6. August 2018

Franz Lachner: Septett - Robert Fuchs: Klarinettenquintett

Franz Lachner: Septett Es-Dur

Unter den frühen Kammermusiken, die Lachner an der Seite Schuberts in seinen Wiener Jugendjahren komponierte, ragt eines durch seine Besetzung und Ausdehnung besonders hervor: das Septett in Es-Dur. Beim Durchblättern der Partitur kommt einem sogleich Schuberts großes Oktett in F-Dur in den Sinn. Tatsächlich wurden beide Werke gewissermaßen Seite an Seite 1824 in Wien geschrieben.

Auch ohne dieses Kompositionsjahr zu kennen, wäre dem Lachnerschen Septett ohne weiteres anzuhören, dass es in Wien im Umkreis des Schubertschen Oktetts entstand. Letzteres wurde bekanntlich für den Grafen Troyer, den Haushofmeister des Erzherzogs Rudolph geschrieben, der ein begeisterter Klarinettist und Interpret des Septetts von Ludwig van Beethoven war. Er bestellte bei Schubert ein Gegenstück zu diesem Urbild aller Septette. Offensichtlich aus dem gleichen Impetus heraus schuf auch Lachner sein Septett.

Der Bayer Lachner hatte 1823 als Organist der lutherischen Kirche in Wien Aufnahme gefunden und sich rasch mit dem sechs Jahre älteren Schubert angefreundet. In dessen letzten Lebensjahren wich er kaum von seiner Seite. Nachweislich stellte Lachner sein Gartenhaus auf der Wiener Landstraße für die Uraufführungen von Kammermusikwerken seines Freundes zur Verfügung, darunter für die Premiere des Oktetts. Man kann sich leicht vorstellen, dass daneben auch Lachner selbst sein Septett vorstellte, ja, dass die beiden sogar Hand in Hand entstanden. Denn die Freunde tauschten “Arbeiten im Entwurfe aus”, um sie gegenseitig zu begutachten. Sie berieten sich insbesondere über Fragen der Instrumentation und der Form in der Instrumentalmusik, alles Dinge, die man an einem Oktett bzw. Septett ideal studieren konnte.

Beide Freunde hatten sich dazu entschlossen, die Besetzung des großen Vorbilds, also des Beethoven-Septetts, zu variieren. Schubert fügte in seinem Oktett bekanntlich eine zweite Geige hinzu. Lachner blieb zwar bei der Septettgröße und bei Beethovens Gegenüberstellung von drei Bläsern und vier Streichern, ersetzte aber das Fagott durch eine Flöte, wodurch der Klang in seinem Bläsertrio – Flöte, Klarinette und Horn – licht, hell und brillant wird. Dem stehen jeweils eine Geige, Bratsche, Cello und Bass gegenüber.

Im Aufbau zeigt Lachners Septett genügend Parallelen zum Oktett des Freundes. Auch sein erster Satz beginnt mit einer langsamen Einleitung, Andante maestoso, aus feierlichen punktierten Rhythmen der Streicher und lyrischen Bläsersoli.

Franz Lachner,
Lithographie von Andreas Staub, um 1835
Das erste Allegro stellt gleich im Hauptthema Klarinette und Flöte als die heimlichen Solisten den Streichern gegenüber. Das jubelnde Thema der beiden Holzbläser aus Sechzehntelschleifer und gebrochenem Dreiklang wandert in der Folge beständig durch die Stimmen. Es wird auf sinfonische Weise gesteigert. Offenbar hatte auch Lachner – wie sein Freund Schubert – im Sinn, sich mit seinem Septett “den Weg zur großen Sinfonie zu bahnen”. Weite Modulationen, lyrisch ausgebreitete Klangflächen im typischen Schubert-Ton und virtuose Soli der Klarinette lösen einander beständig ab. Der Herausgeber des Septetts, Franz Beyer, musste in diesem Satz übrigens knapp 70 Takte rekonstruieren, da sie in der Partitur fehlen. Mithilfe der vorhandenen Stimmen von Violine, Viola und Horn und der analogen Stellen in der zweiten Hälfte des Satzes war die Lücke jedoch leicht zu schließen.

