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28. April 2015

Henry Purcell: 10 Sonaten zu vier Stimmen + 12 Sonaten zu drei Stimmen

Purcell war Londoner und verbrachte sein ganzes Leben in dieser Stadt, einer der größten und betriebsamsten der damaligen Welt. London war nicht nur der Mittelpunkt von Hof und Parlament sondern auch das Industrie- und Handelszentrum. Wie so oft entfernten sich diese beiden Schwerpunkte allmählich geographisch voneinander; der Hof etablierte sich bei der alten Abtei, eine Meile westlich der City of Westminster. 1659 wurde Purcell in der Nähe der Abtei geboren und verbrachte sein ganzes allzu kurzes Leben nahezu in ihrem Schatten. Abgesehen von seiner späteren Arbeit für das Theater drehte sich sein Leben um die Abtei und das Schloß Whitehall. Von den Gebäuden des Schlosses blieb nach dem Brand von 1698 nur das Festhaus von Inigo Jones erhalten. Die Westminster Abbey jedoch blieb unversehrt. In ihr ist Purcell beigesetzt worden, und seine Gedenkstätte kann man heute noch besichtigen: "Hier ruht der edle Henry Purcell, welcher aus diesem Leben schied und in jenen heiligen Ort einging, an dem allein seine Harmonien übertroffen werden können. Obiit 21mo die Novembris Anno Aetatis suae 37mo Annoque Domini 1695" (Er starb am 21.November im Alter von 37 Jahren im Jahre des Herrn 1695).

Als Knabe gehörte er zum Chor der Chapel Royal, die normalerweise in der verhältnismäßig kleinen Kapelle des Whitehall Palace sang. Nach seinem Stimmbruch im Jahre 1673 kümmerte er sich um die Instrumente und stimmte auch die Orgel in der Westminster Abbey, wo er dann 1679 Organist wurde. Inzwischen war er auch zum Hofkomponisten ernannt worden: 1677 folgte er Matthew Locke nach dessen Tod in sein Amt. Als er 1682 auch noch einer der Organisten an der Chapel Royal wurde, hatte er sich als junger Mann von Anfang zwanzig bereits einen guten Ruf gesichert.

Zehn Sonaten zu vier Stimmen (Z.802-811, London, 1697)

Zu den faszinierendsten Manuskripten der British Library (add. 30930) gehört ein Notenbuch in der Handschrift von Henry Purcell. In einem Teil dieses Bandes befindet sich eine Sammlung geistlicher Musik, darunter das herrliche Werk Jehova, quam multi sunt hostes; dreht man das Buch um und liest es vom anderen Ende her, trifft man dort auf eine Reihe von Instrumentalmusikstücken. Am Anfang stehen die Fantazias; die vierstimmigen sind sorgfältig datiert (die meisten vom Juni 1680); Purcell schrieb sie also mit einundzwanzig Jahren. Diese Fantazias beweisen, wie meisterhaft er inzwischen den englischen Kompositionsstil beherrschte. Unter den darauffolgenden Stücken befinden sich die berühmte Chaconne in g-moll und eine Ouvertüre, die zeigt, daß Purcell sich auch den französischen Instrumentalstil zu eigen gemacht hatte. Eine Gruppe von Stücken mit den Hinweis "Here begineth ye 6, 7, & 8 part Fantazia's" schließt sich an; doch bedauerlicherweise ist keine achtstimmige Fantazia enthalten. Es folgen acht "Sonnata's"; Frühfassungen jener Sonaten, die unter dem Titel "10 Sonata's in Four Parts" erst im Jahre 1697 veröffentlicht wurden.

In der Zwischenzeit (1695) war Purcell gestorben. Ähnlich wie Constanze Mozart ging auch Purcells Frau Frances nach dem frühem Tod ihres Mannes daran, seine in ihrem Besitz befindlichen Kompositionen kommerziell zu verwerten, indem sie während der folgenden Jahre mehrere Sammlungen herausgab. Von einer schon 1683 veröffentlichten und mit nur mäßigem Erfolg verkauften Reihe von Triosonaten waren etliche übriggeblieben. Trotzdem organisierte Frances den Druck einer weiteren Sammlung.

Sir Anthony Van Dyck: Eine Dame aus der
Familie Spencer, ca. 1633/38, Öl auf Leinwand,
 207,6 x 127,6 cm, Tate Gallery
Üblicherweise enthielt eine solche Veröffentlichung sechs oder zwölf Werke; offenbar konnte Frances Purcell aber nur zehn finden. An einigen Stellen unterscheidet sich die Druckausgabe vom Manuskript; so wurden die Sonaten Nr.5 und Nr.6 aus anderen Quellen eingefügt; Henry Purcell hatte also möglicherweise die 1683 nicht veröffentlichten Trios für eine spätere Verwendung überarbeitet. Diese "neuen" Sonaten scheinen ursprünglich früher entstanden zu sein als die 1683 herausgebrachten, denn keine von ihnen war in dem besagten Manuskript enthalten, und die Ausgabe von 1697 zeigt nichts von dem mehrfachen Stilwandel, den Purcells Musik in der Zwischenzeit durchgemacht hatte.

