Fürst brummte etwas, ohne eine klare Meinung zu äußern. »Don Ciccio«, sagte er dann, »wir jedenfalls müssen Ordnung in die Eintreibung der Pachtzinsen für Querceta bringen; seit zwei Jahren hat man von dort nicht einen halben Tarì gesehen.« »Die Buchführung ist nachgeführt, Exzellenz.« Das war der magische Satz. »Wir brauchen bloß don Angelo Mazza zu schreiben, er soll das Notwendige veranlassen; ich werde Euch noch heute den Brief zur Unterschrift vorlegen«, und er ging, um eifrig in den mächtigen Hauptbüchern zu blättern, in denen, mit zwei Jahren Verspätung, außer den tatsächlich wichtigen, alle Rechnungen des Hauses Salina mit gestochen scharfer Schrift minuziös eingetragen waren.

Wieder allein, schob Don Fabrizio sein Eintauchen in die Spiralnebel hinaus. Er war wütend, nicht etwa über die sich ankündenden Ereignisse, sondern über Ferraras Dummheit, in dem er plötzlich eine der in Zukunft führenden Klassen erkannt hatte. »Was der gute Mann sagt, ist genau das Gegenteil der Wahrheit. Er bedauert die vielen Mütter, deren Söhne krepieren müssen, obwohl es sehr wenige sein werden, wenn ich den Charakter der zwei Gegner richtig einschätze: kein einziger mehr, als es in Neapel oder Turin, was letztlich aufs gleiche herauskommt, für die Abfassung eines Siegesbulletins braucht. Er hingegen glaubt an die ›glorreichen Zeiten für unser Sizilien‹, wie er es ausdrückt; was uns seit Nicias bei jeder der hundert Landungen versprochen wurde und nie eingetreten ist. Und im übrigen, warum hätte es eintreten sollen? Was wird also als nächstes geschehen? Von Feuergefechten unterbrochene Verhandlungen, und nachher wird alles sein, wie es war, während sich alles geändert hat.« Er hatte sich an die doppeldeutigen Worte Tancredis erinnert, deren tieferen Sinn er jetzt verstand. Er beruhigte sich und vergaß, in der Zeitschrift zu blättern. Er betrachtete die versengten, ausgehöhlten und wie das Elend ewigen Abhänge des Monte Pellegrino.

Kurz darauf kam Russo, der Flurwächter, der Mann, den der Fürst für den einflußreichsten seiner Untergebenen hielt. Schlank, geradezu elegant in seiner kordsamtenen Joppe, gierige Augen unter einer skrupellosen Stirn, war er für Don Fabrizio die vollkommene Verkörperung eines aufsteigenden Standes. Unterwürfig übrigens und fast aufrichtig ergeben, beging er seine Diebereien in der Überzeugung, von einem Recht Gebrauch zu machen. »Ich kann mir vorstellen, wie sehr sich Eure Exzellenz über die Abreise des jungen Herrn Tancredi ängstigt; doch ich bin sicher, seine Abwesenheit wird nicht lange dauern, und alles wird ein gutes Ende nehmen.« Der Fürst sah sich ein weiteres Mal einem sizilianischen Rätsel gegenüber. Auf dieser verschwiegenen Insel, wo man die Häuser verrammelt und die Bauern behaupten, sie würden den Weg zu ihrem Dorf nicht kennen, das man auf dem Hügel, zehn Minuten entfernt, vor sich sieht, auf dieser Insel war Verschwiegenheit, trotz des zur Schau getragenen Luxus des Geheimnisvollen, ein Mythos.

