16. September 2019

Hanns Eisler: Lieder (Dietrich Fischer-Dieskau, Aribert Reimann, 1987)

Hanns Eislers „Hollywooder Liederbuch“ ist der vielleicht bedeutendste Liedzyklus des 20. Jahrhunderts in deutscher Sprache. Autorisiert sind Zusammenstellung und Reihenfolge der 47 Lieder von Eisler freilich nicht. Auf 38 Autographen findet sich der Titel (zuweilen auch zu „Hollywooder Liederbüchlein“ verkleinert), neun weitere Partituren lassen sich der Sammlung chronologisch und inhaltlich zuordnen. Eisler komponierte die Lieder in Hollywood seit dem Frühjahr 1942 neben groß besetzten Filmmusikpartituren und griff dabei auf Texte von Brecht, Hölderlin u. a. zurück: »Für mich ist es hier eine Hölle der Dummheit, der Korruption (einer wahrlich unbeschreibbaren!) und der Langeweile. Das einzig gute ist mein neues Liederbüchlein …«. Später, in Ost-Berlin, löste Eisler das Liederbuch quasi auf und verteilte die Lieder auf verschiedene Bände seiner Werkausgabe „Lieder und Kantaten“. Erst 1976, etliche Jahre nach dem Tod des Komponisten, wurde das „Hollywooder Liederbuch“ in der Gesamtausgabe „Eisler – Gesammelte Werke“ (EGW) zusammen veröffentlicht. Die erste vollständige Aufführung erfolgte dann 1982 in Leipzig.

Kein anderer Liedsänger hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart stilbildend gewirkt wie Dietrich Fischer-Dieskau. Mit seinen psychologisierenden Ausdeutungen, die oft in geradezu manieristischer Weise einzelne Wörter bedeutungsvoll artikulieren, vermochte er ein großes Publikum in seinen Bann zu ziehen und viele Kollegen zur Nachahmung zu animieren.

Als er sich in den 1980er Jahren dem Schaffen Hanns Eislers zuwandte, schien der Widerspruch zur Ästhetik des Komponisten, der sich über solch einfühlendes Singen stets mokiert und für seine Lieder eine ganz andere Darstellungsweise verlangt hatte, unvermeidlich. Wenn man nun die Aufnahmen Fischer-Dieskaus von Exil-Liedern Eislers hört, stellt man mit einigem Erstaunen fest, daß der Sänger sich dafür einen ganz besonderen Interpretationsstil zurecht gelegt hat, der von seinem eigenen einfühlenden Singen ebenso weit entfernt ist wie von Eislerscher „Freundlichkeit“. Zwar gibt es auch hier einige Lieder, die Fischer-Dieskau auf seine bekannte Weise interpretiert, etwa wenn er im Hölderlin-Fragment «An die Hoffnung» das Wort „kalt“ mit schneidender Schärfe artikuliert, bei „stille“ still wird und das „schaudernde Herz“ mit bebender Stimme veranschaulicht.

Doch das ist hier die Ausnahme. Die meisten Lieder geht Fischer-Dieskau in einer Art Bänkelsänger-Manier an: er verschleift die Tonhöhen mit Portamenti, nimmt es mit den Zieltönen der vokalen Aufschwünge nicht immer genau, und verfällt gelegentlich in einen ungepflegten Sprechgesang. Erstaunlicherweise appliziert er diese Vortragsweise nicht nur jenen Brecht-Liedern wie etwa den Fünf Hollywood-Elegien, die ihres satirischen Gehaltes wegen dafür sich anzubieten scheinen. Nein, auch das zweite und dritte der Hölderlin-Fragmente geht Fischer-Dieskau in solch hemdsärmeliger Weise an und vergröbert diese subtilen Gebilde in beinahe schon grotesker Weise.