Doch nicht nur Purcells Stil hatte sich gewandelt: in den etwa zehn Jahren zwischen der Veröffentlichung der Sonaten und der Ankunft Händels in England änderte sich die gesamte musikalische Sprache in ganz erheblichem Maße. Corellis Sonaten begründeten einen neuen Instrumentalstil, und Purcells Sonaten verschwanden aus dem Repertoire, obgleich sein guter Ruf als Komponist von Vokalwerken sich weiter festigte. Lediglich die Sonate Nr.9 erfreute sich weiterhin einiger Beliebtheit. 1704, als sie schon ihren Spitznamen "The Golden Sonata" hatte, und noch einmal 1707 erschien sie in einem Separatdruck; 1776 wurde sie ungekürzt in Sir John Hawkins' A General History of the Science and Practice of Music übernommen. Diese Sonate Nr.9 war bis weit ins 20.Jahrhundert hinein die einzige englische Triosonate aus dem 17. Jahrhundert, an die Musiker herankommen konnten. Obgleich zweifellos von guter Qualität, ist sie aus einem vielleicht ebenso negativen wie positiven Grunde so beliebt: stärker als die anderen Sonaten ist sie von unaufhörlichem Wohlklang geprägt.

Der Unterschied in den Titeln der Drucke von 1683 (Twelve Sonnata's of Three Parts) und 1697 besagt nichts; beide Ausgaben sind für zwei Violinen und Baß mit der Begleitung durch ein Tasteninstrument. Das Violoncello setzte sich in England nur langsam durch, so daß die Baßstimme wahrscheinlich eher auf der Baßgambe oder der Baßgeige als auf dem Violoncello gespielt wurde. Man weiß, daß Purcell einige seiner Trios mit Amateuren gespielt hat. So berichtet zum Beispiel Roger North, sein Bruder Francis, der Lordkanzler, habe "den göttlichen Purcell veranlaßt, seine im italienischen Stil geschriebenen Kompositionen mitzubringen; und mit ihm am Cembalo, mit mir und einem anderen Geiger führten wir sie mehr als einmal auf, worauf Mr. Purcell nicht wenig stolz war; und es war für einen Mann seines Ranges durchaus nicht üblich, sich in dieser Weise unterhalten zu lassen": Francis North spielte die Baßgambe, ein Instrument, das bei adligen Herren beliebter war als die Baßgeige oder das Violoncello. Andere Amateure kauften Kopien zu ihrem eigenen Vergnügen, um daraus mit ihren Bediensteten, Freunden oder Musiklehrern zu musizieren. Wahrscheinlich sind diese Stücke auch bei Hofe gespielt worden, obwohl man ihnen sicherlich nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit entgegenbrachte, denn sie werden auch als Hintergrundmusik verwendet worden sein.

Diese Sonaten von Purcell stehen sowohl am Ende einer Tradition, welche mit der Kammermusik anfing, die Coprario und Gibbons für Charles I. komponierten, als auch am Beginn einer anderen, nämlich der Tradition der spätbarocken Triosonate, die in England von Corellis vier Sonatensammlungen (op. 1-4) beeinflußt wurde. Möglicherweise kannte Purcell Corellis op.1 (erste Veröffentlichung 1681), als er seine Sonaten komponierte. Doch der italienische Einfluß in seinen Sonaten stammt hauptsächlich von Komponisten aus der Generation vor Corelli. Bei der Ausgabe von 1697 fehlt das propagandistische Vorwort, das noch die Sammlung von 1683 zierte: "Eine genaue Nachahmung der berühmtesten italienischen Meister"; denn im Jahre 1697 war der italienische Stil nicht mehr die Ausnahme, sondern eine Selbstverständlichkeit.

CD 1, Track 26: Sonate Nr. 6 in g moll (Z.807)


TRACKLIST 

CD 1                                                     75'00

Henry Purcell

"Ten Sonata's in Four Parts" (London, 1697) 

Sonata no.1 in G minor / sol mineur / g-moll (Z.802) 
01 Adagio                                                 0'48
02 Canzona. Allegro                                       1'14
03 Largo                                                  1'46
04 Vivace - Grave                                         1'51

Sonata no.2 in E flat major / Mi bémol majeur / Es-dur (Z.803)
05 Adagio                                                 1'24
06 Canzona. Allegro                                       1'59 
07 Adagio                                                 1'29
08 Largo                                                  1'04 
09 Allegro                                                1'03 

Sonata no.3 in A minor / la mineur / a-moll (Z.804) 
10 Grave                                                  1'25
11 Largo                                                  1'28
12 Adagio                                                 1'08 
13 Canzona                                                1'20
14 [Allegro] 9/8 - Grave                                  1'41 

Sonata no.4 in D minor / ré mineur / d-moll (Z.805) 
15 Adagio                                                 2'06
16 Canzona                                                1'25 
17 Adagio                                                 0'44
18 Vivace                                                 1'37
19 Largo                                                  1'24

Sonata no.5 in G minor / sol mineur / g-moll (Z.806) 
20 [...]                                                  1'31
21 Canzona                                                1'02 
22 Largo                                                  2'08
23 Adagio                                                 0'37
24 Presto                                                 0'24
25 Allegro - Adagio                                       1'45 

Sonata no.6 in G minor / sol mineur / g-moll (Z.807) 
26 Adagio (Ground on the bass of Lully's Scocca pur)      6'24 

Sonata no.7 in C major / Do majeur / C-dur (Z.808) 
27 Vivace                                                 1'03 
28 Largo                                                  1'07 
29 Grave                                                  0'38 
30 Canzona                                                1'29 
31 Allegro                                                1'35 
32 Adagio                                                 0'50 

Sonata no.8 in G minor / sol mineur / g-moll (Z.809) 
33 Adagio                                                 1'39 
34 Canzona                                                1'12 
35 Grave                                                  0'28 
36 Largo                                                  3'00
37 Allegro                                                0'31 

Sonata no.9 in F major / Fa majeur / F-dur (Z.8l0) 
[The Golden Sonata] 
38 [...]                                                  0'57 
39 Adagio                                                 1'19 
40 Canzona. Allegro                                       1'49 
41 Grave                                                  1'05 
42 Allegro                                                1'21 

