19. Februar 2016

Joseph Freiherr von Eichendorff: »Und die Welt hebt an zu singen«

Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort.
Und die Welt hebt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.

Diese wohl bekanntesten Zeilen Eichendorffs bilden den Rahmen für das Autorenporträt, das Gert Westphal von dem großen deutschen Dichter (1788-1857) erstellt hat.

Es enthält eine Auswahl der bekanntesten Gedichte: Der Pilger - Der Morgen - Sängerfahrt - Schöne Fremde - Der frohe Wandersmann - Sehnsucht - Nachts I + II - Heimweh - Rückkehr - Das zerbrochene Ringlein - Die zwei Gesellen - Zum Abschied - In der Fremde - Vesper - Die Nachtigallen - Abschied - u.a.

Dazu kommen Auszüge aus dem Taugenichts, aus den Erinnerungen und aus »Der Adel und die Revolution«.


Joseph Freiherr von Eichendorff

wurde am 10. März 1788 auf Schloß Lubowitz bei Ratibor in Oberschlesien geboren. 1805 bis 1811 studierte er in Halle, Heidelberg und Wien Jura. 1813 nahm er an den Befreiungskriegen teil. Seine berufliche Laufbahn als Beamter führte ihn anschließend nach Breslau, Danzig, Berlin und Königsberg. Eichendorff starb am 26. November 1857.


Gert Westphal

Der "König der Vorleser" wurde 1920 in Dresden geboren. Nach langjähriger Tätigkeit als Hörspielleiter bei Radio Bremen und dem Südwestfunk arbeitete er in allen deutschsprachigen Ländern an ersten Theatern und Opernhäusern als Schauspieler und Regisseur (von 1960 bis 1980 Mitglied des Zürcher Schauspielhauses).

Dem Liebhaber von Hör-Literatur ist er bekannt durch im wahrsten Sinne »folgenreiche« Rundfunklesungen, durch unzählige Tonträgerproduktionen und Live-Auftritte.

Gert Westphal starb am 10. November 2002.

Quelle: Cover und Booklet

Eichendorf-Gedichte im Internet befinden sich z.B. [hier] und [dort]


Joseph Freiherr von Eichendorff (1841),
Radierung von Eduard Eichens.

Track 13: Die zwei Gesellen


TRACKLIST


Joseph Freiherr von Eichendorff (1788-1857):

Und die Welt hebt an zu singen 

Autorenporträt, zusammengestellt und gelesen von Gert Westphal 

01 Schläft ein Lied in allen Dingen                 0'36 
02 Kapitel von meiner Geburt                        4'23 
03 Der Pilger                                       0'43 
04 Der Morgen                                       0'31 
05 Sängerfahrt                                      1'08 
06 Schöne Fremde                                    0'49 
07 aus: Aus dem Leben eines Taugenichts             1'52 
08 Der frohe Wandersmann                            0'56 
09 Sehnsucht                                        1'16 
10 Heimweh                                          1'09 
11 Rückkehr                                         1'08 
12 Das zerbrochene Ringlein                         1'03 
13 Die zwei Gesellen                                1'50 
14 aus: Der Adel und die Revolution                 9'38 
15 Zum Abschied                                     1'21 
16 In der Fremde                                    0'44 
17 Vesper                                           0'57 
18 Die Nachtigallen                                 1'13 
19 Abschied                                         1'48 
20 aus: Erlebtes - Halle und Heidelberg             6'11 
21 Auf einer Burg                                   1'21 
22 Der Abend                                        0'33 
23 Der alte Garten                                  1'28 
24 Nachts - Ich wandre durch die stille Nacht       0'57 
25 Nachts - Ich stehe in Waldesschatten             0'55 
26 Zwielicht                                        1'19 
27 Lorelei                                          1'18 
28 Die Heimat                                       1'41 
29 Abend                                            1'54 
30 Mondnacht                                        0'54 
31 aus: Ahnung und Gegenwart                        2'50 
32 Der verspätete Wanderer                          1'06 
33 Der Kehraus                                      1'11 
34 Ergebung                                         1'27 
35 Briefe an Theodor Schön, 24.1.1850, 25.1.1849    2'09 
36 Der Einsiedler                                   1'17 
37 Todeslust                                        0'39 
38 Das Alter                                        1'27 
39 Schläft ein Lied in allen Dingen                 1'18 

                                       Gesamtzeit: 65'30 

Mitschnitt einer Matinée im Torhaus Wellingsbüttel, Hamburg, am 28. August 1988 
Tontechnik und CD-Mastering: Helge Halvé, Hamburg 

(P) 1988 / 2007

Track 39: Schläft ein Lied in allen Dingen


"Ja, das Leben ist ein Weib!"



Gustav Klimt und das Frauenbild der Jahrhundertwende

Abb.1 Edward Burne-Jones, König Kophetua und
die Bettlerin, 1880-84, Öl auf Leinwand, 290 x 136 cm,
Tate Britain, London.
Wenn der Eindruck nicht täuscht, ist im Augenblick die schrankenlose Austrifizierung von Gustav Klimt im Gange. Genauer gesagt: er wird von der Wien-Werbung ausgeschlachtet und nach allen Regeln der Werbekunst vereinnahmt - von den Produkten der sogenannten Geschmacksindustrie gar nicht zu reden, die bereits seit einigen Jahren auf dem Markt sind. Armbanduhren, T-Shirts, Schirme und Krawatten erinnern uns an die Wunschvorstellung der Secession, das ganze Volk mit Kunst zu beglücken. So schrieb Hermann Bahr in der Zeitschrift Ver Sacrum: "Hüllt unser Volk in eine österreichische Schönheit ein." Im Grunde richtet sich dieser Wunsch auf das, was Karl Kraus "Umgangskunst" nannte. Sie sollte die umfassende Lebensverschönerung bewirken. Um den Preis der Trivialisierung scheint diese Strategie in unseren Tagen eine zweifelhafte Erfüllung zu finden.