Er bedeutete Russo, sich zu setzen, schaute ihm fest in die Augen. »Pietro, reden wir von Mann zu Mann, bist auch du in diese Geschichten verwickelt?« Darin verwickelt sei er nicht, antwortete dieser, er sei Familienvater, und solche Risiken seien Sache von Jüngeren wie dem jungen Herrn Tancredi. »Ich bitte Euch, wie könnte ich vor Eurer Exzellenz etwas verbergen, der Ihr für mich wie ein Vater seid.« (Dabei hatte er vor drei Monaten in seiner Scheune hundertfünfzig Körbe Zitronen versteckt, die dem Fürsten gehörten, und wußte, daß der Fürst es wußte.) »Doch ich muß zugeben, daß mein Herz bei ihnen ist, bei jenen tapferen jungen Männern.« Er stand auf, um Bendicò hereinzulassen, der unter seinem liebenden Ungestüm die Tür erzittern ließ. Er setzte sich wieder. »Eure Exzellenz weiß es; es ist nicht mehr zum Aushalten: Hausdurchsuchungen, Verhöre, Papierkram für alles und jedes, ein Sbirre an jeder Ecke; ein anständiger Mensch darf sich nicht einmal mehr um die eigenen Angelegenheiten kümmern. Nachher aber, nachher werden wir in Freiheit, in Sicherheit leben, werden niedrigere Steuern bezahlen, werden Vorteile haben, werden Handel treiben können. Es wird uns allen bessergehen: bloß die Pfaffen werden das Nachsehen haben. Der HErr beschütze arme Teufel wie mich, und nicht jenes Pack.« Don Fabrizio lächelte: er wußte, daß ausgerechnet er, Russo, mittels eines Strohmanns Argivocale kaufen wollte. »Es wird Schießereien und Unruhen geben, aber Villa Salina wird sicher sein wie eine Burg; Exzellenz ist unser Vater, und ich habe viele Freunde hier. Die Piemonter werden das Haus nur mit dem Hut in der Hand betreten, um Ihren Exzellenzen die Ehre zu erweisen. Und erst noch dem Onkel und Vormund von Don Tancredi!« Der Fürst fühlte sich gedemütigt: er sah sich in den Rang eines Schützlings von Russos Freunden herabgewürdigt; sein einziges Verdienst bestand offenbar darin, der Onkel dieser Rotznase von einem Tancredi zu sein. »In einer Woche werde ich mein Leben dank Bendicò retten, so weit kommt es noch.« Er zwirbelte das Ohr des Hundes kräftig zwischen den Fingern, daß das arme Tier, sichtlich geehrt, aber leidend, leise jaulte.

»Alles wird besser werden, glaubt mir, Exzellenz«, fuhr Russo fort, »die ehrlichen und fleißigen Männer werden sich durchsetzen. Alles andere wird sein wie früher.« Don Fabrizio war erleichtert: diese Leute, diese schlitzohrigen Landliberalen, wollten sich bloß leichter Vorteile verschaffen. Das war alles. Und die Schwalben würden früher wegziehen. Was soll's, im Nest blieben noch viele zurück.

»Vielleicht hast du recht. Wer weiß.« Jetzt hatte er alle verborgenen Bedeutungen ergründet: Tancredis rätselhafte Worte, die pathetischen Ferraras, die falschen, jedoch vielsagenden Russos hatten ihr beruhigendes Geheimnis preisgegeben. Vieles würde geschehen, doch alles würde nur eine Komödie sein, eine lärmende romantische Komödie mit ein paar Blutflecken auf dem Narrenkostüm. Sizilien war das Land des Sich-Arrangierens, die französische Rage fehlte hier; nebenbei bemerkt, wann war, abgesehen von Juni achtundvierzig, in Frankreich etwas Ernsthaftes geschehen? Wäre seine angeborene Höflichkeit nicht gewesen, hätte er am liebsten zu Russo gesagt: »Ich habe bestens verstanden: ihr wollt uns, ›eure Väter‹‚ nicht zugrunde richten; ihr wollt bloß unseren Platz einnehmen. Sanft, mit guten Manieren, uns vielleicht sogar ein paar tausend Dukaten zustecken. Habe ich recht? Dein Neffe, lieber Russo, wird allen Ernstes glauben, ein Baron zu sein; und du wirst, was weiß ich, dank deines Namens zum Nachfahren eines Bojaren des Herzogtums Moskau werden und wirst nicht mehr der Sohn eines rothaarigen Bauerntölpels sein, wie dein Name unleugbar verrät. Deine Tochter wird schon vorher einen von uns geheiratet haben, vielleicht sogar ebendiesen Tancredi mit seinen blauen Augen und seinen schmalen gelenkigen Händen. Im übrigen ist sie hübsch, und wenn sie erst einmal gelernt hat, sich zu waschen... Damit alles bleibt, wie es ist. Wie es im Grunde ist: bloß die Klassen werden nach und nach ausgetauscht werden. Meine goldenen Schlüssel eines königlichen Kämmerers, die kirschfarbene Kordel des Ritterordens von San Gennaro werden in der Schublade bleiben müssen und schließlich in einer Vitrine von Paolos Sohn landen, doch die Salina werden die Salina bleiben; allenfalls bekommen sie als Trost diese oder jene Entschädigung: den Senat von Sardinien, das pistaziengrüne Band des Mauritius-und-Lazarus-Ordens. Flitterkram das eine wie das andere.«

Er stand auf: »Pietro‚ sprich mit deinen Freunden. Im Haus sind viele junge Damen, sie dürfen sich nicht ängstigen.« »Ich war sicher, Exzellenz; ich habe bereits gesprochen: in der Villa Salina wird es ruhig sein wie in einem Kloster.« Und er lächelte liebenswürdig ironisch.