Quellen: Breitkopf und Härtel bzw. Christoph Keller

Der Komponist Hanns Eisler bei der Arbeit,
fotografiert von Gerda Goedhardt, 1944

TRACKLIST

Hanns Eisler (1898-1962)

Lieder

01. Spruch 1939                                   [01:22]
02. In die Städte kam ich                         [02:16]
03. An die Überlebenden                           [01:50]
04. Über die Dauer des Exils                      [01:26]
05. Zufluchtsstätte                               [00:58]
06. Elegie 1939                                   [02:37]
07. An den Schlaf                                 [01:25]
08. An den kleinen Radioapparat                   [01:05]
09. In den Weiden                                 [00:52]
10. Frühling                                      [01:11]
11. Auf der Flucht                                [01:13]
12. Über den Selbstmord                           [01:42]
13. Gedenktafel für 4000 Soldaten, die im Krieg 
    gegen Norwegen versenkt wurden                [00:40]
14. Spruch                                        [01:10]
15. Hotelzimmer 1942                              [01:55]
16. Die Maske des Bösen                           [01:02]
17. Despite These Miseries                        [01:54]
18. The Only Thing                                [01:50]
19. Die letzte Elegie                             [01:21]
20. Unter den grünen Pfefferbäumen                [00:52]
21. Die Stadt ist nach den Engeln genannt         [01:33]
22. Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen          [00:54]
23. Diese Stadt hat mich belehrt                  [01:06]
24. In den Hügeln wird Gold gefunden              [00:48]
25. In der Frühe                                  [01:46]
26. Erinnerung an Eichendorff und Schumann        [00:52]
27. An die Hoffnung                               [01:10]
28. Andenken                                      [02:01]
29. Elegie 1943                                   [01:48]
30. Die Landschaft des Exils                      [01:30]
31. Verfehlte Liebe                               [01:09]
32. Monolog des Horatio                           [01:17]

                                             Total 44:50
Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton
Aribert Reimann, Piano

Recorded at Sender Freies Berlin, Kleiner Sendesaal, in December 1987
Recording producers: Ursula Klein, Wolfgang Mohr
Recording engineer: Harry Tressel
(C) 2002 


Edmund Wilson:


Paul Valéry


Paul Valéry (1871-1945)
Im Alter von 22 Jahren traf Valéry das erste Mal mit Mallarmé zusammen; das war 1892; er wurde danach einer der treusten und ernsthaftesten Anhänger Mallarmés. Valéry schrieb damals wenig, und er versammelte seine Verse nicht einmal zu einem Buch; doch die Symbolisten der damaligen jüngeren Generation scheinen seine Überlegenheit von Anfang an akzeptiert zu haben. Wir sehen heute in diesen Gedichten vor allem das Keusch-Himmlische, die Blau-und-weiß-Stimmung solcher Mallarmé-Gedichte wie »Erscheinung« in, wie uns scheint, verdünnter und verwässerter Form. Wie sein Meister wird Valéry »verfolgt« vom »Azur«; aber jener Azur ist weniger der reine, blaue Raum, sondern eher eine verdünnte obere Luftschicht. Aber manchmal ist in diesen frühen Gedichten schon der späte Valéry zu erkennen: sein typisches Interesse an der vom Material unabhängigen Methode führt ihn dazu, zwei Versionen eines Sonetts zu veröffentlichen; und in dem vielleicht bemerkenswertesten frühen Gedicht, dem unvollendeten »Profusion du Soir«, wird der Sonnenuntergang, den der Dichter schaut, durch eine Valéry eigene Technik seinem Bewußtsein assimiliert, bis er oft nur noch ein Bildgefüge für einen Komplex von Gefühlen und Gedanken zu sein scheint.

Valéry hat uns eine seltsame Beschreibung seiner damaligen Haltung Mallarmé gegenüber hinterlassen:

»Als ich Mallarmé persönlich kennenlernte, bedeutete mir die Literatur fast nichts mehr. Lesen und Schreiben waren mir zur Last, und ich muß gestehen, daß etwas von dieser Unlust geblieben ist. Die Erkenntnis meines Ich um ihrer selbst willen, die leidenschaftliche Aufhellung dieser Erkenntnis, der Wunsch, mein Dasein klar und scharf zu sehen, beschäftigten mich unablässig. Dieses verborgene Leiden entfernt von der Literatur, obwohl sein Ursprung in ihr zu suchen ist.

Mallarmé jedoch stellte in meinem inneren System die Verkörperung der bewußten Kunst und den höchsten Grad des edelsten literarischen Ehrgeizes dar. Sein Geist war dem meinen ständig nah, und ich hoffte, daß bei allem Altersunterschied und ungeheuren Abstand unserer Leistungen doch der Tag kommen würde, an dem ich ihm ohne Scheu meine eigensten Probleme und Ansichten darlegen könnte. Nicht etwa, daß er mich einschüchterte, denn niemand war sanfter noch von reizenderer Einfachheit als er; aber damals meinte ich, literarische Arbeit sei kaum vereinbar mit dem Streben nach Strenge und vollkommener Wahrhaftigkeit des Denkens. Eine äußerst heikle Frage. Durfte ich sie Mallarmé vorlegen? Ich liebte ihn und stellte ihn höher als alle; aber ich hatte aufgehört, das anzubeten, was er sein Leben lang angebetet, dem er es ganz geweiht hatte, und ich fand nicht den Mut, ihn das wissen zu lassen.

