Franz Liszt an Nicolas von Gutmansthai, 20. Feber 1850
Versuch das Geheimnis von Liszts Liedern zu ergründen
Imaginäres Zwiegespräch zwischen Alain de Chambure, dem künstlerischen Leiter der Aufnahme, und Cyril Huvé, dem Pianist derselben.A.C : Liszt hat fünfundsiebzig Lieder geschrieben, Lieder, die er sein ganzes Leben lang, umgearbeitet und umgeschrieben hat, wobei er den Herausgebern oft zwei, manchmal auch drei verschiedene Vertonungen von ein und demselben poetischen Text geliefert hat.
C.H. : Dazu kommt noch eine stattliche Anzahl von Lieder-Transkriptionen für Klavier solo.
A.C : Ganz zu schweigen von den Fassungen für Gesang und Orchester von manchen unter ihnen.
C.H : Das letzte woran er vor seinem Tod, im Jahre 1886, arbeitete, war die Orchesterfassung von "Die Vätergruft", die er vierzig Jahre zuvor komponiert hatte.
A.C : Dies lag ihm sichtlich am Herzen ...
C.H : Die Komposition der Lieder stellte für ihn einen bedeutenden, fast wesentlichen, Anteil seines Schaffens dar. Seine künstlerische Palette ist unendlich breit und reicht von der Romanze bis hin zur grossen, dramatischen Szene; die Dichter sind Franzosen, Italiener, vor allem aber Deutsche.
Franz Liszt, Daguerreotype von 1844 (Sammlung Ernst Burger, München) |
C.H : "Wenn dieser Speer nur gut gestählt ist und nicht auf die Erde zurückfällt, soll mir alles übrige gleich sein", fügte her hinzu. Die Thematik hat hier bereits etwas Wagnerisches ...
A.C : Da greifen Sie ein wenig vor!
C.H : Mitten im 19. Jahrhundert bildet er ein neue harmonische Sprache aus, erfindet er recht eigentlich die berühmte "Zukunftsmusik".
A.C : Ich las kürzlich Jankélévitchs Untersuchung über die Melodien Faurés; er verweist häufig auf die Lieder Liszts, die für ihn ein Markstein auf dem Weg zu dieser Form sind. Nach Jankélévitch "bereitet sich bei Franz Liszt der grundlegende Umbruch vor, von dem aus die moderne Melodie ihren Anfang nimmt", und er bemerkt, daß Fauré selbst ihn den "Schutzgott aller künstlerischen Erneuerung" nennt. "Die Melodien, die dieser wundervolle Mann geschrieben hat, brechen die traditionelle Struktur des Liedes völlig auf, machen die Befreiung des Begleitparts vollständig, erneuern schließlich von Grund auf das Vokabular der Harmonik. […] Die Modulationen kommen rasch und beweglich, sie werfen so vielfarbige Reflexe auf die Musik; mit ihnen treten die verminderten Akkorde auf, das trügerische Schmeicheln, die genußreichen Vorhalte. Häufig setzt die Melodie weit vom Grundton entfernt ein, mit scharfen Dissonanzen, die sich nur wider Willen auflösen. Häufiger noch schließt Liszt, nach Schumanns Muster, mit einer nicht aufgelösten Septime, unerfüllt und glühend wie ein Sehnen. Liszt hält mit allen Raffinements die 'Sehnsucht' nach dem vollkommenen Einklang wach, läßt die Frage ohne Antwort sich dehnen und den Gleichklang als ein fernes Jenseits dieser Sehnsucht erscheinen. […] Der Geist der Beweglichkeit, der faustische Geist, durchpulst die Lisztschen Melodien".
C.H : Warum werden sie nur so selten gespielt? Nur ausnahmsweise stehen sie in den Programmen von Liederabenden und wenn, dann sind es stets dieselben.
A.C : Spielte Liszt sie eigentlich während seiner öffentlichen Konzerte?
C.H : Wenn, wie es damals die Sitte wollte, ein Sänger zwischen zwei Klavierstücken auftrat, dann sang dieser, begleitet von Liszt, irgendeine Melodie von Bellini oder Donizetti, nicht aber eines von Liszts Liedern.
A.C : Das wird ja immer mysteriöser ...
C.H : Was seine Lieder und, in weiterem Sinne, seine "wirklichen" Werke für Klavier anbetrifft, so ...
A.C : Gibt es denn falsche darunter?
