Bekannt ist sie vor allem durch ihre reichhaltige Sammlung von Liebesgedichten, Studentenliedern und religiösen Dichtungen, die in lateinischer, häufig aber auch in deutscher Sprache gehalten sind (die deutschen Teile wurden in einem Dialekt geschrieben, der in einer Region um Neustift in Tirol beheimatet ist). Am besten sind die Carmina burana der Musikwelt als szenische Kantate von Carl Orff bekannt, einem Werk für Vokalsolisten, Chor und Orchester, in dem in Szenen arrangierte ausgewählte Texte aus der Handschrift verwendet werden. Die vorliegende Aufnahme aus den frühen sechziger Jahren stellt den ersten ernsthaften Versuch dar, die originale mittelalterliche Musik dieser Lieder etwa 25 Jahre nach Orffs Komposition zu rekonstruieren.
Carmina Burana: Rota Fortunae |
Nachdem ich mich dazu entschieden hatte, eine Transkribierung und Aufführung der Lieder des Carmina burana-Manuskripts zu versuchen - eine Idee, die, wenn ich mich recht erinnere, von Andrea von Ramm angeregt wurde - machte ich mich daran, das notwendige Material zu sammeln. Das Manuskript befand sich (und befindet sich noch heute) in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, doch als ich es sehen wollte, wurde mir mitgeteilt, es sei zu kostbar, man könne mir nicht erlauben, es zu sehen oder gar zu benutzen. Ich sagte dem Kurator, selbst ein Wissenschaftler und anerkannter Beamter, ich wüßte, daß eine Faksimileausgabe vorbereitet würde, daß ich meine Steuern zahle, daß die Handschrift öffentlicher Besitz sei und ich mit ihr arbeiten wolle. Er erwiderte, ich könne ja wohl nicht hereinkommen, ihm die Pistole auf die Brust setzen und Forderungen stellen, im übrigen »dürfen Sie gar nicht wissen« (an diese Worte erinnere ich mich noch heute genau), daß eine Faksimileausgabe geplant sei. Ich glaube, ich habe sogar die Kulturreferenten von Bayern und München um Unterstützung gebeten. Schließlich wurde mir die Erlaubnis erteilt, Fotokopien von den von mir angegebenen Folios anfertigen zu lassen, doch durften keine zusammenhängenden Abschnitte der Handschrift kopiert werden. Einsicht in die Handschrift selbst wurde mir allerdings nie gewährt.
Dies zeigt die Schwierigkeiten, mit denen sich Wissenschaftler und Musiker zu dieser Zeit konfrontiert sahen, wenn sie Material in den großen europäischen Bibliotheken einsehen wollten (an dieser Situation hat sich in einigen Bibliotheken innerhalb wie außerhalb Deutschlands bis auf den heutigen Tag nichts geändert, ein ernsthaftes Hindernis für jeglichen Fortschritt).
Die Handschrift ist klein und recht elegant. Die Musik ist in Neumen ohne Taktstriche über einigen Gedichten angegeben. In dieser Notationsart sind Tonhöhe und Rhytmus nur recht ungenau fixiert, doch da sich viele der Stücke in anderen Handschriften in klarerer Notation finden, ist eine Transkription möglich.
1960 glaubte man, die gesamte Information zur Musik sei in der Partitur enthalten, während heute die Auffassung vorherrscht, daß in vielen Kompositionen die Partitur unwichtiger ist als Einzelheiten des Vortrags; etwas was wir als Hilfsmittel der Ethnologie kennengelernt haben, wird jetzt in der historischen Musikwissenschaft eingesetzt.
