18. April 2017

Franz Schubert: Die schöne Müllerin (Hermann Prey, Leonard Hokanson, 1974)

Neben der später entstandenen „Winterreise“ basiert der 1823 von Franz Schubert komponierte Liederzyklus für Singstimme und Klavier (op. 25 D 795) ausschließlich auf Texten von Wilhelm Müller (1794-1827), hier von Schubert ausgewählt aus einer 1821 erschienenen Gedichtsammlung Müllers.

Wahrscheinlich ist der Zyklus zu Lebzeiten des Komponisten in kleinerem oder größerem Rahmen aufgeführt worden, belegt ist eine zyklische Aufführung erst 1856 in Wien. Die Spieldauer des gesamten Zyklus beträgt bei den meisten der vielfach verfügbaren Aufnahmen des oft eingespielten Werks knapp über 60 Minuten.

Die 20 Lieder erzählen die unglücklich verlaufende Liebesgeschichte eines Müllergesellen, 1 bis 18 aus der Sicht des Gesellen, 19 als Dialog zwischen dem Gesellen und dem diesen durch die Geschichte nahezu wie ein menschlicher (oder mephistophelischer?) Vertrauter begleitenden Bach und 20 gar als Lied des Bachs selbst.

Der Müllergeselle wandert einen Bach entlang, gelangt zu einer Mühle, kann dort zu arbeiten beginnen, verliebt sich in die Müllertochter und darf offenbar kurz auf positive Erwiderung seiner Gefühle hoffen (Lieder 1 bis 13). Ein Jäger (Lied 14) macht aber das Rennen, das muss der Geselle rasch als unabwendbar hinnehmen, was zu Liebeskummer, Verzweiflung und Suizidtod im Bach führt (Lieder 15 bis 20).

Acht der 20 Lieder sind in Strophenform gehalten (1, 7, 8, 9, 10, 13, 14, 16), der Rest ist freier komponiert. In Fachtexten wird vielfach herausgestellt, dass Müllers Texte ironisch gemeint sind, Schubert sie (und damit den Gesellen) aber ganz ernst genommen hat.

Hier nun vielfach rein persönliche Gedanken und Impulse zu den einzelnen Liedern:

1. Das Wandern (Textbeginn "Das Wandern ist des Müllers Lust...")
Bekenntnis des Gesellen zum Wandern. Die Begleitung suggeriert ein Mühlrad (des Lebens?). Man kann vielleicht darauf achten, ob die Elemente der einzelnen Strophen (Wasser, Steine) in den Interpretationen unterschiedlich betont werden.

2. Wohin? ("Ich hört' ein Bächlein rauschen...")
Der Geselle folgt einem Bach. Die Begleitung suggeriert die Wellenbewegungen des Bachs (vgl. Schuberts Lied „Gretchen am Spinnrade“).

3. Halt! ("Eine Mühle seh' ich blinken...")
Die Mühle verheißt eine Lebensperspektive. Der Geselle spricht den Bach wie einen Vertrauten an.

4. Danksagung an den Bach ("War es also gemeint, mein rauschender Freund...")
Bestätigung der Vertrautheit. Ohne den Bach hätte der Geselle wohl nie die Müllertochter gefunden.

5. Am Feierabend ("Hätt' ich tausend Arme zu rühren...")
Enthusiasmus des einseitig Verliebten. Ab Takt 36 „Rubato“ und rezitativische Passage mit Zitaten des Müllers und seiner Tochter. „Wesentliche Momente“ für den Gesellen.

6. Der Neugierige ("Ich frage keine Blume...")
Total beseelte Unsicherheit des einseitig Verliebten, das Wunder eines Schubertliedes, spätestens ab Takt 23 unbeschreiblich verinnerlicht. So komponiert ein Genie.

7. Ungeduld ("Ich schnitt' es gern in alle Rinden ein...")
Er will seine Liebeszuversicht in die Welt hinausrufen. Den großen Herzensbogen wird später auch Franz Lehár motivisch ähnlich aufspannen.

8. Morgengruß ("Guten Morgen, schöne Müllerin!")
Der Geselle schwankt zwischen Hoffnung und Unsicherheit. Wie ist er dran mit der Müllertochter?

