2. Januar 2017

Louis Spohr: Streichquintett op. 144, Sextett op. 140, Potpourri op. 22

Mit einem Œuvre, das alle wichtigen Gattungen der deutschen Frühromantik umfasst. galt Louis Spohr als einer der bedeutendsten Komponisten seiner Zeit. Er wurde in Braunschweig geboren, wo er schon als Jugendlicher im Hoforchester spielte und sich zu einem der führenden deutschen Geiger seiner Zeit entwickelte. Wichtige Posten bekleidete er in Gotha (1805-1812), Wien (1813-1815), Frankfurt am Main (1817-1819) und schließlich in Kassel (1822-1857). In der übrigen Zeit unternahm er zahlreiche Konzertreisen - unter anderem nach St. Petersburg, Italien und Paris sowie (sechsmal) nach England. Als Dirigent war er wesentlich daran beteiligt, dass der Taktstock regelmäßig benutzt wurde. Überdies war er ein bekannter Lehrer: Rund zweihundert Geiger, Dirigenten und Komponisten hat er ausgebildet.

In Spohrs Musik verbinden sich romantische und klassische Tendenzen. Erstere spiegeln sich in der harmonischen Sprache und instrumentalen Textur, letztere in der formalen Anlage der Werke - und eben diese Seite seiner musikalischen Persönlichkeit spielte bei dem späteren Popularitätsverlust eine Rolle: Sie muss denen, die unter den berauschenden Klängen eines Wagner, Tschaikowsky und Richard Strauss aufwuchsen, altmodisch erschienen sein.

Das Potpourri op. 22 ist für ein Quintett aus Solovioline und Streichquartett geschrieben und bildet daher eine ebenso passende wie attraktive Ergänzung der […] Kollektion Spohrscher Streichquintette. Das Stück stammt aus dem Jahre 1807. Spohr war damals 23 Jahre alt und sowohl als reisender Violinvirtuose wie als Orchesterleiter am Fürstenhof von Gotha tätig. Für seine Reisen komponierte Spohr nicht nur Violinkonzerte und kürzere Stücke mit Orchesterbegleitung, sondern auch solche Stücke, die sich für Salons und kleinere Zentren eigneten. die über kein Orchester verfÜgten. Das Werk war lange ein Favorit des Komponisten, der davon später eine Orchesterfassung herstellte. die er 1820 in London und 1821 in Paris spielte.

Nach einer langsamen Einleitung, in der sich Spohrs expressiver Stil voll entfaltet, wird ein russisches Volkslied vorgestellt, dem drei dekorative Variationen folgen. Über eine Modulationspassage wird eine zweite Melodie erreicht - nichts anderes als Là ci darem la mano (Reich mir die Hand, mein Leben) aus der Oper Don Giovanni seines großen Helden Mozart. Auch dieses Thema wird variiert, bevor in der Coda die russische Weise wiederkehrt.

Sein sechstes Streichquintett komponierte Spohr im Jahre 1845, das siebte entstand im Oktober und November 1850. Dazwischen schrieb er im März und April 1848 sein einziges Streichsextett C-dur Op. 140, das sich hier […] trefflich einfügen lässt - zumal es eines der schönsten Werke des Komponisten ist. Spohr war der erste Musiker von Rang, der sich seit Boccherini (1776) mit dieser Besetzung aus je zwei Violinen, Bratschen und Violoncelli auseinandersetzte, und sein Versuch entzündete ein neues Interesse an dem Medium: Brahms schuf seine beiden Meisterwerke, und bald folgte eine Reihe weiterer wichtiger Komponisten dem Beispiel der zwei deutschen Meister.

Eine gewisse Färbung verdanken sowohl das Sextett als auch das Quintett Spohrs Reaktion auf die Revolution von 1848, aus der ja jenes vereinte und demokratische Deutschland zu entstehen schien, das der Komponist so lange ersehnt hatte: Das Sextett wartet mit spontaner Begeisterung darauf, dass sich die Hoffnungen erfüllen, und das Quintett spiegelt die eher deprimierende Zeit, in der die repressiven Kräfte erneut die Oberhand gewannen. Tatsächlich gab es eine Art familiärer Überlieferung, wonach Spohrs Sextett den Uberschwang der Ereignisse von 1848 ausgedrückt habe.

Louis Spohr
So liest man in den Kapiteln, die Spohrs Selbstbiographie hinzufügt wurden: »In solch gehobener Stimmung schrieb denn auch Spohr sein Sextett für 2 Violinen, 2 Violen und 2 Violoncell […], bei dessen Eintragung in sein Compositionsverzeichniß er die Worte hinzufügte: 'Geschrieben im März und April zur Zeit der glorreichen Volksrevolution zur Wiedererweckung der Freiheit. Einheit und Größe Deutschlands.' Und diese Composition, so reich an lebensfrischen Melodien, an wahrhaft ätherischem Wohlklang, wie kaum irgend ein anderes Werk von Spohr, giebt ein redendes Zeugniß über den Zustand seines Innern, indem sie, über die Stürme der Gegenwart sich freudig erhebend, nur Friede, Hoffnung und reinste Harmonie verkündet, so wie er diese schon im Geiste aus kurzen Kämpfen emporblühen sah.«.