Zwei Tanzsätze umrahmen – ähnlich wie in Schuberts Oktett – den langsamen Satz. Zunächst hört man ein Menuett, das im Hauptteil eher wie ein Ländler für die Klarinette, ein Stück Wiener Tanzbodenmusik, daherkommt. Zwei nicht minder volkstümliche Trios folgen: ein Cellosolo in As-Dur und ein von kessen Staccati begleitetes Solo für das Horn in Es, beide im Ländlerrhythmus gehalten.

Das Andante steht – wie in Schuberts Oktett und Forellenquintett – in Variationenform. Dabei hat Lachner vom Duktus eines langsamen Marsches höchst originellen Gebrauch gemacht. Eine ruhige, lang gezogene C-Dur-Melodie der Bläser wird zu Beginn von einem Marschrhythmus der Streicher grundiert, der im weiteren Verlauf immer mehr an Bedeutung gewinnt, während das Thema immer stärker variiert wird. Orchestrale Klangeffekte und Schubertsche Modulationen durchziehen diesen höchst originellen, am Ende im Pianissimo verklingenden Satz.

In scharfem Kontrast zum lichten C-Dur dieses Satzes folgt ein quasi Beethovensches Scherzo in c-Moll, das uns daran erinnert, dass noch der junge Lachner und Schubert im Schatten des “Titans” Beethoven komponierten. Sein übermächtiges Vorbild ist in diesem Satz omnipräsent.

Das Finale, Allegro moderato, dagegen verbindet die schlichte Melodik bayerisch-österreichischer Volksweisen mit dem nimmermüden Tanzschritt eines Perpetuum mobile im Sechsachteltakt und der ausladenden Sonatenrondoform, wie man sie auch so oft bei Schubert findet.

Insgesamt zählt das Lachnerseptett zu den originellsten Wiener Kammermusikstücken aus der reifen Zeit um Schubert.

Quelle: Kammermusikführer – Villa Musica Rheinland-Pfalz

Franz Lachner (links) mit Franz Schubert und
Eduard von Bauernfeld beim Heurigen
(Moritz von Schwind, 1862)
Robert Fuchs: Quintett für Klarinette und Streichquartett Es-Dur, op. 102

“Fuchs ist ein famoser Musiker. So fein und so gewandt, so reizvoll erfunden ist alles, man hat immer seine Freude daran!” Selten hat Johannes Brahms einen Kollegen so uneingeschränkt gelobt, selten eine so deutliche Nähe zu seiner eigenen Musik verspürt wie im Falle von Robert Fuchs.

Wenn man die Lebens- und Schaffensdaten der beiden miteinander vergleicht, fällt auf, dass sich die Wiener Karriere von Fuchs in etwa parallel zur Etablierung des 14 Jahre älteren Hamburgers in der K.u.K. Metropole abspielte. Fuchs als Brahms-Epigonen zu bezeichnen, ist deshalb historisch falsch. Sie haben parallel gewirkt, wobei der Jüngere in seiner Bescheidenheit, seiner unprätentiösen Ästhetik und dem schieren Können Brahms so nahe kam wie kaum ein anderer. Dass es in den Werken von Fuchs so seltsam “brahminisch” zugeht, hängt mit dieser Wahlverwandtschaft zusammen. Es war schlicht Sympathie - menschlich wie künstlerisch -, welche die beiden Wahlwiener miteinander verband, und Brahms hat dies in seinen Briefen auch Dritten gegenüber zur Genüge bekundet. So hat er etwa an der Entstehung der Fuchs-Oper Die Königsbraut 1888 regen Anteil genommen - nicht zuletzt deshalb, weil er seine eigenen Opernpläne damals noch nicht ad acta gelegt hatte. Dass dem Werk des Freundes kein Erfolg beschieden war, hat er ehrlich bedauert. Auch den Sinfoniker Fuchs hat er nie als Konkurrenten empfunden. Beide fanden eine gemeinsame Wurzel in Franz Schubert, dessen Musik in der ihren aufgehoben erscheint.