9. Des Müllers Blumen ("Am Bach viel kleine Blumen steh'n...")
Er träumt vom Liebesglück.

10. Tränenregen ("Wir saßen so traulich beisammen...")
Im zarten Mondlicht am Bach könnte sich sein Wunsch erfüllen, er wähnt sich knapp davor, und die musikalische Stimmung fängt die Szene wieder unbeschreiblich intensiv ein. Am Schluss steht sie auf und geht. Viele Männer kennen diese Momente. Ein auch textlich ganz starkes Lied. Irgendwie gleichzeitig Volkslied und Chanson.

11. Mein! ("Bächlein, lass dein Rauschen sein...")
Offenbar hat sie Ja zu ihm gesagt, er ist wieder enthusiastisch gestimmt.

12. Pause ("Meine Laute hab' ich gehängt an die Wand...")
Der Glückliche bleibt ein unsicherer Melancholiker. Genial wie Schubert hier durch den Dur-Moll-Wechsel die psychologischen Ebenen musikalisch schattiert.

13. Mit dem grünen Lautenbande ("Schad' um das schöne grüne Band...")
Der Geselle bezieht sein grünes Lautenband auf die Müllertochter.

14. Der Jäger ("Was sucht denn der Jäger am Mühlbach hier?")
Der Jäger ist plötzlich da, hektisch erwacht des Gesellen Eifersucht.

15. Eifersucht und Stolz ("Wohin so schnell, so kraus und wild, mein lieber Bach?")
Die Eifersucht scheint nur allzu begründet. Man wendet sich in solchen Fällen an den Vertrauten – hier also an den Bach.

16. Die liebe Farbe ("In Grün will ich mich kleiden...")
Das Grün ist leider als die Farbe demaskiert, die die Unerreichbare und den Jäger miteinander verbindet. Bitter, ganz bitter. Ähnlich später in Ravels „Le Gibet“ (auf dem Weg zum Galgen) zieht sich ein immer wiederholter Klavierton durchs ganze Lied (in der Original-Tenorlage ein Fis), der die Aussichtslosigkeit, die Bitterkeit beklemmend unterstreicht. Für mich eines der erstaunlichsten, psychologisch tiefgehendsten, erschütterndsten Lieder der Musikgeschichte.

17. Die böse Farbe ("Ich möchte zieh'n in die Welt hinaus...")
Die Beziehung zur Farbe Grün hat sich in Zorn gewandelt. Der Geselle muss sich mit der Aussichtslosigkeit seiner Hoffnung abfinden.

18. Trockne Blumen ("Ihr Blümlein alle, die sie mir gab...")
Es bleibt ein mehr als schaler Nachgeschmack, er denkt ans Grab, er resigniert.

19. Der Müller und der Bach ("Wo ein treues Herze in Liebe vergeht...")
Der Bach reagiert diesmal sogar verbal auf die Seelenpein des Gesellen. Ist er Tröster oder Verführer?

20. Des Baches Wiegenlied ("Gute Ruh', gute Ruh', tu' die Augen zu...")
Der Geselle liegt offenbar tot im Bach, und dieser vermittelt melodiös und harmonisch Geborgenheit. Aber der psychologische Überbau mengt schaurige Erschütterung bei.

Quelle: AlexanderK, am 4. Januar 2013, im Capriccio Kultur-Forum


TRACKLIST

Franz Schubert (1797-1828):    

Die schöne Müllerin D 795         
Liederzyklus nach Texten         
von Wilhelm Müller         

[01] Das Wandern                   2:37   
[02] Wohin?                        2:10     
[03] Halt!                         1:34   
[04] Danksagung an den Bach        2:23   
[05] Am Feierabend                 2:30       
[06] Der Neugierige                4:20      
[07] Ungeduld                      2:37       
[08] Morgengruß                    4:04       
[09] Des Müllers Blumen            3:30       
[10] Tränenregen                   4:48       
[11] Mein!                         2:22       
[12] Pause                         4:33       
[13] Mit dem grünen Lautenbande    2:03       
[14] Der Jäger                     1:10       
[15] Eifersucht und Stolz          1:28       
[16] Die liebe Farbe               4:12       
[17] Die böse Farbe                2:11       
[18] Trockne Blumen                4:08       
[19] Der Müller und der Bach       3:32       
[20] Des Baches Wiegenlied         5:24    

