10. Februar 2009

Guillaume de Machaut: Messe de Nostre Dame, Lieder aus Le Voir Dit (Oxford Camerata)

Mit Persönlichkeiten wie Guillaume de Machaut löst sich zum erstenmal die Autorität eines Komponisten aus dem Geist der handwerklich-klerikalen Überlieferung, die bis dahin vorgeherrscht hat. Schon die Daten seiner Biografie sind beeindruckend. Er war u.a. Sekretär König Johanns von Böhmen, an dessen Reisen, Feldzügen und Zerstreuungen er teilnahm - und von dem er reich belohnt wurde. 1334 übernimmt er eine Präbende als Domherr an Notre Dame in Reims. Sein Lebenswerk ist umfangreich, es umfasst Balladen, Rondeaux, Virelais und Lais. Neben Philip de Vitry ist er der Hauptvertreter der Ars nova, einer Musikrichtung, die nach dem Traktat Ars nova (1322) von Philip de Vitry benannt, in scharfer Abkehr von der nun als Ars antiqua genannten traditionellen Musik die Möglichkeiten der Komposition erweitert. Zum ersten Mal gewinnt die weltliche Musik ein Übergewicht gegenüber der geistlichen, die Mehrstimmigkeit gewinnt an Gewicht. Obwohl die Wirksamkeit der Kunstmusik nur einen beschränkten Kreis der Hörer erfasst, verbot Papst Johannes XXII. mit der Bulle Docta Sanctorum die Aufführung dieser Musik in der Kirche - unter Strafandrohung.

Die Messe de nostre Dame ist ein einzigartiges Werk, das erst ein Jahrhundert später einen Nachfolger findet. Bis dahin hatte es nur Kompilationen von Einzelkompositionen der verschiedenen Messteile des Ordinariums gegeben, aus denen Messzyklen ausgewählt wurden. Auch waren die Kompositionen erst dreistimmig. Guillaume de Machaut schreibt die erste vierstimmige Messe als Zyklus, bei dem rhythmische Entsprechungen und melodische und klangliche Wiederholungen die einzelnen Sätze wie das ganze Werk als Einheit erscheinen lassen. Die fortgeschrittene Technik der Motettenkomposition wird auf die Komposition der Messe übertragen. Für die Zeit typisch ist die Komposition des "Ite missa est" als sechster Messeteil.

Eine zeitgenössische allegorische Miniatur: Die Natur stellt dem Dichter Guillaume de Machaut drei ihrer Kinder vor: Sinn, Rhetorik und Musik

Wann die Messe entstand ist unbekannt. Vermutungen, dass sie zur Krönung Karl V. am 19.5.1364 geschrieben wurde, haben sich nicht bestätigt. Der Reichhaltigkeit der satztechnischen Merkmale wegen wird es wohl eine späte Schöpfung sein und das Gipfelwerk im Schaffen Machauts darstellen.

Der Eigenart der Messekomposition entsprechend findet man zwei Gruppen von Kompositionen in diesem Zyklus. Die textarmen Sätze (Kyrie, Sanctus, Agnus dei und Ite missa est) werden als isorhythmische Motette über einen liturgischen Text (im Tenor) komponiert. (Isorhythmisch heißt, dass eine rhythmische Struktur mehrfach wiederholt wird, wobei sich die Tonhöhe verändern kann. Diese isorhythmische Struktur entspricht nicht der Melodielänge, so dass im Gegeneinander eine Spannung aufgebaut wird.) Diese Isorhythmie betrifft alle vier Stimmen (zwei Oberstimmen, den Tenor und den Contra-Tenor). Textteile werden außerhalb dieses rhythmischen Schemas komponiert und heben sich daraus hervor, so wird jeder Kyrieruf als Einheit komponiert, die Sanctusrufe stehen vor der mit "dominus" einsetzenden rhythmischen Wiederholungen.