Ein spezifisches Programm für dieses Werk hat Spohr nirgends festgehalten. Gleichwohl hat man ein solches zu entdecken versucht. In seiner wichtigen Studie über Spohrs Kammermusik bemerkt Hans Glenewinkel 1912, es sei das während des gesamten ersten Satzes häufig auftretende Trillermotiv ein Ausdruck der teils zurückhaltenden, teils aber auch ungestüm hervorbrechenden Freude, wohingegen der elegische Unterton der Coda wie eine prophetische Vision wirke, derzufolge der Geist der Freiheit noch einmal werde in Schlaf und Traum versinken müssen, bevor er endgültig wieder hervorkommt. Glenewinkel betont weiterhin, dass sich Spohr bei der Verzahnung von Scherzo und Finale bewusst entschied, Beethovens fünfte Symphonie nachzuahmen. Und allein die Tatsache, dass das Werk in diesem Kontext gegenwärtig ist, spricht dafür, dass es nicht verfehlt ist, das Ideal der politischen Freiheit als Inspiration für das Sextett anzunehmen.

Das warme und ausgedehnte erste Thema des Kopfsatzes (Allegro moderato) weist auf Brahms hin. Für den Zusammenhalt sorgt das Trillermotiv, das immer und immer wieder bei den verschiedenen Themen auftaucht. In der Durchführung, in der Elemente beider Hauptthemen sich in eine neue Melodie verwandeln, spielt eine untergeordnete Trillerfigur eine herausragende Rolle. Das Larghetto in F-dur zeigt eine hymnenartige Festlichkeit, und einen wirkungsvollen Kontrast bietet der Nebengedanke mit seinem besonderen rhythmischen Reiz. Das erste Scherzo (Moderato) in a-moll wechselt mit einem wunderbar klangvollen A-dur-Abschnitt (con grazia), in dem Spohr die erste Geige und das erste Cello in Oktaven gehen lässt. Nach einer Pause beginnt mit der aufsteigenden Oktave vom Anfang des Scherzos das freudvolle C-dur-Finale (Presto). Die untergeordnete Trillerfigur aus der Durchführung des ersten Satzes ist jetzt ins Hauptthema des Schluss-Satzes integriert. Das Scherzo und der A-dur-Abschnitt werden wiederholt, bevor das Finale erneut losstürmt - nur, um in der Coda überraschenderweise mit einem weiteren Auftreten des Scherzos aufzuwarten. Einige Prestissimo-Takte bringen das Sextett zu einem enthusiastischen Abschluss.

Spohrs unmittelbare Begeisterung über die Geschehnisse des Jahres 1848 hielt nicht lange an. Schon bald schlugen die Reaktionäre zu, und Ende 1849 hatten sie die Kontrolle zurückerobert. In diesem Jahr lehnte Spohr eine Einladung aus Breslau mit der Begründung ab, er könne »in einer Stadt, wo der Belagerungszustand proklamirt und die in der Nationalversammlung festgestellten deutschen Grundrechte aufgehoben seien, doch nicht frei athmen, viel weniger aber musiciren.«

Im Sommer 1850 - nachdem das Kriegsrecht aufgehoben worden war - holte er den Besuch schließlich nach, wobei er das Sextett aufführte (vielleicht als Ausdruck dafür, dass er immer noch an die Grundsätze der Revolution glaubte). Die Breslauer Zeitung berichtete, »dass der Meister in seinem jetzigen Alter [66] alle diese Vorzüge noch besitzt, dass er mit der Energie und dem Feuer eines Jünglings spielt und die größten Schwierigkeiten mit einer Kraft und Keckheit herausschleudert, die in Erstaunen setzen, das ist abnorm und sonst noch nicht dagewesen.«.

Louis Spohr als Geiger
Wie auch immer, der Kasseler Kurfürst Friedrich Wilhelm hatte das Jahr 1848 nicht vergessen. Er war zu einer Verfassung gezwungen worden, hatte die neue deutsche Nationalflagge über seiner Stadt wehen sehen und sich in der Öffentlichkeit mit der Nationalkokarde am Hut gezeigt. Noch schmerzhafter erlebte er, dass sein eigener Kapellmeister Spohr Revolutionslieder dirigierte und er selbst - der Gipfel der Schmach - sich genötigt sah, Spohr um die Aufführung eines populären patriotischen Gesangs zu bitten. 1850 hatte der Autokrat jedoch seine Macht wiedererlangt: Im September war das Kriegsrecht verhängt worden, und im Dezember - einige Wochen nachdem Spohr sein siebtes Quintett g-moll op. 144 vollendet hatte - marschierten 4.000 preußische Soldaten in Kassel ein, um das harte Durchgreifen zu unterstützen.

Spohr schrieb einem Freund: »Unsere Lage ist jetzt wahrlich eine Verzweiflungsvolle! Die Feigheit des preußischen Ministeriums hat uns mit dem ganzen übrigen Deutschland um die errungene Freiheit gebracht und leider ist keine Aussicht, dass die jetzige Generation eine zweite und dann hoffentlich erfolgreichere Erhebung der deutschen Nation erleben werde.- Wäre ich nicht zu alt, ich wanderte nach dem freien Amerika aus.«.