Doch schien mir, ich könnte ihm nicht aufrichtiger huldigen, als indem ich ihm meine Gedanken anvertraute und ihm darlegte, wie sehr seine Forschungen und die so feinen, so genauen Analysen, von denen sie ausgehen, in meinen Augen das Problem der Literatur verändert und mich dazu gebracht hatten, das Spiel aufzugeben. Es zielten nämlich die Bestrebungen Mallarmés, in genauem Gegensatz zu den Lehren und den Bemühungen seiner Zeitgenossen, dahin, den gesamten Bereich der Literatur einer abstrakten Ordnung der Formen zu unterwerfen. Höchst erstaunlich ist es, daß er durch das vertiefte Studium seiner Kunst, ohne wissenschaftliche Kenntnisse, zu Begriffen so abstrakter Art, so nah verwandt den höchsten Spekulationen bestimmter Wissenschaften, gelangte. Er sprach übrigens von seinen Ideen nie anders als in Gleichnissen. Es war eigentümlich, wie sehr eine lehrhafte Darstellung ihm widerstrebte. Sein Beruf, den er verabscheute, mochte zu dieser Abneigung beitragen. Versuchte ich, mir über sein Streben klar zu werden, so erlaubte ich mir freilich, es im stillen auf meine Art zu benennen. Die Literatur im allgemeinen schien mir der Arithmetik vergleichbar, d. h. der Lösung von Einzelaufgaben, aus denen sich der Lehrsatz nur schwer entnehmen läßt; die Literatur, wie er sie sich dachte, schien mir der Algebra zu entsprechen, denn sie setzte den Willen voraus, die Sprachformen selbst sichtbar darzustellen, sie durch den Gedanken hindurchscheinen, sie rein um ihrer selbst willen sich entfalten zu lassen.

Aber von dem Augenblick an, da jemand eine Methode gefunden und erfaßt hat, ist es zwecklos, sich mit ihrer Anwendung abzugeben — sagte ich mir.

Der Tag, auf den ich hoffte, kam nie.«

Mallarmé starb 1898. Valéry aber hatte bereits eine Krise durchlebt, die dazu führte, daß er es aufgab, Gedichte zu schreiben. Wie wir von Valéry Larbaud wissen, war diese moralische und intellektuelle Krise durch eine unglückliche Liebesaffäre heraufbeschworen worden. In schlaflosen Nächten kämpfte Valéry mit seinen Gefühlen: »Der Wille, auf sich selbst zurückgeworfen‚ schulte sich zum Sprung, die Idole zu zerbrechen und, um welchen Preis auch immer, sich von diesen Täuschungen zu befreien: der Literatur und der Empfindung. Zum Wendepunkt, zum teuren Sieg kam es in einer stürmischen Nacht, in einem jener Stürme an der Ligurischen Küste (Valéry befand sich in Genua), die nur von wenig Regen begleitet werden; doch dafür sind die Blitze so häufig und hell, daß man sie für das Tageslicht hält. Seit jener Nacht galt nichts mehr von dem, was bis dahin das Leben des jungen Mannes ausgemacht hatte. Er verließ Montpellier, wo er die Universität besucht hatte, und ging nach Paris, wo er sich, wenn er wollte, in Einsamkeit verschließen konnte, um sich jener Durchdringung seiner selbst zu ergeben, der allein er sich seitdem gewidmet hat.«