Carmina Burana: Der phantastische Wald |
Unsere Hauptaufgabe war es, einen historisch fundierten Vortragsstil zu finden, der sowohl künstlerische Qualitäten wie historische Aufführungspraxis gleichermaßen berücksichtigte. Es gab keine Modelle, auf die man sich hätte stützen können. Ich hatte bereits Gelegenheit, mich näher mit der Musik des Mittleren Ostens und Südostasiens zu beschäftigen; daher war mir klar, daß diese Musik, die hauptsächlich monophon ist, weder primitiv noch künstlerisch geringer einzuschätzen ist als die polyphone Musik. Dies war weniger Musik des Komponisten als vielmehr Musik der Ausführenden. Daher entwickelten wir passende instrumentale Begleitungen zu den Liedern. Dabei entfernten wir uns von den harmonisch-kontrapunktisch geprägten Modellen zu Instrumentierungen, die besser auf die Melodie abgestimmt waren. Die in der nichtwestlichen Musik vielfach benutzte kleine Trommel wurde mehr als ein Kammermusikinstrument als für die Tanzrhythmen eingesetzt, was zu dieser Zeit eine vollkommene Neuerung darstellte. Außerdem verwendeten wir viele mittelalterliche Instrumente wie die lira, die vielle, das rebec, die 'ud (= Laute), die citole, die chitarra sarracenia, die kleine mittelalterliche Harfe, das Psalter, die kleine Flöte ohne Klappen, die mittelalterliche Schalmei - das alles waren Instrumente, die in Musikerkreisen zu dieser Zeit noch recht unbekannt waren.
Carmina Burana: Das Liebespaar |
Diese Aufführungen boten einen neuen experimentellen Ansatz für die Interpretation mittelalterlicher Musik, doch öffneten sie auch vielerlei geistloser Nachahmung und Einbeziehung folkloristischer und exotischer Paradigmata Tür und Tor, die in der ernsthaften authentischen Aufführungspraxis keinen Platz hatten. Dies führte zur Schaffung eines pseudo-historischen Aufführungsstils, in dem gute Musiker alte Musik spielten, ohne einen Gedanken an die historische Aufführungspraxis zu verschwenden; sie kreierten eine neue Art von Musik, keine Volksmusik, keine exotische, keine historische Musik, sondern eine Musik, die eben einfach Freude macht beim Spielen und beim Zuhören.
Carmina Burana: Dido und Aeneas |
In den frühen sechziger Jahren setzten sich die Spezialisten für Alte Musik sehr mit den Details der Melodien auseinander: die Ambiguität von richtigen gegen falsche Noten wurde ähnlich empfunden wie die Zweideutigkeit, die zwischen Dichtung und Wahrheit besteht. Damals wie heute ist es für uns schwer zu verstehen, daß es mehrere verschiedene Versionen eines Musikstücks geben kann, die von gleichem künstlerisehen Wert sind und die gleiche historische Glaubwürdigkeit besitzen. Man kannte sich mit den Einzelheiten der Instmmente und ihren Spieltechniken, die so wichtig dafür sind, improvisatorische Eigenheiten während der Aufführung herauszubringen, noch nicht so recht aus. Es war tatsächlich nur wenig über mittelalterliche Instrumente bekannt. Niemand, der zu dieser Zeit mittelalterliche Musik spielte, wollte den Aufführungsmustern des Mittelalters Vertrauen schenken, jeder benutzte Instrumente neuerer Zeit und setzte bei der Aufführung eine moderne »Qualitätskontrolle« an, bei der es mehr darauf ankam, einen schönen Klang (was auch immer das sein mag) zu erzeugen, als sich interessante Noten besonders herauszugreifen.
Obwohl uns eine wichtige originale Quelle zur historischen Aufführungspraxis leicht zugänglich gewesen wäre, erkannten wir sie nicht als solche: Ich denke hier an den gesamten Komplex mittelalterlicher Rhetorik. Zu dieser Zeit fingen wir erst an zu verstehen, daß es in weitem Maße die speziellen Eigenheiten eines Instruments sind, die das Klangbild bestimmen. Als wir damit aufhörten, spezifische Muster der Renaissancemusik auf das Mittelalter zu übertragen, war ein großer Schritt nach vorn getan. Unsere neuen Modelle fanden wir in ausgewählten Praktiken Südostasiens, des Mittleren Ostens und Nordafrikas: monophon bestimmte und instmmentale Musik, die auf einer ernstzunehmenden ästhetischen Theorie fußen, die im weitesten Sinne auch auf die westliche Musik anwendbar ist. Wir ahmten die östliche Musik nie direkt nach, unsere Erkenntnisse ließen wir durch ein »westliches Filter« passieren, um so die verlorene Kunst mittelalterlicher Instrumentalmusik wieder erstehen zu lassen. Wir sahen die Vor-, Zwischen- und Nachspiele als notwendige Bestandteile der Lieder an, und da es keine Modelle gab, suchten wir in der östlichen Musik nach Vorbildern.