Ein Gefühl der Melancholie und innern Unruhe durchzieht weite Strecken des Quintetts und beherrscht den ersten Satz (Allegro moderato). Selbst das warmherzig-lyrische zweite Thema, die Koloraturverzierungen der ersten Violine und der Dur-Schluss vermögen diesen Eindruck nicht zu zerstreuen. Im nachfolgenden Larghetto wechselt das noble E-dur-Hauptthema gleichfalls mit unruhigen Abschnitten, die sich dreimal auf die einleitende Melodie melden - als kehrte man auf einem Lichtstrahl heim. Der synkopierte Beginn des g-moll-Menuetts, das erneut die Grundstimmung des Werkes unterstreicht, ist wieder nicht weit von Brahms entfernt. Als Gegengewicht fungiert das Trio in G-dur, das allerdings auch in die Molltonalität der Coda hineingezogen wird. In dem barcaroleartigen Finale (Allegro) löst sich das vorherige Geschehen in einem entspannten G-dur auf. Doch auch hier klingt die Musik mild im Vergleich zu dem Optimismus, den der Schluss des Sextetts verbreitet.

Der Fürst konnte sich bald an Spohr rächen. Am Neujahrstag 1851 kamen zur Verstärkung der Preußen auch bayerische Truppen nach Kassel, und je zehn Soldaten wurden in jedem von "aufrührerischen" Elementen bewohnten Haus einquartiert. Spohrs alter Schwiegervater musste dieses Ungemach erdulden, und den Komponisten bewahrte nur sein großer internationaler Ruhm vor derselben Behandlung. Gleichwohl kam er nicht ungestraft davon, denn die zehn ihm zugeteilten Soldaten wurden in einem Gasthaus untergebracht, und Spohr hatte die Rechnung dafür zu zahlen! Nach einer Reihe weiterer boshafter Aktionen seitens des Fürsten wurde Spohr im November 1857 kurzerhand pensioniert und sogar am Kontakt zu seinem alten Orchester gehindert. Der Fürst verfolgte Spohr sogar noch über den Tod hinaus: Nachdem Spohr am 22. Oktober 1859 gestorben war, wollte das Hoforchester 1861 am Grabe des Komponisten eine Gedächtnisfeier zu dessen Tod veranstalten, die aber verboten wurde.

Die Historie hat für Spohr jedoch eine posthume Rache ersonnen: Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam Lady Mayer im Zuge ihrer Recherchen für ein Buch über Spohr nach Kassel, das 1943 schwer zerbombt worden war. Sie berichtete: »Durch einen seltsamen Winkelzug des Schicksals ist Spohrs Denkmal unberührt von der Zerstörung, die vom Himmel fiel. Seine hohe Figur mit dem Taktstock in der Hand und der Geige unterm Arm erhebt sich gegenüber dem zerstörten Palast seines Herrn und Peinigers; ein Symbol dcr unsterblichen Kunst, der er in seinem Leben so edel gedient hat.«

Quelle: Keith Warsop (Deutsche Fassung: Cris Posslac), im Booklet

Eduard Gaertner (1801-77): Blick auf das Kronprinzenpalais und das Königliche Schloss von der Neuen Wache aus,
 1849, Öl auf Leinwand, 57,5 x 117 cm, Hamburger Kunsthalle. [Quelle: Zeno]
TRACKLIST

Louis SPOHR 
(1784-1859) 

Complete String Quintets ° 4 

Quintet No. 7 in G minor, Op. 144 (1850) a,c    32:01
[1] Allegro moderato                       12:23
[2] Larghetto                               5:30
[3] Menuetto                                6:53
[4] Finale: Allegro                         7:14

Sextet in C major, Op. 140 (1848) a,c,d         23:57
[5] Allegro moderato                        9:50
[6] Larghetto                               4:46
[7] Scherzo: Moderato - Finale: Presto      9:21

[8] Potpourri, Op. 22 (1807) a,b                13:30

                                  Playing Time: 69:20
New Haydn Quartet (a): 
János Horváth, 1st Violin ° Péter Sérosi, 2nd Violin 
György Porzsolt, Viola ° Gábor Magyar, Cello 

Attila Falvay, Violin (b) 
Sándor Papp, 2nd Viola (c) 
Tamás Varga, 2nd Cello (d) 

Recorded at the Unitarian Church, Budapest, from 4th to 7th March, 1996 
Producer: Ibolya Tóth ° Engineer: János Bohus

Cover Painting: Eduard Gaertner (1801-77): Blick auf das Kronprinzenpalais 
und das Königliche Schloss von der Neuen Wache aus, 1849, Hamburger Kunsthalle. 

(C) 2006 

Wider den umweltpolitischen Utopismus


Erste Internationale Friedenskonferenz, Den Haag, Mai bis Juni 1899
Am 12. Dezember 2015 endete der Weltklimagipfel in Paris mit einem internationalen Abkommen. 195 Staaten verpflichteten sich, Maßnahmen gegen die Erderwärmung zu treffen. Die deutsche Umweltministerin Barbara Hendricks sprach von einem historischen Tag: Die Weltgemeinschaft habe soeben Geschichte geschrieben. Wir schaffen das! - Von Deutschland aus betrachtet, müsste man variieren: Wir schaffen auch das. Oder, wie es vor einigen Jahren auf den Zügen in Baden-Württemberg zu lesen war: Wir können alles.