Sonata no.10 in D major / Ré majeur / D-dur (Z.811) 
43 Adagio                                                 1'11 
44 Canzona. Allegro                                       1'27 
45 Grave                                                  1'07 
46 Largo                                                  0'51 
47 Allegro                                                0'48 

Appendix. Sonata 7 
48 Largo                                                  0'58 
49 Grave                                                  0'35 
50 Canzona                                                1'34 

Appendix. Sonata 8 
51 Grave                                                  0'30 
52 Largo                                                  2'40 

Sir John Everett Millais: Charles I and sein Sohn im
Atelier von Van Dyck, 1849, Öl auf Holz,
15,9 x 11,4 cm, Tate Gallery
Zwölf Triosonaten zu drei Stimmen (Z.790-801, London, 1683)

Daß Henry Purcells beruflicher Erfolg auch aufgrund seiner kompositorischen Leistungen gerechtfertigt war, zeigt seine erste Veröffentlichung, die ausschließlich eigene Werke enthielt: "Sonnata's of III Parts: Two Violins And a Basse: To the Organ or Harpsecord" (Sonaten zu drei Stimmen, zwei Violinen und Baß: zu Orgel oder Cembalo). Der Stimme der ersten Violine ist ein Kupferstich vorangestellt: "Vera effigies Henrici Purcell Aetat: suae 24" ("ein wahres Portrait von Henry Purcell im Alter von 24 Jahren"). Das Werk enthält eine Widmung an den König (Charles II.), sowie eine Einführung, die sehr wohl von Purcells eigenen Vorstellungen inspiriert worden sein könnte, obgleich sie in der dritten Person geschrieben ist. Der Hauptgedanke dieser Einführung ist das kühne Anliegen, den englischen Hörern Musik des neuen italienischen Stils nahezubringen: "Er hat sich ehrlich bemüht, die berühmtesten italienischen Komponisten auf das Getreueste nachzuahmen, in der Absicht, die Ernsthaftigkeit und den Wert dieser Art von Musik bei unseren Landsleuten bekannt und beliebt zu machen; es wird höchste Zeit, daß sie sich mit Abscheu von der Leichtfertigkeit und Balladendichterei unserer Nachbarn [Anm. d. Übers.: d.h. der Franzosen] abwenden."

1683 war italienische Musik als solche durchaus nichts Neues, auch nicht das, was wir heute als Triosonatenform bezeichnen. Die um 1620 als erste Sammlung für Streicherensemble in England veröffentlichten neun dreistimmigen Fantasies von Gibbons enthalten fünf solcher Beispiele. Der Druck enthält keine Stimme für Tasteninstrumente, doch lassen einige erhaltene Manuskripte vermuten, daß diese Stücke zuweilen mit Orgelbegleitung gespielt wurden. Spätere englische Komponisten haben wahrscheinlich sowohl für eine Violine und Baß als auch für zwei Violinen und Baß geschrieben, wogegen in Italien die Kombination mit zwei Violinen allgemein üblich war. Weniger einheitlich wurde der Baß gehandhabt. Wie bei den Stücken für Solovioline herrschte im 17. Jahrhundert fast durchgehend auch eine deutliche Trennung zwischen Sonaten für zwei Violinen und Continuo (in denen die für Laute oder Tasteninstrument vorgesehene Continuostimme im großen und ganzen weniger aktiv und thematisch orientiert war) und den Sonaten für zwei Violinen und Baß, die neben einer eigenständigen Baßstimme zusätzlich noch einen einfacher gehaltenen Continuopart enthielten. Purcells zweite Sonatensammlung trägt den Titel "Ten Sonata's in Four Parts" , doch die Instrumentation zeigt keine Unterschiede: beide Sammlungen enthalten getrennte Baßstimmen für Tasteninstrumente. [Anm. d. Übers.: diese zweite Sammlung erschien zwar erst 1697, nach Purcells Tod, ist aber gleichzeitig mit der ersten um 1680 entstanden.] Um 1680 diente das Violoncello in Italien fast ausnahmslos als Streichinstrument für die Baßstimme; in England jedoch blieb die Baßgambe das bevorzugte Baß-Instrument, vor allem auch bei den Amateuren.

Sir Anthony Van Dyck: Selbstporträt mit Sonnenblume, ca. 1632,
Öl auf Leinwand, 60 x 73 cm, Privatbesitz
Während Purcells kurzer Lebenszeit stand die englische Instrumentalmusik hauptsächlich unter französischem Einfluß. Das läßt sich an den Ouvertüren und Ritornellen zu den Anthems nachweisen, die der frühverstorbene Pelham Humfrey (1647-1674) für die Chapel Royal komponierte. Da Pepys ihn als "einen absoluten Monsieur" beschreibt, kann man vermuten, daß nicht allein seine Kompositionen sondern auch sein Lebensstil französisch beeinflußt waren. Doch war auch italienisches Notenmaterial im Umlauf. Eine ganze Menge war im Druck erschienen, adlige Italienbesucher (wie zum Beispiel der Chronist John Evelyn), ebenso wie durchreisende italienische Musiker, hatten Noten nach London mitgebracht. Wahrscheinlich hörte Purcell den Geigenvirtuosen Vincenzo Albrici bei dessen Konzert, das er Mitte der 1660er Jahre in Whitehall gab; um 1670 ließ sich der neapolitanische Geiger Nicola Matteis in London nieder. Giovanni Battista Draghi (1675 als "Meister der italienischen Musik für den König" erwähnt) und Pietro Reggio waren keine Geiger, doch könnten sie Purcell einen Zugang zu italienischer Musik und italienischen Stilen ebenso vermittelt haben wie die private Kapelle von Maria von Modena, der Gemahlin des späteren Königs James II. Im Jahr 1694 zitiert Purcell in seiner Überarbeitung der Introduction to the Skill of Music (Einführung in die Kunst der Musik) von John Playford aus einem Trio von Lelio Colista; dies stammt allerdings mit ziemlicher Sicherheit aus einer Sonate von Carlo Ambrogio Lonati, der möglicherweise in den 1680er Jahren London besuchte.

