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10. Dezember 2012

Alma Mahler-Werfel (1879-1964): Sämtliche Lieder

»Schön ist sie - das ist unangenehm. Klavier spielt sie famos - das verdrießt. Und componieren thuts auch - das ist doch rein zum aus der Haut fahren.«

Bertha Zuckerkandl beschreibt so in gespielter Empörung eines der umworbensten Mädchen der Wiener Künstler-Salons, die junge Alma Maria Schindler, die sich diese Bemerkung am 16.III.1900 recht zufrieden in ihrem Tagebuch notiert. Sie fiel im Lauf eines geselligen Abends, an dem sich, wie so oft, die fortschrittlichen Künstler, Denker und Musiker des Wiens der Jahrhundertwende im Salon ihrer Eltern versammelt haben. Alma ist die Tochter des berühmten, 1892 verstorbenen Wiener Malers Emil Jakob Schindler. Ihre Mutter ist in zweiter Ehe mit Carl Moll, einem Gründungsmitglied der Wiener Secession, verheiratet. Joseph Olbrich, Josef Hoffmann und Koloman Moser beispielsweise gehen in ihrem Elternhaus ein und aus, Gustav Klimt und Max Burckhard gehören zu ihrem Verehrerkreis.

»Es war so fesch wie selten«, resumiert Alma, die an diesem Abend ganz in ihrem Element ist, vor allem, als einer der Gäste, der belgische Maler Fernand Khnopff ihr vorschlägt, ein von ihm verfaßtes Gedicht »in Musik zu setzen«. Alle wissen, daß Alma vorzugsweise Lieder komponiert, die sie bei solchen geselligen Anlässen auch gerne vorstellt, und ihre Kompositionstätigkeit sehr ernst nimmt. Sie hat regelmäßig Unterricht bei dem bekannten Organisten Josef Labor und wünscht sich nichts sehnlicher, als selber eine bedeutende Künstlerin zu werden:

»Ich möchte eine große That thun. Möchte eine wirklich gute Oper componieren, was bei Frauen wohl noch nie der Fall war. Ja, das möchte ich. Mit einem Wort, ich möchte etwas sein und werden, und das ist unmöglich - & Warum? Mir fehlte die Begabung nicht, mir - fehlt nur der Ernst, der immer nothwendig ist, bei jedem Streben, bei jeder Kunst. - Ach Gott, gib mir irgend eine Pflicht, gib mir etwas Großes zu thun!! Gib mir das Glück!« (9.II.1898)

Das ist nicht der einzige Widerspruch, in dem sich Alma erlebt. An anderen Tagen hadert sie mit sich ganz im Sinne des tradierten Rollenverständnisses:

»Labor. Ich spielte ihm heute alle 8 Lieder vor, und er sagte: ›Das ist aller Ehren wert … für ein Mädel.‹

Ja, es ist ein Fluch, Mädel zu sein, man kann über seine Grenzen nicht hinaus. Im Übrigen gefielen sie ihm aber […]« (17.I.1899)

Weder im Kontrapunkt noch in der Instrumentierung fühlt Alma sich zu diesem Zeitpunkt sicher, mit ihren Sonaten, Etüden und Fugen ist sie häufig unzufrieden und nimmt sich vor, ihre Studien zu intensivieren. Ihr Medium sind Lieder, bei denen sie ihre musikalischen Einfälle mit ihrem pianistischen Können und ihrem literarischen Interesse verbinden kann. Sie ist sehr produktiv und legt ihrem Lehrer Labor von Woche zu Woche mehrere Lieder vor. »Nichts gleicht der Freude, wenn ich mir mein eben fertig gewordenes Lied vorspiele. Ich spiele es immer und immer wieder und fühle mein Eigenes mir entgegenklingen.« (24.I.1899)

Ihre Tagebuchnotizen geben über diese Lieder allerdings nur allgemeinen Aufschluß: Mal spricht sie von Liedern ohne Titel, dann wieder vermerkt sie Gedichte, deren Vertonung sie nie veröffentlichte und deren Manuskripte nicht vorliegen. Selten findet man so genaue Angaben wie am 7.I.1899, an dem das letzte der Fünf Lieder entstand:

»Componierte eben in 5° ein kleines Liederl. ›Ich wandle unter Blumen […]‹ Obs gut ist, weiß ich nicht. Nur weiß ich, Liebesleidenschaft ist genug drin. Das ganze ist ein cromatischer Lauf! Verrückt ist's - ob das dem Labor nicht einen geringen Schreck einjagen wird. -«

Und am 16.VI.1900 findet man in Almas Tagebüchern die Bemerkung, daß sie »ziemlich viel componiert« habe, »2 Gesänge. Texte von Richard Dehmel und Rainer Maria Rilke. Halb Lied, halb Sprache, halb Choral - eine ganz eigenthümliche Kunstgattung, die ich mir da zusammen gearbeitet habe.«

Bei der hier genannten Dehmel-Vertonung kann es sich durchaus um das Lied »Lobgesang«, das vierte Lied der Fünf Gesänge handeln, denn bei der Wiederaufnahme des Unterrichts bei Joseph Labor nach der Sommerpause schreibt sie: »Erste Laborstunde. […] Der ›Lobgesang‹ und mein ›Engelsgesang‹ gefielen ihm.« (25.IX.1900)

Allerdings hat Alma inzwischen eine Bekanntschaft gemacht, die sie allmählich von ihrem alten Lehrer entfernt: Alexander von Zemlinsky, der in ihren Liedern »sehr viel Talent doch wenig Können« vorfindet. »Er bat mich, die Sache ernst zu nehmen, es sei jammerschade um mich - […]« (23.IV.1900)

Almas Unterricht bei Zemlinsky beginnt im Herbst 1900, und auch ihm spielt sie die beiden Lieder ›Lobgesang‹ und ›Engelsgesang‹ vor, doch Zemlinsky reagiert ganz anders als Labor: »Er war durchaus unzufrieden. - Stimmung verfehlt - und er erklärte mir warum. Es war so ungemein interessant, er hatte in allem so recht, dass ich ganz beglückt bin und war.«