C.H : ... so ist es, als gäbe es zwei Liszt, einen, der spielt und einen, der komponiert.
A.C : Jetzt wird's Schumannisch! Na, ist ja auch normal, wenn von Liedern die Rede ist ...
C.H : Liest man die Programme seiner ungezählten Konzerte, so stellt man verwirrt fest, dass er dabei zwar hauptsächlich Musik von Liszt spielt, aber nicht das, was für uns die wahre Musik Liszts ist. Er spielt seine Paraphrasen italienischer Opern, einige Transkriptionen von Werken Hummels oder Beethovens und zum Abschluss stets den Grand Galop chromatique ...
A.C : ... dieses Muss eines jeden Lisztkonzerts ...
C.H : Nie aber spielt er die Etudes d'exécution transcendante, die Années de pèlerinage, die Harmonies poétiques, ganz zu schweigen von der H-Moll Sonate.
A.C : Weil die grosse Periode der Konzertabende nämlich vor der Weimarer Periode liegt, während der er seinen Hauptwerken eine Form und wieder eine Form gibt.
C.H : Stimmt, doch beginnt er unbestreitbar mit der Komposition der Lieder ab 1838 und es ist in den vierziger Jahren, gerade zu der Zeit, in der er die Konzertsäle aller Provinzen abgrast, daß er den Grossteil seiner Lieder und seiner grossen Klavierzyklen bereits verfasst, ja sogar veröffentlicht.
A.C : Er sagt es selber in dem Brief an Nicolas von Gutmansthal.
C.H : Und nach 1850 fährt er fort Konzertabende zu geben, wenngleich in einem weniger wüsten Tempo.
A.C : Man muss sich vergegenwärtigen, in welcher Lage sich Liszt befindet als er, aus seinem Heimatland Ungarn kommend, in Paris landet, um die Welt zu erobern. Die italienische Oper ist allmächtig, der herrschende Geschmack nicht der reinen Musik zugewandt. Beliebt ist die kaum erfaßbare Raschheit der Sänger in hoher Stimmlage und auf einem Grund von recht seichten Harmonien ... mit schönen Melodien, das will ich Ihnen gerne zugestehen.
C.H : Liszt hatte begriffen, dass er, um sich als Pianist durchzusetzen, dem Publikum auf seinem Felde begegnen mußte.
A.C : Für sein erstes "Concert vocal et instrumental" hatte sein Vater gerade eben das Théâtre Italien gemietet.
Franz Liszt, Kohledruck von 1869 von Franz Hanfstaengl |
A.C : Weil er sich in Frankreich befand, war er gezwungen, sich aufzuspalten. Schubert konnte sich damit begnügen Lieder zu komponieren, die er im Freundeskreis spielte. Liszt aber wollte Weltruhm, von Paris aus, was manchen Kompromiss rechtfertigen mochte. Das Lied steht im radikalen Gegensatz zur italienischen Oper. Liszt konnte unmöglich in einem Konzert zugleich sowohl den Pianisten und Komponisten von Paraphrasen, den Komponisten von Liedern und tiefgehenden Klavierstücken zu Geltung bringen. Allerhöchstens hat er dies mit Beethoven oder Schubert gewagt, indem er Transkriptionen ihrer Werke spielte, nicht aber mit seiner eigenen Musik. Und so komponierte Liszt Lieder für die Zukunft and gab dabei Konzertabende fürs Publikum. Dies kann genau verfolgt werden, wenn man den Zeitplan seiner Tourneen mit den Kompositionsdaten seiner Lieder vergleicht.
C.H : In seinem Brief ist die Rede von jenen "Momenten, die meinem äusseren Leben entrissen, aber stets unvermeidbar sind und in denen Emotion und Phantasie mir den Drang zum Schreiben auferlegen"
A.C : Diese Persönlichkeitsspaltung ist ihm am Ende schliesslich unerträglich geworden: 1848 hat er aufgehört und sich in Weimar niedergelassen.
C.H : Mit seinen Liedern wendet Liszt der italienischen Oper den Rücken zu; er nimmt die Richtung, die zu Wagner führt, zu der Oper, in der sich der Gedanke in den Gesang einfügt. Sicher ist es kein Zufall, dass er, in Weimar angelangt, alle komponierten Lieder der letzten zehn Jahre wieder aufnimmt, um sie zu verbessern und neue Lieder schreibt.