In die Annalen der Wiener Musikgeschichte ist Robert Fuchs freilich weder als Brahmsfreund noch als Schubertverehrer eingegangen. Sein Schaffen wird gewöhnlich unter zwei anderen Schlagworten subsumiert. Einerseits gilt er als der “Serenaden-Fuchs”, weil er in Wien der Gattung der Orchesterserenade und diese wiederum ihm zum Durchbruch verhalf; andererseits war er der Lehrer so prominenter Schüler wie Gustav Mahler, Hugo Wolf, Arnold Schönberg, Franz Schreker und Alexander von Zemlinsky. Sie alle gingen durch seinen Unterricht in den Fächern Harmonielehre und Kontrapunkt am Wiener Konservatorium ,- zu ihrem Vor-, nicht Nachteil. Auch hier kann man, wie bei seiner Freundschaft mit Brahms, von einer wechselseitigen Anerkennung und Beeinflussung sprechen, die den Spätwerken von Fuchs eine Aura von Mahler und frühem Schönberg verleiht.

Eine weitere Eigenart des Robert Fuchs war seine Anhänglichkeit an die steirische Heimat. Er wurde am 15. Februar 1847 in Frauenthal im Sulmtal geboren, und zwar als 13. Kind eines keineswegs wohlhabenden Schullehrers, Organisten und Komponisten - eine sozusagen grundsteirische Familie. Was ihnen an materiellen Gütern abging, das ersetzten sie durch die Musik. So fand der kleine Robert in seinem Schwager in St. Peter im Sulmtal einen eifrigen musikalischen Lehrmeister. Mit 16 trat er in die Fußstapfen seines fünf Jahre älteren Bruders Johann Nepomuk, der in Graz als Komponist und Leiter des Akademischen Gesangsvereins sein Glück gemacht hatte, und ging in die steirische Hauptstadt. Während er den Präparandenkurs zum Lehramt absolvierte - daher seine später so erfolgreiche Didaktik -, perfektionierte er sich musikalisch beim Domorganisten Carl Seydler.

Robert Fuchs
1865 zog es ihn dann doch weiter nach Wien, wo er Desoff-Schüler wurde und nach nur zwei Jahren am Konservatorium eine h-Moll-Sinfonie (seine “Nullte”) als Abschlussarbeit vorlegte, die von den Philharmonikern in Teilen aufgeführt und mit einer Silbermedaille ausgezeichnet wurde. 1874 begann er mit der Serie seiner fünf Orchesterserenaden, seinem größten Erfolg zu Lebzeiten. Die Uraufführung der ersten Serenade Opus 9 wurde für ihn zum Durchbruch beim Wiener Publikum, dem er erst viel später seine beiden ersten Sinfonien folgen ließ. Er schrieb sie erst, nachdem Brahms seinen sinfonischen Zyklus bereits beendet hatte: 1886 und 1887. Die Dritte ließ weitere zwei Jahrzehnte auf sich warten (1907) und fand erst in einer Aufführung unter Felix Weingartner breitere Anerkennung, die 1923 zum 75. Gebustag des Komponisten erklang. Er starb 5 Jahre später, wenige Tage nach den Feiern zu seinem 80. und – so wird berichtet – aus Erschöpfung über dieselben.

Im Schatten der Orchesterwerke schuf Fuchs in 50 Jahren kompositorischer Tätigkeit in Wien ein umfangreiches Chor-, Lied- und Kammermusikschaffen. Letzteres umfasst 20 Opera in den Genres der Zeit: neben dem Klarinettenquintett diverse Streich- und Klavierquartette, zwei Cellosonaten und sechs Violinsonaten.

Das Klarinettenquintett steht ganz am Ende dieser Serie. Fuchs schrieb es Anfang 1917, im Vorfeld seines 70. Geburtstags, der ebenso aufwendig musikalisch gefeiert wurde wie die beiden folgenden runden. Zum Festkonzert-Programm in Wien gehörte die Uraufführung des Klarinettenquintetts im März 1917, die von Presse und Publikum einhellig gefeiert wurde. Avantgardistische Maßstäbe legte man an den Altmeister aus der Brahmsära nicht an, und so hörte auch der Kritiker der Neuen Presse aus dem Quintett nur “den Duft frischer Frühlingsblumen” heraus.

