17. Dezember 2012

Carmina Burana. Das Benediktbeuren Manuskript. Studio der Frühen Musik

Die Carmina burana, die Handschrift Clm 4660 der Bayerischen Staatsbibliothek, ist die berühmteste aller mittelalterlichen Gedichtsammlungen in lateinischer und mittelhochdeutscher Sprache. Johann Andreas Schmeller, der die Handschrift 1847 erstmals herausgab, stellte fest, daß die Handschrift in der Klosterbibliothek Benediktbeuren aufbewahrt worden sein muß; daher wurde sie unter dem Namen Carmina burana, Lieder aus Benediktbeuren, bekannt. Die Handschrift kann zwar für eine gewisse Zeit im Besitz dieses Klosters gewesen sein, doch hatte sie dort nicht ihren Ursprung. Sie entstand in einem unbekannten, ohne Zweifel klösterlichen Umfeld (sowohl Seckau wie Neustift in Tirol wurden vermutet) und kam nach Benediktbeuren im Zuge der Säkularisierung der Klöster durch Napoleon.

Bekannt ist sie vor allem durch ihre reichhaltige Sammlung von Liebesgedichten, Studentenliedern und religiösen Dichtungen, die in lateinischer, häufig aber auch in deutscher Sprache gehalten sind (die deutschen Teile wurden in einem Dialekt geschrieben, der in einer Region um Neustift in Tirol beheimatet ist). Am besten sind die Carmina burana der Musikwelt als szenische Kantate von Carl Orff bekannt, einem Werk für Vokalsolisten, Chor und Orchester, in dem in Szenen arrangierte ausgewählte Texte aus der Handschrift verwendet werden. Die vorliegende Aufnahme aus den frühen sechziger Jahren stellt den ersten ernsthaften Versuch dar, die originale mittelalterliche Musik dieser Lieder etwa 25 Jahre nach Orffs Komposition zu rekonstruieren.

Carmina Burana: Rota Fortunae
Die Anfänge des Projekts

Nachdem ich mich dazu entschieden hatte, eine Transkribierung und Aufführung der Lieder des Carmina burana-Manuskripts zu versuchen - eine Idee, die, wenn ich mich recht erinnere, von Andrea von Ramm angeregt wurde - machte ich mich daran, das notwendige Material zu sammeln. Das Manuskript befand sich (und befindet sich noch heute) in der Handschriftenabteilung der Bayerischen Staatsbibliothek, doch als ich es sehen wollte, wurde mir mitgeteilt, es sei zu kostbar, man könne mir nicht erlauben, es zu sehen oder gar zu benutzen. Ich sagte dem Kurator, selbst ein Wissenschaftler und anerkannter Beamter, ich wüßte, daß eine Faksimileausgabe vorbereitet würde, daß ich meine Steuern zahle, daß die Handschrift öffentlicher Besitz sei und ich mit ihr arbeiten wolle. Er erwiderte, ich könne ja wohl nicht hereinkommen, ihm die Pistole auf die Brust setzen und Forderungen stellen, im übrigen »dürfen Sie gar nicht wissen« (an diese Worte erinnere ich mich noch heute genau), daß eine Faksimileausgabe geplant sei. Ich glaube, ich habe sogar die Kulturreferenten von Bayern und München um Unterstützung gebeten. Schließlich wurde mir die Erlaubnis erteilt, Fotokopien von den von mir angegebenen Folios anfertigen zu lassen, doch durften keine zusammenhängenden Abschnitte der Handschrift kopiert werden. Einsicht in die Handschrift selbst wurde mir allerdings nie gewährt.

Dies zeigt die Schwierigkeiten, mit denen sich Wissenschaftler und Musiker zu dieser Zeit konfrontiert sahen, wenn sie Material in den großen europäischen Bibliotheken einsehen wollten (an dieser Situation hat sich in einigen Bibliotheken innerhalb wie außerhalb Deutschlands bis auf den heutigen Tag nichts geändert, ein ernsthaftes Hindernis für jeglichen Fortschritt).

Die Handschrift ist klein und recht elegant. Die Musik ist in Neumen ohne Taktstriche über einigen Gedichten angegeben. In dieser Notationsart sind Tonhöhe und Rhytmus nur recht ungenau fixiert, doch da sich viele der Stücke in anderen Handschriften in klarerer Notation finden, ist eine Transkription möglich.

1960 glaubte man, die gesamte Information zur Musik sei in der Partitur enthalten, während heute die Auffassung vorherrscht, daß in vielen Kompositionen die Partitur unwichtiger ist als Einzelheiten des Vortrags; etwas was wir als Hilfsmittel der Ethnologie kennengelernt haben, wird jetzt in der historischen Musikwissenschaft eingesetzt.