Ob sich Zemlinskys Kritik nur auf den ›Engelsgesang‹ bezieht, oder ob Alma den ›Lobgesang‹ unter seiner Anleitung umarbeitet, hat sie nicht in ihrem Tagebuch festgehalten. Sicher ist, daß sie sich innerlich von Labor distanziert und Zemlinsky für wesentlich kompetenter im Bereich des »modernen Liedes« hält. »Zemlinsky zeigte mir, mit raschem Geiste den Gang des Gedichtes erfassend, warum ich gefehlt. […] Und Zemlinsky ist mir einer der sympathischsten Menschen, den ich kenne. -«

Alma studiert und komponiert mit neuem Eifer. Die meisten ihrer später veröffentlichten Lieder entstehen vermutlich in dieser Zeit der Arbeit mit Zemlinsky, der ihr Talent ernst nimmt und kritisch färdert. Alma empfindet die Stunden bei Zemlinsky wie ein »Mineralbad. Prickelnd, erfrischend, wohlthuend. […] Ein famoser Kerl. ich will fest weiterarbeiten.« (27.XII.1900)

Von Zemlinsky lernt sie, in Oper und Konzert neu zu hören, seine Schüler (wie Schönberg) bilden den Kreis der musikalischen Wiener Avantgarde, Alma fühlt sich auf dem richtigen Weg. »Ich habe gestern abend noch wie rasend componiert - ›Ekstase‹ - Bierbaum. Es floß mir nur so vom Herzen weg.« (24.III.1901)

Gustav Klimt: Dame mit Hut und Federboa,
1909, Österreichische Galerie, Wien
Allerdings wandelt sich ihre Begeisterung und Bewunderung für den Lehrer und Musiker Zemlinsky mit der ihr eigenen Intensität bald in eine zwar nicht konfliktfreie, aber durchaus leidenschaftliche heimliche Liebesbeziehung. Die Unterrichtsstunden nehmen dadurch besondere Formen an:

»Ach wie schön wars heute. Wir haben gearbeitet - uns geküsst - wieder gearbeitet - uns wieder geküsst - u. so. f. […] Ich bin fest entschlossen, ihn zu heirathen … Ich sehne mich namenlos zu ihm hin. […] Ich habe nie gewußt, dass ich so lieb haben könne.« (18.X.1901)

Alma fühlt sich geliebt, begehrt und mit ihrer Musik ernst genommen. »[…] mein ganzes Denken concentriert sich auf diesen einen Menschen, auf diesen einen kleinen, hässlichen, süßen Menschen. […] Er spielte mein Lied ›In meines Vaters Garten‹ mit einer solchen Schönheit, wie ich es nie spielen kann.« (2.XI.1901)

Doch Almas Gefühle sind wechselhaft, und ihre Ansprüche an das Leben auch von anderen Erwartungen geprägt. Immer wieder vertraut sie dem Tagebuch ihre Bedenken an, daß Zemlinsky weder reich noch schön genug für sie ist - und läßt ihn das auch fühlen. Ihre Familie und Freunde machen sich über die Idee einer Heirat lustig - Zemlinsky gilt nicht als angemessener Kandidat für die schöne umworbene Alma.

Aus diesem Konflikt enthebt sie die Begegnung mit Gustav Mahler im Salon der zitierten Bertha Zuckerkandl im November 1901, der ihr schon bald einen Heiratsantrag macht. Alma nimmt diesen Antrag an, obwohl Mahler ihr darlegt, daß er sich eine Ehe mit ihr nur vorstellen kann, wenn sie ihre Kompositionstätigkeit für ihn und seine Musik aufgibt. Sie erfährt davon in einem Brief Mahlers am 20.XII.1901, nach dem sie sich fühlt, als habe man ihr »mit kalter Faust das Herz aus der Brust genommen«. »Es hätte ja kommen können, von allein … ganz sachte … Aber einen ewigen Stachel wird das zurücklassen …«

Alma mit Gustav
Damit scheint die Krise nur kurz zu sein, denn schon am nächsten Tag schreibt sie: »Wie wärs, wenn ich ihm zu Liebe verzichten würde? Auf das, was gewesen! […] Ja - er hat recht. Ich muss ihm ganz leben, damit er glücklich wird.«

Doch Alma Schindler-Mahler-Werfel hat an dieser Entscheidung später oft gezweifelt. »Ich freu' mich unendlich mit meinen Liedern.« hatte sie ihrem Tagebuch noch am 9.XI.1901 anvertraut, und nach dieser Freude sehnte sie sich immer wieder zurück. Obwohl sie sich später auch innerhalb ihrer Ehe viele Freiheiten genommen hat, scheint Alma jahrelang wirklich nicht mehr komponiert zu haben. Gustav Mahler beschäftigte sich erst 1910 wieder mit den Liedern seiner Frau, bedauerte die Grundsätzlichkeit seiner Forderung und veröffentlichte eine Auswahl von fünf 1900/1901 entstandenen Liedern. Zwei weitere frühe und zwei 1910/11 auf Mahlers Anregung hin entstandene Lieder Almas wurden 1915 veröffentlicht. Die Gruppe der 1924 erschienenen Fünf Gesänge enthält die erwähnten frühen Lieder »Lobgesang« und »Ekstase«. »Der Erkennende« und vermutlich auch »Hymne« wurden 1915 komponiert. Weitere Kompositionen hat Alma nicht veröffentlicht oder erwähnt. Es scheint, als sei ihre Kompositionstätigkeit trotz der späten Förderung ihres Mannes und auch nach seinem Tod 1911 zu einem Ende gekommen, und nichts mehr von der Begeisterung geblieben, die sie als junges Mädchen auf eine große Oper hoffen ließ.