Reminiszenzen an das Klarinettenquintett von Brahms aus dem Jahre 1891 müssen Fuchs schon bei der Komposition begleitet haben. Brahms hatte mit seinem h-Moll-Quintett, op. 115, sein letztes größeres Kammermusikstück komponiert, und so drängt sich auch beim Hören des Fuchs-Quintetts der Eindruck eines kammermusikalischen “Schwanengesangs” auf. Zu schön, zu rund und selig beschwingt kommt diese Musik für das Jahr 1917 daher, um nicht auch wehmütiger Nachgesang auf die entschwundene Epoche der Brahmszeit zu sein.

Robert Fuchs
Dabei ist Fuchs dem Vorbild des Brahmsquintetts in Tonart und Form scheinbar ausgewichen: Der erste Satz greift zwar im schwingenden Dreiermetrum auf diverse Brahms-Opera zurück (op. 78, 111, 115), doch die Tonart Es-Dur suggeriert leichte, lichte Helle, wo sich Brahms in grüblerischem h-Moll verstrickt. Die drei Themen des Satzes sind wunderbar aufeinander abgestimmt: Über einem erwartungsvoll gespannten rhythmischen Klanggrund der Streicher singt die Klarinette ein Thema aus gebrochenem Durdreiklang und empfindsamer Vorhaltswendung. Nachher taucht die erste Violine mit diesem Thema in einen pastosen Brahmsklang aus satten Streicherakkorden und Klarinetten-Arpeggi ein. Die Überleitung wirkt straussisch kapriziös, nimmt dann aber doch eine typische Brahmswendung nach Moll. Die Idee, das Seitenthema ganz unbestimmt vor sich hin modulieren zu lassen, bis es sich in einem Fanfarenmotiv sammelt, ist ein reizvoller Einfall des “Serenaden-Fuchs”. In der Durchführung wechselt die brahmsische Verarbeitung des Hauptthemas mit Intermezzi über das Fanfarenmotiv ab. Wie dabei der Klang pastos und schwelgend sich auslebt in satten Mittellagen, das wäre selbst einem Robert Fuchs ohne das Klarinettenquintett von Brahms wohl kaum eingefallen.

Das Scherzo steht anders als im Brahmsquintett an zweiter Stelle, und es gewinnt einen ganz eigenständigen Charakter durch sein chevalreskes Thema, das sich allmählich in wienerischen Plauderton verstrickt. Ein träumerisches Trio der Streicher unterbricht diese Genreszene.

Im Andante konnte Fuchs Reminiszenzen an das herrliche Adagio des Brahmsquintetts wohl kaum vermeiden. Trotz eigenständiger Melodik schwingt sich der Satz zu jener leicht ungarisch gefärbten Wehmut auf, die Brahms so unnachahmlich einfing, und auch die pastose Fülle der Klangfarben, bei der die Streicher die Klarinette oft genug in die Mitte nehmen, ist dem klangsatten Vorbild des berühmten Kollegen abgelauscht. Es wirkt fast so, als habe Fuchs nach 26 Jahren den herrlichen Abschiedsgesang seines verstorbenen Freundes noch einmal aufgreifen und in ein fremd gewordenes Jahrhundert hineinsingen wollen.

Das Finale war seine letzte Verneigung vor dem Freund: Variationen wie im Finale des Opus 115. Das Variationenthema ist hier jedoch den Streichern anvertraut, und es ist so stark mit Chromatik durchsetzt, dass es schon deutlich der Strauss-Reger-Epoche angehört. In diese Richtung einer gleichsam vagierenden Jahrhundertwende-Musik gehen auch die Variationen mit ihren raumgreifenden Dialogen zwischen Klarinette und Streichern, die in einer effektvollen Coda gipfeln. Man darf der englischen Klarinettistin Thea King Recht geben, die meinte, dass Fuchs hier “the flavours of the young Mahler, Strauss and Schönberg” angenommen habe.