Vier Lieder 
nach Texten von 
Johann Wolfgang von Goethe 

[21] Der Rattenfänger D 255        2:10   
[22] Erlkönig D 328                4:12 
[23] Der Musensohn D 764           1:56  
[24] An den Mond D 259             3:09   

                 Gesamtspielzeit: 73:15    

Hermann Prey, Bariton 
Leonard Hokanson, Klavier [01]-[20] 
Karl Engel, Klavier [21]-[24]

(P) 1974

Das geöffnete Kleid



Piero della Francesca nimmt Maß an den Dingen

Piero della Francesca: Auferstehung Christi, 1463,
Wandgemälde in Fresko und Tempera, 225 x 200 cm,
Museo Civico, Sansepolcro.
Der Wächter schläft im Sitzen. Er sitzt nicht auf einem Stuhl. Seine Rückenlehne ist der Rand eines Sarkophags. Seine Ruhe ist ohne Qual. Unter den herabgelassenen Lidern zeichnet sich das Viertel eines Kreises ab. Der Kopf ist zur Seite gesunken, und sein Adamsapfel ist verrutscht. Seine zweite Haut ist ein erdfarbenes Kettenhemd, darunter wölben sich die Muskeln zu einer Hügellandschaft. Die Oberarme schützt eine Rüstung vor Verletzungen, wie Federn den Leib eines Vogels vor Regen und Frost.

Hinter dem Rücken des schlafenden Mannes, mit dem sich der Maler Piero della Francesca selbst ein Denkmal setzte, ist aus der Nacht blauer Morgen geworden. Der Winter hat keine Zeit, denn die Bäume auf der einen Hälfte des Bildes tragen schon das Grün des Frühlings, die anderen Bäume sind noch hell, kalt und kahl. Aus der Nacht wird Tag, aus dem Winter Frühling, aus dem Morgenland das Abendland. Ein aufrecht stehender Mann, der seinen bloßen Körper zur Hälfte mit einem rosa Tuch verdeckt, hat den linken Fuß auf den Rand seines Sarges gesetzt. Christus ist auferstanden. Sein Gesicht ist ernst und streng. Im Heiligenschein spiegelt sich die Erde, beschwert von ihrer Last wird er sich vom Irdischen entfernen. Am linken unteren Bildrand beugt der vierte Wächter seinen Kopf zu den Knien und führt seine Hände zu den Augen. Er weint und ist so blind wie die anderen im Schlaf.

Piero della Francesca ist der Maler der nach innen gewandten Augen, wie er der Maler der angehaltenen Bewegung und des Rätsels ist. Während Fra Angelico predigt und Botticelli tanzt, nimmt Piero della Francesca Maß an den Dingen. Mit dem Blick eines Mannes, der weiß, daß ein Ballen Tuch mehr wert ist als ein Hügel Sand, interpretiert er Legenden. Christus' Heiligenschein verhält sich zum roten Helm des weinenden Wächters und zum grünen seines Gegenübers wie A zu B und C zu D. Piero della Francesca steht als Maler des Quattrocento für das Alphabet der Perspektive ein.

Piero della Francesca: Polyptychon der Schutzmantelmadonna, 1445-1462,
 Öl und Tempera auf Holz, 273 x 330 cm, Museo Civico, Sansepolcro.
Tag und Monat von Piero della Francescas Geburt sind unbekannt. Er soll im Jahr 1415 in der Stadt Borgo San Sepolcro, die heute einfach Sansepolcro heißt, zur Welt gekommen sein. Es sei ein glücklicher Zufall, daß Piero weder in Florenz noch in Rom, sondern fernab von den Tumulten der Geschichte inmitten schweigender Felder und sanfter Bäume geboren wurde, vermerkt Zbigniew Herbert in seinem Reisebuch Ein Barbar in einem Garten.

