Die zwischen 1958 und 1993 ungefähr alle zehn Jahre erschienenen Solowerke für Klavier bieten zusammen ein prägnantes Resümee dieser Biographie. Die Erste Sonate (1958) entstand, als der junge Komponist noch an der Hochschule für Musik in Berlin bei Boris Blacher studierte. Obwohl im Nachhinein eine eigene Handschrift deutlich erkennbar ist, übte Reimanns Lehrer einen direkten Einfluss auf die formale Gestaltung des energiegeladenen und formal ausgeklügelten Werkes aus, vor allem im dritten Satz.
Aribert Reimann |
Zwischen Spektren und Variationen (1979) liegt das Hauptwerk aus Reimanns 'mittlerer Schaffensperiode', die Shakespeare-Oper Lear (1976-78), um die herum sich die anderen Werke dieser Jahre satellitenartig zu drehen scheinen. Im Klavierwerk spiegeln sich wesentliche Merkmale der Oper wider: massive Clusterschichtungen, lang ausgesponnene, liturgisch anmutende Linien, Formbildung durch ein dialogisches Ineinanderschachteln kontrastierender Blöcke. Vor allem werden die schon erheblichen technischen Anforderungen der Spektren zu einer pianistischen Grenzerfahrung erhöht.
Dagegen sind in seinem jüngsten Klavierwerk Auf dem Weg (1989/93) die typischen Elemente eines „Spätstils“ erkennbar. Wie in der zur gleichen Zeit komponierten Kafka-Oper Das Schloß (1990-92) werden hier die harmonischen und technischen Mittel sparsamer, das Spiel der Klangfarben noch feinfühliger. Die neobarokke Formbildung der Variationen weicht einer noch organischeren wenn auch immer noch durch Kontraste vorangetriebenen Progression der Farben und Charaktere. Im letzen der drei Sätze wird ganz unvirtuas im Inneren des Instruments gezupft.
Quelle: Matthew Rubenstein, im Booklet [stark gekürzt]
Track 6: Variationen für Klavier - II. Variation I
TRACKLIST Aribert Reimann (* 1936) Complete Works for Piano Erste Sonate (1958) [12:19] 01. I. Allegro con spirito [04:03] 02. II. Andante [04:38] 03. III. Presto [03:44] 04. Spektren (1967) [11:47] Variationen für Klavier (1979) [22:05] 05. I. Thema [01:58] 06. II. Variation I [03:10] 07. III. Variation II [01:45] 08. IV. Variation III [01:16] 09. V. Thema [00:27] 10. VI. Variation IV [01:49] 11. VII. Variation V [01:49] 12. VIII. Variation VI [02:39] 13. IX. Thema [00:38] 14. X. Variation VII [01:53] 15. XI. Variation VIII [02:52] 16. XII. Variation IX [01:58] Auf dem Weg (1989-93) [22:31] 17. Satz 1 [07:55] 18. Satz 2 [05:57] 19. Satz 3 [08:39] T.T.: [69:17] Matthew Rabenstein, Piano Recording: Emmanuelkirche, Köln-Rondorf, May 2005 Recording Supervisor &amb; Digital Editing: Johann Günther Recording Engineer: Johannes Kammann (P) 2007
Ikonographie der Abwesenheit
„Die Eisenbahn" von Edouard Manet
„Was soll man zu der Eisenbahn von Herrn Manet sagen?
Es ist nicht möglich, mit größerem Talent schlechter zu malen." […]
Edouard Manet, Le Chemin de Fer (La Gare Saint-Lazare), 1872/73, Öl auf Leinwand, 93 x 112 cm, National Gallery of Art, Washington, D.C. |
Nach dem Ende des Deutsch-Französischen Krieges und der Commune fand Edouard Manet sein altes Studio in der Rue Guyot im Batingnolles-Viertel von Paris zerstört. Im Januar 1872 bezog er ein neues Atelier in der Rue de Saint-Petersbourg Nr. 4 in der Nähe des Bahnhofs Saint-Lazare. Das Viertel war in den 1860er Jahren nach Plänen Haussmanns neu angelegt worden und zog als Symbol für das neue Paris auch viele Künstler an. Monet und Caillebotte arbeiteten in den siebziger Jahren in der Gegend um den Bahnhof. Von seinem Studio aus blickte Manet über die Schienen und den Pont de L'Europe, eine spektakuläre Brückenkonstruktion (1865-67), die sechs sternförmig zusammenlaufende Strassen vereinte und die alte Place de l'Europe so erhöhte, daß die Gleise darunter durch geführt werden konnten.
Bevor die Impressionisten Saint-Lazare und die als Wunderwerk der Ingenieurbaukunst gerühmte Europabrücke als Motive entdeckten, waren diese bereits des öfteren in Illustrationen dargestellt worden.
