In musikalischer Hinsicht brachten Eisler und Schönberg einander große Hochachtung entgegen. Schon früh erkannte Schönberg das kompositorische Talent des jungen Eisler. Er unterrichtete ihn anfangs gratis, ließ ihn zeitweise sogar bei sich wohnen und äußerte sich immer wieder anerkennend über das Schaffen seines Schülers. Eisler wiederum fühlte sich Schönberg nicht nur in menschlicher Hinsicht dankbar verbunden, sondern schätzte und bewunderte dessen künstlerische Genialität. 1954 — zum 80. Geburtstag Schönbergs — würdigte er seinen Lehrer als einen der größten Komponisten nicht nur des 20. Jahrhunderts: »Seine Meisterschaft und Originalität sind erstaunlich … Seine Schwächen sind mir lieber als die Vorzüge mancher anderer … Verfall und Niedergang des Bürgertums — gewiß, aber welch eine Abendröte!« (Vortrag in der deutschen Akademie der Künste).
In techniseh-handwerklicher Hinsicht ist Schönbergs Einfluß auf Eisler groß. Beide verbindet das Prinzip des sogenannten »Lapidarstils«, wie der Leipziger Musikwissenschaftler Eberhardt Klemm schrieb, der darin besteht, keine Note zuviel zu schreiben, nur das konstruktiv absolut Notwendige musikalisch zu formulieren. In stilistischer Hinsicht allerdings deutet sieh Eislers Individualität schon früh an, etwa in seiner Neigung zu sarkastisch—humoristischen Wendungen, zu einer musikalischen Leichtigkeit und einer unverkrampften Musiksprache.
Ein Beispiel ist das Divertimento op. 4 — ein frühes Bläserquintett von 1925. Eisler gelingt hier — entsprechend des Titels — jener leichte Ton, den er später mit dem Begriff »Freundlichkeit« umschrieb. Obwohl das Werk an den frei-atonalen Stil anknüpft, ist das Thema des ersten Satzes, der in erweiterter dreiteiliger Liedform (A B A) steht, fast zwölftönig. Im A-Teil wechselt das Thema von der Oboe zum Fagott, in der anschließenden Wiederholung vom Fagott zum Horn. Der B—Teil arbeitet mit knappen Kontrapunkten aus A und leitet in einem Kanon zur Reprise des A-Teils über. Einen ursprünglich geplanten Mittelsatz — ein kurzes Menuett mit Trio — hat Eisler verworfen. Der abschließende Variationssatz stellt ein sparsam begleitetes siebentaktiges Thema auf, das in sechs beinahe witzigen Variationen verarbeitet wird, wobei die Durchführungsart im Sinne der Vorform der Zwölftontechnik erfolgt. In der Coda erscheinen die vorangegangenen Variationen erneut in verknappter, komprimierter Form.
Hanns Eisler in Malibu, Kalifornien, 1947 |
Inwieweit sich neue Kompositionsmethoden wie die Zwölftontechnik auch für den Film — also für »angewandte Musik« — eigneten, untersuchte Hanns Eisler während seiner Exiljahre in Amerika: zwischen Januar 1940 und Oktober 1942. Die 1909 gegründete Rockefeller-Stiftung, die zunächst nur naturwissenschaftliche Forschungen unterstützt hatte, weitete nun ihre Förderung auch auf kulturelle Projekte aus, u. a. auf Rundfunk und Film. Daher wurde Eisler an der New Yorker »New School of Social Research« ein Stipendium »experimentelle Studien der Musik in der Filmproduktion« zur Verfügung gestellt. Dies war nicht nur in künstlerischer Hinsicht wichtig für Eisler, sondern sicherte ihm zugleich seinen Lebensunterhalt für wenigstens zwei Jahre.