Don Fabrizio verließ das Kontor, gefolgt von Bendicò; er wollte zu Pater Pirrone hinauf, doch der flehende Blick des Hundes zwang ihn, statt dessen in den Garten zu gehen: Bendicò hatte nämlich überschwengliche Erinnerungen an die gründliche Arbeit des gestrigen Abends bewahrt und wollte diese nach allen Regeln der Kunst zu Ende bringen. Der Garten duftete noch intensiver als am Tag zuvor, und das Gold der Akazie wirkte in der Morgensonne diskreter. »Doch die Könige, unsere Könige? Und die Legitimität, was ist damit?« Sein Blick verdüsterte sich bei diesem Gedanken, die Frage ließ sich nicht vermeiden, einen Moment lang fühlte er sich wie Malvica. Diese zutiefst verachteten Ferdinands, diese Franz’, sie kamen ihm wie ältere Brüder vor, vertrauensvoll, liebevoll, gerecht, echte Könige. Doch die im Fürsten besonders wachsame Abwehr, die seine innere Ruhe verteidigte, eilte bereits mit der Feldartillerie des Rechts, mit der Festungsartillerie der Geschichte zu Hilfe. »Und was ist mit Frankreich? Mit Napoleon III.? Und leben sie vielleicht nicht glücklich, die Franzosen, unter diesem aufgeklärten plebiszitären Kaiser, der sie zweifellos zu höchsten Geschicken bringen wird? Seien wir ehrlich: Karl III., war bei ihm vielleicht alles rechtens? Auch die Schlacht bei Bitonto hatte sich nicht wesentlich von der Schlacht bei Corleone unterschieden, oder von der bei Bisaquino, oder was weiß ich wo, in der die Piemonter den Unsrigen einen Denkzettel verpassen werden; eine von diesen Schlachten, die geschlagen werden, damit alles bleibt, wie es ist. Und schließlich war auch Jupiter nicht der rechtmäßige König des Olymps.«

Das im "Gattopardo" beschriebene
Familienwappen
Es war naheliegend, daß Jupiters Staatsstreich gegen Saturn ihm die Sterne in Erinnerung rief.

Er ließ den vor Tatkraft außer Atem geratenen Bendicò allein, ging die Treppe hinauf, durchquerte die kleinen Salons, wo die Töchter über die Freundinnen aus der Klosterschule plauderten (die Seide ihrer Röcke raschelte, als sie sich ehrerbietig grüßend erhoben), ging eine lange Stiege hinauf und trat in das strahlend blaue Licht des Observatoriums hinaus. Pater Pirrone saß ganz vertieft über seinen algebraischen Formeln, mit dem gelassenen Gesichtsausdruck des Priesters, der die Messe gelesen und starken Kaffee und Zuckerbrötchen aus Monreale gefrühstückt hat. Die zwei von der Sonne geblendeten Teleskope und die drei Fernrohre mit dem schwarzen Deckel auf dem Okular kuschten brav, gut erzogene Tiere, die wußten, daß ihnen ihre Mahlzeit nur abends vorgesetzt wird.

Das Erscheinen des Fürsten riß den Priester aus seinen Berechnungen und erinnerte ihn an den unseligen gestrigen Abend. Er stand auf, grüßte ehrfürchtig, konnte es sich aber nicht verkneifen hinzuzufügen: »Kommt Eure Exzellenz zur Beichte?« Don Fabrizio, den der Schlaf und die morgendlichen Gespräche die nächtliche Episode hatten vergessen lassen, war verblüfft. »Beichten? Heute ist doch nicht Samstag!« Doch dann erinnerte er sich und lächelte: »Eigentlich, Hochwürden, müßte das gar nicht sein. Ihr wißt ja schon alles.« Dieses Beharren auf der aufgezwungenen Komplizenschaft ärgerte den Jesuiten. »Exzellenz, die Wirksamkeit der Beichte besteht nicht nur im Bekennen der Schuld, sondern im Bereuen des begangenen Bösen; und bis Ihr das nicht getan und mir nicht gezeigt habt, bleibt Ihr im Zustand der Todsünde, ob ich nun Eure Handlungen kenne oder nicht.« Er blies pedantisch ein Härchen von seinem Ärmel und vertiefte sich wieder in seine Abstraktionen.