Auguste Lamy, Paris, Brücke an Stelle der Place de l'Europe über den Geleisen des Gare Saint-Lazare, 11. April 1868, Holzschnitt, 27 x 38,3 cm, Musée Carnavalet, Paris. |
Der durch den Zaun abgetrennte Hintergrund ist zum größten Teil durch Dampf verdeckt. Vermutlich ist gerade ein Zug unter der Europabrücke durchgefahren, deren Pfeiler man rechts im Hintergrund erkennen kann. Dies sind die einzigen Hinweise auf die im Titel angekündigte Eisenbahn. Die skizzenhafte Häuserzeile auf der anderen Seite der Bahntrasse zeigt links die Fassade von Manets Haus. Auffällig sind die unmodellierten Übergänge von Licht und Schatten und die unregelmäßige Verteilung der Farbe bei den blauen und weißen Flächen der Kleider, die teilweise ganz pastos aufgetragen wurde, teilweise aber auch die Grundierung durchscheinen läßt. Die sorgfältige Textur der einzelnen Pinselstriche ist erkennbar und verleiht ganz besonders den strahlend-klaren Farben im Kleid des Mädchens große Lebendigkeit.
Edouard Manet, Pont de l'Europe (recto), 1872, Graphit auf Papier, 18,2 x 24,3 cm, Privatbesitz. |
Auffällig ist die Nahsicht der Figuren im Gegensatz zu dem weit entfernten Hintergrund. Da keine Vorstudie zur Gesamtkomposition erhalten ist, spricht sich Reff dafür aus, daß die Figuren draußen und der Hintergrund im Atelier entstanden seien. Zwei Skizzen, die Manet offensichtlich zur Vorbereitung des Gemäldehintergrunds angefertigt hat, scheinen diese Annahme zu stützen. Aber Manet hat den Gemäldehintergrund gegenüber den Zeichnungen noch einmal leicht verändert. Die eine Studie zeigt von einem niedrigen Standpunkt, vielleicht direkt auf den Schienen, einen Steinpfeiler der Europabrücke mit angedeuteten Fassaden dahinter, zwei Bahnwärter im Vordergrund in der Mitte, rechts daneben eine Hütte und weiter links das Schienenhäuschen unter Auslassung der Schienen. Auf der Rückseite dieses Skizzenbuchblattes führt Manet die nun näher herangerückte Hausreihe bis zum Eingang seines Hauses in der Rue de Saint-Petersbourg weiter, der am linken Rand angeschnitten ist. Die Leinwand zeigt hingegen die ganze Haustür; Brückenpfeiler und Wärterhäuschen am rechten Bildrand scheinen weiter entfernt als auf der Zeichnung. Der Hintergrund setzt sich somit fiktional zusammen. […]
Festzuhalten bleibt, daß sich keine eindeutige Betrachterposition für das Gemälde bestimmen läßt und Manet die Komposition stark manipuliert hat. Topographische Genauigkeit war nicht sein Anliegen. Die komplette Ausführung im Freien kann daher ausgeschlossen werden. Für die Deutung des Bildes sind diese Faktoren ohnehin von geringer Bedeutung. Der Aspekt der Eisenbahn wird durch die ins Leere laufende Diskussion um den Entstehungsort in den Hintergrund gedrängt, obwohl hier ein Schlüssel zu dem rätselhaften Bild liegen könnte.
„Die Eisenbahn” wurde 1873 von Manet signiert und datiert. Gleich nach der Fertigstellung muß das Bild von dem Sänger Faure, einem eng mit Manets Händler Paul Durand-Ruel verbundenen Sammler, gekauft worden sein, der es Manet für den Salon 1874 auslieh. Gemeinsam mit zwei weiteren Gemälden und einem Aquarell reichte Manet das Bild 1874 zum Salon ein. Zu seiner großen Enttäuschung wurden die anderen Bilder jedoch nicht angenommen.
Edouard Manet, Rue de saint-Petersbourg (verso), 1872, Graphit auf Papier, 18,2 x 24,3 cm, Privatbesitz. |
Spöttisch stellte Ernest Duvergier de Hauranne die Frage: „Ist das ein Portrait zweier Personen oder ein Gemälde mit einem bestimmten Thema …? Es fehlen uns die Informationen, um das Problem zu lösen; wir zögern indes um so mehr, was das junge Mädchen angeht, denn dies wäre mehr oder weniger ein Rückenportrait. Herr Manet hat so viele Neuerungen vollbracht, da8 uns von seiner Seite nichts wundern sollte."