Carmina Burana: Der phantastische Wald
Die Rekonstruierung

Unsere Hauptaufgabe war es, einen historisch fundierten Vortragsstil zu finden, der sowohl künstlerische Qualitäten wie historische Aufführungspraxis gleichermaßen berücksichtigte. Es gab keine Modelle, auf die man sich hätte stützen können. Ich hatte bereits Gelegenheit, mich näher mit der Musik des Mittleren Ostens und Südostasiens zu beschäftigen; daher war mir klar, daß diese Musik, die hauptsächlich monophon ist, weder primitiv noch künstlerisch geringer einzuschätzen ist als die polyphone Musik. Dies war weniger Musik des Komponisten als vielmehr Musik der Ausführenden. Daher entwickelten wir passende instrumentale Begleitungen zu den Liedern. Dabei entfernten wir uns von den harmonisch-kontrapunktisch geprägten Modellen zu Instrumentierungen, die besser auf die Melodie abgestimmt waren. Die in der nichtwestlichen Musik vielfach benutzte kleine Trommel wurde mehr als ein Kammermusikinstrument als für die Tanzrhythmen eingesetzt, was zu dieser Zeit eine vollkommene Neuerung darstellte. Außerdem verwendeten wir viele mittelalterliche Instrumente wie die lira, die vielle, das rebec, die 'ud (= Laute), die citole, die chitarra sarracenia, die kleine mittelalterliche Harfe, das Psalter, die kleine Flöte ohne Klappen, die mittelalterliche Schalmei - das alles waren Instrumente, die in Musikerkreisen zu dieser Zeit noch recht unbekannt waren.

Carmina Burana: Das Liebespaar
Die instrumentalen Vor-, Zwischen- und Nachspiele regten zur Aufführung des ganzen Liedes an (1960 war man noch der Auffassung, die Aufführung eines Liedes in voller Länge wäre unüblich, da nicht das ganze Lied sondern nur die Melodie für den wesentlichen Teil der Musik gehalten wurde - ein ein- oder zweimaliger Durchgang galt als durchaus ausreichend). Die Grundregel, die unsere Aufführungen mittelalterlicher Instrumentalmusik bestimmte, war, daß jeder Part individuell behandelt werden mußte und für den jeweiligen Musiker leicht zu spielen war. Artikulation ist der eigentlich wichtige Schlüssel zu korrekter Phrasierung. Bei einem Saiteninstrument gibt die Stimmung die Noten vor, die gespielt werden. Der Bogen oder das Plektrum verlangt eine Art Choreographie, durch die verwendbare und passende Klänge (entsprechend der Stimmung) hervorgebracht werden; diese Klänge basieren nicht auf Theorien über Konsonanz oder Kontrapunkt.

Diese Aufführungen boten einen neuen experimentellen Ansatz für die Interpretation mittelalterlicher Musik, doch öffneten sie auch vielerlei geistloser Nachahmung und Einbeziehung folkloristischer und exotischer Paradigmata Tür und Tor, die in der ernsthaften authentischen Aufführungspraxis keinen Platz hatten. Dies führte zur Schaffung eines pseudo-historischen Aufführungsstils, in dem gute Musiker alte Musik spielten, ohne einen Gedanken an die historische Aufführungspraxis zu verschwenden; sie kreierten eine neue Art von Musik, keine Volksmusik, keine exotische, keine historische Musik, sondern eine Musik, die eben einfach Freude macht beim Spielen und beim Zuhören.

Carmina Burana: Dido und Aeneas
Die Gegebenheiten der Aufführungspraxis mittelalterlicher Musik 1960

In den frühen sechziger Jahren setzten sich die Spezialisten für Alte Musik sehr mit den Details der Melodien auseinander: die Ambiguität von richtigen gegen falsche Noten wurde ähnlich empfunden wie die Zweideutigkeit, die zwischen Dichtung und Wahrheit besteht. Damals wie heute ist es für uns schwer zu verstehen, daß es mehrere verschiedene Versionen eines Musikstücks geben kann, die von gleichem künstlerisehen Wert sind und die gleiche historische Glaubwürdigkeit besitzen. Man kannte sich mit den Einzelheiten der Instmmente und ihren Spieltechniken, die so wichtig dafür sind, improvisatorische Eigenheiten während der Aufführung herauszubringen, noch nicht so recht aus. Es war tatsächlich nur wenig über mittelalterliche Instrumente bekannt. Niemand, der zu dieser Zeit mittelalterliche Musik spielte, wollte den Aufführungsmustern des Mittelalters Vertrauen schenken, jeder benutzte Instrumente neuerer Zeit und setzte bei der Aufführung eine moderne »Qualitätskontrolle« an, bei der es mehr darauf ankam, einen schönen Klang (was auch immer das sein mag) zu erzeugen, als sich interessante Noten besonders herauszugreifen.