Carmina Burana: Die Zecher |
Während ich auf diese Arbeit von vor dreißig Jahren zurückschaue, ist es für mich überraschend, wieviel davon meinem Gefühl nach immer noch richtig ist. Heute wäre ich vielleicht weniger großzügig im Gebrauch verschiedener Instrumentalklänge in der Begleitung. Ich würde die Rhythmen mehr im sprachlichen Sinne und nicht so sehr als tanzähnliche Metren späterer Musik, wie sie uns allen in den Knochen steckt, herausarbeiten. Ich würde die Vor-, Zwischen- und Nachspiele besser in die Stücke eingliedern; sie gehören dazu, sind den Liedern selbst aber immer noch untergeordnet. Die Theorien der nachmittelalterlichen Aufführungspraxis stören den Musiker sowohl bei seiner Umsetzung der Ästhetik mittelalterlicher Stücke, wie auch der Realisierung - wenn man ihn so nennen kann - des Makrorhythmus rhetorischer Exposition, der Priorität der Kadenzen und der Phrasenanfänge. Ich bin nicht sicher, ob wir das damals schon erkannten, doch heute ist dieses Problem immer noch aktuell. Im Gegensatz zu heute war die Szene für mittelalterliche Musik damals klein, was zur Isolation der Musiker, die sich mit moderner Musik beschäftigten, von den Musikern, die sich um eine Umsetzung mittelalterlicher Musik bemühten, führte. Wären da nicht die weitsichtigen Aufnahmeproduzenten gewesen, die ihre Firmen davon überzeugten, in Projekte wie das unsere zu investieren, wer weiß, was wohl passiert wäre.
Ich kann mich noch gut an die Aufnahmen in dem alten AEG Studio in München in jenen ersten Tagen des stereophonen Klangs erinnern. Der Saal selbst war klein und hatte eine schlechte, für Aufnahmen nicht geeignete Akustik - was für ein Unterschied zu den fantastischen riesenhaften Gemäuern des Mittelalters. Wir sangen und spielten mit jugendlichem Zutrauen in die musikalischen Entscheidungen, die zum großen Teil auf Instinkt und Einfühlungsvermögen beruhten. Während ich zu diesem Repertoire in den Jahren bis heute wieder und wieder zurückgekehrt bin, erscheint mir kein Unternehmen so groß und weitreichend wie jenes damals.
Quelle: Thomas Binkley: Erinnerungen nach dreißig Jahren, veröffentlicht im Booklet (Übersetzung: Eva Zöllner). Dieser Artikel wurde 1994 geschrieben, ein Jahr vor Thomas Binkleys Tod
CD 1 Track 3, Estivali sub fervore, C.B. No. 79
Estivali sub fervore | |
Estivali sub fervore, quando cuncta sunt in flore, totus eram in ardore. sub olive me decore, estu fessum et sudore, detinebat mora. Erat arbor hec in prato quovis flore picturato, herba, fonte, situ grato, sed et umbra, flatu dato. stilo non pinxisset Plato loca gratiora. Subest fons vivacis vene, adest cantus philomene Naiadumque cantilene. paradisus hic est pene; non sunt loca, scio plene, his iocundiora. Hic dum placet delectari delectatque iocundari et ab estu relevari, cerno forma singolari pastorellam sine pari colligentem mora. In amorem vise cedo; fecit Venus hoc, ut credo. »ades!« inquam, »non sum predo, nichil tollo, nichil ledo. me meaque tibi dedo, pulchrior quam Flora!« Que respondit verbo brevi: »ludos viri non assuevi. sunt parentes michi sevi; mater longioris evi irascetur pro re levi. parce nunc in hora!