Alexander Zemlinsky
Alexander von Zemlinsky (1872-1942): Lieder op. 7

Alexander von Zemlinsky muß von Alma Schindler schon nach den ersten Begegnungen im Februar 1900 beeindruckt gewesen sein, denn als er sie im März bei einer großen Abendgesellschaft wiedertrifft, begrüßt er sie mit den Worten, er habe sich »in den letzten Tagen musikalisch viel« mit ihr »unterhalten«. Zunächst aber hat er keine Gelegenheit zu einem weiteren Gespräch, da Alma wieder einmal der Mittelpunkt des Geschehens ist:

»[…] - es scharten sich die Männer um mich wie die Mücke um die Lampe. Und ich fühlte mich so recht als Königin. War unnahbar und stolz, sprach mit jedem 3 kühle Worte. […] Unzählige ließen sich mir vorstellen - es war ein wirklicher Triumph.«

Es ist das Lied »Irmelin Rose«, das sehr deutlich an das Auftreten Almas erinnert, und das Zemlinsky offensichtlich schon komponiert hat, als er sich an Alma wendet:

»›Fräulein, ich möchte Sie etwas fragen - es handelt sich um etwas sehr ernstes für mich. Ich möchte Ihnen ein Lied widmen - oder nein ich will mehr thun - es kommt jetzt ein Heft Lieder heraus. Darf ich Ihnen die widmen? Würden Sie so lieb sein, sie anzunehmen?‹

Ich war starr vor Freude. Mit einer solchen Bescheidenheit eine solche Bitte aussprechen! Ich gab ihm die Hand. Es freut mich innig. […] Er ist ein lieber Kerl und gefällt mir unendlich. - Hässlich ist er bis zum Wahnsinn!« (10.III.1900)

Zemlinskys Lieder op. 7 erscheinen im Herbst 1901 mit der Widmung an Alma Maria Schindler, obwohl ihr widersprüchliches Verhalten ihn oft verletzt und er sogar erwägt, die Widmung zurückzuziehen. Aber Alma versteht es immer wieder, Zemlinsky an sich zu binden. So streng er sie als Lehrer korrigiert, so wenig kann er ihrer Schönheit und ihrem Charme widerstehen. »›Viel zu viel bist Du mir - viel zu viel. -‹« zitiert Alma ihn in ihrem Tagebuch (2.V.1901) und hält damit die Intensität seiner Gefühle für seine Schülerin fest, die auch in sein Leben als »Irmelin Rose« getreten ist. »Abends im Tonkünstlerverein. U.a.: Lieder vom Zemlinsky. Er begleitete. […] Das eine Lied, Irmelin Rose, was mir gehört, ließ er 2 mal singen.« (8.III.1901)

Quelle: Juliane Wandel, im Booklet

TRACKLIST

Alma Mahler-Werfel (1879-1964)     

Complete Songs     

     Fünf Lieder                                    14'47   

(01) Die stille Stadt (Richard Dehmel) (2)               3'08   
(02) In meines Vaters Garten (Otto Erich Hartleben) (2)  5'49   
(03) Laue Sammernacht (Gustav Falke) (2)                 2'32   
(04) Bei dir ist es traut (Rainer Maria Rilke) (2)       2'09   
(05) Ich wandle unter Blumen (Heinrich Heine) (3)        1'09   
     
     Vier Lieder                                    13'32   

(06) Licht in der Nacht (Otto Julius Bierbaum) (2)       3'47   
(07) Waldseligkeit (Richard Dehmel) (1)                  2'41   
(08) Ansturm (Richard Dehmel) (3)                        1'47   
(09) Erntelied (Gustav Falke) (1)                        5'17   
     
     Fünf Gesänge                                   19'56   
(10) Hymne (Novalis) (1)                                 5'53   
(11) Ekstase (Olta Julius Bierbaum) (3)                  3'03   
(12) Der Erkennende (Franz Werfel) (3)                   3'23   
(13) Lobgesang (Richard Dehmel) (3)                      3'42   
(14) Hymne an die Nacht (Novalis) (1)                    3'55   

Alexander Zemlinsky (1871-1942) 

     Songs op. 7                                    10'26

(15) Da waren zwei Kinder (Christian Morgenstern) (2)    1'45
(16) Entbietung (Richard Dehmel) (3)                     1'52
(17) Meeraugen (Richard Dehmel) (1)                      2'40 
(18) Irmelin Rose (Jens Peter Jacobsen) (3)              3'06
(19) Sonntag (Paul Wertheimer) (1)                       1'03 


Ruth Ziesak, Soprano (1)
Iris Vermillion, Mezzo-soprano (2) 
Christian Elsner, Tenor (3) 
Cord Garben, Piano 

Recording: 12 - 14 August 1996, Musikstudio 3 des SR
Recording Supervisor and Editing: Helmut Fackler
Recording Engineer: Erich Heigold
Executive Producers: Burkhard Schmilgun, Helmut Fackler
Cover Painting: Gustav Klimt, "Dame mit Hut und Federboa", 1909,
Österreichische Galerie, Wien
DDD (P) 1997, 
*

Track 10: Fünf Gesänge I. Hymne (Novalis)


Hymne
(Novalis)

Wenige wissen das Geheimnis der Liebe,
fühlen Unersättlichkeit und ewigen Durst.
Des Abendmahls göttliche Bedeutung
ist den irdischen Sinnen Rätsel.
Aber wer jemals von heißen geliebten Lippen
Atem des Lebens sog, wem heilige Glut
in zitternde Wellen das Herz schmolz,
wem das Auge aufging, daß er des Himmels
unergründliche Tiefe maß,
wird essen von seinem Leibe und trinken
von seinem Blute ewiglich.
Wer hat des irdischen Leibes
hohen Sinn erraten?
Wer kann sagen, daß er das Blut versteht?
Einst ist alles Leib, ein Leib,
im himmlischen Blute schwimmt das selige Paar.
O, daß das Weltmeer schon errötete
und in duftiges Fleisch aufquelle der Fels!
Nie endet das süße Mahl, nie sättigt
die Liebe sich. Nicht innig, nicht eigen genug
kann sie haben den Geliebten.
Von immer zärteren Lippen verwandelt
wird das Genossene, inniglicher und näher,
heißere Wollust durchbebt die Seele,
durstiger und hungriger wird das Herz,
und so währet der Liebe Genuß
von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Plakatentwurf von Alfred Roller,
Katalog zur XIV. Ausstellung
Gustav Klimt: Beethovenfries


"Aber hier hört der Spaß auf, und ein brennender Zorn erfaßt jeden Menschen, der noch einen Rest von Anstandsgefühl hat. Was soll man zu dieser gemalten Pornographie sagen? ... Für ein unterirdisches Local, in dem heidnische Orgien gefeiert werden, mögen diese Malereien passen, für Säle, zu deren Besichtigung die Künstler ehrbare Frauen und junge Mädchen einzuladen sich erkühnen, nicht."