Mein Versuch wird zur Klimt-Welle und deren Zentralthema, die "österreichische Schönheit", keinen Beitrag leisten. Ich werde Gustav Klimt in ein Problemfeld versetzen, das sich im 19. Jahrhundert (und besonders in dessen letzten Jahrzehnten) als Motiv der Selbstbefragung der europäischen Zivilisation nachweisen läßt. Den Einstieg liefert das Nietzsche-Zitat im Titel dieses Vortrags. Ich nähere mich auf einem Umweg. 1888 schrieb Friedrich Nietzsche, die Lizenzen des heutigen Regietheaters vorwegnehmend, über Richard Wagner: "Würden Sie es glauben, daß die Wagnerschen Heroinen samt und sonders, sobald man nur erst den heroischen Balg abgetragen hat, zum Verwechseln Mme. Bovary ähnlich sehn! - wie man umgekehrt auch begreift, daß es Flaubert freistand, seine Heldin ins Skandinavische oder Karthagische zu übersetzen und sie dann, mythologisiert, Wagner als Textbuch anzubieten. Ja, ins Große gerechnet, scheint Wagner sich für keine andern Probleme interessiert zu haben, als die, welche heute die kleinen Pariser décadents interessieren. Immer 5 Schritte weit vom Hospital! Lauter ganz moderne, ganz großstädtische Probleme!"

In jeder fiktiven Gestalt der Kunst und Literatur stecken mehrere Verwandlungsmöglichkeiten: Rangerhöhung und Rangverlust. Darum geht es Nietzsche auch in der Stelle, deren Quintessenz mein Vortragstitel enthält. Man muß diesen Satz aus der "Fröhlichen Wissenschaft" ergänzen um das, was ihm vorausgeht. Vorher heißt es: "Vielleicht ist das der stärkste Zauber des Lebens: es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm" ... und dann nennt er einige dieser Möglichkeiten und gibt ihnen eindeutig weibliche Züge: "... verheißend, widerstehend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib!" Variationen eines Themas, Metamorphosen der Weiblichkeit, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. Dieses Changieren geht Hand in Hand mit der Maskierung (dazu Nietzsche: "die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften" in der 1886 geschriebenen Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft). Die Maske verhüllt und enthüllt zugleich. Sie bringt die Wahrheit der Lüge zum Vorschein. Dieses Rollenspiel betrifft letztlich die Frage nach der Wahrheit, die bekanntlich für Nietzsche kein zentrales Problem darstellte - im Gegenteil: "der Wille zur Wahrheit", schreibt er in derselben Vorrede, zeuge von schlechtem Geschmack, weshalb er die Wahrheit im Ungewissen, in Zwitterformen beläßt und zu dem Schluß kommt: "Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht zu sehen lassen."

Abb.2+3 Fernand Khnopff, Bäuerin, Skizzenbuch von 1882,
Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel.
Das Wissen darum, daß in einer Frau mehrere stecken, hat eine lange Geschichte. Es zielt nicht nur auf den Rollentausch, sondern reicht tiefer. Richtiger wäre es, von einem flexiblen Rollenpotential zu sprechen, das unterschiedliche Verwirklichungen zuläßt. So möchte ich Grillparzer verstehen, wenn er im Armen Spielmann sagt, in einer jungen Magd lägen - "als Embryo" - Julia, Dido und Medea. Der anonyme Umriß wird in Spannungsfelder gehoben, die bislang mythologischen Gestalten von hohem Rang vorbehalten waren. Der langen Geschichte dieser Rangerhöhung kann ich hier nicht nachgehen. In der letzten Erzählung des Decamerone wird die Schafhirtin Griselda von einem Markgrafen zur Gattin gemacht und wächst mühelos in den neuen gesellschaftlichen Kontext hinein. Solche Erhöhungen waren besonders in der klassischen spanischen Literatur beliebt, und von dort mag auch Grillparzer zu seinem Blick angeregt worden sein. Da gibt es bei Lope den Verbrecher, der zu einem Heiligen wird, das Bauernmädchen, aus dem die Stimme des Weltgewissens spricht. Das läßt an den idyllischen Ausklang von Goyas Zyklus über die Schrecken des Krieges denken, wo eine junge Bäuerin, vom Heiligenschein umstrahlt, einem armen Landmann erscheint, in dem ich den Hl. Isidro, den Stadtheiligen von Madrid, vermute.

Im 19. Jahrhundert geht diese Nobilitierung anonymer Geschöpfe in verschiedene Richtungen. Den Tenor des Jahrhundertendes schlug Edward Burne-Jones mit seinem "König Kophetua und das Bettlermädchen " (Abb. 1) an. Ein von Räubern ausgeplünderter Ritter zieht mit seiner Tochter durch die Lande. Obzwar in Lumpen gehüllt, geht von dem Mädchen eine betörende Wirkung aus. Ihr verfällt König Kophetua, der, ohne nach ihrer Herkunft zu fragen, sie liebt und heiratet. Das Gemälde deutet kein Happy End an, wohl aber das Grundmuster der Mann-Frau-Beziehung des Fin de siècle: bewundernde Betrachtung wird zur Anbetung erhöht, gerät also in ein religiöses Verhaltensmuster, das sich auch bei Burne-Jones Zeitgenossen nachweisen läßt, aber nur selten in dieser Verschränkung von fragender Erwartung und distanzierter Bewunderung.