Die theoretische Auswertung der Forschungsergebnisse zwschen 1942 und 1944 wurde in dem Buch »Komposition für den Film« (1947, Oxford University Press) zusammengefaßt. Für seine Untersuchungen wählte Eisler u.a. kurze Dokumentarfilme aus, z.B. den Stummfilm »Regen« von Joris Ivens. Zu diesem Leinwandstück komponierte Eisler 194l ein zwölftöniges Bläserquintett: die Variationen »14 Arten den Regen zu beschreiben«, das der Komponist für sein bestes Kammermusikwerk hielt. Gleich zu Beginn des Werks zitiert er in einem Anagramm Schönbergs Initialen (A-eS-C-H) und widmet es drei Jahre später seinem Lehrer zum 70. Geburtstag. Schönberg gefiel das Stück, er wollte es zusammen mit dem Film in seiner Vorlesung an der Universität vorführen. Auch Brecht mochte es, da es für ihn »etwas von chinesischer Tuschzeichnung« habe. Eisler wollte mit dem Stück einerseits einen akustischen Eindruck vom Naturprozeß »Regen« vermitteln, ohne jedoch deskriptiv oder malerisch zu werden. Andererseits stand der Regen für Eisler — entsprechend seiner persönlichen Situation im Exil und der politischen Lage in Deutschland — auch als Symbol für Trauer. Musikalisch äußert sich das in einem agressiven und unsentimentalen Ton, wie man ihn auch aus Eislers Kampfmusik kennt.
Quelle: Antje Hinz, im Booklet
Porträt Arnold Schönberg von Karl Schrecker, um 1939 |
TRACKLIST HANNS EISLER (1898-1962) [1] Vierzehn Arten den Regen zu beschreiben op.70 12:56 Fourteen ways to describe the rain (Variationen - variations) Kammermusikvereinigung der Deutschen Staatsoper Berlin: Wilfried Winkelmann, Flöte - flute Hans Himmler, Klarinette - clarinet Friedrich-Carl Erben, Violine I und Leitung - violin I and direction Arnim Orlamünde, Viola Wolfgang Bernhardt, Violoncello Jutta Czapski, Klavier - piano Divertimento op. 4 6:47 [2] 1. Andante con moto 2:10 [3] 2. Thema mit Variationen 4:35. ARNOLD SCHÖNBERG (1874-1951) Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott op. 26 39:19 Quintet for Flute, Oboe, Clarinet, Horn and Bassoon [4] l. Schwungvoll 11:29 [5] 2 Anmutig und heiter; scherzando 9:12 [6] 3. Etwas langsam (Poco Adagio) 9:23 [7] 4 Rondo 9:15 Danzi-Bläserquintett Berlin: Werner Tast, Flöte - flute Klaus Gerbeth Oboe Manfred Rümpler, Klarinette - clarinet Gerhard Meyer, Horn Eckart Königstedt, Fagott - bassoon Total: 59:13 Eisler [op. 70]: Recording: Berlin, Christuskirche, 5. 10/1967 Recording Producer and Balance Engineer: Bernd Runge, Eberhard Richter Recording Engineer: Jürgen Regler, Werner Ebel Eisler [op. 4] / Schönberg: Recording: Dresden, Lukaskirche, 12/1987 und 1/1988 Recording Producer: Eberhard Geiger Balance Engineer: Eberhard Richter, Horst Kunze Recording Engineer: Hans-Jürgen Seiferth. (p) 1968/1990 (c) 1997
Navid Kermanis ungläubiges Staunen über den SOHN
Christuskind. Perugia, um 1320. Nußbaumholz, Höhe 42,2 cm. Bode-Museum, Berlin. |
Und wie rund er ist, also nicht fett im Sinne von schwergewichtig, vielmehr gerundet, die Nase breiter als lang und die Haut wie aufgeblasene Ballons gewölbt. Weil die zurückgezogene Unterlippe das ballrunde Kinn in die Höhe hebt, wirken die Wangen noch kugeliger. Im ganzen besteht das Gesicht mithin aus drei, nein: vier, nein: fünf Bällen, weil das Doppelkinn und die Nasenspitze ebenfalls kugelrund sind, nur kann man das Kugelige eben nicht in seinem schon karikativen Volumen ermessen, wenn man den Jungen aus einem einzigen Blickwinkel, folglich nur zweidimensional sieht. Die beiden Brüste sind ebenfalls rund wie bei einer Frau, fällt mir auf, da ich die Photos des Jungen betrachte, und an den Ober- und Unterarmen kringelt sich das Fett, so daß weitere Kügelchen entstehen. Ein Wonneproppen, würde eine Mutter sagen, die ihren Sohn selbst dann für den Hübschesten hält, wenn er für jeden anderen, erst recht für einen Anders- oder Ungläubigen wie mich, ein Ausbund an Scheußlichkeit ist. Auch der katholische Freund, den ich bat, bei seinem nächsten Besuch in Berlin beim Bode-Museum vorbeizugehen, weil auf den Photos, die ich ihm geschickt hatte, die Blödheit nur zweidimensional ist, selbst der Freund räumt am Telefon ein, daß er mit dem Jungen Schönheit, Anmut, Liebreiz am wenigsten assoziiert.