Unter den Schriftstellern steht Zbigniew Herbert mit seinem Liebesantrag an Piero della Francesca keineswegs allein, vor ihm zeigten sich Stendhal, Henry James, Ezra Pound, Andre Malraux und Albert Camus angesichts dieser Werke ebenso begeistert wie ratlos. Möchte nicht jeder, der Piero della Francescas Fähigkeit zum Ausdruck von großem Schweigen und unaufdringlicher Verschlossenheit erkennt, zum Dichter werden?

Zweimal stellt sich Piero della Francesca im Museo Civico von Sansepolcro, das laut Vasari früher der Konservatorenpalast war, im Selbstbildnis vor: groß als schlafender Wächter, einen halben Meter über dem Kopf des Betrachters in der Wandmalerei von der Auferstehung Christi, und zusammen mit sieben weiteren Personen kniet er unter dem ausgebreiteten Umhang der Schutzmantelmadonna.

Michael Baxandall hat in seinem Buch über die Wirklichkeit der Bilder die Bezüge von Piero della Francescas Malweise zu den auf Dreieck, Kugel und Zylinder geeichten Sehgewohnheiten der Kaufleute sichtbar gemacht. Zwar gaben sich die Lehrer zu Pieros Zeiten in den Sekundarschulen Mühe, ihren Schülern Aesop und Dante nahezubringen, aber das Hauptinteresse richtete sich, wie man aus vielen Fibeln weiß, auf die Mathematik. Piero lernte lieber Mathematik als Latein und verfaßte um 1450, längst Mitglied des Stadtrats seines Viertausend-Seelen-Ortes, ein Rechenbuch, den Trattato dell'abaco, in dem er den Kaufleuten seiner Region Hilfestellung für ihre Tätigkeiten leistete und ihnen an einfachen Beispielen erklärte, wie sich zum Beispiel auf Reisen der Wert des Geldes durch andere Währungen verändert.

Piero della Francesca: La Pala Montefeltro (Maria mit
Kind, umgeben von Heiligen), 1465, Öl auf Holz,
248 x 170 cm, Pinacoteca di Brera, Mailand.
Piero della Francesca war das Metier bekannt. Er war Kaufmannssohn. Sein Vater Benedetto verdiente seinen Unterhalt mit dem Fellhandel. Nach der Eingliederung Borgo San Sepolcros in den florentinischen Staat nutzte Benedetto die gewachsene Bedeutung des Städtchens als Warenumschlagplatz zwischen der Adria und der Toskana und machte gute Geschäfte mit dem Tuchhandel und dem Anbau von isatis tinctoria, einer Grasart, aus der man Indigo-Farbstoff gewinnen konnte.

»In seiner Jugend«, schrieb der Biograph Vasari, »widmete sich Piero den mathematischen Wissenschaften, und auch als er im Alter von fünfzehn Jahren an den Beruf des Malers herangeführt wurde, vernachlässigte er diese nie.« Deutlich ist der Ton des Mitleids aus Vasaris Einschätzung herauszuhören: Er lobt den Maler mit Herablassung, nennt ihn im Studium der Kunst »überaus eifrig«, sagt, daß er sich »fleißig in der Perspektive« übe und sehr bewandert sei »im Euklid«. Neunzehn Jahre nach Piero della Francescas Tod am 12. Oktober 1492 wurde Giorgio Vasari geboren. Vasari gönnte dem Maler aus Borgo San Sepolcro keinen anderen Ruhm als den, der »beste Geometer seiner Zeit« gewesen zu sein.

»Jede Liebe«, hat die kluge Katharina zu uns gesagt, »muß, wenn sie ohne Heuchelei ist, die vorhergehende vernichten« und hat sich im vergangenen Jahr von Masaccio ab- und Piero della Francesca zugewandt. Wir treffen sie Sonntagmorgen um zehn Uhr, um gemeinsam in Piero della Francescas Geburtsstadt zu fahren.