Die Ruhe, die dank der politischen Erkenntnisse des Vormittags die Seele des Fürsten erfüllte, war so groß, daß er bloß lächelte über das, was er sonst als Dreistigkeit empfunden hätte. Er öffnete eines der Turmfenster. Die Landschaft entfaltete all ihre Pracht. Unter dem Ferment der gleißenden Sonne schien jeder Gegenstand schwerelos zu sein: das Meer im Hintergrund war ein Flecken reiner Farbe, die Berge, die einem nachts furchterregend und voller Hinterhalte erschienen, waren jetzt nur noch sich auflösende Dunstmassen, und selbst das düstere Palermo breitete sich friedlich rund um die Klöster aus wie eine Herde zu Füßen des Hirten. Die auf der Reede vor Anker liegenden ausländischen Schiffe, die, in Erwartung von Unruhen geschickt, das Gefühl der Angst nicht auf die staunende Ruhe zu übertragen vermochten. Die Sonne, die an jenem Morgen des 13. Mai noch weit vom Zenit ihrer Glut entfernt war, erwies sich als die wahre Herrscherin Siziliens; die gewalttätige, impertinente Sonne, die narkotisierende Sonne auch, die den Willen des einzelnen auslöschte und alles und jedes in sklavischer Reglosigkeit erstarren ließ, in gewalttätigen Träumen wiegte, in Gewalttätigkeiten, die an der Willkür der Träume teilhatten.

»Es wird etliche Viktor Emanuels brauchen, um diesen Zaubertrank zu verändern, der uns ständig eingegossen wird.«

Pater Pirrone war aufgestanden, hatte den Gürtel zurechtgeschoben und war mit ausgestreckter Hand auf den Fürsten zugegangen. »Exzellenz, ich bin vielleicht zu schroff gewesen; bewahrt mir Euer Wohlwollen, doch hört auf mich: beichtet.«

Giuseppe Tomasi di Lampedusa
Das Eis war gebrochen, und der Fürst konnte Pater Pirrone von seinen politischen Erkenntnissen berichten. Der Jesuit war jedoch weit davon entfernt, die Erleichterung des Fürsten zu teilen, ja, er wurde sogar bitter: »Mit anderen Worten, Ihr Herren einigt Euch auf unsere Kosten, auf Kosten der Kirche also, mit den Liberalen, was sage ich, mit den Liberalen!, mit den Freimaurern sogar. Denn es liegt auf der Hand, daß unsere Güter, Güter, die das Vermögen der Armen sind, zusammengerafft und willkürlich unter den schamlosesten Rädelsführern aufgeteilt werden; und wer wird dann den Hunger der Ärmsten stillen, die heute noch von der Kirche gespeist und geleitet werden?« Der Fürst schwieg. »Womit wird man dann die aufgehetzten Massen Enterbter besänftigen? Ich werde es Euch sagen, Exzellenz: Zuerst wird man ihnen einen Teil, dann einen zweiten Teil und zuletzt alle Eure Ländereien zum Fraß vorwerfen. Und Gott wird Seine Gerechtigkeit geübt haben, wenn auch mit Hilfe der Freimaurer. Der HErr heilte die körperlich Blinden; doch die geistig Blinden, was wird aus denen?«

Der betrübte Pater war außer Atem: der aufrichtige Schmerz über die vorhersehbare Vergeudung des Kirchenvermögens verband sich in ihm mit der Reue, weil er sich erneut hatte hinreißen lassen, und mit der Furcht, den Fürsten verletzt zu haben, dem er aufrichtig zugetan war und dessen polternden Zorn, aber auch dessen gelassene Güte er erfahren hatte. Daher setzte er sich besorgt und beobachtete Don Fabrizio aus dem Augenwinkel, der mit einer kleinen Bürste die Getriebe eines Fernrohrs reinigte und ganz in seine minuziöse Arbeit vertieft zu sein schien, schließlich stand er auf, säuberte mit einem Lümpchen sorgfältig die Hände: sein Gesicht war ausdruckslos, seine hellen Augen schienen sich einzig und allein darauf zu konzentrieren, auch das kleinste in der Nagelwurzel versteckte Fettrestchen aufzuspüren. Rund um die Villa war die leuchtende Stille tief und äußerst herrschaftlich; eher hervorgehoben denn gestört von einem weit, weit entfernten Bellen Bendicòs, der zuhinterst im Zitrusgarten wütend den Hund des Gärtners anblaffte, und vom dumpfen rhythmischen Schlagen des Küchenmessers eines Kochs, der in der Küche unten auf dem Hackbrett das Fleisch für das nicht mehr ferne Mittagessen zerkleinerte. Die hoch am Himmel stehende Sonne hatte sowohl den Aufruhr der Menschen als auch die Strenge der Erde aufgesogen. Don Fabrizio ging zum Tisch, setzte sich und begann, mit dem sorgfältig angespitzten Bleistift, den der Jesuit in seinem Zorn hingelegt hatte, lanzettförmige bourbonische Lilien zu zeichnen. Er blickte ernst und gleichzeitig heiter, so daß Pater Pirrones Besorgnisse auf der Stelle Schwanden.