Wenn man auch im Jahre 1683 die italienische Machart dieser Sonaten als besonders neu und interessant empfand, so wird der heutige Hörer wahrscheinlich eher ihre typisch englischen Eigenschaften wahrnehmen. Besonders auffällig ist die Dichte ihrer kontrapunktischen Durchführung. Außer in den Expositionen der Fugen haben die einzelnen Instrumente bemerkenswert wenig Pausen, und doch sind die Stimmen in höchstem Maße thematisch miteinander verflochten. Diese Besonderheit hat ihre Wurzel in der fantasy der englischen Gambenmusik; Purcell selber hatte drei Jahre zuvor die letzten und kunstvollsten dieser Gattung komponiert. Die harmonische Durchführung enthält, obwohl sie einen über ihre Richtung nie im Unklaren läßt, eine gewisse "Pikanterie" [Anm. d. Übers.: Schärfung der Dissonanzen durch konsequente Stimmführung], welche die Komponisten auf dem europäischen Kontinent zumeist schon als altmodisch abgetan hatten. Heutzutage ist aber gerade sie von ganz besonderem Reiz.

Quelle: Clifford Bartlett (Übersetzung Ingeborg Neumann), im Booklet

CD 2, Track 12: Sonate Nr. 12 in D dur (Z.801)


TRACKLIST 

CD 2                                                         70'32

Henry Purcell

"Twelve Sonatas of three parts" (London, 1683) 

Chaque sonate commence par un mouvement sans titre [...] 
Each sonata begins with an untitled movement 
Jede Sonate beginnt mit einem Satz ohne Bezeichnung 

Sonata no.1 in G minor / sol mineur / g-moll (Z.790) 
01 [...] / Vivace / Adagio - Presto / Largo                   6'08

Sonata no.2 in B flat major / Si bémol majeur / B-dur (Z.791) 
02 [...] / Largo - Presto / Adagio - Vivace / Allegro         5'40

Sonata no.3 in D minor / ré mineur / d-moll (Z.792) 
03 [...] / Adagio / Canzona - Adagio / Poco largo - Allegro   5'18 

Sonata no.4 in F major / Fa majeur / F-dur (Z.793) 
04 [...] / Canzona / Poco largo / Allegro                     5'27

Sonata no.5 in A minor / la mineur / a-moll (Z.794) 
05 [...] / Adagio / Largo / Grave - Canzona - Adagio          5'19 

Sonata no.6 in C major / Do majeur / C-dur (Z.795) 
06 [...] / Canzona / Largo / Allegro                          6'32

Sonata no.7 in E minor / mi mineur / e-moll (Z.796) 
07 [...] / Canzona / Largo / Grave / Vivace - Allegro         6'58 

Sonata no.8 in G major / Sol majeur / G-dur (Z.797) 
08 [...] / Poco largo - Allegro / Grave - Vivace - Allegro    5'15 

Sonata no.9 in C minor / do mineur / c-moll (Z.798) 
09 [...] / Largo / Canzona - Adagio / Allegro                 7'13

Sonata no.10 in A major / La majeur / A-dur (Z.799) 
10 [...] / Largo / Grave - Presto                             4'40

Sonata no.11 in F minor / fa mineur / f-moll (Z.800) 
11 [...] / Canzona / Adagio / Largo                           5'25 

Sonata no.12 in D major / Ré majeur / D-dur (Z.801) 
12 [...] / Canzona / Poco largo / Grave - Presto / Allegro    5'12 


London Baroque:
Ingrid Seifert - violon 
Richard Gwilt - violon  
Charles Medlam - viole de gambe 
Richard Egarr - clavecin et orgue


Enregistrement octobre 1992 (CD 1), mars 1993 (CD 2) 
Prise de son et direction artistique: Nicholas Parker 
Montage: Adrian Hunter 
Couverture: Van Dyck: A Lady of the Spencer Family (Tate Gallery)
® 1993, 2003 

Maske und Improvisation

Die Geburt der europäischen Schauspielkunst

Jacques Callot: Die zwei Pantalons, 1616
Totus mundus agit histrionem, das ist: Alle Welt schauspielert, so verkündete die Inschrift über dem Eingang des Globe Theaters in London, der Bühne Shakespeares. Was die Klage der Moralisten war, war der Stolz der Komödianten. In der Welt des Barock, in der das schöne Scheinen zum Prinzip der Kunst und zum Gebot der Gesellschaft erhoben worden war, durften sie sich als die wahren Repräsentanten des Zeitgeists fühlen.