Am knappsten finden wir die Höhenlagen, die potentiell in der Frau warten, in einer Zeichnung von Fernand Khnopff konzentriert, dem Belgier, der zu den Hausheiligen der Wiener Secession zählte. Ein Blatt aus einem Skizzenbuch zeigt zweimal ein und denselben Frauenkopf: einmal trägt er die Züge einer jungen Bäuerin, das andere Mal die einer Sphinx (Abb. 2, 3). Vielleicht steckt in dieser verhalten ausgesprochenen Metamorphose eine Antwort auf die Frage, die die Frauen Khnopffs an uns richten: "Who shall deliver me?" Diese Frage hat der Künstler wohl auch immer an sich selbst gerichtet. wenn er sich vom Bann der selbstgewählten Stilisierung befreien und in andere Sprachhöhen entkommen wollte. Dieses "Wer wird mich erlösen?" stellt auch den Grundton des Zwiegesprächs dar, das Klimt und seine Modelle miteinander führen.

Abb.4 Fernand Khnopff, Marguerite im weißen Kleid,
1887, Öl auf Leinwand, 96 x 74,5 cm,
Fondation Roi Baudouin,
Musées royaux des Beaux-Arts de Belgique, Brüssel.
Der Maler als behutsamer Erlöser der Frau aus den Befangenheiten und Masken der bürgerlichen Konvention - diesen Auftrag scheint Fernand Khnopff sich in seinen Bildnissen gegeben zu haben. Immer dann, wenn er sich das Spiel mit kostümierten Rollen versagt, geht er dabei überaus diskret vor. An dem ganzfigurigen Portrait seiner Schwester "Marguerite im weißen Kleid" (Abb. 4) besticht die an Whistlers chromatische Sparsamkeit gemahnende Weiß-in-Weiß-Skala. Die Frau steht - ihre Füße müssen wir uns hinzudenken - in einem seichten Schrein - man sprach von einem Votiv-Altar -, gebildet aus einer oder mehreren Türöffnungen, die zugleich etwas zu verbergen scheinen. Diese Art der feierlichen Rahmung steigert Gustav Klimt im "Bildnis Margarethe Stonborough-Wittgenstein" in eine kostbar ornamentierte Wand, die den diaphanen Körper der Frau in Regungslosigkeit bannt. Bei Khnopff hatte die ikonische Distanz noch nicht die Dreidimensionalität eingebüßt. Acht Jahre später malte er "Arum Lily". Lily Maquet, das Modell, sieht Marguerite zum Verwechseln ähnlich. War die Schwester verwunschen, aber doch in die hiesige Welt gestellt, hält sich "Arum Lily" in einem Zaubergarten auf. Beide Frauen blicken verloren an uns vorbei, ohne daß sie sehnsüchtiges Verlangen verrieten. Die formale Stilisierung verschlüsselt auch die Gefühle und bewahrt sie vor Sentimentalität.

Wir werden auch nicht auf die Spur einer verborgenen "Hinterexistenz" geführt. Überhaupt versagt sich dieser Aristokrat unter den Malern seiner Zeit die demaskierende Indiskretion. Er zog ihr die ikonische Maske vor, deren leere Augen unseren fragenden Blick abweisen. Von Khnopffs hieratischer Frontalität hat Klimt manche Anregung empfangen. Man denke nur an die "Philosophie" und die Hygieia der "Medizin". Seine "Maske" wurde auf der Khnopff-Ausstellung 1898 in der Wiener Secession bestaunt.

Was Fernand Khnopff so priesterlich zelebriert - Hevesi nannte ihn den Obermystiker von Brüssel - nahm bei seinem älteren Landsmann Felicien Rops (1833-1898) satirische Schärfe an, gewürzt mit erotischer Unzweideutigkeit. Sein Frauenbild wird von der männerverschlingenden Verführerin beherrscht, enthält aber auch eine deutliche soziale Komponente. Denn diese beiden Pole heissen nicht Bäuerin und Sphinx, sondern streikende Arbeiterin und Sphinx. Derselbe Raps, der sich voyeurhaft an halbentblößten Nuditäten delektierte, radierte eine nonnenhaft umhüllte streikende "Arbeiterin". Zwar fehlt jede erotische Anspielung, aber die Möglichkeit, daß aus diesem zaghaften Geschöpf eine Gelegenheitsprostituierte werden könnte, deutet sich im fragenden Blick auf einen imaginären männlichen Betrachter an. Für den Sozialkritiker Raps endet auf dieser Stufe - zu der die "Absinthtrinkerin" unterwegs ist - die ausweglose Misere des Proletariats. Zugleich aber schwelgt sein Werk in Situationen, in denen die Dirne sich zur Beherrscherin der ihr ausgelieferten Männerwelt erhebt. Dann tritt das Weib zweigesichtig auf: als unnahbar steinerne Sphinx und als deren handfestes fleischliches Gegenbild.