Und woher nehmen wir die Zuversicht? Doch nicht einfach aus der Luft. Sondern: Weil »wir«, »die Weltgemeinschaft«, schon einmal etwas Ähnliches geschafft haben. Das war in Montreal 1987. Naturwissenschaftler hatten herausgefunden, dass bestimmte Stoffe, insbesondere bestimmte fluorierte und chlorierte Kohlenwasserstoffe, die stratosphärische Ozonschicht zerstören, die uns vor UV-Strahlen schützt. Diese Substanzen wurden als Treibgase in Sprühdosen, aber auch als Betriebsstoffe in Kühlschränken und anderswo eingesetzt. Ihre Produktion wurde schrittweise reduziert. Seither sinkt die Konzentration von FCKW in der Atmosphäre. Und seither glauben viele: Was damals möglich war, dass nämlich die Weltgemeinschaft eine Warnung der Wissenschaft vor einer globalen Katastrophe ernst nahm und praktische, wirksame Maßnahmen ergriff, das ist auch künftig möglich.

Ich fürchte aber, die Analogie zwischen der Konferenz in Paris und der Konferenz von Montreal ist wenig brauchbar. FCKW sind vollsynthetische Stoffe, die in den 1980er Jahren international von sehr wenigen Herstellern in Hochtechnologieländern in kleinen Mengen produziert wurden. Seit der ersten industriellen Herstellung der FCKW in den 1930er Jahren bis in die 1990er Jahre hinein waren weltweit überhaupt nur um die 20 Millionen Tonnen dieser Substanzgruppe produziert worden. In Deutschland gab es lediglich vier oder fünf Hersteller, die alle auf alternative Stoffe ausweichen konnten. Die Emission von Kohlendioxid, das kein synthetischer Schadstoff ist, beträgt hingegen jedes Jahr mehr als das Tausendfache davon, vermutlich noch deutlich mehr, Tendenz steigend.

Zar Nikolaus II. von Rußland (1868-1918)
CO₂ ist nicht etwa ein vermeidbares Nebenprodukt von Verbrennungsprozessen, sondern deren Hauptprodukt. Es ist thermochemisch betrachtet der eigentliche Grund jeden Feuers: Erdöl, Kohle, Holz verbrennen, um CO₂ zu bilden. Vielfach gibt es gar keine Alternative zur CO₂-Emission, etwa bei der Herstellung von Zement, Stahl oder auch Kunstdünger. Selbst wenn man das Atmen außer Acht lässt (durch das jeder Mensch pro Minute etwa 0,3 Liter CO₂ erzeugt), bläst nahezu jeder Einzelne täglich beträchtliche Mengen Kohlendioxid in die Luft, einfach indem er ein »normales« menschliches Leben führt, durch Kochen, Backen oder das Bereiten von warmem Wasser, durch Heizen, Kühlen, Autofahren, durch nahezu alle Arten handwerklicher und erst recht industrieller Produktion.

Besonders große CO₂-Emissionen entstehen bei einem hoch technisierten Lebensstil, wie ihn viele Menschen in Europa, den Vereinigten Staaten und anderen Industrieländern führen. Doch es gibt auch andere Quellen. Ein bedeutender Teil der menschlichen Nutztiere etwa erzeugt Methan, ein noch klimawirksameres Gas als CO₂.

Folgenlose Beschlüsse

Der Hinweis auf Montreal führt also auf die falsche Fährte. Weitaus besser vergleichen lässt sich der Pariser Klimagipfel mit der Friedenskonferenz von Den Haag im Jahr 1899. Auch da ging es um ein schwerwiegendes Problem, dessen Dringlichkeit wissenschaftlich untermauert war, das alle Staaten gleichermaßen anging und deshalb nach einer globalen Lösung verlangte.

Die Haager Konferenz wurde von Nikolaus II., dem letzten russischen Zaren, einberufen, den ein tiefschürfendes, heute weitgehend vergessenes Werk in Unruhe versetzt hatte. Der Krieg lautete sein Titel, Autor war Jan Bloch, ein polnischer Volkswirt und Unternehmer. In sechs Bänden hatte Bloch eine Kritik der militärischen Vernunft vorgelegt, die streng systematisch mit einer Analyse des Schusses begann, weil mit einem Schuss jeder Krieg beginnt und mit dem »letzten Schuss« auch endet.

Im Zentrum seiner Überlegungen stand die Frage, wie die technologischen Innovationen seiner Zeit die Kriegsführung verändern würden. Seit den 1880er Jahren hatten neue, vollsynthetische Substanzen wie Nitrozellulose (Schießbaumwolle), Nitroglyzerin, Pikrinsäure und andere das bislang gängige Schwarzpulver als Treib- und Sprengstoff von Schusswaffen abgelöst. Sie waren chemisch so optimiert, dass bei einer Zündung nur noch Gas und Hitze entstanden, aber keine weiteren Nebenprodukte.

Jan Gotlib Bloch (1836-1902)
Die Folge dieser Schlüsselinnovation war eine gewaltige Effizienzsteigerung. Die Schüsse hatten eine viel höhere Reichweite und Durchschlagskraft, die Schützen wiederum konnten nicht mehr so leicht gesehen werden, weil der verräterische Rauch, der die Schlachtfelder noch beim Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 überlagert hatte, fehlte. Zudem konnte die Schussfrequenz erhöht werden, was unter anderem die Konstruktion des Maschinengewehrs ermöglichte.