Obwohl uns eine wichtige originale Quelle zur historischen Aufführungspraxis leicht zugänglich gewesen wäre, erkannten wir sie nicht als solche: Ich denke hier an den gesamten Komplex mittelalterlicher Rhetorik. Zu dieser Zeit fingen wir erst an zu verstehen, daß es in weitem Maße die speziellen Eigenheiten eines Instruments sind, die das Klangbild bestimmen. Als wir damit aufhörten, spezifische Muster der Renaissancemusik auf das Mittelalter zu übertragen, war ein großer Schritt nach vorn getan. Unsere neuen Modelle fanden wir in ausgewählten Praktiken Südostasiens, des Mittleren Ostens und Nordafrikas: monophon bestimmte und instmmentale Musik, die auf einer ernstzunehmenden ästhetischen Theorie fußen, die im weitesten Sinne auch auf die westliche Musik anwendbar ist. Wir ahmten die östliche Musik nie direkt nach, unsere Erkenntnisse ließen wir durch ein »westliches Filter« passieren, um so die verlorene Kunst mittelalterlicher Instrumentalmusik wieder erstehen zu lassen. Wir sahen die Vor-, Zwischen- und Nachspiele als notwendige Bestandteile der Lieder an, und da es keine Modelle gab, suchten wir in der östlichen Musik nach Vorbildern.

Carmina Burana: Die Zecher
Der Blick zurück

Während ich auf diese Arbeit von vor dreißig Jahren zurückschaue, ist es für mich überraschend, wieviel davon meinem Gefühl nach immer noch richtig ist. Heute wäre ich vielleicht weniger großzügig im Gebrauch verschiedener Instrumentalklänge in der Begleitung. Ich würde die Rhythmen mehr im sprachlichen Sinne und nicht so sehr als tanzähnliche Metren späterer Musik, wie sie uns allen in den Knochen steckt, herausarbeiten. Ich würde die Vor-, Zwischen- und Nachspiele besser in die Stücke eingliedern; sie gehören dazu, sind den Liedern selbst aber immer noch untergeordnet. Die Theorien der nachmittelalterlichen Aufführungspraxis stören den Musiker sowohl bei seiner Umsetzung der Ästhetik mittelalterlicher Stücke, wie auch der Realisierung - wenn man ihn so nennen kann - des Makrorhythmus rhetorischer Exposition, der Priorität der Kadenzen und der Phrasenanfänge. Ich bin nicht sicher, ob wir das damals schon erkannten, doch heute ist dieses Problem immer noch aktuell. Im Gegensatz zu heute war die Szene für mittelalterliche Musik damals klein, was zur Isolation der Musiker, die sich mit moderner Musik beschäftigten, von den Musikern, die sich um eine Umsetzung mittelalterlicher Musik bemühten, führte. Wären da nicht die weitsichtigen Aufnahmeproduzenten gewesen, die ihre Firmen davon überzeugten, in Projekte wie das unsere zu investieren, wer weiß, was wohl passiert wäre.

Ich kann mich noch gut an die Aufnahmen in dem alten AEG Studio in München in jenen ersten Tagen des stereophonen Klangs erinnern. Der Saal selbst war klein und hatte eine schlechte, für Aufnahmen nicht geeignete Akustik - was für ein Unterschied zu den fantastischen riesenhaften Gemäuern des Mittelalters. Wir sangen und spielten mit jugendlichem Zutrauen in die musikalischen Entscheidungen, die zum großen Teil auf Instinkt und Einfühlungsvermögen beruhten. Während ich zu diesem Repertoire in den Jahren bis heute wieder und wieder zurückgekehrt bin, erscheint mir kein Unternehmen so groß und weitreichend wie jenes damals.

Quelle: Thomas Binkley: Erinnerungen nach dreißig Jahren, veröffentlicht im Booklet (Übersetzung: Eva Zöllner). Dieser Artikel wurde 1994 geschrieben, ein Jahr vor Thomas Binkleys Tod

CD 1 Track 3, Estivali sub fervore, C.B. No. 79

Estivali sub fervore
Estivali sub fervore,
quando cuncta sunt in flore,
totus eram in ardore.
sub olive me decore,
estu fessum et sudore,
    detinebat mora.

Erat arbor hec in prato
quovis flore picturato,
herba, fonte, situ grato,
sed et umbra, flatu dato.
stilo non pinxisset Plato
   loca gratiora.

Subest fons vivacis vene,
adest cantus philomene
Naiadumque cantilene.
paradisus hic est pene;
non sunt loca, scio plene,
   his iocundiora.

Hic dum placet delectari
delectatque iocundari
et ab estu relevari,
cerno forma singolari
pastorellam sine pari
   colligentem mora.

In amorem vise cedo;
fecit Venus hoc, ut credo.
»ades!« inquam, »non sum predo,
nichil tollo, nichil ledo.
me meaque tibi dedo,
   pulchrior quam Flora!«

Que respondit verbo brevi:
»ludos viri non assuevi.
sunt parentes michi sevi;
mater longioris evi
irascetur pro re levi.
   parce nunc in hora!«
Unter sommerlicher Hitze -
wenn alles in Blüte steht -
war ich durch und durch erglüht.
Unter eines Ölbaums Schmuck,
von Hitze und Mühe erschöpft,
machte ich eine Pause.

Da war ein Baum auf einer Wiese,
bunt gefärbt von Blüten aller Art.
Eine Quelle, Kräuter, schöne Lage,
doch auch von Schatten, Windhauch gesegnet.
Plato hätte mit seinem Stift keinen schöneren
Ort gezeichnet.