S. G., 22. April 1902, zitiert nach: Hermann Bahr, Gegen Klimt, 1903, S. 70

"Im linken Seitenschiff hat Gustav Klimt ein entzückendes Friesgemälde geschaffen, so voll seiner kühnen, selbstherrlichen Persönlichkeit, daß man sich zurückhalten muß, um dieses Gemälde nicht sein Hauptwerk zu nennen,"

Ludwig Hevesi, Acht Jahre Secession, 1906, S. 392-393

Diese extrem entgegengesetzten Kommentare galten dem Beethovenfries von Gustav Klimt, der sich als Teil der im April 1902 eröffneten Beethovenausstellung der Wiener Secession dem staunenden Publikum offenbarte. Beide Zitate - nur ein Griff aus der Flut an gedruckten Kritiken - stehen für die Polarität zwischen positiver und negativer Wertschätzung, die Klimt von seinen Zeitgenossen erfahren hat. Der Ton dieser Wortmeldungen verrät gleichzeitig, dass die Diskussion um die Person und um den Künstler Gustav Klimt damals in eine sehr emotionale Phase geraten war. Das Schicksal dieser heute weltberühmten Künstlerpersönlichkeit wiederum war auf das Engste mit der Wiener Secession verbunden. Das Gebäude dieser Vereinigung war die Arena, in der sich der Kampf um die Anerkennung der Kunst Gustav Klimts und seiner Zeitgenossen abspielte; gleichzeitig präsentierte es sich als Tempel, in dem den Unwissenden die höchsten Offenbarungen zuteil wurden.

Nirgends wird diese Janusköpfigkeit so manifest wie in der Beethovenausstellung, die im Brennpunkt der frühen Geschichte der Secession stand. Ohne diese Gemeinschaftsarbeit, in der die Ideale der jungen Vereinigung ihren wohl konsequentesten Niederschlag fanden, wäre der Beethovenfries nicht denkbar gewesen. Für Klimts künstlerische Entwicklung war die Teilnahme an diesem ehrgeizigen Projekt von entscheidender Bedeutung.

Der Hauptraum in der XIV. Ausstellung mit Max Klingers
Beethovenstatue, im Hintergrund Alfred Rollers
 Die sinkende Nacht 1902
Die Beethovenausstellung - Konzept und Kultobjekt

Im Sommer 1901 - so Ernst Stöhr in seiner Einleitung im Katalog zur Beethovenausstellung - fasste die Vereinigung den Entschluss zu einer "Veranstaltung anderer Art", die die gewohnten Ausstellungen ablösen sollte. Hatten die Wiener Künstler bisher beispielhafte Einrichtungen geschaffen, die eine optimale Präsentation ihrer eigenen Arbeiten sowie jener ihrer ausländischen Kollegen ermöglicht hatten, so wollten sie diesmal einen großen Schritt weiter gehen: "Der Sehnsucht nach einer großen Aufgabe entsprang der Gedanke, im eigenen Haus das zu wagen, was unsere Zeit dem Schaffensdrang der Künstler vorenthält: die zielbewusste Ausstattung eines Innenraumes." Die Secessionisten wollten ihre Auffassungen einer modernen Monumentalkunst modellhaft vorführen, wobei ihnen am Arbeitsprozess sehr viel gelegen war: Gemeinsam wollten sie "lernen". Im Hintergrund des Unternehmens standen die damals europaweiten Bestrebungen, die - bei allen unterschiedlichen Voraussetzungen - eines gemeinsam hatten: die Wiederherstellung des verlorengeglaubten Zusammenhangs zwischen Architektur, Malerei und Skulptur. Längst vergessene Techniken und weit zurückliegende Stilformen wurden studiert; es wurden jene Epochen idealisiert, in denen die Einheit von Kunst, Religion und Gesellschaft noch als ungebrochen galt. So orientierten sich die Secessionisten laut Katalog an der "Tempelkunst", dem "Höchsten und Besten, was die Menschen zu allen Zeiten bieten konnten". Was wäre aber eine Tempelkunst ohne ein alles dominierendes Kultobjekt? Hier ergab sich für die Secessionskünstler der Idealfall schlechthin: Die Beethovenfigur ihres verehrten Leipziger Kollegen Max Klinger näherte sich der Vollendung - und wurde von der Kunstwelt schon voller Spannung erwartet. "Diese eine Hoffnung, der ernsten und herrlichen Huldigung, die Klinger dem großen Beethoven in seinem Denkmale darbringt, eine würdige Umrahmung zu schaffen, genügte, jene Arbeitsfreude zu erzeugen, die trotz des Bewusstseins, dass man nur für wenige Tage schaffe, dauernde Hingabe ins Leben rief." - so Ernst Stöhr im Katalog. Während einer intimen Vorfeier, zu der natürlich auch Klinger geladen war (der sich tief gerührt zeigte), wurde die Ausstellung unter den Klängen einer kleinen Bläserbesetzung eingeweiht; Gustav Mahler dirigierte die von ihm arrangierte Fassung eines Motivs aus dem Schlusschor der Neunten Symphonie von Beethoven. Auf diesen stimmungsvollen Anfang folgte die erregte Anteilnahme der Öffentlichkeit. Die Beethovenausstellung wurde einer der größten Publikumserfolge der Secession; innerhalb von drei Monaten wurden fast 60.000 Besucher gezählt. Im Mittelpunkt der zahllosen in- und ausländischen Kritiken standen der Beethovenfries von Gustav Klimt und die Beethovenfigur von Max Klinger, die die gesamte Ausstellungsprogrammatik bestimmt hatte.