Abb.5 Henry de Toulouse-Lautrec, Reispuder, 1887,
Schwarze Kreide und Öl auf Leinwand, 56 x 46 cm,
Van Gogh Museum, Amsterdam.
Der Mann mit der Teufelsfratze scheint aus beiden nicht klug zu werden. In seiner zuweilen derben Situationskomik, in der die Männer oft (wie später bei Picasso) als lüsterne Tölpel auftreten, versteht es Raps, Illusionen der verschiedensten Art zu zerstören, Maskenspiele zu entlarven. Etwa die des "Theaterengels hinter den Kulissen". Dabei bedient er sich einer ephebenhaften Körperlichkeit, in deren Pseudo-Unschuld sich die Geschlechtszwitter des Jugendstils ankündigen. Erlauben Sie mir einen abschweifenden Blick auf Fritz von Uhde, der in einigen seiner späten Bilder (ca. 1908) ebenfalls zur Desillusionierung greift. Er malt seine Modelle, Zigaretten rauchend, mit angehefteten Engelsflügeln in der Atelierpause nicht blasphemisch, sondern in der einbekannten Absicht, daran zu erinnern, daß die Künstler seit eh und je ihre Engel nach leibhaftigen Modellen malten. Zugleich geht Uhde auf Distanz zur Engelsmystik seiner stilisierenden Zeitgenossen. Der Seitenhieb in Richtung Jugendstil ist unverkennbar. Es stellt sich nun die Frage: Kannte er Klimts Beethoven-Fries?

Neben Uhdes locker zusammenfassenden Pinselzügen nimmt sich der Realismus Max Klingers - auch er ein Idol der Secessionisten - hart und penibel aus. Jede Idealisierung vermeidend, nahm Klinger den Verkörperungen der antiken Schönheitsnorm die glatte Formelhaftigkeit. In seinem "Urteil des Paris" (1885/87) tragen Hera, Athena und Aphrodite die ungeschminkten Züge und die unbeschönigte Anatomie von Modellen, die sich ebenso routiniert wie unbeteiligt in ihre Rollen begeben. Eine neuere Untersuchung über die zeitgenössische Rezeption des riesigen Gemäldes weist darauf hin, daß der Verzicht des Malers auf den "männlichen Blick" (diesen Begriff gab es damals noch nicht) dem sich gerade wandelnden Bild der selbstbewußten Frau Rechnung trug.

Ich beschließe diesen Rundblick mit Toulouse-Lautrec. Er ist als Chronist der Pariser Halbwelt in die Kunstgeschichte eingegangen. Er war Beobachter und Beteiligter zugleich: Die Randmenschen der Bordelle, Kaschemmen und Nachtlokale wurden von ihm nicht aus der Distanz erfaßt, die der Maler zwischen sich und sein Motiv legt, um daraus einen Typus zu destillieren. Er fand sie in dem Milieu vor, das sie prägte, und er beließ sie darin. So nahm er nicht die Spielarten durch, die Nietzsche der Frau zuschrieb - verführerisch, verheißend, schamhaft, mitleidig -, um daraus den Schluß zu ziehen, das Leben sei ein Weib - nein, er blickte auf dieses weiblich konditionierte Leben als Ganzes und fand in dessen Mischung aus billigen Illusionen und dumpfer Trostlosigkeit nicht eine Versammlung von Lustgeschöpfen, sondern den weiblichen Menschen, der alle Rollenskalen durchlebt, die der männliche Mensch sich wünscht. So desillusioniert er die Scheinwelt der Bordelle, in der die weiblichen Statisten bald in gotischen Folterkammern, bald in üppigen Rokoko-Salons oder orientalischen Harems ihre Arbeit verrichten.

Abb.6 Puvis de Chavannes, Hl. Hain der Musen und Künste, 1884-89, Öl auf Leinwand, 93 x 231 cm,
The Art Institute, Chicago, Mr. and Mrs. Potter Palmer Collection.
Toulouse-Lautrec versagt sich die phantastischen Verwandlungen des männermordenden Eros, mit denen Gustav Moreau Aufsehen erregte. Hinter seiner "Salome" stehen die Modelle, die wir aus Fotos kennen. Ihre spröden Körper waren für Moreau kein Thema, sondern nur das anatomische Gerüst, der nüchterne Rohstoff für seine Kostümfeste, deren Dekors mit denen der Pariser Luxusbordelle wetteiferten. Toulouse-Lautrec unterschlägt diese Kulissen, die wir nur von zeitgenössischen Fotos kennen - und er portraitiert auch nicht die Frauen, wenn sie sich als Damen verkleiden und ablichten lassen. Sein Blick gilt der Dirne, die, ihrem Gewerbe verfallen, an ihm zugrunde geht und verfällt. Sein scharfer Blick richtet sich aber auch auf den tristen Bodensatz, aus dem die Frauen kommen, die man euphemistisch "Venuspriesterinnen" nennt. Er portraitiert sie in der stummen Anonymität des vierten Standes: eine Trinkerin - als Modell saß Suzanne Valadon -, die in ihrer Monomanie erstarrt ist; das verlorene Profil einer Wäscherin, die wie aus einem Gefängnis auf ein Fenster schaut; eine andere, die Wäsche austrägt und das mit einem Blick tut, dessen Leere wir erst bei genauem Hinsehen entdecken. Der Zeichner hat die Augen der Frau verwischt, so daß sie blind ihren Weg geht.

Alle Varianten dieser Randmenschen faßt Toulouse-Lautrec in "Reispuder" (Abb. 5) zusammen. Die Frontalität der Frau und der Tisch, der sie vom Betrachter trennt, schaffen Distanz und die herbe Würde des Ausgeschlossenseins. Der kalte Blick sucht kein Gegenüber, ihn lenkt auch keine Erwartung. So mutet die Frau völlig ungerührt, unbeteiligt an, ikonisch entrückt, obgleich physisch ganz und gar anwesend.