« | Unter sommerlicher Hitze - wenn alles in Blüte steht - war ich durch und durch erglüht. Unter eines Ölbaums Schmuck, von Hitze und Mühe erschöpft, machte ich eine Pause. Da war ein Baum auf einer Wiese, bunt gefärbt von Blüten aller Art. Eine Quelle, Kräuter, schöne Lage, doch auch von Schatten, Windhauch gesegnet. Plato hätte mit seinem Stift keinen schöneren Ort gezeichnet. Nahebei der sprudelnde Quell eines Bachs, ringsum der Nachtigallen Gesang und Lieder der Najaden. Fast wie im Paradies ist es hier; es gibt keinen Ort, ich weiß es bestimmt, der schöne wäre als dieser. Als ich da genoss, mich zu erfreuen, und mich erfreute, mich zu ergötzen und von der Hitze zu erholen, sehe ich ein Hirtenmädchen ohne Gleichen, einzigartig schön, wie es Brombeeren sammelt. Ich vergehe in Liebe zu dem, was ich sehe; Venus bewirkte das, wie ich meine. »Komm her!«, sage ich. »Ich bin kein Räuber, Ich stehle nichts, ich verletze dich nicht. Das Meine und mich geb ich dir hin, die schöner du bist als Flora!« Sie erwidert mit knappen Worten: »Ich vergnüge mich nicht mit Männern, habe grimmige Eltern. Meine Mutter, schon recht alt, zürnt selbst wegen Kleinigkeiten. Lass mich jetzt zufrieden!« |
TRACKLIST CARMINA BURANA The Benediktbeuren Manuscript c. 1300 CD 1 53'19" (1) Fas et nefas, C. B. No. 19 1'32" male voices, goblet drum, bells (2) Veris dulcis in tempore, C. B. No. 85 2'38" tenor, lute (3) Estivali sub fervore, C. B. No. 79 5'15" countertenor, flute, goblet drum (4) In Gedeonis area, C. B. No. 37 4'29" male voices, flute, fiddle, lute, goblet drum, cimbalom (5) Dulce solum, C. B. No. 119 2'49" countertenor, long-necked lute (6) Iove cum Mercurio, C. B. No. 88a 2'42" tenor, rebec, cymbalom, goblet drum (7) Nomen a solemnibus, C. B. No. 52 3'40" baritone, flute, fiddle, long-necked lute (8) Sic mea fata canendo solor, C. B. No. 116 1'59" countertenor, long-necked lute, goblet drum (9) Vite perdite, C. B. No. 31 3'04" baritone, goblet drum (10) Tempus transit gelidum, C. B. No. 153 3'32" countertenor, lute (11) Fulget dies celebris, C. B. No. 153 1'08" boys' choir, tenor (12) Exiit diluculo, C. B. No. 90 1'22" boys' voices, flute, organetto (13) Conspexit in cespite, C. B. No. 90 0'34" boys' voices (14) Dic, Christi veritas, C. B. No. 131 4'36" countertenor (15) Procurans odium, C. B. No. 12 2'04" three male voices (16) Planctus ante nescia, C. B. No. 14* 6'28" mezzo soprano, long-necked lute (17) Chramer gip diu varwe mier, C. B. No. 16* 0'31" rebec (18) Diu werlt frovt sih uber al, C. B. No. 161a 0'30" baritone, fiddle (19) Dum iuventus floruit, C. B. No. 30 0'54" flute (20) Sage, daz ih dirs, C. B. No. 147a 0'58" mezzo-soprano, baritone, flute, fiddle (21) Chramer gip diu varwe mier, C. B. No. 16* 1'00" mezzo-soprano, bombarde CD 2 46'35" (1) Homo quo vigeas, C. B. No. 22 1'24" mezzo-soprano, three tenors, bass, rebec, trombone (2) Ecce torpet, C. B. No. 3 6'50" bass, organetto, fiddle, lute, tambourine, bells (3) Licet eger cum egrotis, C. B. No. 8 4'35" tenor, rebab (4) Vite perdite, C. B. No. 31 2'57" mezzo-soprano, countertenor, three tenors, bass, rebec, two tambourines (5) Crucifigat omnes, C. B. No. 47 3'00" mezzo-soprano, countertenor, tbree tenors, bass (6) O varium Fortune, C. B. No. 14 3'59" mezzo-soprano, tenor (7) Celum, non animum, C. B. No. 15 4'19" mezzo-soprano, two tenors (8) Dum iuventus floruit, C. B. No. 30 3'12" tenor, lute, fiddle (9) Axe Phebus aureo, C. B. No. 71 2'52" mezzo-soprano, rebec, lute (10) Ecce gratum, C. B. No. 143 2'59" tenor, lute, fiddle, organetto, bells, tambourine (11) Tellus flore, C. B. No. 146 2'36" countertenor, citole (12) Tempus est iocundum, C. B. No. 179 3'18" mezzo-soprano, rebec, citole (13) Nu gruonet aver diu heide, C. B. No. 168a 3'30" tenor, harp, psaltery, rebab Studio der Frühen Musik Thomas Binkley STUDIO DER FRÜHEN MUSIK Andrea von Ramm Mezzo-soprano, harp, organetto - Mezzosopran, Harfe, Organello - mezzo-soprano, harpe, organette Willard Cobb Tenor, tambourine - Tenor, Tambourin - tenor, tambourins Sterling Jones Rebec, fiddle, lyra - Rebec, Fiedel, Lyra - rebec, vielle, lyre Thomas Binkley Lute, bass shawm, trombone, tambourine, citole, psaltery - Laute, Pommer, Posaune, Tambourin, Citôle, Psalterium - luth, bombarde, trombone, tambourins, citole, psaltérion with - mit - avec: Grayston Burgess Countertenor - Kontratenor - haute-contre Nigel Rogers Tenor, bells, tambourine - Tenor, Schellen, Tambourin - ténor, grelots, tambourins Desmond Clayton Tenor - ténor Jacques Villisech Bass - Baß - basse Karlheinz Klein Baritone - Bariton - baryton Lore Wehrung Transverse flute - Querflöte - flûte traversière Horst Huber Percussion - Schlagzeug - percussion Münchener Marienknaben Chorus Master: Kurt Rith Recording Locations: Munich, September 1964 (CD 1); Amsterdam, October 1967 (CD2) Cover: Osias t.E. Beert: Still Life with Fruit (1615) (P) 1964/1968 (C) 2007
CD 2 Track 2, Ecce torpet, C.B. No. 3
Ecce torpet probitas (Walther von Châtillon) | |
Ecce torpet probitas, virtus sepelitur; fit iam parca largitas, parcitas largitur; verum dicit falsitas, veritas mentitur. Refl. Omnes iura ledunt et ad res illicitas licite recedunt. Regnat avaritia, regnant et avari; mente quivis anxia nititur ditari, cum sit summa gloria censu gloriari. Refl. Omnes iura ledunt et ad prava quelibet impie recedunt. Multum habet oneris do das dedi dare; verbum hoc pre ceteris norunt ignorare divites, quos poteris mari comparare. Refl. Omnes iura ledunt et in rerum numeris numeros excedunt. Cunctis est equaliter insita cupido; perit fides turpiter, nullus fidus fido, nec Iunoni Iupiter nec Enee Dido. Refl. Omnes iura ledunt et ad mala devia licite recedunt. Si recte discernere velis, non est vita, quod sic vivit temere gens hec imperita; non est enim vivere, si quis vivit ita. Refl. Omnes iura ledunt et fidem in opere quolibet excedunt. | Sieh, der Anstand liegt ohnmächtig da, die Tugend wird begraben; jetzt wird Freigebigkeit sparsam, Sparsamkeit großzügig; wahr spricht die Falschheit, die Wahrheit lügt. Ref. Alle verstoßen gegen das Recht, und ungestört ziehen sie zum Unerlaubten hin. Es regiert Habgier, und es regieren die Habgierigen; ein jeder strebt mit bangem Sinn, sich zu bereichern. Denn es ist der größte Ruhm, sich eines Vermögens zu rühmen. Ref. Alle verstoßen gegen das Recht, und zu jedwedem Schlechten ziehen sie gottlos hin. Große Last bedeutet »ich gebe«, »du gibst«, »ich gab« und »zu geben«; die Reichen verstehen es, vor allem dieses Verb nicht zu kennen - man könnte sie mit dem Meer vergleichen. Ref. Alle verstoßen gegen das Recht, und jedes Maß überschreiten sie mit dem Maß ihres Besitzes. Allen gleichermaßen wohnt die Gier inne, schmählich stirbt die Treue, dem Treuen ist niemand treu: weder Jupiter der Juno noch dem Äneas Dido. Ref. Alle verstoßen gegen das Recht, und auf üble Abwege weichen sie ungestört aus. Wenn du ehrlich urteilen willst, ist das kein Leben, was das unwissende Volk so unbedacht verlebt; denn es handelt sich nicht um »leben«, wenn jemand so lebt. Ref. Alle verstoßen gegen das Recht, und mit jedwedem Werk verletzen sie den Anstand. |
Nikolaus Harnoncourt, 2003 |
Da im heutigen Musikleben die historische Musik eine beherrschende Rolle spielt, ist es gut, sich mit den Problemen, die damit zusammenhängen, auseinanderzusetzen. Es gibt zwei grundverschiedene Einstellungen zu historischer Musik, denen auch zwei ganz verschiedene Arten der Wiedergabe entsprechen: die eine überträgt sie in die Gegenwart, die andere versucht, sie mit den Augen der Zeit ihres Entstehens zu sehen.