— Haben Sie die Finger gesehen? frage ich.
— Ich stehe noch davor, flüstert der Freund.
Den Jungen fand er sofort, mußte nur den erstbesten Wärter nach einem häßlichen Christuskind fragen, um grinsend den Weg gewiesen zu bekommen, alle Wärter wußten Bescheid: zum Dickerchen den Korridor lang und im kleinen Kuppelsaal die erste Tür links. Hingegen im Katalog haben sie das Christuskind nicht abgebildet und selbst im Sonderkatalog der Skulpturensammlung nur ein kleines, fast schon winziges und noch dazu vorteilhaft ausgeleuchtetes Photo abgedruckt, als schäme sich die Museumsleitung dafür oder wolle keinen Ärger heraufbeschwören mit einer Art von Gotteslästerung. Dabei stört es in Berlin allenfalls noch Türken, wenn Gott gelästert wird. Vor allem aber geht es darum zu verstehen, daß genau dieser Junge den Vater lobpreist.
Die katholische Kunst kenne das Motiv des kindlichen Jesus erst seit dem dreizehnten Jahrhundert, weicht der Freund in die Kunstgeschichte aus, die Skulptur müsse daher ein recht frühes, noch nicht ausgereiftes Beispiel sein. Besonders der heilige Franziskus habe das Christuskind geliebt, und Mystikerinnen hätten es in der Versenkung geherzt und in den Armen gewiegt, um sich mit der Gottesmutter eins zu fühlen.
— Diesen Rotzlöffel? frage ich.
— Nun ja, flüstert der Freund, er vermute, daß der Künstler in diesem speziellen Fall, der sich wohl weniger für die Unio mystica eigne, die Züge und dann wohl auch die dichten Locken des Auftraggebers verewigt habe, oder des Auftraggebers Kind.
— Aha, sage ich, um auf die Erklärung überhaupt zu reagieren, mit der ich mich nicht zufriedengeben mag.
Da entschuldigt sich der Freund schon, er müsse auflegen, habe mir nur rasch Bescheid geben wollen. «Schauen Sie bei Ratzinger nach», simst er noch hinterher. «Hab ich schon», simse ich zurück.
Lieber hätte ich den Freund zum heiligen Franziskus befragt, der sich um die Häßlichkeit des Sohns vielleicht gar nicht scherte, weil er jedes Kind, ob häßlich, ob schön, als Gottes Kind herzte. Der zurückgetretene Papst jedenfalls, den der Freund mehr schätzt als Franziskus I., hat kein Buch über die Kindheit Jesu geschrieben. Ausgerechnet die Jahre, in denen Jesus ein Kind war, nicht mehr Baby und noch nicht Jüngling, sind in dem Kindheitsbuch ausgelassen. Benedikt XVI. schildert die Ankündigung der Geburt, die Geburt selbst, den Besuch der Weisen und die Flucht nach Ägypten – da war Jesus noch ein Baby. Dann setzt Benedikt XVI. erst wieder bei dem beinah schon Jugendlichen ein. Und dazwischen? Er wird wissen, der zurückgetretene Papst, daß es Hinweise gibt, das Kindheitsevangelium des Thomas; wenn es auch nicht in den Kanon aufgenommen worden ist, galt es Christen vieler Jahrhunderte als ein Zeugnis, das beachtet werden muß.
Ohne mich in die philologische Debatte einmischen zu wollen, schien mir das Kindheitsevangelium stets ein sehr realistischer Text zu sein. Eben weil es verstört, sehr unvorteilhaft von der Vorstellung abweicht, die man sich gläubig oder ungläubig vom erwachsenen Jesus macht, konnte ich mir seine Bewahrung und Verbreitung innerhalb des Christentums nur mit einer besonders starken Überlieferungskette erklären. Denn schlüssig verbunden, in eins gesetzt mit dem geliebten Säugling und dem später so heftig liebenden Mann, fand ich das Kindheitsevangelium nie. Da spielt zum Beispiel – und das ist der Auftakt, so knallend – der Fünfjährige am Ufer eines Baches und leitet das vorbeirauschende Wasser mit bloßer Willenskraft in kleine Pfützen um. Ein Nachbarsjunge nimmt einen Weidenzweig und fegt das Wasser zurück in den Bach. Die beiden geraten in Streit, und bisher liest sich noch alles normal, eine Szene zwischen zwei Jungen, wie sie in jedem Kindergarten passiert. Aber dann schreit Jesus, daß der Nachbarsjunge wie ein Baum verdorren, weder Blätter noch Wurzeln noch Frucht mehr tragen solle. Und alsbald verdorrt der Nachbarsjunge ganz und gar, und das heißt wohl, er stirbt, verendet elendig und stürzt seine Eltern ins Unglück, wie es im Kindheitsevangelium ausdrücklich heißt. Ungerührt geht Jesus nach Hause.