Wir umkreisen die Hügel, an deren Rändern verdorrte Sonnenblumen darauf warten, daß eine Maschine sie köpft, und legen, während wir reden und schauen, die fünfundzwanzig Kilometer zurück, die Arezzo von Monterchi und Sansepolcro trennen, drei der neben Florenz, Rom, Rimini und Urbino zentralen Orte in Piero della Francescas Leben. An der Grenze zwischen der Toskana und Umbrien gehen die schlanken langen Schatten der Zypressen im buschigen Laubgehölz einer von Wildschweinen bevorzugten Landschaft verloren, und Katharina macht uns auf die Farbe der umbrischen Erde aufmerksam, ihre, mit der Toskana verglichen, stumpfen, matten Töne, und wir entdecken, weil Sehen oft ans Zuhören gekoppelt ist, die Unterschiede in der Natur, die wir auf Piero della Francescas Bildern wiedererkennen werden. Denn jeder Maler ist von der Landschaft, in der er aufgewachsen ist, geprägt.

Piero della Francesca: La Madonna del Parto, 1467, abgenommenes
Fresco, 206 x 203 cm, Museo della Madonna del Parto, Monterchi.
Bevor wir in Monterchi die Brücke überqueren, unter der in dieser Nachsommerzeit kein Wasser fließt, fällt unser Blick auf eine Schnur, mit der das weiße Sonnensegel eines Cafes an einer großen Muschel aus Marmor befestigt ist, die uns an den Baldachin über der Madonna mit Kind, Pala Montefeltro genannt, erinnert, in die Piero ein Straußenei gemalt hat, das über dem Kopf der Muttergottes ruhig in der Bildachse hängt, ein Bild, das in der Mailänder Brera seinen Platz hat, und wir sind sicher, in der Muschel ein Weihwasserbecken zu erkennen, ein Beutestück, jetzt mit der profanen Aufgabe betraut, ein Tuch gegen die Strahlen der Sonne zu spannen.

In seinem Traktat De prospectiva pingendi spricht Piero della Francesca von den Dingen, die sich aus verschiedenen Winkeln ganz unterschiedlich zeigen. Wer in die ehemalige Dorfschule Monterchis kommt und sich wie ein Kind fühlt, das viele Falten hat, kann nicht glauben, dem in der Türöffnung wehenden Tuch der Madonna del Parto fast auf gleicher Höhe gegenüberzustehen.

Man hat die Muschel über der Pala Montefeltro mit dem Zelt verglichen, aus dem die Madonna del Parto (parto, das heißt Geburt, Entbindung) hervortreten kann, weil zwei Engel die Bahnen des kostbaren Stoffzelts für sie aufhalten. Das Zelt ist im Inneren mit rechteckig geschnittenen Hermelinfellen gefüttert und hat von außen die Farbe eines blassen, ins Bräunliche übergehenden Rots, fein überzogen von den floralen Ornamenten byzantinischer Muster in filigranem Gold.

Piero della Francesca: Die Auffindung und Prüfung des Wahren Kreuzes, um 1466,
 Fresco, 356 x 747 cm, San Francesco, Arezzo.
Die Wissenschaftler streiten sich, und das tun sie seit Roberto Longhis 1914 erschienener Interpretation, der ersten ernstzunehmenden Auseinandersetzung mit Piero della Francescas Werk, über die Datierungen, weil der Künstler selbst sie undatiert hinterließ. Jeder von ihnen (die Kunsthistoriker Hans Graber, John Pope-Hennessy, Kenneth Clark, der Historiker Carlo Ginzburg) glaubt, einen neuen Schlüssel zum Werk in Händen zu halten, während Carlo Bertelli in dem 1992 auf deutsch publizierten Prachtband Piero della Francesca. Leben und Werk des Meisters der Frührenaissance bescheiden konstatiert: »Ich habe keine revolutionären Details, Zuschreibungen, Datierungen oder Namen anzubieten.«

Niemand weiß genau, wann Piero die schwangere Madonna in der kleinen Friedhofskapelle al fresco gemalt hat. Sie blieb an diesem verschwiegenen Ort, bis sie 1917 nach einem Erdbeben von der Wand abgelöst und auf Leinwand übertragen wurde. Pieros aus Monterchi stammende Mutter Romana war 1459 verstorben. Also wird der Sohn um diese Zeit aus Rom zurückgekommen sein, gerufen, so jedenfalls behauptet es Vasari, von Papst Nikolaus V.