Wenn Toulouse-Lautrec die Scheinwelt der Bühne und ihrer Historien aufsucht, versagt er ihr den Talmiglanz, den Moreau ihr entlehnte, ohne sie jedoch zu persiflieren - er nahm ihr bloß die Aura der Verzauberung. Seine "Messalina" - Titelheldin einer Oper Isidore de Laras - tritt einmal in der Rolle der grausamen römischen Kaiserin auf, zugleich aber auch als Selbstdarstellung einer statuenhaften, walkürischen Sängerin, die auf den Applaus des Publikums zuschreitet - vielleicht aber auch auf ihre Henker, wenn man die martialischen Männer als solche deuten will. Erinnern wir uns an das Wort Friedrich Nietzsches über Wagners Heroiner und ihren bürgerlichen Kern: diese Messalina könnte aus einem "tableau vivant", aber auch aus dem Salon in der rue des Moulins stammen.

Abb.7 Gustav Klimt, Skulptur I, 1889, Graphit,
Aquarell und Gold auf Papier, 435 x 300 mm,
Museum für Angewandte Kunst, Wien.
Bäuerin und Sphinx: für diese Doppelrolle bot sich ein gesuchtes Modell an: Suzanne Valadon. Toulouse-Lautrec und Renoir begnügten sich mit ihrem natürlichen Charme, Puvis de Chavannes erhob ihn zum zeitlosen Ideal. Was Suzanne in sich vereinigte, geriet bei ihren Malern zum Konflikt von Antipoden. Von 1884-86 schuf Puvis de Chavannes Wandbilder für eines der Treppenhäuser des Museums in Lyon. Drei davon bilden ein Tryptichon: eine Mittelwand und im rechten Winkel dazu zwei seitliche Kompositionen. Das zentrale Fresko zeigt den "Hl. Hain der Musen und Künste" (Abb. 6), das linke eine "antike Vision", das rechte die christliche Eingebung "Maler bei der Arbeit im Campo Santo zu Pisa". So speist sich das Reich der Künste symmetrisch von zwei Leitepochen, dem Altertum und dem Mittelalter.

Toulouse-Lautrec malte sofort eine Replik auf den "Heiligen Hain". In die Idylle dieser Landschaft ließ er eine Bande von Pariser Flaneuren eindringen, er selbst ist als Rückenfigur zu erkennen. Das Gemälde - heute in Philadelphia - ist gemalte Kunstkritik in Gestalt eines Verrisses. In ihrer Unbedarftheit rebellieren diese Eindringlinge gegen das sehr ausgewogene, noble Bildgefüge, zugleich aber treten sie für eine neue Kunstwahrheit ein: "Für die regellose Wahrheit des wirklichen Lebens". Der 20-jährige Toulouse-Lautrec inszenierte ein Sakrileg, doch stand er mit seinem Kunsturteil nicht allein, auch die Brüder Goncourt mokierten sich über die "triste peinturlure" des Puvis, die wir freilich heute wieder anders beurteilen - das begann übrigens schon mit Gauguin, der Puvis de Chavannes bewunderte. Toulouse-Lautrecs Intervention hat symptomatischen Rang. Indem er den Keil seiner "Prosa" respektlos in die "Poesie" des "Heiligen Hains" trieb, nahm er Partei für die Poesie von unten gegen die von oben. Das wird sich alsbald deutlich in den Menschen aus den Randzonen der Pariser Fauna niederschlagen, die er diskret monumentalisiert und gegen das fiktive Figurenrepertoire der Gedankenmaler (sprich: der Symbolisten) ausspielt.

Das Lebenswerk von Gustav Klimt ist zur Gänze eine Huldigung an die Stilhoheit des "Hl. Hains der Musen und Künste". Es ist deshalb symptomatisch, daß die Wiener Secession sich um das Kennwort "Ver Sacrum" scharte. Das Wort vom Heiligen Frühling holt einen römischen Ritus in den Aufbruch der Gegenwart: "Wenn im alten Rom die Spannung, welche wirtschaftliche Gegensätze stets hervorrufen, einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte, dann geschah es wiederholt, daß der eine Theil des Volkes hinauszog auf den Mons sacer ... mit der Drohung, er werde dort ... ein zweites Rom gründen ...." So Max Burckhard im 1. Heft des Ver Sacrum.

Abb.8 Gustav Klimt, Skulptur II, 1896, Bleistift,
Kohle und Gold auf Papier, 418 x 313 mm,
Historisches Museum der Stadt Wien.
Als Toulouse-Lautrec gegen Puvis de Chavannes polemisierte, war der nur zwei Jahre ältere Gustav Klimt damit beschäftigt, Theaterräume - diese beliebtesten Illusionsorte der österreich-ungarischen Monarchie - mit Wandbildern und Vorhängen zu schmücken. Die Huldigung an die Musen der Bühnenkunst gipfelten in den beiden Treppenhäusern des Neuen Burgtheaters: in seinem geschichtlichen Ablauf zeigt sich darin das Theater gleichsam als die Summe, auf die das Leben hinausläuft. Daran schloß sich im Kunsthistorischen Museum der "Hl. Hain der bildenden Künste" - Lünetten und Zwickelbilder der kunstgeschichtlichen Epochen von Ägypten und Griechenland bis ins 15. und 16. Jahrhundert. Was Puvis de Chavannes punktuell zusammenfaßte - Antike und Mittelalter - weitete Klimt zu einem Bilderbogen aus. Er leistete damit seinen Tribut den "Stil-Maskeraden" des Jahrhunderts, die kurz zuvor Nietzsehe in "Jenseits von Gut und Böse" verspottet hatte. Auch wenn Klimt diese Streitschrift wahrscheinlich nicht kannte, sagte ihm sein Instinkt, daß er aus diesem Karneval der Stilmoden und -kostüme ausbrechen mußte.