Nahebei der sprudelnde Quell eines Bachs,
ringsum der Nachtigallen Gesang
und Lieder der Najaden.
Fast wie im Paradies ist es hier;
es gibt keinen Ort, ich weiß es bestimmt,
der schöne wäre als dieser.

Als ich da genoss, mich zu erfreuen,
und mich erfreute, mich zu ergötzen
und von der Hitze zu erholen,
sehe ich ein Hirtenmädchen
ohne Gleichen, einzigartig
schön, wie es Brombeeren sammelt.

Ich vergehe in Liebe zu dem, was ich sehe;
Venus bewirkte das, wie ich meine.
»Komm her!«, sage ich. »Ich bin kein Räuber,
Ich stehle nichts, ich verletze dich nicht.
Das Meine und mich geb ich dir hin,
die schöner du bist als Flora!«

Sie erwidert mit knappen Worten:
»Ich vergnüge mich nicht mit Männern,
habe grimmige Eltern.
Meine Mutter, schon recht alt,
zürnt selbst wegen Kleinigkeiten.
Lass mich jetzt zufrieden!«

TRACKLIST

CARMINA BURANA

The Benediktbeuren Manuscript c. 1300


CD 1                                                 53'19"

(1) Fas et nefas, C. B. No. 19                        1'32"
    male voices, goblet drum, bells 

(2) Veris dulcis in tempore, C. B. No. 85             2'38" 
    tenor, lute 

(3) Estivali sub fervore, C. B. No. 79                5'15"
    countertenor, flute, goblet drum

(4) In Gedeonis area, C. B. No. 37                    4'29" 
    male voices, flute, fiddle, lute, goblet drum, cimbalom
    
(5) Dulce solum, C. B. No. 119                        2'49" 
    countertenor, long-necked lute 

(6) Iove cum Mercurio, C. B. No. 88a                  2'42" 
    tenor, rebec, cymbalom, goblet drum 

(7) Nomen a solemnibus, C. B. No. 52                  3'40" 
    baritone, flute, fiddle, long-necked lute 

(8) Sic mea fata canendo solor, C. B. No. 116         1'59" 
    countertenor, long-necked lute, goblet drum 

(9) Vite perdite, C. B. No. 31                        3'04"
    baritone, goblet drum 

(10) Tempus transit gelidum, C. B. No. 153            3'32" 
     countertenor, lute 

(11) Fulget dies celebris, C. B. No. 153              1'08" 
     boys' choir, tenor

(12) Exiit diluculo, C. B. No. 90                     1'22"  
     boys' voices, flute, organetto

(13) Conspexit in cespite, C. B. No. 90               0'34"
     boys' voices

(14) Dic, Christi veritas, C. B. No. 131              4'36"
     countertenor

(15) Procurans odium, C. B. No. 12                    2'04"
     three male voices

(16) Planctus ante nescia, C. B. No. 14*              6'28"
     mezzo soprano, long-necked lute

(17) Chramer gip diu varwe mier, C. B. No. 16*        0'31"
     rebec

(18) Diu werlt frovt sih uber al, C. B. No. 161a      0'30"
     baritone, fiddle

(19) Dum iuventus floruit, C. B. No. 30               0'54"
     flute

(20) Sage, daz ih dirs, C. B. No. 147a                0'58"
     mezzo-soprano, baritone, flute, fiddle

(21) Chramer gip diu varwe mier, C. B. No. 16*        1'00"
     mezzo-soprano, bombarde

     
CD 2                                                 46'35"
    
(1) Homo quo vigeas, C. B. No. 22                     1'24"
    mezzo-soprano, three tenors, bass, rebec, trombone
    
(2) Ecce torpet, C. B. No. 3                          6'50"
    bass, organetto, fiddle, lute, tambourine, bells

(3) Licet eger cum egrotis, C. B. No. 8               4'35"
    tenor, rebab

(4) Vite perdite, C. B. No. 31                        2'57"
    mezzo-soprano, countertenor, three tenors,
    bass, rebec, two tambourines 

(5) Crucifigat omnes, C. B. No. 47                    3'00" 
    mezzo-soprano, countertenor, tbree tenors, bass 
    
(6) O varium Fortune, C. B. No. 14                    3'59" 
    mezzo-soprano, tenor 

(7) Celum, non animum, C. B. No. 15                   4'19"
    mezzo-soprano, two tenors 

(8) Dum iuventus floruit, C. B. No. 30                3'12"
    tenor, lute, fiddle 

(9) Axe Phebus aureo, C. B. No. 71                    2'52"
    mezzo-soprano, rebec, lute 

(10) Ecce gratum, C. B. No. 143                       2'59" 
     tenor, lute, fiddle, organetto, bells, tambourine 

(11) Tellus flore, C. B. No. 146                      2'36"
     countertenor, citole 

(12) Tempus est iocundum, C. B. No. 179               3'18"
     mezzo-soprano, rebec, citole 