Ein Bild kann das Gefühl von Leben und am Lebensein auslösen. Zehnmal ist das blaue Kleid zwischen Halsausschnitt und Brüsten mit einem weißen Band geschnürt, dann öffnet sich das Gewand wie ein querliegender langgezogener Mund, und die Madonna schiebt ihre gotisch verzweigte rechte Hand in den weißen Schlitz. Sie deutet auf das Kind, das ihren Bauch wölbt. Ihr Gesichtsausdruck zeigt eine in sich versenkte Gelassenheit.

Wie bei vielen von Pieros Frauengestalten sind die Haare der Madonna ganz à la mode bis weit hinter den natürlichen Ansatz entfernt, damit der Kopf eine antike Würde erhält, wie Piero sie an griechischen und römischen Statuen während seines Aufenthalts in Rom kennengelernt hat. Helle Bänder betonen die hohe und ovale Form des Kopfes und umschlingen dekorativ das Haar. Der Heiligenschein ist wieder, wie der des auferstehenden Christus in Sansepolcro, eine spiegelnde Scheibe, in der man den Fußboden erkennt. Im Gegensatz zur weltabgewandt schauenden Madonna blicken die beiden Engel, während sie das Zelt öffnen, aus dem Bild heraus, dem Betrachter auffordernd in die Augen.

Piero della Francesca: Diptychon des Federico da Montefeltro mit
 seiner Gattin Battista Sforza, 1465/66, Tempera auf Holz,
 jeweils 47 x 33 cm, Uffizien, Florenz.
Weil Sonntag ist und der Restaurator an diesem Tag die Hände vom Malwerkzeug läßt, liegen Schwamm, Pinsel und Tinkturen auf dem schwarzen Gestell; aber man sieht, was er in den letzten Monaten getan hat. Das als einfarbig bekannte Gewand der Muttergottes teilt sich jetzt in zwei Blautöne. Aus dem Taubenblau schält sich ein Marienblau hervor, und im unigrünen wadenlangen Kleid des einen Engels entdeckt man eine weitere Spielart des Grün. Bekannt ist, daß der junge Piero während seiner Lehrzeit in Florenz von Domenico Veneziano in den Umgang mit sonnigem Licht eingewiesen wurde, über das er selbst, erwachsen geworden, meisterhaft Regie zu führen verstand, entweder um den Sog der Perspektive zu unterstreichen oder um von ihr abzulenken. Er wußte, daß einfallendes Licht absorbiert werden muß, daß Licht Stimmung erzeugt und Aufmerksamkeit weckt.

Viel über die Kunst des reflektierenden Lichts konnte Piero von Rogier van der Weyden lernen. Der Niederländer hat wohl in Florenz um 1450 eine Grablegung Christi gemalt - ein Gemälde, das als exemplarisch für den Einfluß niederländischer Malerei auf die italienische Frührenaissance gilt. In den Uffizien hängen Rogier van der Weydens tiefempfundenes Passionsbild und Hugo van der Goes' Portinari-Altar, der auf Bestellung der Medicis per Schiff nach Florenz gelangte und in seiner unbefangenen Erzählfreude und dem intensiven Gefühlsausdruck einheimische Maler, darunter auch Piero della Francesca, zu beeindrucken verstand.

Die kontrastierenden Farbgegenüberstellungen, wie sie die Gewänder der beiden Engel zu seiten der schwangeren Monterchi-Madonna zeigen, ein Motiv übrigens, das die Gegenreformation verbot, unterstreichen das Streben nach chromatischer Ausgewogenheit. Piero della Francesca hat seine eigene Vorliebe für Komplementärfarben häufig aufgelöst und das Blau ins Grün verlaufen lassen oder ins Violette. Das Schillern entsprach nicht seinem Wunsch nach antikisierender Klarheit. Licht, Schatten und Farbe gehen in Pieros Werk eine Synthese ein, von der die Maler unseres Jahrhunderts, Künstler wie Giorgio de Chirico, wie Carra, die Vertreter der Valori plastici, die Maler der Neuen Sachlichkeit, aber auch Morandi, Balthus, vielleicht auch Mark Rothko und Ed Reinhardt und gewiß viele unter den zeitgenössischen Künstlern, die noch Maler sind, profitierten.