»Wir sind nicht blind, Hochwürden, wir sind bloß Menschen. Wir leben in einer sich ständig wandelnden Realität, an die wir uns anzupassen versuchen, so wie sich die Algen der Strömung des Meeres beugen. Der heiligen Kirche ist die Unsterblichkeit ausdrücklich versprochen; uns, als sozialer Klasse, nicht. Ein Sedativurn, dessen Wirkung hundert Jahre anzudauern verspricht, kommt für uns der Ewigkeit gleich. Wir können uns vielleicht um unsere Kinder sorgen, vielleicht um die Enkel; doch wir haben über das hinaus, was wir mit diesen Händen hoffen liebkosen zu können, keinerlei Verpflichtungen; also kann ich mir nicht darüber Gedanken machen, was aus meinen möglichen Nachfahren im Jahre 1960 geworden sein wird. Die Kirche ja, sie muß sich darum sorgen, weil sie zum Weiterleben bestimmt ist. Ihre Verzagtheit schließt den Trost ein. Und glaubt Ihr, daß die Kirche uns nicht opfern würde, könnte sie sich jetzt oder in Zukunft dadurch retten? Natürlich würde sie es tun, und sie hätte recht.«

Der Palazzo Filangeri di Cutò, Ort des Geschehens. 
Pater Pirrone war dermaßen glücklich, den Fürsten nicht verletzt zu haben, daß er sich seinerseits nicht verletzt fühlte. Der Ausdruck »Verzagtheit« im Zusammenhang mit der Kirche war zwar nicht annehmbar, doch die langjährige Erfahrung im Beichtstuhl hatte ihn gelehrt, den ernüchterten Humor Don Fabrizios zu schätzen. Er durfte jedoch sein Gegenüber keinesfalls triumphieren lassen. »Ihr werdet mir am Samstag zwei Sünden zu beichten haben, Exzellenz: eine des Fleisches, von gestern, eine des Geistes, von heute. Erinnert Euch daran.«

Beide waren wieder friedlich und unterhielten sich über einen Bericht, der demnächst an ein Observatorium im Ausland geschickt werden mußte, an das von Arcetri. Scheinbar getragen, geleitet von den Zahlen, unsichtbar zu jener Tageszeit, jedoch zugegen, fürchten die Gestirne mit ihren präzisen Umlaufbahnen den Äther. Ihre Verabredungen zuverlässig einhaltend, waren die Kometen es gewohnt, auf die Sekunde genau vor dem zu erscheinen, der sie beobachtet. Und sie waren nicht Künder von Katastrophen, wie Stella glaubte: im Gegenteil, ihr vorausberechnetes Erscheinen war der Triumph der sich projizierenden menschlichen Vernunft, die an der erhabenen Normalität des Firmaments teilhatte. »Lassen wir hienieden die Bendicòs scheue Beute jagen und das Küchenmesser das Fleisch unschuldiger Tierchen zerkleinern. Von der Höhe dieses Observatoriums aus verschmelzen das großtuerische Gekläffe des einen und die Blutrünstigkeit des anderen zu einer ruhigen Harmonie. Das eigentliche Problem, das einzige, besteht darin, dieses
geistige Leben in seinen abstraktesten Momenten weiterleben zu können, in den todesähnlichsten.«

So argumentierte der Fürst, seine gewohnten Schrullen, seine gestrigen fleischlichen Kapricen vergessend. Und dank dieser Momente der Abstraktion waren ihm seine Sünden, vielleicht, inniger vergeben worden, das heißt, sie hatten ihn wieder enger mit dem Universum verbunden, als Pater Pirrones rituelle Formel es vermocht hätte. An jenem Morgen wurden die Götter der Deckenfresken und die Makakenäffchen der Seidentapete nochmals für eine halbe Stunde zum Schweigen verurteilt. Doch im Salon bemerkte es niemand.

Quelle: Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Gattopardo. Roman. Neuausgabe. Übersetzt von Giò Waeckerlin Induni. Piper, München/Zürich, 2.Auflage 2004. ISBN 3-492-04584-7. Seiten 36-49.


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