(13) Nu gruonet aver diu heide, C. B. No. 168a        3'30"
     tenor, harp, psaltery, rebab 


Studio der Frühen Musik 
Thomas Binkley




STUDIO DER FRÜHEN MUSIK

Andrea von Ramm 
   Mezzo-soprano, harp, organetto - Mezzosopran, Harfe, Organello 
   - mezzo-soprano, harpe, organette 
Willard Cobb 
   Tenor, tambourine - Tenor, Tambourin - tenor, tambourins 
Sterling Jones 
   Rebec, fiddle, lyra - Rebec, Fiedel, Lyra - rebec, vielle, lyre 
Thomas Binkley 
   Lute, bass shawm, trombone, tambourine, citole, psaltery 
   - Laute, Pommer, Posaune, Tambourin, Citôle, Psalterium 
   - luth, bombarde, trombone, tambourins, citole, psaltérion 

with - mit - avec: 

Grayston Burgess 
   Countertenor - Kontratenor - haute-contre 
Nigel Rogers 
   Tenor, bells, tambourine - Tenor, Schellen, Tambourin -
   ténor, grelots, tambourins 
Desmond Clayton 
   Tenor - ténor 
Jacques Villisech 
   Bass - Baß - basse 
Karlheinz Klein 
   Baritone - Bariton - baryton 
Lore Wehrung 
   Transverse flute - Querflöte - flûte traversière 
Horst Huber 
   Percussion - Schlagzeug - percussion 
Münchener Marienknaben 
   Chorus Master: Kurt Rith 


Recording Locations:
Munich, September 1964 (CD 1); Amsterdam, October 1967 (CD2) 
Cover: Osias t.E. Beert: Still Life with Fruit (1615) 

(P) 1964/1968 
(C) 2007 

CD 2 Track 2, Ecce torpet, C.B. No. 3

Ecce torpet probitas (Walther von Châtillon)
Ecce torpet probitas,
    virtus sepelitur;
fit iam parca largitas,
    parcitas largitur;
verum dicit falsitas,
    veritas mentitur.
Refl. Omnes iura ledunt
et ad res illicitas
    licite recedunt.

Regnat avaritia,
    regnant et avari;
mente quivis anxia
    nititur ditari,
cum sit summa gloria
    censu gloriari.
Refl. Omnes iura ledunt
et ad prava quelibet
    impie recedunt.

Multum habet oneris
    do das dedi dare;
verbum hoc pre ceteris
    norunt ignorare
divites, quos poteris
    mari comparare.
Refl. Omnes iura ledunt
et in rerum numeris
    numeros excedunt.

Cunctis est equaliter
    insita cupido;
perit fides turpiter,
    nullus fidus fido,
nec Iunoni Iupiter
    nec Enee Dido.
Refl. Omnes iura ledunt
et ad mala devia
    licite recedunt.

Si recte discernere
    velis, non est vita,
quod sic vivit temere
    gens hec imperita;
non est enim vivere,
    si quis vivit ita.
Refl. Omnes iura ledunt
et fidem in opere
    quolibet excedunt.
Sieh, der Anstand liegt ohnmächtig da,
die Tugend wird begraben;
jetzt wird Freigebigkeit sparsam,
Sparsamkeit großzügig;
wahr spricht die Falschheit,
die Wahrheit lügt.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und ungestört ziehen sie
    zum Unerlaubten hin.

Es regiert Habgier,
und es regieren die Habgierigen;
ein jeder strebt mit bangem Sinn,
sich zu bereichern.
Denn es ist der größte Ruhm,
sich eines Vermögens zu rühmen.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und zu jedwedem Schlechten
    ziehen sie gottlos hin.

Große Last bedeutet
»ich gebe«, »du gibst«, »ich gab« und »zu geben«;
die Reichen verstehen es,
vor allem dieses Verb
nicht zu kennen - man könnte sie
mit dem Meer vergleichen.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und jedes Maß überschreiten sie
    mit dem Maß ihres Besitzes.

Allen gleichermaßen
wohnt die Gier inne,
schmählich stirbt die Treue,
dem Treuen ist niemand treu:
weder Jupiter der Juno
noch dem Äneas Dido.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und auf üble Abwege
    weichen sie ungestört aus.

Wenn du ehrlich urteilen
willst, ist das kein Leben,
was das unwissende Volk
so unbedacht verlebt;
denn es handelt sich nicht um »leben«,
wenn jemand so lebt.
Ref. Alle verstoßen gegen das Recht,
    und mit jedwedem Werk
    verletzen sie den Anstand.

Nikolaus Harnoncourt, 2003
Zur Interpretation historischer Musik


Da im heutigen Musikleben die historische Musik eine beherrschende Rolle spielt, ist es gut, sich mit den Problemen, die damit zusammenhängen, auseinanderzusetzen. Es gibt zwei grundverschiedene Einstellungen zu historischer Musik, denen auch zwei ganz verschiedene Arten der Wiedergabe entsprechen: die eine überträgt sie in die Gegenwart, die andere versucht, sie mit den Augen der Zeit ihres Entstehens zu sehen.