Bloch folgerte aus dieser Entwicklung, dass militärische Angriffe künftig immer riskanter werden würden, weil schon wenige Verteidiger selbst unter zahlenmäßig weit überlegenen Angreifern ein Blutbad anrichten könnten. Künftige Kriege ließen sich nicht mehr rasch entscheiden, sie würden sich vielmehr nach anfänglicher Dynamik in langen und verlustreichen Schlachten festfressen. Die aufgrund der neuen Schusstechnologie wahrscheinlichen Stellungsschlachten würden gewaltige, bislang ungekannte Opferzahlen fordern und wären zudem äußerst kostspielig, was wiederum zu wirtschaftlichen Krisen führen werde. In der Folge wären politische Revolutionen unausweichlich, die das Ende der bestehenden Machtverhältnisse bedeuten könnten. Weil damit aber der Schaden jeden Nutzen auch für die Sieger überwog, habe der Krieg als Mittel der Politik ausgedient.

Blochs Scharfsinn kümmerte die damaligen Militärs wenig - was galt ihnen schon ein jüdischer Zivilist -, aber er beeindruckte den jungen Zaren, der sich die Sache von Bloch in mehreren persönlichen Unterredungen erläutern ließ. Überzeugt von der Triftigkeit der Argumentation, entschloss sich der Zar, mit seinen europäischen und internationalen Kollegen nach neuen, friedlichen Lösungen für Konflikte zu suchen und die Rüstung zu begrenzen, um die absehbare Katastrophe zu vermeiden. Nach dem Vorschlag Blochs sollte ein Internationales Schiedsgericht geschaffen werden, das Streitfälle schlichten sollte. Dessen Einrichtung wurde 1907, bei der zweiten Auflage der Den Haager Friedenskonferenz auch tatsächlich beschlossen; es besteht, wenig bekannt und wenig erfolgreich, als Ständiger Schiedshof in Den Haag bis heute.

Sitz des ständigen Schiedshofs:
Der Friedenspalast ("Vredespaleis"), Den Haag.
Blochs Alarmruf mobilisierte damals auch große NGOs, wie wir heute sagen würden. Bürgerliche Friedensinitiativen begleiteten die Tagung, bedeutende Intellektuelle wie Bertha von Suttner waren in Den Haag vor Ort und kommentierten das Geschehen. Reiche Unternehmer spendeten große Summen für die gute Sache, der amerikanische Unternehmer Andrew Carnegie etwa stiftete den Haager Friedenspalast, der 1913 feierlich eröffnet wurde.

Ein Jahr später entbrannte der Erste Weltkrieg, dessen Verlauf sämtliche Vorhersagen Blochs bestätigen sollte. Und das, obwohl beide Haager Konferenzen mit vielversprechenden gemeinsamen Beschlüssen zu Ende gegangen waren, die die Welt hatten aufatmen lassen. Hinter den Kulissen war von der darin beschworenen Einmütigkeit und Kooperationsbereitschaft allerdings von Anfang an wenig zu spüren gewesen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. etwa, ein Vetter des Zaren, schrieb diesem zwar ein Telegramm, in dem er die »Liebe zur Menschheit« des Herrschers pries, notierte aber handschriftlich an den Rand einer Vorlage in der bei ihm üblichen Drastik: »Ich scheiße auf die ganzen Beschlüsse.« »Die Konferenzkomödie«, so eine andere Randnotiz, »mache ich mit, aber den Degen behalte ich zum Walzer an der Seite.« So dachten viele Akteure.

Überforderung

Ganz ähnlich dürften auch manche, vielleicht gerade die wichtigsten Repräsentanten der 2015 in Paris anwesenden Nationen im Geheimen gedacht haben. Sicher nicht die Vertreter der deutschen Bundesregierung. Aber ist ernsthaft zu erwarten, dass Länder wie China, Indien, Russland, Saudi-Arabien, Katar, Kuweit, Iran oder Irak wirklich CO₂-frei werden oder auch nur ihre Emissionen deutlich mindern wollen?

Indien etwa kündigte erst kürzlich an, seine Kohleproduktion bis 2020 auf jährlich 1,5 Milliarden Tonnen verdoppeln zu wollen (was rund 4 Milliarden Tonnen CO₂ entspricht). Im November 2015 stellte sich heraus, dass China in den Jahren 2011 bis 2013 jährlich rund 900 Millionen Tonnen mehr CO₂ produziert hat als offiziell angenommen. Das allein entspricht der jährlichen CO₂-Emission in Deutschland. Ohnehin sollen die chinesischen CO₂-Emissionen, die rund das Zehnfache der deutschen betragen, erst 2030 sinken, bis dahin werden sie nach den derzeitigen Plänen weiter steigen. Chinas Anteil an den weltweiten CO₂-Emissionen liegt schon heute bei über 25 Prozent, Deutschlands Anteil bei 2,5 Prozent. Zwei Drittel der in China erzeugten Energie kommt aus der Kohle, und daran wird sich auch, trotz chinesischer Pläne für neue Kernkraftwerke und den Ausbau erneuerbarer Energien, in den nächsten fünfzehn Jahren nichts ändern.