Dieser langsam in ihm reifenden Einsicht widmete er 1899 seine "Nuda Veritas" (Abb. 9). Die Botschaft dieses Programmbildes zeigt sich, wenn wir es mit den beiden Allegorien der Skulptur vergleichen (Abb. 7, 8). Die erste Zeichnung von 1889 steht ganz im formalen Duktus der Zwickelbilder für das Kunsthistorische Museum. Ein damenhafter Akt, eine Siegesgöttin haltend, hebt sich in blassem Inkarnat von einigen Meisterwerken der antiken Bildhauerkunst ab. Das fragile Modell könnte aus der Wiener Gesellschaft stammen, es wetteifert mit der Würde der Kunstfiguren und zeigt in der Makellosigkeit seines Körpers das Fortleben des antiken Formenideals an. Anders Skulptur II von 1896. Wieder breitet Gustav Klimt eklektische Erinnerungen aus seinem kunsthistorischen Formenschatz aus, doch die Mittelfigur, die dieses Musee imaginaire trägt, ist die "Ewige Eva". Die Veritas Naturae, die zeitlose Naturwahrheit eines noch unverbrauchten Geschöpfs siegt ohne Pathos über die musealisierten Kunstwahrheiten. Das Leben entledigt sich der Rezepte und Formeln der Vergangenheit, aber auch der gesellschaftlich stilisierten Noblesse, die in dem Frauenkopf am unteren Blattrand weniger auftaucht als zu versinken scheint.

Klimt steht an einer Weggabelung. Soll er das junge Mädchen wählen, in dem sich - antizipierend - die träumerisch hingebungsvollen Gestalten von Ferdinand v. Saar und Arthur Schnitzler treffen, soll er mit ihr die pulsierende Lebensnähe wählen oder die Dame mit ihren erlesenen Gebärden und Kostümen? Diese Wahlmöglichkeiten stecken auch noch in der "Nuda Veritas" von 1899, obwohl ihre diaphanen Gesichtszüge bereits damenhafte Überlegenheit verraten. Hielt die Ewige Eva der Zeichnung von 1896 noch arglos einen Apfel, so wird die nackte Wahrheit von einer Schlange umzüngelt. Die bewußte Anmut, für die Karl Kraus in der Chinesischen Mauer das Wort von der "formwilligen Sexualität des Weibes" prägte - wie weit diese Formbarkeit geht, zeigt Klimts "Danae" - ist einem Wissen gewichen, das von den Worten Schillers elitär geadelt wird: "Kannst du nicht Allen gefallen durch deine That und dein Kunstwerk, mach es wenigen recht, Vielen zu gefallen ist schlimm."

Abb.9
Gustav Klimt, Nuda Veritas,
1899, Öl auf Leinwand,
252 x 56,2 cm,
Theatermuseum, Wien.
Klimt hat sich für ein Sowohl-als-auch entschieden: einmal für die Dame, die er zur Priesterin und Göttin stilisiert, das andere Mal für die Frau in ihrer "formwilligen Sexualität": davon handeln seine Zeichnungen. Zwischen diesen beiden Bereichen läuft eine Trennlinie: sie scheidet die öffentliche Kunst der Gemälde, in denen die Dame dominiert, von der privaten Kunst der Zeichnungen. Einmal baut Klimt Kulissen auf, das andere Mal durchschaut er sie.

In den Gemälden und Wandbildern versetzt er die Frau auf das höchste symbolische Formniveau: sie wird mythisch und mythologisch geadelt, immer von der Aura der Unnahbarkeit umgeben. Als "Musik" scheint sie das Geheimnis des Weltklangs zu enthalten und zu erlauschen. Als Weltweisheit ist sie ein kosmisch entrücktes Idol, als Hygieia (in der "Medizin") eine Priesterin, deren Arkanwissen sich nicht zu heilendem Handeln herabläßt. In der "Jurisprudenz", dem dritten der Universitätsbilder, wird der Mann von einem Polypen umschlungen, indes drei Rachegöttinnen - völlig unbeteiligt - das Ritual mit ihrer düsteren Schönheit ausschmücken. Darüber, in einer abgehobenen Zone, eine weibliche Trinität: die Gerechtigkeit mit einem Schwert in der Mitte, rechts das Gesetz, links die Wahrheit, die aber keine "Nuda Veritas" mehr ist, sondern von Klimts Prunksucht halb verhüllt wird.

Nicht nur die Schönheit, auch die Verhäßlichung des weiblichen Körpers wird folgerichtig von allegorischen Bedeutungsträgerinnen vorgeführt und solcherat geadelt. Davon sind im Beethoven-Fries die etwas aufdringlich lockenden Sünderinnen (auf die Todsünden verweisend) und das hockende Knochenweib, genannt "Nagender Kummer" geprägt.

Anders die Frauen in Klimts Zeichnungen, welche zu Lebzeiten des Malers einer breiten Öffentlichkeit vorenthalten blieben. Wir sind Zeugen intimer Lusterfahrungen. Jede Öffnung, jede Nische, jede Höhle des Körpers wird abgetastet, jede Verschlingung bis in die Verschmelzung hinein erprobt. Indem diese Geschöpfe die herrschenden Konventionen zu ignorieren scheinen, setzen sie sich einer totalen Verfügbarkeit aus. Gleichzeitig stellen sie die uneingeschränkte Genußfähigkeit ihres Körpers zur Schau. Mit behutsamer Hand veranschaulicht er das zynische Wort Otto Weiningers, wonach der ganze Körper des Weibes eine Dépendance seines Geschlechtsteils ist. Klimt hebt aber auch diese Einblicke über die bloße Enthüllung hinaus, nach der es den Voyeur verlangt. Er fügt der weiblichen Selbstbefriedigung seinen eigenen, sublimierten Liebesvollzug hinzu: nämlich den Gestaltungsakt. Einen Akt, dessen männlicher Egoismus unverkennbar ist, denn er benutzt die Frau, ohne ihr dafür etwas zu geben: wie die Frau, der er zusieht, befriedigt der sie zeichnende Künstler nur sich selbst.