Paul Valéry: Die junge Parze.
Ins Deutsche übertragen von Paul Celan.
Wiesbaden, Insel Verlag, 1960.
In den folgenden zwanzig Jahren arbeitet Valéry im Kriegsministerium und in der Nachrichtenagentur Havas; er schreibt keine Gedichte mehr. Es interessieren ihn nur noch »die Erkenntnis des eigenen Ich um ihrer selbst willen, die leidenschaftliche Aufhellung dieser Erkenntnis und der Wunsch, sein Dasein klar und scharf zu sehen«. In dieser Zeit schreibt er seine Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci und erfindet seine mythologische Figur M. Teste. Leonardo und M. Teste (Herr Kopf, eine Parallelschöpfung zu Rabelais’ »Messer Gaster«, Herr Bauch) sind für Valéry Symbole des reinen Intellekts, des sich selbst zugewandten menschlichen Bewußtseins. Leonardos Geist als solcher ist unermeßlich größer als irgendeine seiner Manifestationen in bestimmten Tätigkeitsbereichen, im Malen, im Schreiben, in der Technik oder der Kriegskunst. Das Handeln lähmt und beraubt den Geist. Denn als solcher kann der Geist sich mit einer unendlichen Anzahl von Möglichkeiten beschäftigen — er wird nicht durch fachliche Grenzen eingeschränkt. Der Geist an sich ist allmächtig. Und konsequenterweise ist die Methode, die Theorie, wie etwas zu tun sei, interessanter als die Ausführung. Denn die Methode findet viel größere Anwendungsmöglichkeiten — sie kann universal angewandt werden. Wenn nämlich ein Prinzip tatsächlich »erkannt und begriffen worden ist, so ist es ganz nutzlos, die Zeit mit seiner Anwendung zu verschwenden«.

Und anders als Leonardo haßt Monsieur Teste es, seine Methode auf irgendeine Weise praktisch zu verwenden. Seine ganze Existenz ist der Überprüfung seiner eigenen geistigen Prozesse gewidmet. Er ist das Symbol des menschlichen Bewußtseins, das sich isoliert hat von »allen Meinungen und geistigen Gewohnheiten, die dem gewöhnlichen Leben und dem Verkehr mit anderen Menschen entspringen‚« und das erlöst ist von »allen Empfindungen und Ideen, die durch sein Unglück und seine Furcht, seine Ängste und Hoffnungen, nicht aber frei durch reine Welt- und Ichbetrachtung im Menschen erzeugt oder erregt werden«. Herr Teste ist, wie sein Schöpfer zugibt, freilich ein Ungeheuer. Und obwohl er auf uns eine gewisse Faszination ausübt, lehnen wir ihn ab: er läßt uns schaudern. Wir fühlen mit Madame Teste, der bei Herrn Testes Verhalten unbehaglich zumute wird, bei seiner Art, einen Raum zu betreten, so, als sähe er ihn gar nicht, oder wenn er sie mit »Wesen« oder »Ding« anredet. Doch obgleich sie ihn auch fürchtet und zugleich ihn nicht versteht, hat sie doch nie aufgehört, ihn zu verehren; sie beneidet die andern Frauen, die gewöhnliche Männer geheiratet haben, keinesfalls. Und wenn er von seinen Meditationen erwacht, greift er manchmal unvermittelt wie mit Erleichterung, Appetit und Erstaunen nach ihr. Monsieur und Madame Teste sind einander schließlich unentbehrlich.

1900 heiratet Valéry eine Dame aus dem Mallarmé-Kreis. Und nach Ablauf der zwanzig Jahre beginnt er wieder zu schreiben. André Gide überredet ihn endlich dazu, der Sammlung und Veröffentlichung seiner frühen Gedichte zuzustimmen; dabei kommt Valery der Gedanke, der Sammlung ein neues Gedicht von etwa 25 bis 50 Versen hinzuzufügen — das letzte Gedicht, das er vielleicht je schreiben würde. Zuvor jedoch, in der Zeit seiner Zurückgezogenheit, hatte er sich mit Psychologie, Physiologie und Mathematik befaßt; es sind vor allem methodische Fragen, die ihn beschäftigen. »Zwanzig Jahre ohne Gedichte zu schreiben, sogar ohne den Versuch dazu; und fast sogar ohne welche zu lesen! Dann stellen sich wieder diese Probleme; und man entdeckt, daß man sein Metier nicht beherrscht hatte, daß die kleinen Gedichte, die man vor so langer Zeit geschrieben hatte, den Schwierigkeien ausgewichen waren, daß sie unterdrückt hatten, was sie nicht auszudrücken wußten, daß sie sich einer infantilen Sprache bedient hatten.« In seinem neuen Gedicht unterwirft er sich »Gesetzen, festen Bedingungen, die sein wahres Objekt ausmachen. Es ist wirklich eine Übung, als solche gedacht, durchgeführt und überarbeitet: ganz das Produkt einer absichtlichen Anstrengung, dann einer zweiten absichtlichen Anstrengung, deren schwierige Aufgabe darin besteht, die erste zu verschleiern. Wer mich zu lesen weiß, wird eine Autobiografie lesen: in der Form. Der Stoff ist von geringer Wichtigkeit.«