Nur wenige Journalisten und Schriftsteller, u.a. Armand Silvestre, Stéphane Mallarmé, Duranty und Burty äußerten sich positiv. Sie lobten vor allem die kraftvolle Wiedergabe von Licht und Farbe, die sie auf die Entstehung im Freien zurückführten‚ und erkannten das moderne Leben in Manets Bild wieder. Die Verfechter Manets kämpften allerdings gleichfalls mit der „Bedeutungslosigkeit" der Szene. Burty sprach von einem „rätselhaften Titel", Duranty bezeichnete das Bild etwas hilflos als „eines der seltsamsten, ruhigsten und bemerkenswertesten Werke, die Herr Manet, der ein wirklicher Maler ist, geschaffen hat." Armand Silvestre setzte zu Manets Verteidigung an:
Cham, Manet, La dame au phoque, Mai 1874, Titelseite von „Le Salon pour Rire”, Bibliotheque d'Art et d’Archéologie‚ Fondation Jacques Doucet. Paris. |
Manipulierende Auswahl warf Mallarmé der Salonjury vor, die so eine objektive Meinungsbildung des Publikums verhindere. Durch die Ablehnung der beiden anderen, seiner Meinung nach exzellenten, Ölgemälde habe die Jury Manet zum Gespött gemacht. Emile Zola ergriff ebenso Partei für Manet: „Ich gestehe, ein grosser Bewunderer von Edouard Manet zu sein, einem der wenigen originellen Maler, derer sich unsere Schule rühmen kann. Inmitten der benachbarten Leinwände bildet das Werk von Edouard Manet einen einzigartigen Schandfleck, auf daß ignorante Augen, verdorben von den ganzen Nettigkeiten unserer Kunst, in der Sache allein das Komische sehen."
In den Zeitungen zogen die Karikaturisten Manets Darstellung in der Tat schonungslos ins Lächerliche. lhre scharfen Attacken entzündeten sich zumeist an den Eisenstäben, die als Gefängnisassoziation verarbeitet wurden. Besonders erfolgreich war Chams satirische Darstellung für die Zeitschrift Charivari, die später als Titelblatt für einen Sammelband mit Chams Salonkarikaturen ausgewählt wurde.
Edouard Manet, Olympia, 1863, Öl auf Leinwand, 130,5 x 190 cm, Musée d’Orsay, Paris. |
Die Interpretation der „Eisenbahn" gestaltet sich auch heute noch schwierig. Die Literatur liefert viele verschiedene Bilddeutungen, sodaß an dieser Stelle nur einige prägnante genannt werden sollen. […]
Laut Robert L. Herbert zeigt Manet gerade nicht die äußerlichen, offensichtlichen Aspekte der Eisenbahn, sondern die indirekten. Der Zugverkehr und die allgemeine Beschleunigung als eine tägliche Erfahrung im Viertel traten in Verbindung mit der „modernen Großstadtwahrnehmung", denn im schnellen Vorbeigehen können die Beziehungen von fremden Menschen nicht mehr hergestellt werden. Manet charakterisiere die Rolle der Eisenbahn in der modernen Stadt ausserdem durch unbeteiligtes Warten. Die ruhige Komposition und der enge, intime Bildraum lassen den Betrachter jedoch kaum die Rolle eines vorübereilenden Passanten einnehmen. Warum die beiden Figuren ausgerechnet außerhalb des Bahngeländes jenseits des Zaunes auf den nächsten Zug warten sollten, ist ebenfalls nur schwer nachvollziehbar. Vermutlich wäre außerdem eine Wartehalle ein geeigneterer Platz für die Lektüre als eine laute Bahnhofseinfahrt, wobei letzteres ohnedies kaum mit der Darstellung zu assoziieren ist.
Harry Rand untersucht das Bild auf die „Grammatik" seiner einzelnen Elemente hin. Manets Werke, die stets aus künstlerischen (Selbst-) Zitaten einerseits und Versatzstücken des modernen Lebens andererseits zu bestehen scheinen, nehmen einen symbolistischen Charakter an, der eine andere Ebene der Realität andeutet.