Piero della Francesca: Konstantins Traum,
 um 1466, Fresco, 329 x 190 cm,
San Francesco, Arezzo.
Katharina erzählt von ihren acht Geschwistern, von denen einer Künstler ist und, wie sie sich ausdrückt, mit Kaufhaustüten hantiert, während sich ihr Vater in einer Schule müht, die der von Monterchi nicht unähnlich sei, und deutet in das kalkweiße Klassenzimmer. Hier zeigen die Kinder Monterchis ihre eigene Madonna del Parto, die, aus Spitzen und Litzen gebastelt, sehr weltlich und von der profanen Anmut einer Barbiepuppe ist. Ihr Zelt ist aus den Materialien des Plastikzeitalters nachgebildet.

In Arezzo gibt es einen Marktplatz, der so abschüssig ist, daß die beiden Treppen vor dem Haus Giorgio Vasaris, der 1511 in Arezzo geboren wurde, auf der einen Seite zwölf Stufen, auf der anderen Seite nur acht zählen. Wer den Platz zu zweit hinuntergeht, faßt einander, um nicht abzustürzen, an der Hand.

An der rauhen Backsteinfassade von San Francesco in Arezzo sind die Stellen, an denen das Gerüst befestigt war, noch immer sichtbar, verkleidet wurde die Fassade nie. Weiße Haare umrahmen den Kopf des Mannes, der vor der Kirche auf dem Boden sitzt. Seine Augen fixieren das rechteckige Leuchtbild seines Laptops. Ihn jagt die Vorstellung, sein Körper könne zu schwach werden, das eigene Kopfkissen auszuschütteln, bevor seine Theorie über Pieros Kreuzlegende abgeschlossen ist, und so sitzt der alte Mann, der Pieros Adam ein wenig ähnelt, seit Wochen in der Nähe der Fresken, um immer wieder die Farben und ihren Widerhall im wechselnden Licht zu überprüfen und, als habe seine Platte einen Sprung, unregelmäßig wie der Schlag des Herzens, Ciceros poetischen Luftgesang zu wiederholen: »Die Luft sieht mit uns, hört mit uns, sendet mit uns Laute aus.«

Piero della Francesca: Triumphzug des Konstantin, Schlacht an der Milvischen Brücke, um 1466,
Fresco, San Francesco, Arezzo.
Die Luft als Naturphänomen spielt in Pieros Malerei eine wichtige Rolle. Nicht nur im Diptychon der Uffizien, das den Triumph der Battista Sforza und den Triumph des Federico da Montefeltro zeigt. Auch in der berühmten Nachtszene, dem magischen Traum Konstantins, Höhepunkt unter den zwölf Fresken der Hauptchorkapelle San Francescos in Arezzo, ersetzen Licht und Luft die Farbigkeit. Nur Bettdecke und Zelt Konstantins sind farblich gekennzeichnet, und doch liegt ein Leuchten über dem schlafenden Konstantin, das nicht nur vom Heiligen Geist kommt, der im Sturzflug auf den Träumenden herabsaust.

Piero hat die schwere Arbeit der Freskomalerei mit der Leichtigkeit des Aquarellierens behandelt und das Weiß des Putzes, wenn es darum ging, Wolken in den Himmel zu setzen oder Kontraste in das Schlachtengewühl aus Hufen, Fahnen, Kreuzen und Kriegern zu setzen, ausgespart. So sind die Schimmel in der Legende, die vom Sieg Konstantins über Maxentius erzählt, oder die Pferde im Getümmel der Kampfszene zwischen Heraklius und Chosroes deshalb hell, weil sie farblos geblieben sind.