Quelle: Kammermusikführer – Villa Musica Rheinland-Pfalz


Track 4: Lachner: Septet in E Flat Major - IV. Scherzo. Allegro vivace, quasi presto


TRACKLIST

Franz LACHNER (1803-1890)

Septet in E Flat Major (completed by Franz Beyer)

1 Andante maestoso                        (11:07)
2 Menuetto                                 (7:32)
3 Andante                                  (6:33)
4 Scherzo. Allegro Vivace, quasi presto    (7:00)
5 Finale. Allegro moderato                 (8:20)

Robert FUCHS (1847-1927)

Clarinet Quintet in E Flat Major Op. 102

6 Allegro molto moderato                  (11:11)
7 Allegro scherzando                       (6:21)
8 Andante sostenuto                        (7:01)
9 Allegretto grazioso                     (10:27)

                                   Total: (75:45)

Ensemble Villa Musica

Jean Claude Gerard, Flute
Ulf Rodenhäuser, Clarinet
Ernö Sebestyen, Albert Boesen. Violins
Enrique Santiago, Viola 
Marie-Luise Neunecker, Horn
Martin Ostertag. Cello
Wolfgang Güttler, Double Bass


Recorded at Tonstudio van Geest in Heidelberg from
26th September to 4th October. 1988.
Producer: Günter Appenheimer

Cover: View of Grinzing and Vienna (Painting by Balthasar Wigard).

(P)+(C) 1989 


LIEBE


Navid Kermanis ungläubiges Staunen über Rembrandts Lazarus

Rembrandt (1606-1669): Die Auferweckung des Lazarus. Um 1630.
Öl auf Holz, 96,4 x 81,3 cm. Los Angeles County Museum of Art.
Nicht zu sagen, ob Jesus Augen und Mund vor Entsetzen oder bloß vor Anspannung aufreißt, die ausgebreitete Hand abwehrend oder gebietend hochhält. Nicht zu sagen, ob Marias Staunen verzückt oder panisch ist, ihre Hand zum offenen Grab geht oder den Bruder von sich abhält. Nicht zu sagen, ob Martha wirklich zurückweicht, so schemenhaft nur ist sie in der unteren linken Ecke zu erkennen. Nicht zu sagen, was in den Köpfen der drei Männer vorgeht, die auf den wiedererweckten Lazarus starren, ganz hinten womöglich der Apostel Petrus. Nicht zu sagen, ob Lazarus lächelt, wie mühsam und müde auch immer, oder eher Nein! schreit, ich will nicht. Rembrandt hat das offengelassen; hat nicht gedeutet und schon gar nicht gewertet. Aber er hat die Anstrengung kenntlich gemacht, die seelische und ebenso die körperliche Belastung Jesu, der nicht entspannt ein Wort spricht wie bei den anderen Malern, vielmehr «mit lauter Stimme» ins Grab ruft, was im Lutherdeutsch «schreien» oder «kreischen» meint, der «ergrimmt» ist und gerade noch geweint hat und voraussieht, daß die Hohenpriester ihn spätestens jetzt fürchten und zum Tode verurteilen werden, da sie seine Macht erkennen. Rembrandt hat die beiden Schwestern nicht fromm und dankbar die Hände zum Himmel heben lassen, sondern Maria ein fassungsloses Staunen, Martha die Andeutung eines Zurückweichens verliehen niemand ist hier froh, auch nicht die drei Männer, nicht einmal Petrus. Vor allem aber hat Rembrandt radikal mit seinen Vorgängern gebrochen, die Lazarus einen wohlgeformten Körper gemalt haben. Bei ihm trägt der Erweckte deutliche Züge der Verwesung und phosphoresziert auch noch leichenhaft grün.