A.C : In den ersten Fassungen der Lieder, die auf französisch oder italienisch geschrieben sind, findet man noch Reste des italienischen Stils. Frappant ist dies für die Sonette von Petrarca und in der letzten Fassung, die übrigens für Bariton und nicht mehr für Tenor geschrieben ist, hat er das, was in der ersten Fassung oberflächlich erscheinen mochte, gestrichen.
C.H : Und das Klavier?
A.C : Jankélévitch sagt es wiederum sehr gut: "Liszts Sprache ist beginnende Instrumentierung; man braucht nur die Anweisungen anzusehen, mit denen er seine Melodien durchsetzt, und die alle sein Bemühen um die instrumentale Färbung verraten: 'quasi arpa', 'quasi chitarra' […] Die Klaviersoli sind Augenblicke der Sammlung, in denen sich die Gemütsbewegung verdichtet und vertieft. Daher auch das Diskontinuierliche, Launenhafte und die poetische Heftigkeit dieser Melodien: sich hinziehende Pausen, plötzliche Zickzackbewegungen, fortwährende Verwandlung von Rhythmus und Tempo, alles in der Begleitung verrät eine innere Logik und etwas wie die lebendige Geschmeidigkeit der Freiheit".
C.H : Wenn Liszt Wagner den Weg geebnet hat, so ist es durch den harmonischen Stil. Der Ton des Tristan findet sich buchstäblich nicht nur im Ich möchte hingehn von 1846, zehn Jahre bevor Wagner die erste Note seiner Oper schreibt. Eine ganze Konzeption der Harmonie, der Beweglichkeit der Töne und der Beziehungen ist da, die berühmte Wagnersche Chromatik, die Lisztsche Chromatik sollte man besser sagen. Die Lieder sind das Experimentierfeld der neuen Harmonie.
A.C : Zwischen Du bist wie eine Blume von Liszt und Lohengrin, zwischen Über allen Gipfeln ist Ruh und der Graalszeremonie im Parsifal besteht mehr als nur eine Verwandschaft.
C.H : Wohlgemerkt, dies mindert in nichts die Leistung Wagners; er hat die Synthese bewerkstelligt, die Elemente, die Liszt definiert hatte verstärkt, gar verzehnfacht.
A.C : Wenn gesagt wird, dass Liszt vor allem der Autor von ungarischen Rhapsodien ist, wird man sich dessen nur schwer bewusst. Von der Weimarer Periode an hat Liszt jedoch nicht mehr getan, um seine Lieder bekannt zu machen als zuvor.
C.H : Meinen Sie, dass nun Wagner diese hat begraben wollen? Stellen Sie sich bloss einen Lisztliederabend im Bayreuth des Jahres 1876 vor, als Prolog zur Schaffung des Ring.
A.C : Eher Cosima vielleicht: Sie hat beide lange überlebt und stets die musikalische Bedeutung ihres Vaters zu Gunsten derer ihres Gatten herabgemindert.
C.H : Da ist sicher was dran, doch so klar ist das nicht. Liszt als erster hat nicht viel dazu getan, sie bekanntzumachen.
A.C : Kurz, man könnte sagen, dass von einem Lied zum anderen ...
C.H : ... ein Lied, das ist ein Mikrokosmos, so wie eine kleine Szene aus einer Wagneroper ...
A.C : ... Liszt die Szene einer verborgenen Oper geschrieben hat, seinen eigenen Ring. Hört man sie, so kann man das Puzzle einer Oper rekonstruieren, die Liszt nie geschrieben hat, die er aber Wagner ermöglicht hat.
C.H : Immer wieder seine Selbstlosigkeit!
A.C : Letzten Endes machen Liszts Lieder begreiflich, wie man, einerseits von Schubert, andererseits von Donizetti, zu Wagner gelangt.