Der Schauspieler ist ein Geschöpf des Barock. Mehr als tausend Jahre lang hatte der mimische Trieb des Volkes geschlummert. Zwar wird uns schon im ausgehenden Mittelalter hier und dort von fahrenden Gauklern berichtet, die truppenweise auftraten und auf Jahrmärkten oder in Wirtshäusern auf roh gezimmerten Podien derbe Schwänke aufführten, und das Alter dieser wandernden Histrionen ist gar nicht abzusehen. Aber nun ist es, als ob die Grundwasser stiegen. Aus dem Dunkel der Geschichte und aus den Niederungen der Gesellschaft tauchen sie plötzlich herauf, wie auf geheime Verabredung, in ganz Europa vom Tajo bis zur Themse. Niemand weiß, woher sie stammen, sie sind auf einmal da, und sie vermehren sich in geometrischer Proportion. In England kennt man vor der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts keine Truppe, aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts sechsundfünfzig Truppen, und diese Zahl ist kaum vollständig. In Spanien will man im Jahre 1636 nicht weniger als dreihundert zählen.

Wie Nomaden ziehen sie von Ort zu Ort. Wenn eine Stadt abgegrast ist, wenden sie sich zu der nächsten, wo sie schon fieberhaft erwartet werden. Spanien ist binnen kurzem von ihnen überschwemmt. Die italienischen Truppen haben in zwei Jahrzehnten die ganze Halbinsel erobert und stoßen von dort über die Alpen vor. Sie erscheinen 1568 in München und in Wien, 1571 in Paris, wo sie die »Comédie Italienne« stiften, die sich ansässig macht, und ein Jahrhundert lang italienische Sprache und italienisches Stegreifspiel gegen die einheimische Konkurrenz verteidigen und sich noch ein weiteres Jahrhundert hindurch mit einem lustigen italienisch-französischen Kauderwelsch behaupten.

Von der entgegengesetzten Richtung strömen die englischen Komödianten, nachdem sich ein Teil in London festgesetzt und dort das Theater Shakespeares erzeugt hat, seit 1586 auf das Festland, durchziehen in großen Kreuz- und Querzügen Nordeuropa bis hinüber nach Riga und Warschau, spielen an den Höfen zu Wolfenbüttel und Kassel, auf den Messen zu Frankfurt und Köln und finden solchen Beifall, daß sie bald gar nicht mehr daran denken, in ihre Heimat zurückzukehren, sondern vielmehr in Deutschland bleiben, wo sie sich im Verlauf einer Generation akklimatisieren und in deutschen Truppen fortpflanzen. Es ist dabei bemerkenswert, wie selten sich die Wege der italienischen Banden aus dem Süden und der englischen aus dem Norden kreuzen. Die Engländer betreten nur ausnahmsweise katholischen, die Italiener nur ausnahmsweise protestantischen Boden. Aber diesseits und jenseits der Konfessionsgrenze ist ihr Leben und ihr Auftreten so ähnlich wie das der gleichen Tierart unter verschiedenen Himmeln.

Beispiellos ist die Faszination, die von ihnen ausgeht. Das Volk läuft ihnen nach, von einer Stadt in die andere, die Höfe bewerben, ja reißen sich um sie, und nur das gesittete Bürgertum verschließt sich ihnen mit einem Mißtrauen, hinter dem eine geheime Angst nicht zu verkennen ist. Kein Wunder, denn sie bringen eine neue Offenbarung: das Mimentum.

Claes Jansz Visscher: "Globe Theater",
Londinum florentissima Brittaniae urbs, 1626.
Was man bisher an Theater gekannt hatte, war ein Theater gleichsam ohne Schauspieler gewesen. Gewiß, es hatte seit dem Mittelalter Geistliche gegeben oder ehrbare Handwerker, die einmal im Jahr der Drang anwandelte, sich zu vermummen und fromme oder derbe Reime aufzusagen. Man hatte auch seit dem Humanismus in den Aulen der Schulen Gymnasiasten hören können, die mit ihrem Rhetoriklehrer eine lateinische Komödie einstudiert hatten, um vor den Freunden und Gönnern der Anstalt ihre Fortschritte in den Künsten der Deklamation und des Anstands zu zeigen. Es gab endlich seit der Renaissance überall in Italien Gesellschaften adeliger Dilettanten und bürgerlicher Künstler, die sich Akademien nannten und zu ihrer Unterhaltung miteinander ein klassisches oder modernes Stück »rezitierten«, wie man bezeichnenderweise sagte. Bei allen diesen verdienstlichen Bemühungen steht das Theater im Dienste des Worts und des Geists, und die mimische Interpretation ist auf das Minimum beschränkt, das unentbehrlich ist, um das Wort zu Gehör und die - meist bescheidene - Handlung zu Gesicht zu bringen.

Mit allen diesen Bestrebungen hat das Theater der neuen Mimen nichts gemein, noch weniger gemein als mit den kulturellen Ambitionen des bürgerlichen und domestizierten Theaters, wie wir es kennen. Ihre Arbeit unterschied sich davon durch die rücksichtslose Entfesselung aller histrionischen Mittel, wie sie nur Professionelle sich leisten können, die außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehen und bereit sind, deren Verachtung in Kauf zu nehmen.

Sie entschlagen sich bedenkenlos der berechtigten Hemmungen und der heiligsten Rücksichten. Sie haben keinerlei Respekt vor dem dichterischen Wort oder dem geistigen Gehalt. Sie verletzen - nein: sie martern Geschmack und Anstand. Sie sind ohne jede Einschränkung Schauspieler und nichts als Schauspieler. Wo ihr mimischer Vorteil auf dem Spiele steht, kennen sie keine Schonung. So sind sie in der Literaturgeschichte in Verruf geraten durch die Skrupellosigkeit, mit der sie geheiligte Texte mißhandelten wie die Dramen Shakespeares. Diese waren zwar auch aus dem Theater geboren, aber aus dem gebändigten Theater der stehenden Londoner Bühnen. Nun fallen sie dem entfesselten Theater der fahrenden Komödianten anheim, und »Hamlet« und »Romeo«, »Lear« und »Othello«, »Julius Caesar« und der »Kaufmann von Venedig« sind nicht wiederzuerkennen. Alle Poesie wird unbarmherzig geopfert, der Vers wird in Prosa aufgelöst, die Handlung reduziert auf die nackte Aktion. Diese aber wird wiederum expressiv gesteigert, die Effekte verdoppelt, Komik und Tragik verdickt, und die Tragödie verwandelt sich in die »Haupt- und Staatsaktion«. Nicht besser erging es Corneille und Calderón, Lope de Vega und Molière.