Man muß sich klarmachen, daß niemand, der an die Auferstehung glaubt, in dieser Welt wiedergeboren werden möchte. Jesus selbst, der Lazarus mehr als andere Menschen «lieb hat», was im Lutherdeutsch eine Steigerung der Liebe ist, Jesus ist sich bewußt, daß er dem verstorbenen Freund keinen Dienst erweist, indem er ihn ins Leben zurückruft. Es geht Jesus um die Jünger «auf daß ihr glaubet» und die Umstehenden «daß sie glauben». Ja, anfangs, als die Nachricht von der Erkrankung des Lazarus eintrifft, stellt Jesus sogar klar, daß es im Kern um ihn selbst geht: «daß der Sohn Gottes dadurch geehrt werde». Denn er sieht richtig voraus, daß Lazarus sterben und dessen Erweckung den Anlaß liefern wird, Jesus selbst zu kreuzigen nichts anderes als Jesu Auferstehung ist schließlich mit «Verherrlichung» gemeint. Dem entspricht, daß Jesus seinen Gang nach Bethanien als Rückkehr nach Jerusalem versteht — «laßt uns wieder nach Judäa ziehen» —‚ ihn mit dem Zeitenlauf in Verbindung bringt «sind nicht des Tages zwölf Stunden?» und Thomas die anderen Jünger auffordert: «Laßt uns mitziehen, daß wir mit ihm sterben!» Dem entspricht zumal das Weinen, das sehr bemerkenswerte, wohl auch heftige Weinen Jesu in Bethanien, das oft als Trauer um Lazarus gelesen wird, doch weshalb sollte Jesus den Tod desjenigen betrauern, den er gleich wiedererweckt?

Hippolyt und andere Kirchenväter deuteten Jesu Tränen daher keineswegs als Trauer über den Tod des Freundes, sondern im Gegenteil als Betrübnis über dessen Wiederkehr ins Leben. Anders gesagt: Jesus gehen «die Augen über», weil er seinen Freund, den besonders geliebten Lazarus, ins Elend dieser Welt zurückzwingen muß, um selbst getötet zu werden und auferstehen zu können. Und tatsächlich gibt es, kaum beachtet, eine entscheidende Pause während der Totenerweckung, als die Grabplatte abgehoben wird: «Vater, ich danke dir, daß du mich erhört hast», sagt Jesus, als er die Leiche sieht. Erst danach ruft, nein, schreit und kreischt er und zwar «um des Volks willen‚ das umhersteht, sage ich's, daß sie glauben, du habest mich gesandt» Lazarus aus dem Grab heraus. Das heißt, der Dank, erhört worden zu sein, geht der leiblichen Auferweckung voraus, ist zeitlich und sprachlich von ihr getrennt. Der Dank scheint sich also auf etwas anderes zu beziehen. Aber worauf?

Ich gehe nochmals an den Anfang der Geschichte in Johannes II: «Unser Freund schläft», sagt Jesus, da er hört, daß Lazarus in Bethanien krank liegt. «Herr, schläft er, so wird's besser mit ihm», erwidern die Jünger, die meinen, Jesus spreche vom leiblichen Schlaf. Jesus jedoch klärt sie auf, daß Lazarus gestorben ist: «Ich gehe hin, daß ich ihn aufwecke.» Weil man das Ende der Geschichte schon kennt, setzt man voraus, daß Jesus hier ankündigt, Lazarus in die irdische Existenz zurückzurufen. Tatsächlich könnte mit aufwecken genausogut noch Erweckung im Sinne von Auferstehung gemeint sein. Jesus selbst sagt, als ihm vor Bethanien Martha entgegenkommt, die Schwester des Lazarus, der schon vier Tage im Grab liegt: «Dein Bruder soll auferstehen.» Worauf Martha sich nicht einmal wundert: «Ich weiß wohl, daß er auferstehen wird in der Auferstehung am Jüngsten Tage.» Und Jesus bestätigt, was Martha sagt: «Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubet, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.» Hier geht es deutlich um das ewige Leben - «ob er gleich stürbe» —, nicht um die Fortsetzung oder Wiederaufnahme der zeitlich begrenzten irdischen Existenz: «Glaubst du das?» Worauf Martha, eine einfache Frau und nicht etwa einer der männlichen Jünger, das Bekenntnis der neuen Gemeinde spricht: «Ja, ich glaube, daß du bist Christus, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.» Der Dank, erhört worden zu sein, muß sich auf die eigentliche und eigentlich doch ewige Auferstehung beziehen. Die nachfolgende, leibliche Wiederbelebung des Lazarus ist da nur die Illustrierung, daß durch Jesus die Toten auferstehen, ein äußeres Zeichen für die Ungläubigen und Unsicheren, wohlgemerkt nicht für den armen Lazarus selbst.