Quelle: Booklet. Übersetzung: Wolfgang Kukulies und Corona Schmiele
TRACKLIST FRANZ LISZT (1811-1886) LIEDER Gesamtausgabe - Intégrale - Complete recording Donna BROWN soprano Gabriele SCHRECKENBACH alto Ernst HAEFLIGER ténor Philippe HUTTENLOCHER baryton Guy de MEY ténor Cyril HUVÈ piano Erard 1850 COMPACT DISC 1 70'50" 01 Angiolin dal biondo crin Guy de Mey 4'05" 02 Sonetto del Petrarca n° 104 * Guy de Mey 6'15" 03 Sonetto del Petrarca n° 47 * Guy de Mey 4'50" 04 Sonetto del Petrarca n° 123 * Guy de Mey 4'50" 05 Il m'aimait tant! Donna Brown 5'20" 06 Im Rhein, im schönen Strome Ernst Haefliger 2'20" 07 Die Lorelei Gabriele Schreckenbach 5'40" 08 Nonnenwerth Philippe Huttenlocher 3'40" 09 Mignons Lied Gabriele Schreckenbach 7'25" 10 Comment, disaient-ils Donna Brown 2'40" 11 Bist du ! Ernst Haefliger 3'15" 12 Es war ein König in Thule Gabriele Sehreckenbach 3'30" 13 Der du von dem Himmel bist * Gabriele Schreckenbach 4'00" 14 Die Vätergruft Philippe Huttenlocher 7'10" 15 Du bist wie eine Blume Ernst Haefliger 2'20" 16 Was Liebe sei? Donna Brown 0'50" 17 Vergiftet sind meine Lieder Ernst Haefliger 1'25" * = 1. Fassung - 1re version - 1st version COMPACT DISC 2 71'25" 01 Oh! quand je dors Guy de Mey 3'50" 02 Enfant, si j'étais roi Guy de Mey 2'30" 03 S'il est un charmant gazon Donna Brown 3'35" 04 La tombe et la rose Guy de Mey 2'50" 05 Gastibelza Philippe Huttenlocher 7'30" 06 Morgens steh ich auf und frage Philippe Huttenlocher 2'00" 07 Die tote Nachtigall Donna Brown 4'15" 08 Freudvoll und leidvoll * Donna Brown 2'15" 09 Der Fischerknabe * Guy de Mey 3'25" 10 Der Hirt * Guy de Mey 4'10" 11 Der Alpenjäger * Guy de Mey 2'45" 12 Jeanne d'Arc au bûcher Gabriele Schreckenbach 7'25" 13 Es rauschen die Winde * Donna Brown 3'35" 14 Wo weilt er? Donna Brown 2'55" 15 Ich mächte hingehn Ernst Haefliger 7'55" l6 Wer nie sein Brot mit Tränen aß * Gabriele Schreckenbach 4'15" 17 Kling leise, mein Lied * Guy de Mey 5'15" * = 1. Fassung - 1re version - 1st version COMPACT DISC 3 72'08" 01 Hohe Liebe Ernst Haefliger 2'10" 02 Gestorben war ich Ernst Haefliger 2'10" 03 O lieb Ernst Haefliger 4'45" 04 Die Macht der Musik Donna Brown 10'00" 05 Le vieux vagabond Philippe Huttenlocher 6'40" 06 Schwebe, schwebe, blaues Auge Guy de Mey 2'40" 07 Über allen Gipfeln ist Ruh Gabriele Schreckenbach 3'40" 08 Ein Fichtenbaum steht einsam * Philippe Huttenlocher 3'20" 09 Ihr Auge Gabriele Schreckenbach 0'50" 10 Anfangs wollt ich fast verzagen Philippe Huttenlocher 1'50" 11 Wie singt die Lerche schön Donna Brown 2'15" 12 Es muß ein Wunderbares sein Gabriele Schreckenbach 1'40" 13 Kling leise, mein Lied ** Ernst Haefliger 4'35" 14 Ich liebe dich Ernst Haefliger 2'40" 15 Laßt mich ruhen Gabriele Schreckenbach 3'30" 16 In Liebeslust Ernst Haefliger 2'20" 17 Es rauschen die Winde ** Gabriele Schreckenbach 3'35" 18 Ich scheide Ernst Haefliger 5'10" 19 Blume und Duft Philippe Huttenlocher 2'25" 20 Ein Fichtenbaum steht einsam ** Gabriele Schreckenbach 2'25" 21 Ihr Glocken von Marling Gabriele Schreckenbach 2'30" ** = 2. Fassung - 2e version - 2nd version COMPACT DlSC 4 72'25" 01 Sonetto del Petrarca n° 47 ** Philippe Huttenlocher 5'05" 02 Sonetto dei Petrarca n° 104 ** Philippe Huttenlocher 4'45" 03 Sonetto del Petrarca n° 123 ** Philippe Huttenlocher 5'20" 04 Der Fischerknabe ** Donna Brown 3'30" 05 Der Hirt ** Donna Brown 3'45" 06 Der Alpenjäger ** Donna Brown 1'50" 07 Die drei Zigeuner Gabriele Schreckenbach 6'20" 08 Die stille Wasserrose Ernst Haefliger 3'10" 09 Freudvoll und leidvoll ** Donna