Andrew Carnegie (1835-1919)
Es gibt überdies nicht wenige Länder, die in der globalen Erwärmung eher eine Chance als ein großes Risiko sehen, weil durch das Schmelzen des Eises zum Beispiel Lagerstätten leichter zugänglich werden, die land- oder forstwirtschaftliche Produktivität erhöht wird oder nützliche Schifffahrtswege entstehen. Hans Joachim Schellnhuber, der Chef des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, berichtet in seinem Buch Selbstverbrennung (2015), der russische Präsident Putin habe ihm gegenüber im September 2003 erklärt, man sehe dem Klimawandel in Russland entspannt entgegen, da er höhere Agrarerträge sichern könne und mehr Spielraum für Zobelexporte in die westliche Welt.

Der Klimawandel kommt

Glaubt man US-Präsident Obama, so sind wir die letzte Generation, die den Klimawandel noch verhindern könnte. Das ist Zweckoptimismus. Die letzte Generation, die tatsächlich noch wirksame Maßnahmen hätte ergreifen können, lebte zur Zeit der Haager Konferenzen. 1904 betrugen die weltweiten Emissionen bereits rund ein Zehntel der heutigen. Doch im Gegensatz zu heute wäre eine politische Lösung damals noch möglich gewesen.

Für etwa 80 Prozent der globalen erwärmungswirksamen Kohlenstoffdioxidemissionen waren nämlich lediglich drei Staaten verantwortlich, die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Deutschland (das damalige Deutsche Reich). Diese drei politischen Akteure hätten das Problem mit Aussicht auf Erfolg angehen können - hätten sie es denn auf ihrer politischen Agenda gehabt. Doch damals erkannte noch nicht einmal Svante Arrhenius (1859-1927), der Chemie-Nobelpreisträger, dem es 1895 gelungen war, den menschgemachten Treibhauseffekt erstmals aus chemischen und physikalischen Überlegungen eindeutig abzuleiten, dass hier überhaupt ein Problem vorlag. Ganz im Gegenteil: »Durch Einwirkung des erhöhten Kohlensäuregehaltes der Luft«, schrieb Arrhenius 1907, »hoffen wir uns allmählich Zeiten mit gleichmäßigeren und besseren klimatischen Verhältnissen zu nähern, besonders in den kälteren Teilen der Erde; Zeiten, da die Erde um das Vielfache erhöhte Ernten zu tragen vermag zum Nutzen des rasch anwachsenden Menschengeschlechts.«

Hans Joachim Schellnhuber (* 1950),
 Klimaforscher
Mittlerweile hat uns die Forschung die negativen Folgen der globalen Erwärmung bewusst gemacht. Allerdings sind seither auch über einhundert Jahre ungebremster Kohlendioxidemission vergangen. Es reicht also längst nicht mehr, weniger neues CO₂ in die Atmosphäre zu blasen, das darin bereits befindliche CO₂ müsste auch herausgeholt werden. Wer soll das tun? Alle Anstrengungen eifrigster internationaler Klimadiplomatie - der Pariser Klimagipfel war immerhin schon der 21. - haben es bisher ja noch nicht einmal vermocht, die CO₂-Konzentration der Atmosphäre zu stabilisieren, geschweige denn zu verringern.

Dabei wurden schon 1988 auf der Weltklimakonferenz in Toronto konkrete Ziele formuliert. Damals hieß es: Bis 2005 müssen die CO₂-Emissionen um 20 Prozent sinken. Nicht einmal dieses äußerst bescheidene Ziel wurde erreicht. Der mittlere jährliche CO₂-Anstieg lag in den Jahren zwischen 2001 und 2010 sogar 30 Prozent über dem mittleren jährlichen Anstieg der 1980er Jahre.

Auf die vage Hoffnung, die Klimaforscher könnten sich mit ihren Projektionen und Prognosen trotz aller Gründlichkeit geirrt haben, sollte man besser nicht setzen. Zum Klimawandel wird nun schon seit Jahrzehnten weltweit mit hoher Intensität geforscht, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Ergebnisse nicht grundsätzlich zutreffend wären. Der menschgemachte Klimawandel wird sich also weiter entfalten, allenfalls eine für den Menschen noch größere Katastrophe könnte ihn aufhalten.

Die globale Erwärmung kann nicht von Deutschland, sie kann nicht von Europa, sie könnte nur innerhalb eines starken Weltstaats wirksam bekämpft werden. Die Voraussetzungen, die für eine wirksame Klimapolitik fehlen, sind also nicht technische, sondern politische. Alle Klimakonferenzen - und es werden noch viele folgen - müssen wirkungslos bleiben, so viele Abkommen sie auch produzieren mögen, weil sie zwar Minderungsziele beschließen, deren Umsetzung aber nicht durchsetzen können. Selbst wenn drastische Folgen, die der Klimawandel vielleicht schon innerhalb der nächsten zwanzig Jahre zeitigen wird, die Handlungsbereitschaft erhöhen, dürfte sich daran nichts ändern.