Und dieses Gedicht, das zunächst nur eine Seite füllen sollte, beschäftigt Valéry mehr als vier Jahre und beläuft sich schließlich auf fünfhundertundvierzig Zeilen. Im letzten Augenblick, als es gerade gedruckt werden soll (1917), findet Valéry dafür den Titel »Die junge Parze.« Aber trotz des Titels, trotz des heroisch-erhabenen Stils und der widerhallenden Alexandriner ist »Die junge Parze« kein konventionelles französisches Gedicht über ein Thema der griechischen Mythologie. Valéry spricht von der »ziemlich monströsen Paarung meines Systems, meiner Methoden und meiner musikalischen Ansprüche mit den klassischen Konventionen«. Und sicherlich verkörpert dieses geheimnisvolle Gedicht eine Gattung, die es in der Literatur bisher nie gegeben hat. Mallarmés Herodiade und sein Faun sind Vorläufer von Valérys junger Schicksalsgöttin: sie besitzen schon die gewisse Ambiguität und scheinen zeitweise weniger Figuren der Fantasie zu sein als vielmehr an metaphysischen Träumereien festgemachte Namen.

Jacques Emile Blanche: Paul Valéry, 1923.
Valéry aber hat die Subtilität der Konzeption, die Komplexität der Darstellung dieser typisch symbolistischen Form viel weiter vorangetrieben als Mallarmé. Ist »Die junge Parze« der Monolog einer jungen Schicksalsgöttin, die gerade von einer Schlange gebissen wurde? Ist es die Träumerei des Dichters, der eines frühen Morgens im Bett erwacht und mehr oder weniger wach den Tagesanbruch erwartet? Ist es die Reise des menschlichen Bewußtseins, das seine Grenzen überprüft und seine Horizonte erforscht: die Liebe, das einsame Denken, das Handeln, den Schlaf, den Tod? Ist es das Drama des Geistes, der von der Welt sich zurückziehen und über sie hinaus gelangen will, dabei aber unweigerlich ins Leben zurückgezogen und in die Prozesse der Natur verwickelt wird? Es ist alles das — und doch sind die verschiedenen Schichten, »die physische, die psychologische und die esoterische«‚ wie Francis de Miomandre sie nennt, nicht übereinander gelegt wie in einer konventionellen Allegorie oder einer Fabel. Sie sind miteinander verschmolzen und gehen immer ineinander über; und das macht die Dunkelheit des Gedichts aus. Die Dinge, die in der »Jungen Parze« und in Paul Valérys anderen mythologischen Monologen geschehen — im »Narziß«‚ in der »Pythia« und der »Schlange« jener an poetischer Aktivität so reichen Periode, die direkt auf »Die Junge Parze« folgt — diese Dinge sind einerseits nie ganz vorstellbar als Ereignisse, die tatsächlich geschehen; andrerseits aber sind sie auch nie allein auf die Gedanken im Kopf des Dichters zu reduzieren. Das Bild kommt nie voll zum Vorschein; die Idee ist nie ganz ausformuliert. Und trotz aller Herrlichkeiten des Klangs, der Farbe und der Suggestion, wie wir sie Strophe für Strophe in diesen Gedichten finden, scheinen sie mir doch unbefriedigend, weil sie nicht als Ganze zu erfassen sind.

Vergleichen wir aber Valéry mit Mallarmé, an den er in seinen Gedichten so oft erinnert, dann wird deutlich, daß Valéry über die größere Kraft und die stärkere Imagination verfügt. Mallarmé ist immer Maler, gewöhnlich ein Aquarellist — er schrieb Verse auf die Fächer der Damen, so wie er sie auch mit kleinen Figuren und Blumen hätte bemalen können. Er verfügt über Farbigkeit und Tiefe, aber es ist nur die Farbigkeit und Tiefe, die dem erreichbar ist, der flächig arbeitet; während Valérys Genius eher plastisch ist: seine mythologische Lyrik ist von der Dichte stark geballter Wolken — und wären sie nicht Wolken, wir müßten sie marmorn nennen. Er zeigt die Figuren und Gruppen halbplastisch, und er erzielt weniger Farb- als Lichtwirkungen: das Silberne, das Düstere, das Sonnige, das Durchscheinende, das Kristalline. Und mit der Emphase einer heroisch-nachklingenden Diktion, die an Alfred de Vigny erinnert, sind Valérys Verse erfüllt von dem fließenden Flimmern, den angedeuteten Ambiguitäten und den sehr fein erfaßten Zwischentönen, die er von Mallarmé gelernt hat. So wie Mallarmé Debussy Anregungen gab, wurde Valery, der Debussys Beliebtheit überlebte, in der »Jungen Parze« von Gluck inspiriert. Valéry ist auf eine Art das Maskulinum einer Kunst, deren Femininum Mallarmé ist. Jene Eigenschaften Mallarmés, die es ihm ermöglichten, eine Frauenzeitschrift herauszugeben und mit seiner typischen Nettigkeit über die Stile weiblicher Kleidung zu schreiben, werden bei Valéry durch einen kraftvolleren und kühneren Geist ergänzt, der eine natürliche Affinität zu dem des Architekten besitzt.