Brown 3'05" 10 Wieder möcht' ich dir begegnen Donna Brown 3'30" 11 Jugendglück Donna Brown 1'50" 12 Der du von dem Himmel bist ** Gabriele Schreckenbach 3'20" 13 Wer nie sein Brot mit Tränen aß ** Philippe Huttenlocher 3'10" 14 Die Fischerstochter Philippe Huttenlocher 5'20" 15 La Perla Gabriele Sehreckenbach 4'50" 16 J'ai perdu ma force et ma vie Philippe Huttenlocher 4'10" 17 An Edlitam Philippe Huttenlocher 1'55" 18 Der Glückliche Ernst Haefliger 1'50" 19 Des Tages laute Stimmen schweigen Philippe Huttenlocher 4'30" ** = 2. Fassung - 2e version - 2nd version Aufnahmeleitung - Direction artistique de l'enregistrement - Recording supervision: Alain de Chambure - Alain Duchemin Tonmeister - Ingénieurs du son - Sound engineers: Monique Burguière - Alain Duchemin - Agnès Wargnier Schnitt - Montage musical - Editing: Jean-Michel Bernot - Christian Prévot - Patrick Henry Aufnahme - Enregistrement - Recording: Radio-France, novembre 1986 - avril-septembre 1987 Studios 106 et 107 - Maison de Radio-France, Paris.
Liebeserklärung an die Hauptstadt der Welt
Edouard Manet: Bar in den Folies-Bergère, 1881Edouard Manet: Bar in den Folies-Bergère, 1881, Öl auf Leinwand, 96 x 130 cm, Courtauld Institute of Art, London |
Auf die Marmortheke gestützt, blickt die junge Frau ruhig, etwas distanziert unter ihrem blonden Pony hervor. Vor ihr stehen Flaschen mit Champagner, englischem Pale Ale und Peppermint-Likör, dazwischen locken leuchtende Mandarinen und blasse Rosen im Glase. Auch die weiße Haut ihres Décolletés hat die Bardame mit Blumen geschmückt. Nur der breite Spiegel an der Hinterwand reflektiert das Umfeld: Er zeigt einen Herrn mit Zylinderhut, der dem Mädchen intensiv in die Augen schaut, und einen weiten Raum voller Menschen, Lichter, Bewegung und Glanz.
Mädchen und Bar gehören ins berühmte Pariser Vergnügungslokal Folies-Bergère. Kein anderes Theater, so schwärmte der alte Charlie Chaplin noch 1964 in seinen Memoiren, »strömte je so viel Zauber aus, mit seinen Vergoldungen, seinem Plüsch, den Spiegeln und großen Lüstern«. Chaplin trat Anfang dieses Jahrhunderts in dem Etablissement auf, in dessen »gemischtem Programm« aus leichter Musik, Ballett, Pantomime und Akrobatik. Auf dem Gemälde sind in der linken oberen Ecke gerade noch die grünbeschuhten Füßchen einer Trapezkünstlerin auszumachen.
Das Lokal lag in der Nähe des Boulevard Montmartre, im Zentrum von Paris, das damals bei seinen Einwohnern - und nicht nur bei ihnen - als die Hauptstadt der Welt galt. Um die Mitte des 19.Jahrhunderts war die französische Kapitale, deren Bevölkerung sich zwischen 1800 und 1900 vervierfachte, zum Symbol des Fortschritts in Wissenschaft, Kultur, Kunst, Industrie und Lebensqualität geworden. »Paris ist nicht mehr, wie andere Städte, ein Haufen von Menschen und Steinen«, behauptete ein recht stolzer Zeitgenosse, »es ist die Metropole der modernen Zivilisation.«
Eine schillernde Gesellschaft
Im vor Energie sprühenden Paris der siebziger und achtziger Jahre galten die Folies-Bergère als das modernste und aufregendste Lokal. Was auf der »Ausstellung der Elektrizität« 1881 als die neueste technische Erfindung vorgestellt wurde, war in den Folies- Bergere schon installiert: Helle elektrische Kugellampen strahlten neben dem vertrauten Gaslicht der Kronleuchter. Das Etablissement war im Zuge der modischen Anglomanie nach dem Vorbild des Londoner Alhambra-Theaters geplant und 1869 als erste französische Music-Hall - im Kontrast zu den volkstümlichen Café-chantants - eröffnet worden.