Svante August Arrhenius (1859-1927)
Das aber bedeutet: Die globalen CO₂-Emissionen werden auch in den nächsten zehn Jahren nicht signifikant sinken. Was die einen sparen, werden die anderen umso ungehemmter in die Luft blasen, weil sie keinen unmittelbaren Schaden, wohl aber einen erheblichen, wenn auch kurzfristigen Nutzen davon haben. Wir sollten den Mut aufbringen, diese Wahrheit anzuerkennen. Und wir sollten daraus Schlüsse für unsere Umweltpolitik ziehen.

Umweltzerstörung durch Umweltschutz

Besonders dringend wäre zu fragen, welche konkreten Ziele wir uns eigentlich mit der sogenannten Energiewende setzen: Wollen wir Energie sparen? Das ist immer richtig, ist aber nicht gerade ein neues Ziel. Wollen wir aus der Kernkraft aussteigen? Das ist möglich, steht aber der Bekämpfung des globalen Klimawandels diametral entgegen, weil Atomkraftwerke einen CO₂-freien Basisprozess haben. Kernkraftwerke abzuschalten, um erneuerbare Energien an ihre Stelle zu setzen, bringt atompolitisch viel, aber klimapolitisch nichts. Oder soll die Energiewende der deutschen Bekämpfung des globalen Klimawandels dienen? Das hätte nur dann Sinn, wenn sehr bald auch alle anderen Staaten unserem Beispiel folgten oder es vielmehr überträfen. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass das geschehen wird.

Utopische Zielsetzungen bringen als Kompensation Pseudoziele hervor, die handfest wirken und deren Erreichen als Erfolg gefeiert werden kann. Das eigentliche Ziel, den CO₂-Gehalt der Atmosphäre zu stabilisieren oder möglichst zu senken, ist bisher nicht erreicht worden, wie ein einziger Blick auf die Keeling-Kurve, die berühmteste Messreihe unserer Zeit, zeigt, und wird auch im nächsten Jahrzehnt - sofern, wie gesagt, keine Katastrophen eintreten - nicht erreicht werden. Also erklärt man kurzerhand die Mittel zum eigentlichen Ziel und zeigt stolz auf Beschlüsse, auf Windräder, Photovoltaik und anderes Gerät. So belegt man dann den »Erfolg« deutscher Klimapolitik. Doch wir wollten nicht einen Gerätepark durch den anderen ersetzen, wir wollten die CO₂-Konzentration der Atmosphäre senken, um so die globale Erwärmung von der Ursache her zu bekämpfen.

Eine andere Strategie besteht darin, die globale Situation auszublenden und nur auf die lokale zu schauen. Und bei der lokalen Situation wählt man wiederum einen passenden, noch kleineren Ausschnitt, den man dann so darstellt, als sei er das Ganze. So jubelt man in Deutschland darüber, dass die erneuerbaren Energien schon jetzt 33 Prozent des Stromverbrauchs decken. Vom Primärenergieverbrauch, also von der Gesamtmenge der verbrauchten Energie, von der Strom nur einen Teil ausmacht, hört man hingegen wenig. Das ist auch kein Wunder. Denn der wird hierzulande auch heute noch zu 80 Prozent aus Öl, Erdgas und Kohle gedeckt, die erneuerbaren Energien haben hier einen Anteil von derzeit 12 Prozent, den Rest bilden Kernbrennstoffe.

Die Keeling-Kurve mit den Messwerten des atmosphärischen
Gehalts an Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre,
gemessen am Mauna Loa
Und inwieweit verändert dieser Bruchteil eines Bruchteils die globale CO₂-Konzentration? Unser Anteil am globalen Kohlenstoffdioxidproblem ist heute, anders als 1904, so gering, dass unsere bisherigen Bemühungen in der globalen Messkurve unsichtbar sind, weil sie außerhalb der Messgenauigkeit liegen. Was wir nicht emittieren, emittieren andere, die unsere Schwerindustrie übernehmen und uns gern mit günstigen, CO₂-intensiven Produkten beliefern.

Aber könnte man nicht argumentieren, die deutschen Bemühungen um zunehmende »Dekarbonisierung«, also den Ersatz fossiler Grundstoffe und Energieträger durch erneuerbare, hätten doch immerhin Wert als Werbebotschaft und verursachten überdies keinen Schaden? Es entsteht aber Schaden! Und zwar, und das ist das Bittere daran, ausgerechnet Umweltschaden. Beim Kampf für die globale Umwelt wird die lokale geopfert. Umweltsoziologen sprechen von innerökologischen Konflikten, Naturschützer präsentieren die Beispiele.

Eine lokale Schadensbilanz

Wasserkraft etwa ist grundlastfähig und CO₂-neutral, schädigt aber Ökosysteme und lässt Flussfischpopulationen verschwinden. Windräder tragen zur Dezimierung seltener Vogelarten bei, weil immer wieder Tiere mit den 240 Stundenkilometer schnellen Rotorblättern kollidieren. Zudem gibt es Beispiele, dass Rotmilane gezielt verfolgt werden, um Hindernisse für Windkraftprojekte zu beseitigen. Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz von 2000 wurde der Anbau von Energiepflanzen auf deutschen Äckern gefördert. Das hat drastische und langfristige Folgen für Natur und Landschaft in Deutschland. 2012 wurden auf 21 Prozent der deutschen Ackerfläche Energiepflanzen angebaut, die besonders viele Pestizide und starken Kunstdüngereinsatz erfordern. Die Zunahme von Anbauflächen für Energiepflanzen (insbesondere Mais) hat zwangsläufig den Rückgang anderer landwirtschaftlicher Lebensräume zur Folge, etwa Brachen oder Stilllegungsflächen und Grünland.