Die textreichen Sätze (Gloria und Credo) sind nach dem Conductus-Prinzip komponiert, hier wird der Text gleichzeitig deklamiert, die verschiedenen Abschnitte entstehen nach den Gesichtspunkten des Textes. Auch hier werden Textteile hervorgehoben, etwa die Lobpreisungen im Gloria (Laudamus te, benedicamus te, adormus te, glorificamus te")durch ungewöhnlich lang ausgehaltene Töne auf dem jeweiligen "te". Im Credo wird das "ex virgine Maria" durch eine Folge gleich langer Noten in allen Stimmen ausgezeichnet.

Die Krönung von Karl V. und Johanna von Bourbon 1364 in der Reimser Kathedrale. (Jean Froissart, Chronicles, fol. 284v, Flandres, Bruges 15th Century, 170 x 200 mm). Eine alte Theorie besagt, Machaut habe die Nostre-Dame-Messe für diesen Anlass geschrieben.

Je mehr man in die Messe hinein hört, umso mehr ergreift einen die Schönheit des Satzes wie die Vielgestalt des Ausdruckes. "Für mein Gefühl ist es fantastisch zu hören, wie positiv phasenlos, also irgendwie jenseits von metrischen Setzungen, die Musik vor sich fließt, wie sie mal auf einen Klang zielt, wie sie dazwischen herumwuselt und wunderbar diesen musikalischen Schluckauf auch einzusetzen weiß. Ich finde ja vor allem angenehm schön, dass diese Musik eben noch vor der Dur-Moll-Geschichte spielt und die leeren Quintklänge zu Beginn und am Ende eine positive Leere vermitteln, ja, vielleicht eben einen anderen musikalischen Raum beschreiben oder andeuten. Irgendwie scheint mir das Fremd-Vertraute da einen Grund zu bilden. Es ist ja nicht Musik vom Mond. Solche Musik ist möglicherweise eben doch mitgehört in späterer Musik, so unter der Oberfläche. Man ist ja nicht vor den Kopf gestoßen. Es ist so eine merkwürdige quadratische Musik." (Martin Hufner)

(Quelle: Peter Brixius: Guillaume de Machaut (c.1300-1377): Messe de nostre Dame)

TRACKLIST

Guillaume de MACHAUT (c. 1300 - 1377)

La Messe de Nostre Dame
(RB, RWR, PR, MB)

[01] Kyrie                               (8:41)
[02] Gloria                              (4:44)
[03] Credo                               (6:35)
[04] Sanctus                             (4:56)
[05] Agnus Dei                           (3:45)
[06] Ite missa est                       (1:41)

Songs from Le Voir Dit  

[07] Ballade 32: Plourez dames           (8:58)
(CT, RR, MB)
[08] Ballade 33: Nes qu'on porroit       (8:20)
(CT, RR, MB)
[09] Rondeau 4: Sans cuer dolens         (4:15)
(CT, RR)
[10] Lai 13: Le lay de bonne esperance  (19:31)
(MB)
[11] Rondeau 18: Puis qu'en oubli        (1:52)
(AC, RR, MB)
[17] Rondeau 17: Dis et sept cinq        (4:33)
(CT, RR, MB)


Oxford Camerata
Jeremy Summerly, Director:

Robin Blaze          RB
Caroline Trevor      CT
Robert Rice          RR
Richard Wyn Roberts  RWR
Andrew Carwood       AC
Matthew Brook        MB


PLAYING TIME                            (77:50)


Tracks 1 - 6 recorded in Reims Cathedral, from 20th to 21st February 1996,
in association with BBC Radio 3 and France Musique
Tracks 7 - 12 recorded in Maida Vale Studio 1, from 9th to 10th February 1996,
in association with BBC Radio 3
Text consultant: Anne Charlton - Music consultant: Alison Bullock
Producer: Antony Pitts
France Musique Engineers: Joel Soupiron, Valérie Lavallart - BBC Engineer: Keith Wilson
Music Notes: Daniel Leech-Wolkinson
Cover Painting: Music and Musicians by Jehan de Niziéres
(P) & (C) 1996