Seinen Namen verdankt das Unternehmen nicht etwa der Narrheit oder gar dem Wahnsinn (französisch folie), sondern der im 18. Jahrhundert geläufigen Bezeichnung für ein hinter Blättern (lateinisch folia) verstecktes Landhaus, in dem man sich zwanglos amüsieren konnte. Um es zu lokalisieren, wurde der wohlklingende Name der nahen Rue Bergère hinzugefügt.
Im Spiegel hinter der Bar ist der Balkon des Zuschauerraums zu sehen, auf dem sich die reservierten Logenplätze fürs elegante Publikum befanden. Die dort sitzenden, dunkel gekleideten Herren und die Damen mit langen Handschuhen und breit ausladenden Hüten scheinen sich mehr füreinander oder für die Zuschauer im Parkett zu interessieren als für die gerade laufende Trapeznummer. Vielleicht gehören die grünen Stiefeletten der amerikanischen Artistin Katarina Johns, die 1881 in den Folies-Bergère auftrat. Ihre Darbietung, in der typischen Mischung aus Waghalsigkeit, Erotik und Sex, lockte Einheimische und Touristen in Scharen an.
Die größte Attraktion des Lokals aber bildeten die Besucher selbst - eine quirlige Gesellschaft aus Bürgern, Dandys und auffallenden Halbweltdamen. Zwei dieser Frauen, mit denen er befreundet war, hat Manet auf seinem Bild in die Logen plaziert: die schöne Kokotte Méry Laurent im weißen Kleid und hinter ihr, in Beige, die Schauspielerin Jeanne de Marsy.
Die Gäste zogen es vor, zu promenieren: durch den Palmengarten im Erdgeschoß, hinauf über die weit ausladenden Treppen zum Promenadenrund. Künstler trieben hier ihre Studien, die Schriftsteller Guy de Maupassant und Joris-Karl Huysmans beschrieben die besondere Atmosphäre des Ortes. Wie Manet trugen sie bei zum Ruhm dieses Theaters, das, so ein begeisterter Zeitgenosse, »kein Theater war mit seinen zweitausend Männern, die alle tranken, rauchten und Späße machten, und der sieben- oder achthundert Frauen die sich selbst so vergnügt darboten, wie man es nur wünschen konnte«.
Auf Schminke kann Suzon noch leicht verzichten
Das Barmädchen hieß Suzon und arbeitete wirklich in den Folies-Bergère, als Manet sie zum Modellstehen in sein Atelier bestellte. Mehr ist über sie nicht bekannt. Sie trägt ein langes Mieder aus schwarzem Samt über grauem Rock, die Hausuniform der weiblichen Angestellten, die in dem Lokal bedienten. In seinem 1885 erschienenen Roman »Bel ami« schildert Guy de Maupassant »drei Bartheken ... , hinter denen, geschminkt und verwelkt, drei Verkäuferinnen thronten, die Getränke und Liebe feilboten«.
Manets Suzon unterscheidet sich von diesen Bardamen des naturalistischen Romanciers durch ihre distanzierte, abwartende Haltung - und durch ihren rosigen Teint, der auf Schminke noch verzichten kann. Offenbar war sie ein Mädchen aus einem der ländlichen Vororte, das in den Folies-Bergère, dank seiner Jugend und Frische, Anstellung gefunden hatte.
Mädchen wie Suzon traf man damals in den meisten Cafés und Restaurants der Hauptstadt an der Kasse oder hinter den Ladentischen der gerade erfundenen großen Warenhäuser, wo sie die Produkte der Pariser Luxusindustrie verkauften. Nach so einem Platz hinter der Theke strebte jede echte Pariserin, behauptete der Philosoph und Historiker Hippolyte Taine, weil er ihr die Gelegenheit biete, ihr ganz spezielles Talent zur Manipulation der Männer einzusetzen. Mit bescheidenen Mitteln stets elegant hergerichtet, kokett und schlagfertig trug diese Schar von arbeitenden Mädchen zur Attraktivität der Weltstadt Paris bei. Kassiererinnen, Bardamen und Verkäuferinnen wurden miserabel bezahlt, nicht wenige erlagen der Verführung, ihr Talent gewinnbringender einzusetzen. Sie gehörten dann zu den etwa 30 000 »verstohlenen« Pariser Prostituierten, die es vorzogen, außerhalb der Bordelle zu arbeiten, und die es verstanden, den Kunden, die sie für eine Nacht »aufrissen«, die Illusion eines einmaligen aufregenden Abenteuers zu bieten.