Rainer Maria Rilke und Paul Valéry in Anthy-sur-Léman (Haute-Savoie),
 15.09.1926. Im Hintergrund der Bildhauer Henri Vallette
Zudem verfügt Valéry, verglichen mit Mallarmé, über die größere Substanz. Trotz der Behauptung, daß ihn in seinen Arbeiten nur die Form, nur die Methode interessieren, hat Valérys Poesie eine gewisse dramatische Qualität. Vor allem beschäftigt ihn ein ganz besonderer Konflikt — der Konflikt zwischen dem Teil der menschlichen Existenz, der durch die Abstraktion eines Monsieur Teste dargestellt wird und jenem Teil, der eingetaucht ist in die Empfindungen der Alltagswelt und durch deren Ereignisse abgelenkt wird. Wenn man nur den »Monsieur Teste« lesen würde — obwohl Monsieur Teste recht humorvoll dargestellt wird — oder nur Valérys Prosa, könnte man Valéry für einen ausgesprochen trockenen und hartnäckig abstrakten Kopf halten. Und in der Tat spielt der Gesichtspunkt des Monsieur Teste in Valérys Gedichten eine auffällige Rolle, wie auch seine Prosa von ihm beherrscht wird: keiner seiner Figuren ist nämlich jemals ein Leben erlaubt, das unabhängig ist von der Welt des Intellekts, in der sie jederzeit als Abstraktion erscheinen kann; und mit Recht verdächtigen wir Valéry, daß er dem Menschen die Marmorsäulen und die hohen Palmen vorzieht, die er zu Helden von Gedichten macht, oder daß er sie zumindest befriedigender findet. Sogar in der Liebe neigt er dazu, die sinnliche Befriedigung hinauszuzögern und seine Geliebte in den Zustand zeitloser Erwartung zu versetzen, die für ihn rivalisierende Befriedigung bedeutet; in »Die Schritte« bittet er die Frau, sich nicht zu beeilen, denn er genießt das Warten auf sie genauso wie ihren Kuß; und die Schlange läßt er zu Eva sprechen, als diese gerade die Frucht des Baumes kosten will:

»Que si ta bouche fait un rêve,
Cette soif qui songe à la sève,
Ce délice à demi futur,
C'est l’éternité fondante, Eve!«

(Wenn dein Mund träumt,
jenen Durst, der auf Wein sinnt‚
jene Köstlichkeit der halben Zukunft,
das ist begründete Ewigkeit, Eva!)

So scheint er im Grunde schlafende oder ermüdete Frauen am meisten zu lieben, weil er sie sich dann, wie in »Die Schläferin«‚ als Formen reiner Abstraktion vorstellen kann, aus denen die Person entflohen ist; oder er kann, wie in »La Fausse Morte«, darüber nachdenken, daß die Sättigung der Liebe eine Art Tod ist; wie in »Intérieur« schreibt er den Frauen eine immaterielle Anwesenheit zu, die sich vor das Auge des Geistes schiebt wie Glas vor die Sonnenstrahlen. Jedoch hat es vielleicht nie einen Dichter gegeben, der die Sinnenwelt mit mehr Geschmack genossen hat als Valéry, oder sie anschaulicher verkörpert hat. In der Nachahmung von Formen, Klängen, Licht- und Schatteneffekten, von pflanzlicher und fleischlicher Materie durch schöne Verse ist Valéry niemals übertroffen worden. Von der Sommerzikade sagt er:

Henri Cartier-Bresson: Paul Valèry, 1945
»L'insecte net gratte la sécheresse«
(Das reine Insekt schabt die Trockenheit.)