Die erste Auffassung ist die natürliche und übliche zu allen Zeiten einer wirklich lebendigen Gegenwartsmusik. Sie ist auch die einzig mögliche während der ganzen abendländischen Musikgeschichte von Beginn der Mehrstimmigkeit bis in die 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, und noch heute huldigen ihr viele große Musiker. Diese Einstellung stammt daher, daß die Sprache der Musik immer als absolut zeitgebunden betrachtet wurde. So empfand man zum Beispiel um die Mitte des 18. Jahrhunderts Kompositionen aus den ersten Jahrzehnten als hoffnungslos altmodisch, wenn man auch ihren Wert als solchen anerkannte. Immer wieder wundern wir uns über die Begeisterung, mit der früher die gegenwärtigen Kompositionen als noch nie dagewesene Höchstleistungen gepriesen wurden. Die Alte Musik wurde nur als Vorstufe dazu betrachtet, bestenfalls als Studienmaterial herangezogen oder in ganz seltenen Fällen für irgendeine besondere Aufführung bearbeitet. Bei jeder dieser seltenen Aufführungen Alter Musik - etwa im 18. Jahrhundert - hielt man eine Modernisierung für unbedingt nötig. Die Komponisten unserer Zeit aber, die historische Werke bearbeiten, wissen genau, daß diese vom Publikum unbearbeitet genauso selbstverständlich angenommen würden; die Bearbeitung entspringt heute also nicht einer absoluten Notwendigkeit wie in früheren Jahrhunderten: wenn überhaupt historische Musik, dann modernisiert, sondern der ganz persönlichen Einstellung des Bearbeiters. Dirigenten wie Furtwängler oder Stokowski, die ein spätromantisches Ideal hatten, haben die ganze frühere Musik in diesem Sinne wiedergegeben. So wurden Bachs Orgelwerke für Wagner-Orchester instrumentiert oder seine Passionen in überromantischer Art mit einem Riesenapparat aufgeführt.

Carmina Burana: Wurfzabelspiel
Die zweite Auffassung, die der sogenannten Werktreue, ist wesentlich jünger als die vorhin besprochene und datiert erst etwa vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Seither wird die »werkgetreue« Wiedergabe historischer Musik immer mehr und mehr gefordert, und bedeutende Interpreten bezeichnen sie als das von ihnen angestrebte Ideal. Man versucht, der Alten Musik als solcher gerecht zu werden und sie im Sinne der Zeit ihres Entstehens wiederzugeben. Diese Einstellung zur historischen Musik - sie nicht in die Gegenwart hereinzuholen, sondern sich selbst in die Vergangenheit zurückzuversetzen - ist Symptom des Verlustes einer wirklich lebendigen Gegenwartsmusik. Die Musik von heute genügt weder dem Musiker noch dem Publikum, ja deren größerer Teil lehnt sie direkt ab, und um das so entstehende Vakuum auszufüllen, greift man auf die historische Musik zurück. In der letzten Zeit hat man sich schon stillschweigend daran gewöhnt, unter Musik in erster Linie historische Musik zu verstehen; die zeitgenössische Musik läßt man höchstens nebenbei gelten.

Diese Situation ist in der Musikgeschichte absolut neuartig. Ein kleines Beispiel mag dies illustrieren: würde man heute die historische Musik aus dem Konzertsaal verbannen und nur moderne Werke aufführen, wären die Säle bald verödet - genau das gleiche wäre aber zu Mozarts Zeit passiert, wenn man dem Publikum die zeitgenössische Musik vorenthalten und nur Alte Musik (zum Beispiel Barockmusik) vorgesetzt hätte. Man sieht, heute trägt die historische Musik, besonders die des 19. Jahrhunderts, das Musikleben. Das war seit Bestehen der Mehrstimmigkeit noch nie der Fall. Ebenso hatte man früher kein Bedürfnis nach einer werkgetreuen Wiedergabe historischer Musik, wie man sie heute fordert. Die historische Schau ist einer kulturell vitalen Zeit absolut wesensfremd. Man sieht dies auch in den anderen Künsten: so hat man beispielsweise früher bedenkenlos an eine gotische Kirche eine barocke Sakristei angebaut, die herrlichsten gotischen Altäre weggeworfen und barocke aufgestellt, während man heute alles peinlichst restauriert und erhält. Diese historische Einstellung hat auch ein Gutes: sie ermöglicht uns, erstmalig in der Geschichte unserer christlich-abendländischen Kunst, einen freien Standpunkt einzunehmen und so das ganze Schaffen der Vergangenheit zu überblicken. Dies ist die Ursache für die immer größere Ausbreitung historischer Musik in den Konzertprogrammen.