Die Folies-Bergère waren ein Pariser Hauptumschlagplatz für die gehobene Prostitution. Das breitgefächerte Angebot reichte von der Luxus-Halbweltdame Méry Laurent, Manets Freundin, die von einem amerikanischen Zahnarzt mit 15 000 Franc im Monat »unterstützt« wurde, bis hinab zur gewöhnlichen Kokotte, die am Anfang unseres Jahrhunderts vom jungen Charlie Chaplin für einen »petit moment« 20 Franc und den Preis der Kutschfahrt verlangte. Méry zeigte sich in der Loge, die Kokotten spazierten im Promenadenrund.
Mit ihren farbenprächtigen Toiletten und freigiebig zur Schau gestellten Reizen boten sie ein aufregendes Schauspiel. Die Touristen verbreiteten in ganz Europa den Ruf dieser typischen Pariserinnen, ihrer Schönheit und ihrer Künste. Die Folies-Bergère und die Kokotten, die es frequentierten, trugen nicht wenig bei zum Mythos der »Welthauptstadt«.
Der französische Romancier Huysmans schwärmte von den Folies-Bergère als einzigem Ort in Paris, »der so verführerisch nach der Schminke käuflicher Zärtlichkeiten stinkt«. Nostalgisch erinnert sich Charlie Chaplin in seinen Memoiren an die Damen, die dort arbeiteten: »In jenen Tagen waren sie so schön und von guten Manieren.« Frauen ohne Männerbegleitung durften das Lokal nur betreten, wenn sie im Besitz einer Karte waren, die der Direktor des Etablissements persönlich alle zwei Wochen an die schönsten, elegantesten und diskretesten Prostituierten ausgab.
Der Champagner wird warm - dem Bild zuliebe
Am liebsten tranken die Besucher der Folies-Bergère natürlich Champagner, mehrere Flaschen mit dem charakteristischen Verschluß aus Goldpapier stehen auf der Theke. Allein zehn verschiedene Champagnersorten (von 12 bis 15 Franc die Flasche) sind auf einer Weinkarte des Lokals aus dem Jahre 1878 aufgelistet, die zufällig erhalten ist. Unter der Rubrik »Grands Vins« folgen dann noch Mumm, Heidsieck und Pommery extra-dry zu 18 Franc. »Glaces, sorbets et boissons américaines« werden pauschal angeboten. Zu diesen »amerikanischen Getränken« zählte man wohl das (englische) Pale Ale und den Peppermintlikör. Flaschen mit diesen Spezialitäten zeigt Manet nebst einem nicht identifizierbaren roten Getränk auf der Marmortheke. Er hat sie wohl wegen ihrer leuchtenden Farben ausgewählt.
Der Maler war nicht so sehr an einer genauen Wiedergabe der Bartheke interessiert - sonst müßte, zum Beispiel, der Champagner kalt stehen - wie an einem bestimmten malerischen Effekt. Deswegen hat er auch für sein Gemälde Elemente miteinander kombiniert, die sich in ganz verschiedenen Ecken der Folies-Bergère befanden: Die drei Bars standen im künstlichen Garten zur ebenen Erde, sie sollen weder einen Blick auf Zuschauerraum und Balkon noch auf dessen Spiegelung erlaubt haben. Auch stammt das fahle Tageslicht, in das Manet die Szene taucht, kaum von den funkelnden Lüstern oder den hell strahlenden elektrischen Leuchten, sondern aus dem Atelier des Malers. Dort ist das Gemälde entstanden. Manet hatte in den Folies-Bergère nur einige Bleistiftskizzen gemacht und dann alles im Atelier aufgebaut.