Edouard Manet, Le Déjeuner sur l’herbe, 1863, Öl auf Leinwand, 208 x 265 cm, Musée d'Orsay, Paris. |
Ernster nimmt hingegen Hans Körner die Bildzitate. Für Manet waren die Modelle im Gegensatz zu Monet nie bloße Staffagefiguren. Die Eisenbahn biete in diesem Bild nur eine Folie, auf der Manet „sein kompositorisches Spiel mit der Dialektik von Ordnung [des Bildgefüges, d. Verf.] und lnkohärenz [der Beziehung der Figuren, d. Verf.] und sein Spiel mit der privaten Anspielung auf die Person des Modells inszenierte." Victorine diente unter anderem 1863 für das „Frühstück im Freien" und die „Olympia” als Protagonistin. Beide Bilder, auf die hier rückblickend verwiesen wird, riefen bei ihrer öffentlichen Ausstellung nicht zuletzt wegen der unverkennbaren Anspielungen auf die Pariser Halbwelt Skandale hervor. Nach der Arbeit an der „Eisenbahn" stand Victorine für Manet nur noch ein einziges Mal Modell für die „Krokketpartie" (1873, Frankfurt, Städelsches Kunstinstitut). So läßt sich nach Körners Meinung das Bild als Abschied verstehen und in eine Reihe von Arbeiten einordnen, in denen Manet die Erinnerung an ältere Werke wachruft. […]
Ed Lilley unterstreicht in seinem Aufsatz zu den oftmals mysteriösen Bildbezeichnungen bei Manet, daß diese ein Teil von Manets künstlerischer Strategie sind. In Ermangelung anderer Äußerungen des Künstlers stellen die Titel die wahrscheinlich authentischsten Kommentare zu seinen Werken dar und lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte Bildelemente. Lilley wendet sich deshalb gegen den heute ebenfalls gebräuchlichen Namen „La Gare Saint-Lazare", da geographische Details für Manet unwichtig waren. Im Fall der „Eisenbahn" macht der Titel das Bild zu einem Bild der Abwesenheit, die laut Lilley durch ihre Zeitlichkeit charakterisiert wird: Der Zug ist schon vorbeigefahren‚ das Mädchen, das eben vielleicht noch den Betrachter anschaute, hat sich umgedreht.
Claude Monet, La Gare Saint-Lazare, 1877, Öl auf Leinwand, 75 x 100 cm, Musée d'Orsay‚ Paris. |
Im Vergleich mit den Gemälden, die Claude Monet und Gustave Caillebotte vom Bahnhof SaintLazare und der Europabrücke geschaffen haben, wird Manets vielschichtiges Spiel mit dem Betrachter deutlich: Monet war vor allem von den atmosphärischen Phänomenen des Bahnhofs fasziniert, dem Rauch der Lokomotiven und den Lichtwirkungen der Glasarchitektur in den Abfahrtshallen. Die Technik der modernen Zeit löst sich bei Monet in eine „ästhetisierte Märchenwelt des Dampfes" auf, in der menschliche Figuren und die Maschinen allein als Träger von Farbeindrücken fungieren. Gegen die farbenreichen, ephemeren Gebilde, die Monets zwölf Bilder von Saint-Lazare durchweben, wirkt der kaum modellierte Dampf bei Manet wie eine Leerstelle im Bild.
Das Interesse Caillebottes galt weniger dem Atmosphärischen, er wählte die stählerne Brückenarchitektur als Hauptmotiv für zwei Gemälde. In einer der beiden Versionen trennt der Brückenoberbau, ähnlich wie der Gartenzaun in Manets Komposition, die Figuren vom Hintergrund ab. Zwei der drei Passanten blicken durch das Brückengeländer hindurch. Im Gegensatz zu Manets von Rauch verschleiertem Objekt der Betrachtung ist der Bahnhof jedoch gut zu erkennen. Durch die angeschnittenen Figuren wirkt Caillebottes Gemälde wie ein photographischer Schnappschuß, der einer fragmentierten großstädtischen Wahrnehmung entspricht und die Anonymität der Figuren unterstreicht. Dem steht der ruhige Bildaufbau und die auf Individualität abzielende Darstellung bei Manet entgegen.
Claude Monet, La Gare Saint-Lazare, [Detail] 1877, Öl auf Leinwand, 75 x 100 cm, Musée d'Orsay‚ Paris. |
Vielleicht noch stärker als durch die bildliche Darstellung tritt der Maler so mit in den Dialog ein. Manet arbeitet offenbar ganz bewußt mit einer Ikonographie der Abwesenheit, die sich jedoch erst durch den Titel offenbart und eine entzifferbare „sichere" Bedeutung der Szene verweigert, indem alle Bestandteile des Bildes auf die fehlende Eisenbahn hin befragt werden.
Gustave Caillebotte, Le pont de L’Europe, 1876/77, Öl auf Leinwand, 105 x 131 cm, Kimbell Art Museum, Forth Worth, Texas. |
Quelle: Janina Nentwig: Ikonographie der Abwesenheit „Die Eisenbahn" von Edouard Manet. In: Belvedere. Zeitschrift für Bildende Kunst. Heft 1/2004. Seiten 42-55 (gekürzt).
Janina Nentwig studierte Kunstgeschichte, Kommunikationswissenschaft und Volkskunde an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.
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