Blick vom linken Seitensaal der XIV. Ausstellung mit dem
Beethovenfries von Gustav Klimt auf Max Klingers Beethoven
Der Hauptgedanke dieser monumentalen, vielfarbigen Plastik geht auf eine im 19. Jahrhundert zentrale Idee vom Künstler als Erlöser und Befreier der Menschheit zurück. Als Prototyp des einsam kämpfenden, für die Menschheit leidenden Künstlergenies galt Ludwig van Beethoven; die Verehrung für diesen Komponisten hatte um die Jahrhundertwende geradezu kultische Ausmaße angenommen. Nur in diesem Licht kann man Klingers plastisches Gesamtkunstwerk und die Reaktionen der Zeitgenossen auf dessen erste, sensationelle Präsentation verstehen. In der vorgebeugten, halbnackten Gestalt mit der geballten Faust, dem konzentrierten Gesichtsausdruck und dem ins Unendliche gerichteten Blick sah man einen neuen, idealen Menschentypus. Man bewunderte den "seelischen Heroismus", man schwärmte von der Hoffnung auf eine neue Zeit. Die auf Wolken thronende Gestalt mit dem Adler zu Füßen erscheint als Kombination von Zeus und Messias, mit den Gesichtszügen Beethovens; auf diese Weise symbolisierte Klinger seine Vorstellungen einer idealen Synthese zwischen Christentum und Antike.

Verwirklichung

Die Beethovenausstellung war nicht nur eine Antwort auf diese Ideenwelt, sondern auch auf die in der Beethovenfigur demonstrierte Material- und Farbenvielfalt (Marmor, Bronze, Halbedelsteine, etc.). In diesem Sinne experimentierte die Gruppe von 21 Künstlern mit einer bunten Vielfalt an ihnen bis dahin nicht geläufigen Materialien und Techniken in unorthodoxen Kombinationen. Zur Programmatik gehörte die "selbstverständliche Pflicht, durchwegs echtes Material zur Anwendung zu bringen, den Schein und die Lüge energisch zu vermeiden" (Katalog zur XlV. Ausstellung). Fast stolz berichtet der Katalog von der "Beschränktheit der verfügbaren Mittel". Von Josef Hoffmann, dem künstlerischen Gesamtleiter des Projekts, stammte die Innenarchitektur.

In dem dreischiffigen Sakralraum der Secession ergab sich die architektonische Gliederung durch den Wechsel von rauen und glatten Putzflächen. Die Funktion der Säle wurde durch ihre Ausstattung offenbar. Der helle Hauptsaal, in dessen Mitte Klingers "Beethoven" thronte, diente der Apotheose des Künstlergenies. In der Blickrichtung Beethovens befand sich an der Stirnwand Adolf Böhms Dekoration Der werdende Tag, die hintere Wand zeigte Die sinkende Nacht von Alfred Roller. Die etwas gedämpfter beleuchteten Seitenräume standen im Zeichen von Leiden und Erlösung, von Kampf und Überwindung; in den Wandmalereien herrschten die Dramatik und Dynamik der Erzählung vor, gefasst in der horizontalen Bewegung. Der im Katalog vorgeschriebenen Gehrichtung folgend, gelangte der Besucher zunächst in den linken Seitensaal, wo er mit Klimts Beethovenfries konfrontiert wurde; gleichzeitig wurde ihm durch die breiten Wandöffnungen schon ein Blick auf die Kultfigur gewährt. Nach der Begegnung mit dem göttlichen Genie begab sich der Besucher im rechten Seitensaal zum Ausgang, vorbei an den Wandmalereien Mannesmut und Kampfesfreude von Ferdinand Andri und Freude schöner Götterfunke von Josef Maria Auchentaller. Thematisch begleitet wurden die friesartigen Wandmalereien beider Seitensäle von quadratischen Schmuckplatten mehrerer Künstler, die sich in regelmäßiger Reihung im unteren Wandbereich befanden. Trotz der materiellen und künstlerischen Vielfalt wurde die Maxime der einheitlichen Wirkung konsequent eingehalten. Die Dekorationen wurden mit Reliefs von stilisierten Monogrammen versehen, die im Katalog aufgeschlüsselt wurden. Dieses kleine, quadratische Buch - ein wesentlicher Teil des Gesamtkunstwerks - enthielt außerdem Originalholzschnitte vieler Künstler, ein Novum für die Secession. Alfred Rollers Ausstellungsplakat zeigt das rhythmisch wiederholte Motiv seiner Dekoration Die sinkende Nacht: die ornamental stilisierte, vorgebeugte Engelsgestalt mit der goldenen Scheibe in der Hand, umgeben von Sternen.

Die Beethovenausstellung dauerte nur wenige Monate, aber für die Beteiligten waren die durch dieses Projekt gewonnenen Erfahrungen von bleibendem Wert. Historisch gesehen lag die Beethovenausstellung im Vorfeld aufregender Entwicklungen, die durch sie wahrscheinlich beschleunigt wurden. Nach 1902 zeichnete sich die zunehmende Polarisierung zwischen "Naturalisten" und "Stilisten" ab; schließlich traten die letztgenannten 1905 als "Klimt-Gruppe" aus der Secession aus. Ein Jahr nach der Beethovenausstellung wurde die Wiener Werkstätte gegründet, die das Zusammenwirken der Künste auf professioneller Basis weiterführte. Große Gemeinschaftsprojekte wie die "Kirche am Steinhof" oder das "Palais Stoclet" schlossen an die erstmals in der Beethovenausstellung erprobte Form der Zusammenarbeit an. Was nicht mehr wiederholbar war, war der Idealismus, durch den dieses einmalige Experiment getragen war.