Manet stand der künstlerischen Bewegung des Realismus nahe; wie die Schriftsteller Emile Zola und Guy de Maupassant wollte er zeigen, was er sah, den Alltag seiner Zeit objektiv darstellen. Immer wieder erregte er Anstoß mit seinen Szenen aus Pariser Cafés und Straßen, während Kritiker und Publikum die akademischen Maler feierten, die »erhabene« Gemälde aus der Antike präsentierten: Die erfolgreichsten Werke aus der Entstehungszeit der »Bar in den Folies-Bergère« hießen 1880 »Odysseus und Telemach erkennen sich wieder« und 1881 »Der Zorn des Achilles«. Manet blieb der Erfolg versagt, man schalt seine Gemälde trivial, häßlich, mit einem Wort: realistisch. Und doch, meinte Manets Freund Jacques-Emile Blanche, sei es ja so, »daß Manet kein realistischer Maler, sondern ein klassischer Maler ist; sobald er einen Tupfer Farbe auf eine Leinwand gesetzt hat, denkt er immer mehr an Bilder als an die Natur«. Ein junger Maler, der Manet 1882 bei der Arbeit im Atelier an der »Bar« zuschauen durfte, bemerkte ebenfalls: »Manet kopierte, obwohl er mit Modellen arbeitete, keineswegs die Natur; ich wurde seiner meisterlichen Vereinfachung gewahr ... Alles war abgekürzt.«
Edouard Manet: Studie der Bardame für Bar in den Folies-Bergère, Pastell, Musée des Beaux-Arts de Dijon |
Fast alles ist nur Schein und Illusion
Das Spiegelbild bringt es ans Licht: Auch die scheinbar so isoliert dastehende Bardame im Vergnügungspalast wird in Wahrheit bedrängt von einem Herrn, der ihr mit begehrlichem Blick nahetritt. Er gehört mit seinem Zylinder als Dandy, als Boulevardier und Lebemann genauso wie die verführerische Pariserin zum stereotypen Personal des Pariser Nachtlebens.
Manet vermittelt dem Betrachter seines Gemäldes das seltsame Gefühl, als gehöre er auch dazu, als stehe er selbst mitten in den Folies-Bergère und erblicke im Dandy sein eigenes Spiegelbild - das gelingt dank eines Kunstgriffs. Ganz bewußt mißachtet der Maler hier die Regeln der Perspektive und der Optik, er malt die Reflexion so, als hinge der Spiegel iin Hintergrund der Bar schräg. Dabei ist er sichtbar gerade angebracht, der Rahmen verläuft parallel zum Marmortresen. So müßte normalerweise die fast frontal stehende Suzon selbst ihre Rückenansicht verdecken, und den Kunden könnte man nur erblicken, wenn er zwischen der Bar und dem Betrachter des Bildes stünde. Über die Hälfte der gesamten Bildfläche nimmt der breite Hintergrundspiegel ein, so daß außer der lebendigen, realen Suzon fast alles auf dem Gemälde nur Schein ist, Reflex, Illusion - passend zu einer Darstellung des Nachtlebens und seiner mannigfaltigen Verführungen.
Edouard Manet: Studie für Bar in den Folies-Bergère, 1881 |
Manet hat seine Geburtsstadt stets nur kurz und ungern verlassen. Als seine Malerfreunde in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre aufs Land zogen, um dort die Plein-Air-Malerei zu studieren, blieb er in der Kapitale, flanierte am Nachmittag über die Boulevards, frequentierte die modischen Cafés und schaute am Abend - ein Dandy in eleganter Kleidung mit Stöckchen und schwarzem Seidenzylinder - vorbei in den Folies-Bergére.
»Das Leben unserer Stadt« schrieb Manets Freund, der Dichter Charles Baudelaire, »... ist reich an poetischen und zauberischen Themen. Der Maler, der wahre Maler, auf den wir warten, wird der sein, der die epische Qualität des Lebeus von heute erfaßt und uns mit Pinsel oder Bleistift dazu bringt, zu sehen und zu verstehen, wie groß und poetisch wir sind, mit unseren Krawatten und Lackschuhen«. Genau dies ist Manet in seinem letzten großen Werk gelungen, mit dem er sich von den Vergnügungen des Pariser Lebens verabschiedet, die ihm so viel bedeutet haben: Er hat ein Barmädchen in seiner Arbeitskleidung und seiner trivialen Umgebung so gemalt, daß Kritiker in ihm eine »mythische, zutiefst französische Hohepriesterin« erkennen konnten, ein Symbol der Isolation des Individuums oder die unsterbliche Schwester antiker Götter.
Quelle: Rose-Marie und Rainer Hagen: Bildbefragungen. Alte Meister im Detail. Taschen, Köln 1994, ISBN 3-8228-9611-X, Seite 164 bis 169
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