Es ist bekannt, daß Paolo Uccello das dreiteilige Bild der Schlacht von San Romano, jene lärmenden Szenen, in wildem Eifer und getrieben von der Obsession malte, die Dynamik der Perspektive bis in die letzte Diagonale hinein zu ergründen. Piero della Francesca hatten Uccellos Bilder beeindruckt, doch lenkte er seine Schlacht mit gelassener Ruhe. Auch hier gibt es Tote, aber das Blut fließt in sauberen Linien. Die Mordenden und Gemordeten erfüllen ihre Mission mit der Bedächtigkeit von Holzfällern. An realistischer Dramatik war Piero della Francesca nie gelegen. Die Proportionen der Pferde mit den kurzgeschnittenen Mähnen gehen auf attische Figuren aus dem 5. Jahrhundert vor Christus zurück. In den Schimmeln spiegeln sich die antiken Vorbilder, die oft aus hellem Marmor waren.

Auftraggeber versahen die von ihnen bestellten Künstler mit genauen Anweisungen, und dies nicht nur, wenn sie, wie Giovanni Bacci, einen Weinberg verkaufen mußten, um das notwendige Geld aufzutreiben. Sie bestimmten, daß »kein anderer Maler den Pinsel führen darf als Piero selbst«, verlangten, daß »mit feinem Gold und guten Farben« zu malen sei.

Piero della Francesca: Geißelung Christi, um 1469, Öl und Tempera auf Holz,
 58 x 81 cm, Galleria Nazionale delle Marche, Urbino.
Die zwölf Fresken, von Giovanni Bacci für die Hauptchor- und Grabkapelle seiner Familie bei Piero della Francesca in Auftrag gegeben, erzählen die Botschaft aus dem apokryphen Evangelium des Nikodemus, die in der Legenda aurea überliefert ist. Die Fresken in Arezzo sind die größte Arbeit, die Piero della Francesca jemals ausgeführt hat. Man weiß nur, daß er zwischen 1452 und 1466 an dem Zyklus (durch eine Reise nach Rom unterbrochen) arbeitete, und weiß nicht, ob er allein oder mit einem Gehilfen das riesige Pensum bewältigt hat, nimmt aber an, daß die linke Seite des Chores kein Werk allein aus seiner Hand ist.

Wen die Ruhe stört, die Langsamkeit, wer zu ungeduldig ist für den angehaltenen Schrecken oder die schweigsame Freude, die von dieser Malerei ausgeht, sollte sich in die innere Bewegtheit hineinversetzen, die Piero della Francesca in seiner kleinen, für den Dom von Urbino gemalten Tafel von der Geißelung Christi zum Ausdruck gebracht hat. Denn nie hat der Maler einfach historische Geschichten nacherzählt, oft ist die Tagespolitik in seine Ikonographie eingegangen.

Piero war also keineswegs, wie Andre Malraux behauptet, »der Erfinder der Gleichgültigkeit«. Piero war ein Meister der Untertreibung. Was er erzählen wollte, versteckte er. Zum Beispiel das vorne zugespitzte weiße Hütchen, das er als junger Mann in Florenz auf dem Kopf von Johannes VIII. Palaiologos, dem byzantinischen Kaiser, gesehen hatte. Und er zitierte: die Dioskuren vom römischen Quirinalpalast, Mosaiken aus Ravenna.

Wissenschaftler und ihr spitzfindiger Fußnotenfleiß kommen gegen Piero della Francescas Rätsel nicht an. Seine Würde und Achtung hat sich der erforschte, aber nicht leergeforschte Künstler erhalten. Und dann sagt Katharina mit einer Überzeugungskraft, die ihre Wirkung auf uns nicht verfehlt, sie könne grau und weiß und noch einmal jung und wieder alt werden, ohne die Gedankenwelt Piero della Francescas verstanden zu haben, der Höhe und Weite in Fuß statt in Zentimeter maß. Aber, sagt Katharina, soviel habe sie von den Bildern gelernt, Unwissenheit sei der Antrieb des Betrachters.

Quelle: Verena Auffermann: Das geöffnete Kleid. Von Giorgione zu Tiepolo. Essays. Berlin Verlag, 1999. ISBN 3-8270-0309-1. Seiten 39-54


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