Carmina Burana: Schachspiel
Die letzte musikalisch lebendig schöpferische Zeit war die Spätromantik. Die Musik Bruckners, Brahms', Tschaikowskys, Richard Strauss' und anderer war noch lebendigster Ausdruck ihrer Zeit. Dort aber ist das ganze Musikleben stehengeblieben: diese Musik ist noch heute die am meisten und liebsten gehörte, und die Ausbildung der Musiker an den Akademien folgt noch immer den Prinzipien dieser Zeit. Es scheint fast, als wolle man nicht wahrhaben, daß seither viele Jahrzehnte vergangen sind.

Wenn wir heute historische Musik pflegen, so können wir dies nicht mehr so tun wie unsere Vorgänger in großen Zeiten. Wir haben die Unbefangenheit verloren, in der Gegenwart den Maßstab zu sehen, der Wille des Komponisten ist für uns höchste Autorität, wir sehen die Alte Musik an sich in ihrer eigenen Zeit und müssen uns daher bemühen, sie werkgetreu darzustellen, nicht aus musealen Gründen, sondern weil es uns heute der einzig richtige Weg zu sein scheint, sie lebendig und würdig wiederzugeben. Werkgetreu aber ist eine Wiedergabe dann, wenn sie sich der Vorstellung des Komponisten zur Zeit der Komposition annähert. Man sieht, daß dies nur bis zu einem gewissen Grad zu verwirklichen ist: die Urplanung eines Werkes läßt sich nur ahnen, besonders, wenn es sich um Musik weit zurückliegender Zeiten handelt. Anhaltspunkte, die einem den Willen des Komponisten zeigen, sind die Vortragsbezeichnungen, die Instrumentation und die vielen Gebräuche der Aufführungspraxis, die sich immer wieder geändert haben und deren Wissen die Komponisten bei ihren Zeitgenossen natürlich voraussetzten. Für uns bedeutet das ein umfangreiches Studium, aus dem man in einen gefährlichen Fehler verfallen kann: die Alte Musik nur vom Wissen her zu betreiben. So entstehen jene bekannten musikwissenschaftlichen Aufführungen, die historisch oft einwandfrei sind, denen aber jedes Leben fehlt. Da ist eine historisch ganz falsche, aber musikalisch lebendige Wiedergabe vorzuziehen. Die Erkenntnisse der Musikwissenschaft sollen aber natürlich nicht Selbstzweck sein, sondern uns nur die Mittel für die beste Wiedergabe in die Hand geben, denn werkgetreu ist sie schließlich auch nur dann, wenn das Werk am schönsten und klarsten zum Ausdruck kommt, und das wird dann sein, wenn sich Wissen und Verantwortungsbewußtsein mit tiefstem musikalischen Empfinden vereinen.

Carmina Burana: Das Würfelspiel
Den fortwährenden Umwandlungen der Musizierpraxis schenkte man bisher sehr wenig Beachtung, ja sie wurden als unwesentlich empfunden. Schuld daran ist die Vorstellung von der »Entwicklung« aus primitiven Urformen über mehr oder weniger mangelhafte Zwischenstufen bis zu ihrer endgültigen »idealen« Gestalt. Diese ist dann natürlich den »Vorstufen« in allem überlegen. Diese Ansicht ist als Überbleibsel aus den Zeiten lebendiger Kunst noch heute sehr verbreitet. So hatten sich in den Augen der damaligen Menschen die Musik, die Spieltechnik und die Musikinstrumente bis auf diese höchste Stufe, die jeweilige Gegenwart, »herauf«entwickelt. Seit wir aber in der Lage sind, einen Überblick zu gewinnen, hat sich diese Meinung, was die Musik selbst betrifft, schon umgekehrt: wir können keine Wertunterschiede mehr machen zwischen der Musik Brahms', Mozarts, Bachs, Josquins oder Dufays - die Theorie von der Aufwärtsentwicklung ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Nun spricht man von der Zeitlosigkeit aller großen Kunstwerke, und diese Auffassung ist, so wie sie allgemein verstanden wird, genauso unrichtig wie die der Aufwärtsentwicklung. Die Musik ist wie jede Kunst unerhört zeitgebunden, sie ist der lebendige Ausdruck nur ihrer Zeit, sie wird nur von den Zeitgenossen restlos verstanden. Unser »Verständnis« Alter Musik kann uns den Geist, aus dem sie entstanden ist, nur ahnen lassen. Wir sehen, daß die Musik immer der geistigen Situation ihrer Zeit entspricht. Ihr Gehalt kann nie über das menschliche Ausdrucksvermögen hinausgehen, und jeder Gewinn auf der einen Seite muß mit einem Verlust auf einer anderen bezahlt werden.
Carl Orff hat nicht nur die Musik seiner "Carmina Burana"
frei erfunden. Auch das Glücksrad, das für die Inszenierungen
des Orffschen Werks offensichtlich unentbehrlich ist, ist nicht
aus mittelalterlichen Quellen geschöpft.
Weil man sich im allgemeinen nur wenig klar ist über Art und Umfang der Änderungen, die die Musikpraxis in unzähligen Einzelheiten durchmachte, seien sie noch kurz besprochen; etwa die Notation, die bis in das 17. Jahrhundert dauernden Wandlungen ausgesetzt war und deren von da ab »eindeutige« Zeichen trotzdem bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts oft sehr verschieden verstanden wurden. Der heutige Musiker spielt genau das, was in den Noten steht, ohne zu wissen, daß das mathematisch genaue Notieren erst im 19. Jahrhundert üblich wurde. Weiters bildet der Riesenkomplex der Improvisation, bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts untrennbar mit der ganzen Musizierpraxis verknüpft, eine ungeheure Quelle von Problemen. Die Unterscheidung der einzelnen Entwicklungsphasen für die jeweiligen Zeitabschnitte setzt ein umfangreiches Fachwissen voraus, dessen konsequente Verwertung sich im Formalen und Gestaltungsmäßigen der Wiedergabe zeigt. Was aber einen unmittelbar wahrnehmbaren Unterschied macht, ist das Klangbild (das heißt Klangfarbe, Charakter und Stärke der Instrumente und anderes). Denn ebenso wie die Lesart der Notation oder die Praxis der Improvisation dem Zeitgeist entsprechend dauernder Veränderung unterworfen war, wandelten sich gleichzeitig die Klangvorstellung und das Klangideal und damit auch die Instrumente als solche, deren Spielweise und sogar die Gesangstechnik. Zum Komplex des Klangbildes gehört auch noch der Raum, das heißt dessen Größe und Akustik.