über einen Friedhof am Meer:

»Où tant de marbre est tremblant sur tant d’ombres«
(Wo soviel Marmor zittert über soviel Schatten.)

über den Teich des Narziß im abendlichen Wald:

»une tendre lueur d’heure ambigue existe«
(Es herrscht ein zarter Schimmer zweideutiger Stunde.)

und über das Wasser, das glatt wie ein Spiegel ist:

»Onde déserte, et digne
Sur son lustre, du lisse effacement d'un cygne«
(verlassene Welle, würdig,
daß auf ihrem Glanz ein Schwan sanft entschwinde.)

Über die rauhe See heißt es:

»Si l’âme intense souffle, et renfle furibonde
l’onde abrupte sur l’onde abbatue, et si l'onde
Au cap tonne‚ immolant un monstre de candeur,
Et vient des hautes mers vomir la profondeur
Sur ce roc«

(Wenn die starke Seele atmet, und die plötzliche Flut
auf der verlaufenen Flut wütend anschwillt, und die
Fluten am Felsen branden, opfernd ein Untier der Reinheit,
und es kommen hohe Seen, die die Tiefe auf den
Felsen speien)

Und seine menschlichen Figuren gleichen heroischen Statuen, die dennoch voller Schwingungen und zarter Verhüllungen sind. Die Schlange stellt vor uns eine Eva des Michelangelo:

Edmund Wilson (1895-1972), Literaturkritiker
»Calme‚ claire‚ de charmes lourde,
Je dominais furtivement,
L'oeil dans l’or ardent de la laine,
Ta nuque énigmatique et pleine
Des secrets de ton mouvement!«

(Ruhig, klar, von schwerem Zauber,
ich herrschte heimlich,
das Auge im feurigen Gold des Haares,
dein Nacken, rätselhaft und voll
von den Geheimnissen deiner Bewegung.)

Und später, wenn sie in Versuchung geführt wird:

»Le marbre aspire, l’or se cambre!
Ces blondes bases d’ombre et d’ambre
Tremblent au bord du mouvement!«

(Der Marmor atmet, das Gold wölbt sich,
die hellen Festen des Schattens und des Bemsteins
zittern am Rande der Bewegung!)

Und in einer bewundernswerten Zeile der »Schläferin« enthüllt er eine liegende Figur:

»Ta forme au ventre pur qu’un bras fluide drape.«
(Deine Form im reinen Wind, die ein fließender Arm verdeckt.)

So wechselt Valerys Poesie ständig zwischen der fühlbaren und sichtbaren Welt und einem Raum intellektueller Abstraktion. Und der Kontrast beider, der implizierte Konflikt zwischen den absoluten Gesetzen des Geistes und den einschränkenden Zufälligkeiten des Lebens — unmöglich von einander zu trennende Gegensätze — ist, wie ich meine, das eigentliche Thema seiner Gedichte. Man könnte denken, ein ziemlich undankbares Thema — jedenfalls eines, das von den Gefühlen romantischer Dichtung sehr weit entfernt ist. Doch dieser seltsame Antagonismus hat Valéry zu den einzigartigsten Gedichten inspiriert, die je geschrieben wurden, zu den unzweifelhaft großen Gedichten unserer Zeit.

Als Beispiel dafür, wie Valery dieses Thema mit all seinen Mitteln angeht, können wir sein bekanntestes und vielleicht gelungenstes Gedicht anführen, »Le Cimetière Marin;« es krönt Valérys Rückkehr zur Lyrik nach der langen Zeit des Schweigens. In diesem Gedicht bleibt der Dichter eines Mittags an einem Friedhof am Meer stehen: die Sonne scheint über ihm zu verharren; das Wasser sieht so eben aus wie ein Dach, auf dem die Boote die Tauben sind. In diesem Augenblick scheint die Außenwelt jenes Absolute darzustellen, dem Valéry sich immer wieder zuwendet und von dem er seit so vielen Jahren besessen ist. Doch er ruft aus: »Mittag ohne Bewegung ... Ich bin in dir die heimliche Veränderung ... der Makel deines großen Diamanten ...« Doch die Toten dort unten, sie sind in die Leere eingegangen, sie sind Teil der unbelebten Natur geworden. Und angenommen, er selbst, der lebendige Mensch habe als Lebender nur die Illusion von Bewegung, wie der Läufer oder der Pfeil in Zenos Paradoxon? »Nein, nein!« ermahnt er sich. »Zerbrich das Brüten, die Unbeweglichkeit, die auch dich fast geschluckt hat!« Der salzige Wind erhebt sich bereits, das stille Dach des Meeres zu zerbrechen und gegen die Felsen zu schleudern. Die Welt gerät wieder in Bewegung, und der Dichter muß ins Leben zurückkehren.