Die erste Auffassung ist die natürliche und übliche zu allen Zeiten einer wirklich lebendigen Gegenwartsmusik. Sie ist auch die einzig mögliche während der ganzen abendländischen Musikgeschichte von Beginn der Mehrstimmigkeit bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, und noch heute huldigen ihr viele große Musiker. Diese Einstellung stammt daher, daß die Sprache der Musik immer als absolut zeitgebunden betrachtet wurde. So empfand man zum Beispiel um die Mitte des 18. Jahrhunderts Kompositionen aus den ersten Jahrzehnten als hoffnungslos altmodisch, wenn man auch ihren Wert als solchen anerkannte. Immer wieder wundern wir uns über die Begeisterung, mit der früher die gegenwärtigen Kompositionen als noch nie dagewesene Höchstleistungen gepriesen wurden. Die Alte Musik wurde nur als Vorstufe dazu betrachtet, bestenfalls als Studienmaterial herangezogen oder in ganz seltenen Fällen für irgendeine besondere Aufführung bearbeitet. Bei jeder dieser seltenen Aufführungen Alter Musik - etwa im 18. Jahrhundert - hielt man eine Modernisierung für unbedingt nötig. Die Komponisten unserer Zeit aber, die historische Werke bearbeiten, wissen genau, daß diese vom Publikum unbearbeitet genauso selbstverständlich angenommen würden; die Bearbeitung entspringt heute also nicht einer absoluten Notwendigkeit wie in früheren Jahrhunderten: wenn überhaupt historische Musik, dann modernisiert, sondern der ganz persönlichen Einstellung des Bearbeiters. Dirigenten wie Furtwängler oder Stokowski, die ein spätromantisches Ideal hatten, haben die ganze frühere Musik in diesem Sinne wiedergegeben. So wurden Bachs Orgelwerke für Wagner-Orchester instrumentiert oder seine Passionen in überromantischer Art mit einem Riesenapparat aufgeführt.
Carmina Burana: Wurfzabelspiel |
Diese Situation ist in der Musikgeschichte absolut neuartig. Ein kleines Beispiel mag dies illustrieren: würde man heute die historische Musik aus dem Konzertsaal verbannen und nur moderne Werke aufführen, wären die Säle bald verödet - genau das gleiche wäre aber zu Mozarts Zeit passiert, wenn man dem Publikum die zeitgenössische Musik vorenthalten und nur Alte Musik (zum Beispiel Barockmusik) vorgesetzt hätte. Man sieht, heute trägt die historische Musik, besonders die des 19. Jahrhunderts, das Musikleben. Das war seit Bestehen der Mehrstimmigkeit noch nie der Fall. Ebenso hatte man früher kein Bedürfnis nach einer werkgetreuen Wiedergabe historischer Musik, wie man sie heute fordert. Die historische Schau ist einer kulturell vitalen Zeit absolut wesensfremd. Man sieht dies auch in den anderen Künsten: so hat man beispielsweise früher bedenkenlos an eine gotische Kirche eine barocke Sakristei angebaut, die herrlichsten gotischen Altäre weggeworfen und barocke aufgestellt, während man heute alles peinlichst restauriert und erhält. Diese historische Einstellung hat auch ein Gutes: sie ermöglicht uns, erstmalig in der Geschichte unserer christlich-abendländischen Kunst, einen freien Standpunkt einzunehmen und so das ganze Schaffen der Vergangenheit zu überblicken. Dies ist die Ursache für die immer größere Ausbreitung historischer Musik in den Konzertprogrammen.