Aber was die Erniedrigung des Dichters und die Unterdrückung der Poesie war, war der Triumph des Theaters. Das Wort ist so nebensächlich, daß die Komödianten - ganz wie die italienischen Sänger in der Oper - in einer Sprache spielen können, die keiner ihrer Zuhörer versteht, und doch an Wirkung nichts einbüßen. Sie können auch der Sprache ganz entraten. Gerade das stumme Spiel, die Pantomime, ist ihre Stärke. Sie wissen noch der alltäglichsten Handlung ein Maximum an Spannung oder Ausdruck abzugewinnen. Wie der Dottore der italienischen Komödie seinen Hut zog oder wie Arlecchino Makkaroni aß, das war ein kleines Drama für sich, das den Zuschauern den Atem raubte.

Aber die Komödianten waren Schauspieler in einem nicht nur radikaleren, sondern auch universaleren Sinn, als uns bekannt ist. Sie verstehen sich nicht nur auf das Spiel der Gesten und Mienen: Sie sind glänzende Fechter, sie können hinreißend tanzen, neue Tänze von einer erschreckenden Wildheit wie die Sarabande. Sie singen zärtliche Romanzen, schaurige Balladen, freche Couplets. Sie begleiten sich dazu mit der Laute; hinter der Bühne erklingen ihre Geigen. Sie sind verwegene Artisten. Sie verstehen sich auf possierliche Sprünge und wirbelnde Pirouetten. Sie schlagen Purzelbäume, Räder, Saltos, sie gehen auf den Händen, auf Stelzen, auf dem Seil. Und so vereinigen sie in ihrer Person die Künste des Schauspiels und der Oper, des Balletts und des Zirkus.

Innenansicht des Swan Theaters. Kopie einer
 Zeichnung von Johannes de Witt, ca. 1596
Wie sie aussehen, das ist komisch und grausig zugleich. Ihre Gesichter lassen sich Verzerrungen gefallen und ihre Gliedmaßen Verrenkungen, die kaum mehr einem menschlichen Körper anzugehören scheinen. Ihre Stimmen krähen und kreischen, grunzen und rülpsen, schluchzen und jauchzen. Sie rollen die Augen und fletschen die Zähne und sind grell geschminkt.

Erschreckend müssen besonders die Schauspieler der italienischen Komödie ausgesehen haben mit ihren halb tierischen, halb teuflischen Masken, - und ihrem Anblick entspricht ihr Spiel: Es ist von einer ästhetischen und moralischen Bedenkenlosigkeit, wie sie noch niemand erlebt hat. Sie hätten Skrupel gehabt, eine feinere Geste zu wählen, solange es eine derbere gab. Sie lassen sich keinen Ausdruck entgehen, der das Publikum zum Schaudern oder zum Wiehern bringen kann. So, mit bizarrem Umriß und unanständiger Gebärde, hat der französische Kupferstecher Callot sie uns überliefert.

Auf dem Grenzrain zwischen dem Grausigen und dem Possenhaften, der dem anhebenden Barock überhaupt so teuer war, tummeln sie sich am liebsten. Aber es ist bemerkenswert, daß die Engländer und die Italiener auf verschiedenen Seiten dieser Grenze zu Hause sind. Das Repertoire der englischen Komödianten, auf dem sich die Dramen Shakespeares, Marlowes, Kyds und ihrer Nachahmer und Übertreiber befinden, bevorzugte die tragischen Stoffe. Sie waren daher stark im Pathetischen und im Pompösen, in der feierlichen Staatsszene und in der lärmenden Kampfszene. Sie waren berühmt für den Radau, den sie machten. Wenn im New Market Theatre in London Schlacht gespielt wurde, konnte man es - so berichtet Addison - noch am anderen Ende der Stadt hören. Aber ihre Schlachten wurden noch übertroffen durch das Spektakel ihrer Folterungen und Hinrichtungen. Im naturgetreuen und waidgerechten Abschlachten von Menschen galten sie für unerreicht. Dann türmten sich die herrenlosen Gliedmaßen, und die Bühne schwamm in Blut.