Der Beethovenfries als "dekoratives Prinzip"

Strategisch gesehen kam dem linken Seitensaal, in dem der Besucher erstmals von weitem mit dem "Allerheiligsten" konfrontiert wurde, die größte Bedeutung zu. Den Prinzipien der Gleichberechtigung und der Gemeinsamkeit zum Trotz wurde dem damals 40-jährigen Klimt die Rolle als Galionsfigur der Ausstellung zuteil. Ihm standen drei Wände zur Verfügung, während sich im gegenüberliegenden Saal zwei Künstler mit je einer Längswand begnügen mussten. Auf besonders einfühlsame Weise berücksichtigte Klimt die für ihn ganz neuen technischen und inhaltlichen Voraussetzungen.

Dass der Fries in erster Linie eine ornamentale, der Architektur dienende Funktion erfüllen sollte, geht aus dem lapidaren Katalogtext hervor: "Dekoratives Prinzip: Rücksichtnahme auf die Saalanlage. Ornamentierte Putzflächen." Offenbar veranlasste diese Verankerung in der Architektur Klimt zu einer intensiven Suche nach neuen stilistischen Lösungen. Seine Figuren erscheinen, rhythmisch gegliedert, in Frontal- und Profilstellungen, ihre Haltungen und Bewegungen sind der strengen Tektonik unterworfen. Besondere Bedeutung erlangten dabei die Konturen, die zum Großteil mit dem Pinsel, aber auch mit Kohle, Graphit oder Pastellstiften angelegt wurden; das helle Grau der Putzflächen diente als Basisfarbe für die nur ganz leicht getönten Hautpartien. Für die übrigen Teile verwendete Klimt Kaseinfarben, deren Intensität und matt schimmernde Oberfläche effektvoll mit den Goldauflagen und den glänzenden, spiegelnden oder schimmernden Applikationen kontrastierte. Das demonstrative Bekenntnis der Secessionisten zu einem kreativen Umgang mit "einfachen" Materialien inspirierte Klimt zu höchst originellen Lösungen: Den Beethovenfries schmücken Tapeziernägel, Vorhangringe, Spiegelstücke, Perlmutterknöpfe und Modeschmuck aus geschliffenem, farbigem Glas. Gleichzeitig erinnert das schillernde, bunte Erscheinungsbild des Frieses - dies betrifft besonders die Schmalwand - an die "heidnische" Vielfalt an farbigen Materialien in Klingers Beethovenfigur.

Bildprogramm und Symbolik

Ebenso eigenständig nimmt Klimt in seiner Programmatik auf die vorgegebenen Richtlinien Bezug. Im Katalog ist nur zu lesen, dass die "friesartigen Malereien" sich über drei Wände erstrecken und eine zusammenhängende Folge bilden, worauf die einzelnen Programmteile kurz erläutert werden. So führt in der linken Wand die lange Kette der hoch oben schwebenden Genien, Symbol für die "Sehnsucht nach Glück", den Betrachter in die Erzählung ein. Bis zum ersten Drittel der letzten Wand bilden diese Schwebenden das verbindende Element zwischen den einzelnen Szenen. Im Laufe der ersten Wand nimmt der "Wohlgerüstete Starke" (der Ritter im goldenen Harnisch), angefleht durch die leidende "Schwache Menschheit" und angetrieben durch "Mitleid und Ehrgeiz", den Kampf um das Glück auf sich. Die "Feindlichen Gewalten" verdunkeln die Schmalwand und entziehen die "Sehnsucht nach Glück" vorübergehend dem Blick. Hier herrschen "Typhoeus" (das Affenmonstrum mit dem überdimensionalen Flügel- und Schlangenleib) sowie "Die drei Gorgonen, Krankheit, Wahnsinn, Tod, Wollust, Unkeuschheit, Unmäßigkeit, nagender Kummer". Die "Sehnsüchte und Wünsche" sind jedoch stärker und fliegen über sie hinweg. Die dritte Wand, die unterhalb des Frieses zum Kultbild im hellen Mittelsaal hin durchbrochen war, steht im Zeichen der Künste. Hier findet die Sehnsucht nach Glück "Stillung in der Poesie". Über die Kithara spielende Gestalt hinweg scheinen die "Sehnsüchte" mit ihren teils abwehrend aufgerichteten Händen gegen eine unsichtbare Wand zu stoßen.

Der darauffolgende Leerraum wirkt wie eine - vermutlich inhaltsbedingte - Zäsur zwischen der vorletzten und der letzten Szene. Hier leiten uns die "Künste", dargestellt als von goldenen Wellen hinaufgetragene Frauengestalten, in das "ideale Reich, in dem allein wir reine Freude, reines Glück, reine Liebe finden können. Chor der Paradiesengel. Diesen Kuss der ganzen Welt." Diese letzten Sätze - Zitate aus dem Text des Schlusschors der Neunten Symphonie, basierend auf Schillers Ode an die Freude - bilden den Schlüssel zum allegorischen Inhalt des ganzen Frieses. Die "Neunte" wurde um 1900 über alle Maßen bewundert; die in Beethoven projizierten Utopien bezüglich einer besseren Welt nährten sich vor allem aus dieser Quelle. Zum Geniekult um die Figur Beethovens hatte Richard Wagner sehr wesentlich beigetragen. Seine auf diesen Komponisten zugespitzte Antithese von leidendem Volk und kämpfendem Künstler könnte Klimt beeinflusst haben; darüber hinaus zeigt die Katalogbeschreibung der Szenen im Beethovenfries auffallende Parallelen zu Wagners 1846 publizierter, speziell für Laien verfasster programmatischer Deutung der Neunten Symphonie.