Für jene Erlebnisräume, die der Zeichner Klimt durchstreift, hat Hofmannsthal in seinem Prolog zu Schnitzlers "Anatol" ein (vorwegnehmendes) schönes Wort gefunden: "Halbes, heimliches Empfinden, Agonien, Episoden ..." Schnitzler läßt uns in den "Weihnachtseinkäufen" das geheime Verlangen der gnädigen Frau nach der Poesie von unten ahnen - hätte Klimt diese Gabriele portraitiert, verrieten uns ihre Gesichtszüge nichts von ihren Wünschen.

Abb.10 Oskar Kokoschka,
Mörder, Hoffnung der Frauen III, 1909, Tusche,
Deckweiß über Bleistift auf Papier, 247 x 185 mm,
Graphische Sammlung, Staatsgalerie Stuttgart.
In seinen Bildnissen vornehmer Damen erfüllte Klimt den Dargestellten vielmehr den Wunsch (so drückte es damals Joseph A. Lux aus), "über dem Alltag zu stehen ... wie Fürstinnen und Madonnen ... in einer Schönheit, die von den gierigen Händen des Lebens nicht mehr zerpflückt und verwüstet werden kann." Das Verwüsten und Zerpflücken läßt wieder an den Hl. Hain und dessen sakrale Unversehrtheit denken. Hinter diesem verbalen Euphemismus steht eindeutig der Mann als Verwüster und Zerpflücker par excellence.

Klimt will den zur Unnahbarkeit stilisierten Damen das vorenthalten, was Karl Kraus ihnen so wünschte, da er wußte, daß sie es begehren: die Selbstpreisgabe, denn nur sie befreit von den Konventionen der Zucht und Ordnung: "Zucht ist ein Pfand der Unzucht, Hoheit die Bürgschaft des Falls." So Kraus in der Chinesischen Mauer (1909), der damit das Lob der Promiskuität verbindet: "... die Prinzessinnen lagen bei den Kutschern, weil es Kutscher waren, und weil es die Prinzessinnen nicht fassen konnten." Kraus folgt Nietzsehe, der in "Zur Genealogie der Moral" auf den "Genuß in der Vergewaltigung" anspielt, welcher "umso höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht."

Klimt hat an seinen Modellen keine psychologische Entlarvung dieser Art vorgenommen. Auch wenn er ihnen die enthüllenden Masken einer "Judith" aufsetzte, beließ er sie im Dekorum, das Priesterinnen zukommt. Gleichwohl gewähren diese Männermörderinnen Einblicke in die männlichen Wunschbilder der Verstümmelung, sie nehmen Extrempositionen ein, die auf das Umschlagen in Gegenbilder warten.

Eine solche dialektische Gegenposition nahm der junge Oskar Kokoschka ein. Sein "Schauspiel" genanntes Ritual "Mörder, Hoffnung der Frauen" entlarvte die Welt des makellosen Einklangs, welcher Klimt im selben Augenblick (1908) im "Kuß" die gleichsam definitive Ikone malte. Eine neue formale Rückhaltlosigkeit kündigt sich an. Klimt scheint das geahnt zu haben. Zweifelnd fragt er sich, ob ihn die kommende Generation noch gelten lassen wird. Dieser Zweifel ist gerechtfertigt. Zwar hat Kokoschka seine im Frühjahr 1908 erschienene Bilderzählung "Die träumenden Knaben" "Gustav Klimt in Verehrung zugeeignet", aber im Verehrer steckte bereits der Abtrünnige. Seine Knaben träumen noch in paradiesischen Landschaften, die an den Hl. Hain anklingen, aber diese heile Welt ist bereits durchzittert von quälenden Begierden, die bald darauf in "Mörder, Hoffnung der Frauen" brutal zu ihrem Durchbruch gelangen. Die Uraufführung des Stückes im Gartentheater der "Kunstschau" - wo gerade Klimt mit seiner Werkschau triumphiert - endet mit einem Publikumsaufstand. Er habe die Empörung ausgelöst, meinte Kokoschka später, weil er gegen die Gedankenlosigkeit der männlichen Zivilisation verstieß und darstellte, "daß der Mann sterblich und die Frau unsterblich sei ..." Ob das tatsächlich den Aufruhr provozierte, lasse ich dahingestellt, zumal das vieldeutige Stück insofern eindeutig ist, als es das Todesverlangen der Frau zum Thema hat.

Abb.11 Felicien Rops, Versuchung des hl. Antonius,
1878, Farbkreide auf Papier, 738 x 543 mm,
Cabinet des Estampes,
Bibliothèque royale Albert Ier, Brüssel.
Die wohl berühmteste Zeichnung zu "Mörder, Hoffnung der Frauen" (Abb. 10) bringt die Verwüstungswollust beider Partner auf ein graphisches Konzentrat aus linearen Wunden. Haß und Verlangen bestimmen die gegenseitigen Verletzungen und Vergewaltigungen. Die Frau verkrallt sich im Geschlecht des Mannes und erwartet seinen Todesstoß. Kokoschka hat in diesem Ritualmord eine klassische Verführungssituation umgekehrt: die des hl. Antonius, der sich der Verführerinnen erwehrt, die sein Verlangen jedoch insgeheim herbeigerufen hat. Die Inversion dieses Topos läßt sich formal belegen, wenn man Kokoschkas Zeichnung und die "Versuchung des hl. Antonius" von Felicien Rops (Abb. 11) übereinander legt. Der Rollentausch ist offenkundig: Bei Kokoschka ist der Mann der Zerstörer, der seinem Opfer Lust bereitet, und die Frau, vor seinem Eindringen zurückweichend, ist die versuchte Versucherin.