Carmina Burana: Schachspiel |
Wenn wir heute historische Musik pflegen, so können wir dies nicht mehr so tun wie unsere Vorgänger in großen Zeiten. Wir haben die Unbefangenheit verloren, in der Gegenwart den Maßstab zu sehen, der Wille des Komponisten ist für uns höchste Autorität, wir sehen die Alte Musik an sich in ihrer eigenen Zeit und müssen uns daher bemühen, sie werkgetreu darzustellen, nicht aus musealen Gründen, sondern weil es uns heute der einzig richtige Weg zu sein scheint, sie lebendig und würdig wiederzugeben. Werkgetreu aber ist eine Wiedergabe dann, wenn sie sich der Vorstellung des Komponisten zur Zeit der Komposition annähert. Man sieht, daß dies nur bis zu einem gewissen Grad zu verwirklichen ist: die Urplanung eines Werkes läßt sich nur ahnen, besonders, wenn es sich um Musik weit zurückliegender Zeiten handelt. Anhaltspunkte, die einem den Willen des Komponisten zeigen, sind die Vortragsbezeichnungen, die Instrumentation und die vielen Gebräuche der Aufführungspraxis, die sich immer wieder geändert haben und deren Wissen die Komponisten bei ihren Zeitgenossen natürlich voraussetzten. Für uns bedeutet das ein umfangreiches Studium, aus dem man in einen gefährlichen Fehler verfallen kann: die Alte Musik nur vom Wissen her zu betreiben. So entstehen jene bekannten musikwissenschaftlichen Aufführungen, die historisch oft einwandfrei sind, denen aber jedes Leben fehlt. Da ist eine historisch ganz falsche, aber musikalisch lebendige Wiedergabe vorzuziehen. Die Erkenntnisse der Musikwissenschaft sollen aber natürlich nicht Selbstzweck sein, sondern uns nur die Mittel für die beste Wiedergabe in die Hand geben, denn werkgetreu ist sie schließlich auch nur dann, wenn das Werk am schönsten und klarsten zum Ausdruck kommt, und das wird dann sein, wenn sich Wissen und Verantwortungsbewußtsein mit tiefstem musikalischen Empfinden vereinen.
Carmina Burana: Das Würfelspiel |
Selbst bei den Wandlungen der Spielweise - also der Technik - kann nicht von einer »Aufwärtsentwicklung« gesprochen werden, sie paßt sich ebenso wie die Instrumente den Forderungen ihrer Zeit immer restlos an. Dem könnte entgegengehalten werden, daß die Anforderungen an die Spieltechnik immer größer wurden; das ist richtig, bezieht sich aber immer nur auf gewisse Gebiete der Spieltechnik, während die Anforderungen auf anderen Gebieten wieder geringer wurden. Freilich, kein Geiger des 17. Jahrhunderts könnte zum Beispiel das Brahms-Konzert spielen, aber genauso ist kein Brahms-Geiger imstande, schwierige Werke aus der Violinmusik des 17. Jahrhunderts tadellos wiederzugeben. Eine ganz andere Technik ist für das eine und das andere erforderlich, jede für sich ist gleich schwierig, nur grundsätzlich verschieden.
Bert Osias der Ältere (1580-1623): Stillleben mit Früchten (um 1615), Öl auf Holz, 56 x 78 cm, Privatsammlung, Deutschland. [Quelle] |
Aus all dem sind die ungeheuren Schwierigkeiten zu erahnen, die sich dem Versuch eines werkgetreuen Musizierens entgegenstellen. Kompromisse sind nicht zu vermeiden: wie viele Fragen sind ungeklärt, wie viele Instrumente sind nicht mehr aufzutreiben oder es ist kein Musiker dafür zu finden. Wo es aber möglich ist, ein hohes Maß an wirklicher Werktreue zu erreichen, wird man von ungeahnten Reichtümern belohnt. Die Werke offenbaren sich von einer ganz neuen-alten Seite, und viele Probleme klären sich nun von selbst. So wiedergegeben, erklingen sie nicht nur historisch korrekter, sondern auch lebendiger, weil sie ganz mit den ihnen entsprechenden Mitteln dargestellt werden, und man bekommt eine Ahnung von den geistigen Kräften, die die Vergangenheit fruchtbar gemacht haben. Die Beschäftigung mit Alter Musik gewinnt so, über den nur aesthetischen Genuß hinaus, einen tiefen Sinn für uns.
Quelle: Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis. Essays und Vorträge. Kassel, 1982, ISBN 3-7618-1098-9, Seite 13-18
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Thomas Binkley Discographie
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Reposted on February 26, 2015