Im »Titus Andronicus« hat bekanntlich der düstere Greuel, der die elisabethanische Tragödie beherrscht, sich auch Shakespeares bemächtigt. Aber schwerlich hat er geahnt, wie das entfesselte Theater seine Anweisungen auslegen würde. Da sah man, wie der Wüterich eigenhändig seine Rache an zwei unschuldigen Kindlein vollzieht: »Jetzt kömpt einer, bringet ihm ein scharfes Scheermesser und Schlacht Tuch, er macht das Tuch umb, gleich als wenn er schlachten will.« Ein Gefäß wird gereicht, »der elteste Bruder wird erstlich herüber gehalten, er wil reden, aber sie halten jhm das Maul zu. Titus schneidet ihm die Gurgel halb ab. Das Blut rennet in das Gefäss, legen ihn, da das Blut ausgerennet, todt an die Erden.« Dann kommt der andere dran: »Helt jhm ebenso die Gurgel herüber. Er weigert sich hefftig zu Tode, wil reden, aber sie halten jhm das Maul zu. Titus schneidet jhm in die Gurgel, das Blut wird auffgefangen, darnach wird er todt an die Erden gelegt.« Es versteht sich, daß man das rote Blut dabei sprudeln sah, später sah der entsetzte Zuschauer, wie das Gehirn zu Pasteten verarbeitet und verspeist wurde. Besonders das Schlußbild, die »Discovery«, zu der sich auf der englischen Bühne der Hintergrund zu öffnen pflegte, zeigte gern die blutige Bilanz der Handlung. So sah man am Schluß der »Empress of Marocco« die nackten Körper der Opfer in gräßlichen Verrenkungen auf Gerüste geflochten. Ein reisender Franzose fand diesen Geschmack unmenschlich. In England und Deutschland war es dieses, was das Publikum verlangte. Daß einer auf der Bühne »lebendig geschmauchet worden, an händen und füssen mit grossen Ketten über ein Feur hangent, so naturel praesentiret worden ist« vermerkt ein Mann wie der Herzog Ferdinand Albrecht von Braunschweig mit allen Zeichen des Behagens.

Aufführung von Shakespeares "Titus Andronicus", 1594
Ein anderes Extrem kultivierten die Italiener. Hatten die Engländer das Tragische bis ins Blutrünstige getrieben, so steigerten die Italiener das Komische ins Obszöne. Harmlos noch ist die Komik ihrer akrobatischen Tricks, wie sie im Zirkusclown fortlebt. Harmlos auch noch sind die derben Prügeleien, in die mit einer gewissen Regelmäßigkeit jeder Akt ausklingt. In einem Punkt zeigen sie sogar eine bemerkenswerte Enthaltsamkeit: Die Gefräßigkeit ist zwar bei den Italienern wie überall eine Erbeigenschaft der komischen Personen. Aber die Betrunkenheit ist eine Quelle der Komik, die ein Monopol des nördlichen Europa zu sein scheint. Dies ist eine völkerpsychologische Eigentümlichkeit, die nicht nur im Volkstheater, ja überhaupt nicht nur in der Literatur zu beobachten ist. Man weiß, welche Sprudel der Komik in Shakespeares Saufszenen quellen. Man erinnert sich der saufenden und raufenden Bauern in den Schenken der holländischen Maler Ostade und Teniers, der üppigen Gelage des Jordaens, der trunkenen Silene des Rubens. Wer von dort kommt, wird sich wundern, im ganzen südlichen Bereich, auch unter den Schelmen des Velasquez, Murillos oder Caravaggios zwar Trinkern, aber nicht Betrunkenen zu begegnen. Selbst Frankreich scheint die pantagruelischen Bacchanale seiner Renaissance vergessen zu haben. Auf der spanischen und der italienischen Bühne aber ist die Trunkenheit das Privileg der Deutschen und die Flasche ihr Attribut. Nichts ist aufschlußreicher als eine Bühnenanweisung des Lope de Vega: »Zwei Hellebardiere treten auf, gekleidet als Deutsche, mit ihrer [!] Weinflasche.« Dies nur als Randbemerkung.

Es besteht dagegen kein Anlaß, die alkoholische Abstinenz der italienischen Komödianten als eine besondere Wohlerzogenheit auszulegen. Ihre Komik ist gemeiner als jeder Begriff, sie nährt sich aus der frechsten Durchbrechung aller Tabus der Gesittung. Sie beutet die trübe Sphäre der Verdauung und des Geschlechts skrupellos aus. Der italienische Zanni ist ohne Scham. Er verrichtet auf offener Bühne seine Notdurft und treibt seine Kurzweil damit. Klistiere und ihre Wirkungen sind eine unversiegliche Quelle von Späßen. Im Jahre 1716 geschah es im Theater am Kärntnertor zu Wien, daß im »Amphitryon« Merkur und Sosias vor den entsetzten Augen einer reisenden Engländerin, der Lady Montague, ihre Hosen herunterließen. Von den Körperteilen, mit denen die englische Dame dabei so unvermutet bekannt wurde, dürfte einer keinem Geringeren gehört haben als Stranitzky, dem berühmten Schöpfer des Hanswurst. Sie ahnte gewiß nicht, wie froh sie sein konnte, daß sie kaum genug Wienerisch konnte, um zu verstehen, was die beiden sonst miteinander von »Gackheisl« und »Nachtscherb'n« verhandelt haben mochten. Aber es entging ihr nicht, daß die beste Gesellschaft sich dabei vortrefflich unterhielt. Das ebenso beträchtliche erotische Interesse des Zanni beschränkt sich auf den animalischen Vorgang. Doch dafür verbieten sich die Beispiele.

Wenn wir solche Unterscheidungen zwischen den Komödianten aus dem Norden und denen aus dem Süden machen dürfen, so ist das nicht so zu verstehen, als ob dem englischen Clown das Unanständige fremd sei oder dem italienischen Zanni das Grausige. Die unwahrscheinliche Unfläterei der englischen Komödianten, die makabren Späße, die der Zanni mit der Leiche seines Herrn zu treiben vermag, belehren eines anderen.

Durch das Extreme und Exzentrische wirken die Komödianten auf ein Publikum, das nach Erregungen hungerte. überall drängt sich das Volk zu ihren Füßen und harrt für Stunden aus, obwohl es ihrer Sprache gar nicht mächtig ist. Aber es bedarf dessen auch nicht. Ihr exzentrisches Spiel stellt eine mittelbare Verständigung her unterhalb der sprachlichen Region im sogenannten Allgemein-Menschlichen, also: Tierischen. Das Volk spürt Blut von seinem Blut. Der Einbruch der wandernden Komödianten in die abendländische Gesellschaft ist der Aufstand des ein Jahrtausend lang unterdrücleten mimischen Urtriebs aus dem Schoße des Volkes.