Die in der Stuttgarter Staatsgalerie aufbewahrte Zeichnung dürfte im Frühjahr 1910 entstanden sein und zwar als Vorlage für die erste Publikation des Textes im Sturm (Juli 1910). Ich halte es für wahrscheinlich, daß Oskar Kokoschka die Radierung, die Rops nach der Farbkreidezeichnung anfertigte, kannte. Vielleicht war er auch mit Sigmund Freuds Untersuchung über den Wahn und die Träume in Wilhelm Jensens "Gradiva" vertraut, die 1907 erschien. Freud veranschaulicht seine Lehre von der Wiederkehr des Verdrängten mit der Radierung von Rops: "Andere Maler von geringerem psychologischen Scharfblick haben in solchen Darstellungen die Sünde frech und triumphierend an irgendeine Stelle neben dem Erlöser am Kreuze gewiesen. Rops allein hat sie den Platz des Erlösers selbst am Kreuze einnehmen lassen; er scheint gewußt zu haben, daß das Verdrängte bei seiner Wiederkehr aus dem Verdrängenden selbst hervortritt."

Wie Toulouse-Lautrec blasphemisch in den "Hl. Hain" des Puvis de Chavannes eindrang, zerstörte Kokoschka ein Vierteljahrhundert später mit "Mörder, Hoffnung der Frauen" die sakrale Weihestimmung, die von Klimts "Kuß" ausging. Sein brutales Dazwischentreten ist janusköpfig zu verstehen. Einmal erschließt es der Zeichensprache neue Mittel, deren sich künftig der Expressionismus in Wort und Bild bedienen wird, zum anderen aber ist es keineswegs als Vorgriff auf die Zukunft der Geschlechtsbeziehungen zu sehen, sondern als rückblickende Abrechnung mit der Gesellschaft, die ihre Komplexe und Verdrängungen hinter dem schönen Schein der Stilkunst verbarg. Die Geschlechtsproblematik gehört der Vergangenheit an, die Gestaltungsmittel der verletzenden Deformation weisen in die Zukunft.

Abb.12 Gustav Klimt, Fabel, 1883, Öl auf Leinwand, 84,5 x 117 cm,
Historisches Museum der Stadt Wien.
Kokoschkas Wahrnehmung der animalischen Destruktivität des Eros lenkt unseren Blick zurück auf ein Frühwerk von Klimt, die "Fabel" (Abb. 12), in der wir die Bühne eingerichtet finden für die vielen Zwiespälte, Hintergründe und Abgründe, zwischen denen das Sexualleben der bürgerlichen Gesellschaft hin und her irrt. Die entblößte junge Frau paßt weder in das Rollenschema des süßen Mädels noch in das der Dame. Von Tieren umgeben, unternimmt sie nichts, um sich diese, wie Orpheus, gefügig zu machen. Denn in dieser lauernden Tierwelt tritt ihr, stillebenhaft sublimiert und verrätseit, ihre eigene Animalität gegenüber, die sich - ich zitiere Hofmannsthal - "nie an den Tag traut". Dieses Zitat stammt aus dem Aufsatz "Die Malerei in Wien", den Hofmannsthai ein Jahrzehnt später (1893) veröffentlichte. Von Klimt ist darin nicht die Rede, wohl aber von den Erwartungen des Publikums, die dieser Künstler (aus heutiger Sicht) alsbald befriedigen sollte. Hofmannsthal attestiert dem Wiener Publikum den "Trieb nach dem Lebendigen hin", "nach dem, was mit neuem kräftigen Zauber versunkene, verwachsene Falltüren der Seele aufsprengt". Hofmannsthal zieht dem Philister die Bildungsmaske ab und entdeckt darunter "in fast jedem Menschen ein dämmerndes Wesen, das vegetiert, träumt, von Angst, Rausch und Sehnsucht lebt und sich wegen seiner vermeintlichen Niedrigkeit und Häßlichkeit nie an den Tag traut, schamvoll bewußt, daß es auf Instinkte gestellt ist und nicht auf Prinzipien". Das ist Freud avant Freud.

Eine solche Malerei, stellt Hugo von Hofmannsthal 1893 mit Recht fest, gibt es in Wien noch nicht, man begnügt sich hier mit handgemalten Öldrucken. Ohne es zu wissen, kündigt der Dichter in seinem Aufsatz den Auftritt von Gustav Klimt an, der wenige Jahre später daran gehen sollte, dem Wien er Publikum seine geheimen Wünsche so offen zu legen, daß er es mit seiner Kunst zugleich betörte und empörte.

Quelle: Werner Hofmann: "Ja, das Leben ist ein Weib!" Gustav Klimt und das Frauenbild der Jahrhundertwende. In: Belvedere. Zeitschrift für bildende Kunst. Heft 2/2001. Seite 66 - 77

WERNER HOFMANN war Direktor des neu gegründeten Museums des 20. Jahrhunderts in Wien bis 1969, danach bis 1990 Direktor der Hamburger Kunsthalle. Neben seiner Vortrags- und Lehrtätigkeit ist er vor allem durch seine Publikationen zur Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts wie z. B. "Das Irdische Paradies" und "Das entzweite Jahrhundert" hervorgetreten. Außerdem konzipierte er zahlreiche Ausstellungen, darunter die Ausstellungs-Reihe "Kunst um 1800" in der Hamburger Kunsthalle.


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