Jedenfalls konnte Klimt sich gerade damals mit der Thematik des einsam kämpfenden, von der Menschheit unverstandenen Künstlers gut identifizieren. Die Angriffe auf seine Kunst - besonders auf seine 1900 und 1901 in der Secession präsentierten, für die Universitätsaula geschaffenen Monumentalbilder Philosophie und Medizin - hatten zur Zeit der ersten Pläne für die Beethovenausstellung ihren Höhepunkt erreicht. Von der Schmalwand des Frieses starrten die Fratzen der Feindlichen Gewalten dem Besucher gleich bei seinem Eintritt bedrohlich bzw. herausfordernd entgegen. Wie der anfangs zitierte Kommentar illustriert, verfehlte diese Skandalwand, die von Ludwig Hevesi gerade ihrer "betörenden Schönheit" wegen gelobt wurde, ihre provozierende Wirkung auf Publikum und Presse nicht. In ihrer mythologischen Abwehrfunktion erscheinen die frechen Drei Gorgonen wie eine Anspielung auf die Reliefs der drei Gorgonenköpfe, die sich am Gebäudeexterieur über dem Haupteingang befinden, unmittelbar unter dem berühmten Motto: "Der Zeit ihre Kunst. Der Kunst ihre Freiheit."

Klimt und die internationale Kunst

Im Sinne der Ausstellungsprogrammatik setzte Klimt sich intensiv mit Beispielen aus vergangenen Epochen der "Tempelkunst" wie auch mit zeitgenössischen Arbeiten auseinander. Das Spektrum der Vorbilder, die Klimt auf souveräne, phantasievolle Weise verarbeitete, reicht von der ägyptischen, griechischen, japanischen, byzantinischen und mittelalterlichen Kunst bis zu Zeitgenossen wie Beardsley oder Munch, besonders aber zu den Werken jener zeitgenössischen Kollegen, die als "Monumentalkünstler" im Milieu der Secession gerade großes Aufsehen erregt hatten. Die "moderne Gotik" des belgisehen Bildhauers George Minne inspirierte ihn zur Gestaltung der hageren, eckig gegliederten Figuren der knienden Schwachen Menschheit und des Nagenden Kummers (in der sich, einer mündlichen Überlieferung zufolge, die Angst des Künstlers vor der Syphilis verschlüsselt mitteilt); besonders mit dieser ausgemergelten, zusammengehockten Gestalt nimmt Klimt den Expressionismus von Schiele und Kokoschka vorweg. An die schottische "Mackintosh-Gruppe" erinnern die Helligkeit der Längswände in Verbindung mit den eleganten, langgezogenen Linien, die die Figurengruppen ornamental einfassen, zum Beispiel das in einer goldenen Glocke gefangene Liebespaar in der Schluss-Szene. Die Arbeiten des Schweizers Ferdinand Hodler spielten eine wichtige Rolle bei der Heroisierung und Monumentalisierung der menschlichen Gestalt, ebenso wie bei den rhythmisch-parallelen Motivwiederholungen im Chor der Paradiesengel. Für den flächig-ornamentalen Charakter dieser Gruppe war aber zweifellos auch der holländisch-javanische Symbolist Jan Toorop von Bedeutung, dessen tiefgreifender Einfluss auf Klimt gerade im Beethovenfries einen Höhepunkt erreichte. Über unmittelbare Motiventlehnungen hinaus inspirierte Toorop den Wiener Künstler durch die Exotik seines eckiggliedrigen, überschlanken Frauentypus und die charakteristischen parallel-linearen Haarmassen (wie in Sehnsucht nach Glück, Die Künste, u.a.). Auf sehr eigenständige Weise befasste Klimt sich mit der bei Toorop essentiellen, inhaltsbetonenden Funktion der Linie. Im Beethovenfries sind die Figuren durch unterschiedliche Stufen linearer Stilisierung gekennzeichnet, die ihrer Funktion im Programm oder ihrem Realitätsgrad entsprechen. Der größte Kontrast innerhalb dieser Skala findet sich in den fließenden Linien der immateriellen Idealgestalten der Sehnsüchte auf der einen, und in den realitätsbetonenden Körperumrissen des muskulösen Mannes des Liebespaares auf der anderen Seite. Auch in den mit schwarzer Kreide gezeichneten Studien zum Beethovenfries richten sich die Konturen jeweils nach dem Aussagewert der betreffenden Figur: zart und fließend bei der Schwebenden, spröde und derb bei dem knienden nackten Mann, sinnlich gekurvt bei dem Modell für die Gorgonen. In den Umrisslinien der Figur des Nagenden Kummers wird das Hagere, Eckige betont; die Poesie ist von einer archaischen Strenge, während die an- und abschwellenden Umrisslinien des muskulösen Mannes erotische Vitalität zum Ausdruck bringen. Charakteristisch für diese Studien ist der spannungsvolle Gegensatz zwischen tektonischer Strenge und sensibler Linearität.

Ausdruck und Ornamentik

Die Verbundenheit von Inhaltlichem und Dekorativem zeigt sich im Beethovenfries im Kleinen wie im Großen. So sind die Längswände durch Helligkeit, Offenheit wie durch harmonische Farb- und Linienkonstellationen geprägt; in diesen Teilen der Allegorie herrschen das Gute und Positive vor. Die dunkle Schmalwand dagegen, aus deren Dickicht die Körperformen und Ornamente blitzartig aufleuchten, ist ein Sammelbecken von allen denkbaren Lastern und Untugenden. Die grelle Erotik der Gorgonen mit ihren provokanten Körperkonturen, Haarsträhnen und eckig aufeinanderstoßenden Bewegungen setzt sich vom Idealcharakter der harmonisch fließenden Gestalten der Sehnsüchte und der Künste deutlich ab. Auf das heutige Publikum wirkt die Schmalwand nicht mehr schockierend, aber die verschwenderische Pracht des "Bösen" vermag immer noch zu faszinieren; schon im Mittelalter hat die Hölle die Phantasie der Künstler und der Schriftsteller mehr angeregt als das Paradies (Klimt war bekanntlich ein eifriger Dante-Leser). Allegorisch gesehen prangert das moderne und zugleich zeitlose Inferno des Beethovenfrieses die materiellen und sinnlichen Genüsse an. Gleichzeitig jedoch huldigt die Wand der Feindlichen Gewalten der Ästhetik des weiblichen Körpers. Sogar die Gestalt der Unmäßigkeit, deren gewaltige Rundungen mit den Körperformen der Wollust und Unkeuschheit verschmolzen sind, weist in Verbindung mit den elegant geschwungenen, goldenen Lianen eine eigene Linienpoetik auf.