Oder gehen Jesus die Augen deshalb über, weil er bei der Ankunft in Bethanien noch gar nicht daran denkt, Lazarus ins Leben zurückzurufen, also seinen Freund tatsächlich vermißt und noch nicht damit rechnet, ihn bald wiederzuhaben? «Siehe, wie hat er ihn so liebgehabt», haben selbst die Juden, die ihm so sehr mißtrauen, Mitgefühl mit ihm. Aber da nun einige unter ihnen Jesus provozieren, indem sie ihm vorhalten, den Tod des Freundes nicht verhindert zu haben, geht er zum Grab und verlangt, daß der Stein abgehoben werde. «Herr, er stinkt schon», will ihn Martha noch abhalten und erinnert: «Denn er ist vier Tage gelegen.» Doch Jesus mahnt Martha, an ihn zu glauben - an ihn also, der die Auferstehung und das Leben ist —, und läßt den Stein entfernen. Nachdem Jesus seine Augen emporgehoben und Gott gedankt hat, fährt er um des Volkes willen fort, damit es ihn als Gesandten anerkenne, und weckt den Verstorbenen auf. Worauf Lazarus aus dem Grab tritt, die Hände und Füße mit Tüchern verbunden, sein Gesicht sicher nicht zufällig von einem Schweißtuch verhüllt. Rembrandt freilich läßt das Schweißtuch fort und liefert so eine Erklärung für Jesu seltsame Reaktion. Denn statt den Freund, den er so betrauert hat, zu umarmen oder auch nur zu begrüßen, sagt Jesus nur: «Löset ihn auf und lasset ihn gehen» wohin?

Natürlich fragt man sich oder frage vielleicht nur ich mich, was für ein Leben das noch sein könnte, das Lazarus gerade wiedergewonnen hat, die Haut schon vermodert, das Fleisch eingefallen oder gar von Würmern angefressen, aasig riechend und also ein Schrecken für alle Leute, um von der seelischen Zersetzung gar nicht zu reden, dieser Schock, als Gerechter in Gottes Frieden zu ruhen, der ewig sein soll, und dann doch wieder in den Körper zurückversetzt zu werden, der nicht mehr bloß gebrechlich ist, sondern bereits fault? Und Jesus weiß doch schon, daß er selbst getötet wird, sehr bald und auf grausamste Weise, er weiß, daß Lazarus dann umgekehrt um ihn trauert, hat Lazarus bei der Salbung sogar bei sich, die die Passion einleitet wie kann ein Freund das einem Freunde antun? Oder tut er es ihm an, gerade weil Lazarus sein Freund ist, so wie auch ein Mann seine Frau, eine Frau ihren Mann oder Eltern ihre Kinder, deren Tod sie betrauern, ins Leben zurückschreien und -kreischen möchten, ob sie an die Auferstehung glauben oder nicht? Auch ich wünsche mir, spreche den Wunsch in eingestandener Selbstsucht gelegentlich aus, so Gott will vor meiner Frau und zumal vor unseren Kindern zu sterben, damit mir nicht die Augen an ihrem Grab übergehen. Nur Jesu Liebe übersteigt menschliches Maß. Lazarus hingegen hat er so liebgehabt. Nicht zu sagen, ob der Freund lächelt, wie mühsam und müde auch immer, oder eher Nein! schreit, ich will nicht.

Quelle: Navid Kermani: Ungläubiges Staunen. Über das Christentum. C.H.Beck, München 2015, edition C.H.Beck Paperback, ISBN 978 3 406 71469 6. Seite 27 bis 31.



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Musik für 58 Musiker, uraufgeführt am 11. Oktober 1992 (Musikprotokoll Graz). | Armageddon, die apokalyptische Schlacht am Ende der Zeiten zwischen Gut und Böse.



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