Und so setzt sich der Bericht fort, genau in dem Stil, mit den gleichen Charakterzügen: Im Dorf stößt ein Junge im Laufen versehentlich an Jesu Schulter. Was tut Jesus? Tötet den Jungen mit einem einzigen Wort. Und als die Eltern dieses und des anderen Jungen und immer mehr Leute sich bei Josef beschweren – was tut Jesus? Läßt alle erblinden. Und als er seinen Lehrer Zachäus an Wissen überbietet, macht er den Greis vor allen Leuten zum Gespött; Zachäus verzweifelt und will nur noch sterben wegen dieses Kindes, das ein Ausbund an Scheußlichkeit sein muß.
Vielleicht sind Benedikt XVI. und mit ihm der katholische Freund zu sehr von der Schönheit gebannt, die ihnen am Christentum und damit an Jesus Christus selbst so wichtig erscheint, um das Häßliche ebenfalls zu sehen. Ich verstehe ihr Beharren, muß in einer Stadt wie Berlin nur einen gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst besuchen, um beizupflichten, wie sehr dem Christentum Schönheit heute fehlt. Armut allein macht keinen Gott groß. Indes wird Schönheit auch erst mitsamt ihres Gegensatzes wahr. Jesus selbst sagte oder soll gesagt haben, in einem Spruch, den der Kirchenvater Hippolyt überliefert: «Wer mich sucht, wird mich finden unter den Kindern von sieben Jahren an.» Das heißt doch wohl, daß man den Erlöser nicht in dem Fünfjährigen findet, den das Kindheitsevangelium beschreibt. Es heißt, daß selbst der Sohn erst werden mußte, was er in den kanonischen Überlieferungen von Anfang an ist. Jesus könnte ein Rotzlöffel gewesen sein, ein Ungeheuer von einem Kind, mit Wunderkraft ausgestattet, ja, die er jedoch voller Arglist eingesetzt. Ich fürchte, man wird meinen, ich lästere Jesus nun selbst. Dabei ist es keine Lästerung und die Arglist ein Attribut, das Gott ebenfalls zugesprochen wird.
Von Bild zu Bild klickend, frage ich mich, ob Jesus nicht zum Liebenden wurde, indem er sich beschämt an die Lieblosigkeit des Kindes erinnerte, das er gewesen, ein endlich Verzückter, Beseelter, Erkennender, der selbst im Verbrecher das Gute hervorhob, selbst im Häßlichen die Schönheit pries? Es gibt diese Lieblingsanekdote der Sufis, die auch mir die liebste ist: Jesus kommt mit seinen Jüngern an einem toten, schon halb verwesten Hund vorbei, dessen Maul offensteht. «Wie schrecklich er stinkt», wenden sich die Jünger angeekelt ab. Jesus aber sagt: «Seht doch, wie herrlich seine Zähne leuchten!» Mit dem Hund meinte Jesus vielleicht auch das Kind, das er war.
Aber die Mutter – man wünscht keiner Mutter, einen solchen Sohn zu haben, ihr angekündigt von Engeln, von Königen verherrlicht, und dann entpuppt er sich als verzogenes Bürschchen, das vor Wunderkraft nur so strotzt. Das Kindheitsevangelium erwähnt Maria erst ganz zum Schluß, als Jesus schon älter als sieben Jahre ist. Bestimmt hat sie sich über ihn gegrämt, sich für seine Untaten auch geschämt und dennoch zu ihm gehalten, den Wonneproppen vorbehaltlos geliebt. Das ist die Mutter, die Mutter schlechthin: egal wie das Kind ist. Das ist der Sohn, jeder Sohn, der die Liebe von der Mutter erst lernt. Im Arm halten, wiegen, wollt ich den Jungen nicht.
Quelle: Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. C.H.Beck, München 2015, edition C.H.Beck Paperback, ISBN 978 3 406 71469 6. Seite 14 bis 20.
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