Von großer Bedeutung für den Beethovenfries ist die überragende Rolle des Goldes und des Ornaments, wobei die Grenzen zwischen Figur und Ornament fließend sind. Neben den jugendstilhaft geschwungenen Linien und den floralen Motiven setzt sich, im Anschluss an die Ausstellungsarchitektur, das geometrische Element durch; auch das Spiralmuster ist häufig anzutreffen. Die größte dekorative Phantasie entwickelte Klimt in der Wand der Feindlichen Gewalten, angefangen von dem alles umfassenden Schlangen- und Flügelkörper bis zu den zahllosen Musterformen und Schmuckteilen der weiblichen Gestalten. Am reichsten geschmückt ist die Unmäßigkeit, mit der sich auch die kräftigste Farbe verbindet: Ihr blauer Rock ist der koloristische Blickfang der Schmalwand.

Epilog

Der Beethovenfries von Gustav Klimt wird zusammenfassend von drei wesentlichen Neuerungen geprägt: von der monumentalen, flächenhaften Isolierung der menschlichen Gestalt, von der inhaltsbetonenden Funktion der Linie sowie von der dominierenden Rolle der Ornamentik. Die Teilnahme am "Experiment Beethoven" bildete für Klimt den Auftakt zu den Hauptwerken seiner "Goldenen Periode". Heute gilt die monumentale Allegorie, die dem Publikum 1986 am Ort ihrer Entstehung wieder zugänglich wurde, als Schlüsselwerk in der Entwicklung des Künstlers.

Quelle: Marian Bisanz-Prakken, Der Beethovenfries von Gustav Klimt und die Wiener Sezession, in: Secession - Gustav Klimt - Beethovenfries, Wien, Secession, 2002, ISBN 3-901926-44-5

Gustav Klimt, Studien zu Beethovenfries (Poesie - Die Leiden
der schwachen Menschheit - Gorgonen)
Geschichte des Beethovenfrieses

1902 Ursprünglich wird der Beethovenfries für den Zeitraum der XIV. Ausstellung angefertigt und soll danach wieder von den Wänden des Secessionsgebäudes entfernt werden.

1903 Die Wandmalerei bleibt jedoch bis 1903 am Ort ihrer Entstehung, bis sie in den Besitz des Industriellen Carl Reininghaus übergeht. Reininghaus lässt den Beethovenfries nach Beendigung der XVIII. Secessionsausstellung, einer Klimt-Retrospektive, samt Unterbau von den Wänden nehmen.

1915 Durch Vermittlung von Egon Schiele verkauft Carl Reininghaus den Beethovenfries an die Industriellenfamilie Lederer, die der Österreichischen Galerie, die sich ebenfalls für einen Kauf des Kunstwerks interessiert, zuvorkommt.

1936 In der Zwischenkriegszeit werden Teile des Beethovenfrieses in der Secession ausgestellt.

1939 Nach der Enteignung der Familie Lederer im Zuge der Arisierung durch die Nationalsozialisten wird der Beethovenfries im Depot einer Wiener Speditionsfirma verwahrt.

1943 Teile des Beethovenfrieses werden während des Zweiten Weltkriegs in der Secession gezeigt und im Anschluss wegen Beschädigungsgefahr von Wien nach Schloss Thürntal bei Fels am Wagram in Niederösterreich gebracht, wo das Kunstwerk im Kapellenraum gelagert wird.

1945 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs geht der Beethovenfries in den rechtmäßigen Besitz der Sammlung Erich Lederer in Genf über. Nach Klärung der Besitzverhältnisse wird über den Beethovenfries von Seiten des österreichischen Staates ein Ausfuhrverbot verhängt und er verbleibt im Schloss Thürntal.

Gruppenbild von Mitgliedern der Wiener Secession
 anlässlich der XIV. Ausstellung 1902. Von links nach rechts:
 Anton Stark, Gustav Klimt (im Sessel), Kolo Moser (vor Klimt
 mit Hut)Adolf Böhm, Maximilian Lenz (liegend), Ernst Stöhr
 (mit Hut), Wilhelm List, Emil Orlik (sitzend), Maximilian Kurzweil
 (mit Kappe), Leopold Stolba, Garl Moll (liegend), Rudolf Bacher.
1956 Der Beethovenfries wird nach Stift Altenburg im Waldviertel gebracht. Zum Schutz des Frieses und aus konservatorischen Gründen setzt sich Erich Lederer für einen erneuten Standortwechsel ein.

1961 Die Wandmalerei wird in das Depot der Österreichischen Galerie in den ehemaligen Pferdestallungen des Prinz Eugen im Schloss Belvedere gebracht.

1973 Die Republik Österreich erwirbt den Beethovenfries von Erich Lederer. Der damalige Kaufpreis beträgt 15 Millionen Schilling.

1974 Die Restaurierung des Beethovenfrieses durch das Bundesdenkmalamt beginnt. Die vollständige Restaurierung dauert mehr als zehn Jahre.

1985 Die Restaurierung des Beethovenfrieses wird Ende Jänner mit der Montage der einzelnen Teilstücke auf Stahlrahmen abgeschlossen. In der Ausstellung Traum und Wirklichkeit. Wien 1870-1930 im Wiener Künstlerhaus wird der Fries in einer vom Atelier Hans Hollein erarbeiteten Rekonstruktion seiner ursprünglich von Josef Hoffmann entworfenen architektonischen Umrahmung gezeigt. Nach Ende der Ausstellung im Künstlerhaus kehrt der Beethovenfries in einen von Architekt Adolf Krischanitz eigens dafür geschaffenen Raum in die Secession zurück.

2009 Ein Vierteljahrhundert nach Abschluss der Restaurierung beginnen die laufenden Untersuchungsarbeiten zum konservatorischen Zustand des Beethovenfrieses.



Als Beilage im Infoset befindet sich der Artikel von Marian Bisanz-Prakken: George Minne und die Wiener "Moderne" um 1900


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