Guillaume de Machaut, Virelai "Dame a vous sans retollir" (Quelle)

Etwa zur gleichen Zeit wie die Messe Nostre Dame vertonte Machaut Verse aus seiner eigenen Dichtung Le Voir Dit, die in 9094 Versen den Briefwechsel mit der womöglich erfundenen jungen Adeligen Peronne wiedergibt. In dem Brief zur Ballade 32, Plourez dames, heißt es im Sommer 1362: "Ich schicke Dir diese Ballade, die meinem Kummer Ausdruck gibt. Ich bitte Dich, das Lied zu lernen, es ist nicht schwer, und die Musik ist wunderbar."

Die Ballade 33, Nes qu'on porroit (April 1363), ist ähnlich strukturiert, wenngleich der Text im beiliegenden Brief ganz anders lautet: Er, Machaut, habe dieses Stück in glücklicher und freudiger Stimmung komponiert und sei sehr stolz darauf. Dann teilt er einige Vortragsanweisungen mit und den Vorschlag, jemand solle es für Orgel, Dudelsack oder andere Instrumente bearbeiten.

(Quelle: Teresa Pieschacón Raphael, im Booklet)

Guillaume de Machaut (c. 1300-1377)

Mehr zu Guillaume de Machaut im Internet:

Das Magazin Klassik.Com zählt die Messe de Nostre Dame zu den 100 Meisterwerken der Musikgeschichte, und empfiehlt ebenfalls die von mir vorgestellte Einspielung der Oxford Camerata, weil:
* sie in der Kathedrale zu Reims aufgenommen wurde,
* sie um historische Authentizität bemüht ist (z.B.: altfranzösische Aussprache),
* sie die originale Transposition besitzt,
* alle Stimmen wie vom Komponisten verlangt von Männern gesungen werden,
* sie außer der Messe sechs weltliche Werke Machauts aus Le Voir Dit präsentiert,
* sie eine sehr gute Klangqualität (DDD) besitzt,
* ein aufschlußreiches Booklet (24 Seiten), Übersetzungen und Informationen bietet.

Eine japanische Besprechung der CD weist ein nett gezeichnetes Porträt des Künstlers auf, auf dem er (vielleicht nicht zufällig) einem Zenmeister ähnelt.

medieval.org bietet bio- und diskographische Informationen, und vor allem eine umfangreiche Sammlung der Liedtexte

Ein gewisser LeV hat im Blog Abgedichtet eine Rede zu seiner "Zwischenprüfung im Fach Musikwissenschaft im April 2005" publiziert. "Sie beinhaltet eine Biographie Guillaumes, eine Werkeinführung in die Messe und die Analyse des letzten Satzes Ite missa est".

Gert Pinkernell (Prof. em. an der Uni Wuppertal) hat das Repertorium "Namen Titel und Daten der französischen Literatur" ins Web gestellt, in dem er Machaut im Kontext der Literaturgeschichte beschreibt.

Die International Machaut Society ist kaum mehr als eine Visitenkarte eines Privatvereins mit hohem Anspruch und geringem service public. (Das ist aber nichts neues, und auch bei etlichen anderen Komponisten der Fall.)

HÖRPROBE: La Messe de Nostre Dame: VI. Ite missa est


CD Info (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 23 MB
rapidgator - 1fichier - Filepost - Depositfiles - Mediafire

Unzip the x58.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+CUE+LOG files

Reposted on March 7, 2014

3 Kommentare:

  1. Dear Sir,

    maybe I`m too blind, but I cant see the needed password to extract. Thanks for an answer in andvance.

    Best Regards
    HansPeterExtra

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  2. Nemo never uses a password. Just unfold with a program like WINRAR or similar.

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  3. Please, can you reupload this rendition?
    Thanks in advance.

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