Charles David Keeling (1928-2005)
Durch giftige Gärflüssigkeit, die undichten »Bio«-Reaktoren entweicht, werden regelmäßig Grundwasser und Fließgewässer verseucht, im Jahr 2010 gab es durch neuerrichtete Biogasanlagen allein in Bayern rund 100 Gewässerverunreinigungen, von denen zehn zu Fischsterben führten. Ginge es nicht um »Bio«-Reaktoren und angeblich »Grüne« Energie, sondern um Chemiewerke, so hätten solche Zahlen längst Greenpeace auf den Plan gerufen. Doch wenn es um erneuerbare Energien geht, haben viele Umweltverbände eine lokale Sehschwäche.

Oder schauen wir zu unseren Nachbarn: Rund 2000 große und kleine Wasserkraftwerke sind zwischen Slowenien und Albanien derzeit geplant, sie werden dort nichterneuerbare Wildflusslandschaften vernichten und nichterneuerbare Arten vertreiben oder eliminieren, um anschließend erneuerbaren, CO₂-freien »Ökostrom« zu produzieren - und gerne auch in Nachbarländer zu exportieren. Wir müssen achtgeben, dass unsere Versuche, die Wirtschaft zu dekarbonisieren, nicht zur fortschreitenden Denaturierung der Welt beitragen.

Der Naturschutz ist bislang, und das ist die Meinung vieler Naturschützer, der Verlierer der Energiewende. Diese hat zu einer vielerorts drastischen Technisierung der Landschaft geführt, die den Unterschied zwischen Stadt und Land nivelliert. Sie mindert den ästhetischen Wert von Landschaften und schädigt Ökosysteme; Wasserkraftwerke oder Biomasseanbau gehen meist zulasten von Naturschutzzielen. Zwar wird behauptet, dieser große Kampf werde auch für den Naturschutz gekämpft; doch die konkrete Wirklichkeit sieht anders aus. Bislang kenne ich zumindest keine Maßnahme der »Dekarbonisierung« in Deutschland, die zugleich ein Naturschutzziel gefördert hätte. Wohl aber etliche, die den ohnehin schon bestehenden Druck auf natürliche Ökosysteme vertiefen und erweitern.

Über solche Opfer könnte man diskutieren, wäre der gute Ausgang der Sache auch nur halbwegs wahrscheinlich. Bislang aber steigern wir lokale Umweltprobleme, ohne das globale zu mindern. Da es nun einmal ausgeschlossen ist, dass wir durch unser Tun in Deutschland irgendeinen kühlenden Einfluss auf das Weltklima ausüben wetden, handelt es sich nur um Symbolpolitik. Dafür umweltpolitische Ziele zu vernachlässigen und zu blockieren, die wir tatsächlich erreichen könnten, ist nicht gerade das, was man sich unter Nachhaltigkeit vorstellt.

Jens Soentgen (* 1967), Chemiker und Philosoph
Umweltrealpolitik würde bedeuten, unsere Prioritäten neu auszurichten und umsetzbare Ziele zu definieren. So sollten etwa Klimaschutzmaßnahmen künftig nur noch dann als Umweltschutzmaßnahmen staatlich gefördert werden, wenn durch sie zugleich auch umweltpolitische Nahziele wirksam gefördert werden. Hier gibt es große Potentiale. Ein Beispiel ist die Moorrenaturierung, die eine Klimaschutzmaßnahme ist, zugleich aber auch weitere, wichtige Natur- und Umweltschutzziele verwirklicht. Umweltrealpolitik bedeutet also nicht, dass wir globale Fernziele gar nicht mehr zu berücksichtigen hätten; wohl aber, dass wir uns zunächst den regional erreichbaren globalen Zielen zuwenden sollten, also etwa dem Artenschutz, der Erhaltung und Wiederherstellung artenreicher Kulturlandschaften, der Bekämpfung von Stickstoffemissionen oder auch der Verbesserung des ökologischen Zustands unserer Gewässer.

Diese Umweltthemen haben es in der öffentlichen Wahrnehmung schwer, weil der Klimawandel inzwischen alle ökologischen Debatten überlagert. Sie haben dafür aber den Vorzug, dass sie hier und jetzt umsetzbar sind. Wir können mehr Platz für Natur schaffen, wir können unsere Flüsse renaturieren, wir können Auwälder revitalisieren, Agrarwüsten ökologisch umgestalten, alte Urwälder erhalten, die ökologisch und ästhetisch bedeutsam, aber CO₂-technisch suboptimal sind, weil sie im Gegensatz zu rasch wachsenden Turbowäldern kein CO₂ mehr binden. Wir können die Arten, für die wir besondere Verantwortung haben, schützen.

Vor Ort können wir viel. Global hingegen wenig. Unsere Arme haben Kraft, aber sie sind kurz.

Quelle: Jens Soentgen: Pie in the Sky - Wider den umweltpolitischen Utopismus. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. Heft 804, Mai 2016. Seite 85-92


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