Selbst bei den Wandlungen der Spielweise - also der Technik - kann nicht von einer »Aufwärtsentwicklung« gesprochen werden, sie paßt sich ebenso wie die Instrumente den Forderungen ihrer Zeit immer restlos an. Dem könnte entgegengehalten werden, daß die Anforderungen an die Spieltechnik immer größer wurden; das ist richtig, bezieht sich aber immer nur auf gewisse Gebiete der Spieltechnik, während die Anforderungen auf anderen Gebieten wieder geringer wurden. Freilich, kein Geiger des 17. Jahrhunderts könnte zum Beispiel das Brahms-Konzert spielen, aber genauso ist kein Brahms-Geiger imstande, schwierige Werke aus der Violinmusik des 17. Jahrhunderts tadellos wiederzugeben. Eine ganz andere Technik ist für das eine und das andere erforderlich, jede für sich ist gleich schwierig, nur grundsätzlich verschieden.

Bert Osias der Ältere (1580-1623): Stillleben mit Früchten
 (um 1615), Öl auf Holz, 56 x 78 cm, Privatsammlung,
Deutschland. [Quelle]
Ähnliche Veränderungen sehen wir an der Instrumentation und an den Instrumenten. Jede Zeit hat genau das Instrumentarium, das ihrer Musik am meisten gerecht wird. In der Vorstellung der Komponisten klingen die Instrumente ihrer Zeit, sie schreiben oft bestimmten Instrumentalisten in die Hände; instrumentengerechte Spielbarkeit wurde seit jeher gefordert; unspielbar waren nur schlecht komponierte Stücke, und ihr Hervorbringer machte sich lächerlich. Daß viele Werke alter Meister heute als nahezu unspielbar gelten (zum Beispiel Bläserstimmen in der Barockmusik) liegt daran, daß die Musiker mit den jetzigen Instrumenten und der heutigen Spielweise an diese Werke herangehen. Leider ist es eine fast unerfüllbare Forderung, von einem heutigen Musiker zu verlangen, er solle auf alten Instrumenten und nach der alten Technik spielen. Man soll daher die Schuld an den unspielbaren Stellen oder anderen Schwierigkeiten nicht den früheren Komponisten geben oder, wie dies oft geschieht, die Musikpraxis früherer Zeiten als technisch unzulänglich bezeichnen. So kommt man zu dem Schluß, daß die Spitzenmusiker zu allen Zeiten die schwersten Werke ihrer Komponisten wiedergeben konnten.

Aus all dem sind die ungeheuren Schwierigkeiten zu erahnen, die sich dem Versuch eines werkgetreuen Musizierens entgegenstellen. Kompromisse sind nicht zu vermeiden: wie viele Fragen sind ungeklärt, wie viele Instrumente sind nicht mehr aufzutreiben oder es ist kein Musiker dafür zu finden. Wo es aber möglich ist, ein hohes Maß an wirklicher Werktreue zu erreichen, wird man von ungeahnten Reichtümern belohnt. Die Werke offenbaren sich von einer ganz neuen-alten Seite, und viele Probleme klären sich nun von selbst. So wiedergegeben, erklingen sie nicht nur historisch korrekter, sondern auch lebendiger, weil sie ganz mit den ihnen entsprechenden Mitteln dargestellt werden, und man bekommt eine Ahnung von den geistigen Kräften, die die Vergangenheit fruchtbar gemacht haben. Die Beschäftigung mit Alter Musik gewinnt so, über den nur aesthetischen Genuß hinaus, einen tiefen Sinn für uns.

Quelle: Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede. Wege zu einem neuen Musikverständnis. Essays und Vorträge. Kassel, 1982, ISBN 3-7618-1098-9, Seite 13-18

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