Wilson, Edmund: AXEL'S CASTLE.
NEW YORK: CHARLES SCRIBNER'S SONS,
1931, first edition
Es ist allerdings unmöglich, auch nur ein einziges Valéry-Gedicht in anderen Worten nachzuzeichnen: man ist dabei gezwungen, auf alles für Valéry Charakteristische zu verzichten. Beim Versuch, seine Bedeutung zu erklären, erklärt man zuviel. Im Grunde gibt es nämlich in einem Gedicht wie »Der Friedhof am Meer« gar keine echten Ideen, keine wirklichen allgemeinen Reflexionen: vollständiger als selbst Yeats in »Unter Schulkindern« stellt Valéry Gefühl und Idee als miteinander verschmolzen dar, und diese wiederum eingebettet in die Szene, aus der sie stammen. Ziel und Triumph des symbolistischen Dichters ist es, die Beständigkeit der Außenwelt auf ihr wechselndes Verständnis durch das Individuum reagieren zu lassen. Es ist in der Tat die Wirkung des Dichters, wenn nicht sein Ziel, uns an dem traditionellen Dualismus zweifeln zu lassen, der aus Außenwelt und Erkenntnis zwei verschiedene Dinge macht. In einem Gedicht wie »Der Friedhof am Meer« gibt es keine einfache zweite Bedeutung: es gibt die wunderbar getreue Nachahmung der sehr komplexen und sich ständig wandelnden Beziehung des menschlichen Bewußtseins zu den Dingen, deren es sich bewußt ist. Der Mittag ist die unbelebte Natur, aber auch das Absolute in der Vorstellung des Dichters; er ist auch sein zwanzig Jahre langes Nichthandeln — und auch bloß der Mittag, den es in einem Augenblick nicht mehr geben wird, weil er dann nicht mehr ruhig und nicht mehr Mittag ist. Und das Meer, das in den Augenblicken der Ruhe einen Teil des Diamanten der Natur bildet, als dessen einziger Makel — weil im Wechsel begriffen — sich der Dichter empfindet, ist auch ein Bild für das Schweigen des Dichters, eines Schweigens, das in dem Augenblick, als Wind aufkommt und die See peitscht, einer plötzlich hervorbrechenden Äußerung weichen wird, der Hervorbringung des Gedichts selbst. Welt und Dichter überschneiden sich ständig, durchdringen einander ständig, wie in einem romantischen Gedicht; aber anders als der Romantiker wird der Symbolist nicht einmal versuchen, die Beziehungen beider im Gleichgewicht zu halten. Die Konventionen der Bilderwelt des Gedichts wechseln so schnell und so natürlich, wie die Bilder die Vorstellung des Dichters durcheilen.

Edmund Wilson: Axels Schloß. Studien zur Literarischen Einbildungskraft 1870-1930. (Übersetzt von Wolfgang Max Faust und Bernd Samland). Ullstein, Frankfurt, 1980. (Ullstein-Buch Nr. 35050). ISBN 3-548-35050-X. Zitiert wurden die Seiten 53 bis 61.


Das moderne Klavierlied wohnt in der Kammermusikkammer:

Lili Boulanger: Clairières dans le ciel | Jean de la Bruyère: Vom Menschen ("Ereifern wir uns nicht..."), Mit grotesken Zeichnungen von 1565.

Joseph Marx (1882-1964): Lieder | Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit. Seit 50 Jahren ist der Mond für ›Gewißheit‹ kein gutes Beispiel mehr.

Der Dirigent als Liedkomponist (Bruno Walter) | Vorsicht, Satire - Angewandte Lyrik von Klopstock bis Blubo (Friedrich Torberg).

Charles Ives: Klavierlieder | Lucien Febvre: Zwischen dem Ungefähr und dem strengen Wissen liegt das Hören-Sagen.

Ferruccio Busoni: Klavierlieder | Leo Spitzer: Werbung als populäre Kunst.("From the sunkist groves of California - Fresh for you")



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