Quelle: Richard Alewyn: Probleme und Gestalten. Essays. Insel Verlag, Frankfurt am Main, 1974, ISBN 3-458-05355-7. Seite 20 bis 27. Der Text, von dem hier nur das erste Drittel präsentiert wird, entstand 1937/38 und wurde 1952 unter dem Titel "Schauspieler und Stegreifbühne des Barock" erstmalig veröffentlicht.

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1. Dezember 2014

Giovanni Legrenzi: Sonate a due e tre Opus 2 (Venedig 1655)

In Bergamo, der ehemals venezianischen Festungsstadt im Alpenvorland unweit des Comer Sees, bildet die Kirche Santa Maria Maggiore den malerischen Mittelpunkt der »Città alta«, der Oberstadt. Wer sie betritt, wird sich vielleicht über die wuchtigen Holzemporen wundern, die in die Vierung hineinragen. Etwas von der glanzvollen Kirchenmusik, die auf jenen Emporen im 17. Jahrhundert erklang, ist auf dieser CD festgehalten. Giovanni Legrenzi, seit 1645 Organist der Kirche, hat die Sonaten seines Opus 2 hier zuerst aufgeführt, im Gottesdienst als »Sonate da chiesa«.

Triosonaten für zwei Violinen und Bass in der Messe zu spielen, war damals im venezianischen Teil Norditaliens schon eine Selbstverständlichkeit. In Bergamo hatten diesen Brauch so bedeutende Vertreter der frühbarocken Sonate wie Tarquinio Merula und Giambattista Buonamente eingeführt. Beide machten nur kurz an S. Maria Maggiore Station, und so blieb es Legrenzi vorbehalten, in Bergamo die ersten Triosonaten von epochaler Bedeutung zu schreiben.

Eine besondere Konstellation begünstigte den Geniestreich seines Opus 2: S. Maria Maggiore in Bergamo hatte »in den 1620er Jahren noch als bedeutendstes Musikzentrum Norditaliens nach dem Markusdom gegolten« (Linda Maria Koldau). Noch der verheerenden Pest von 1630, der auch der Kapellmeister Alessandro Grandi zum Opfer gefallen war, war dieser Nimbus geschwunden. Erst in den 1640er Jahren gelang es dem Kapellmeister Giambattista Crivelli und seinem Organisten Legrenzi, die Kirchenmusik wieder auf den alten glanzvollen Stand zu bringen. Ab 1653 dann hatte Legrenzi in Gestalt des neuen Kapellmeisters Maurizio Cazzati einen kongenialen Mitstreiter. Wie gut sich die beiden verstanden, wird daran ersichtlich, dass sie sich später bei diversen Bewerbungen gegenseitig unterstützten. Doppelte Frucht ihres Bergamasker Aufenthalts waren die beiden bedeutendsten Zyklen von Triosonaten aus der Mitte des 17. Jahrhunderts: das hier eingespielte Opus 2 von Legrenzi, 1655 in Venedig gedruckt, und Cazzatis Opus 18, das im folgenden Jahr in der Lagunenstadt herauskam.

Dass aus dieser kurzen Hochblüte keine eigene Bergamasker Schule der Triosonate hervorging, hängt mit dem allzu raschen Fortgang der beiden Protagonisten zusammen: Legrenzi kehrte S. Maria Maggiore Ende 1655 den Rücken, um über diverse Zwischenstationen letztlich in Venedig zu Ruhm und Ehren zu gelangen. Er wurde als Markuskapellmeister zum Mentor einer neuen Generation von Sonatenkomponisten, deren prominentester Vertreter Vivaldi werde sollte. Cazzati folgte 1657 dem Ruf zum Kapellmeister an S. Petronio in Bologna und begründete dort jene andere Streicherschule, aus der Corelli hervorging.

Giovanni Legrenzi. Anonymes Porträt (18.Jh.),
Civico Museo Bibliografico Musicale, Bologna
An dieser Schnittstelle also ist Legrenzis Opus 2 angesiedelt, am Scheideweg der italienischen Barocksonate zwischen ihren frühbarocken Anfängen und der hochbarocken Konsolidierung. Es ist bezeichnend für die Situation Italiens im Frühbarock, dass sich dieser wichtige Schritt in einer norditalienischen Provinzstadt vollzog. Städte wie Monteverdis Heimatstadt Cremona, wie Bergamo oder Brescia stritten kaum weniger exponiert an der Avantgarde des neuen Stils als die Höfe der Gonzaga und Medici oder als das Zentrum Venedig.

Den Grund zum Erfolg seines Opus 2 legte Legrenzi in einem noch tieferen aber nicht weniger musikalischen Provinzstädtchen: Clusone. Nicht nur die Orte, an denen Legrenzi wirkte, sondern auch die Titel der Sonaten im Opus 2 verweisen uns auf die lokale Historie seiner Heimat und die Stationen seiner frühen Karriere. Venedigkennern werden einige der klingenden Patriziernamen sofort vertraut sein, mit denen der Komponist seine Sonaten schmückte: Querini und Foscari, Cornaro und Manin. Sie gehörten zu den bedeutendsten Familien von Venedig (ein Doge aus dem Hause Manin etwa hatte 100 Jahre nach Legrenzis Tod die zweifelhafte Ehre, der Serenissima Reppublica auf Napoleons Drängen hin ihren Todesstoß zu versetzen). Venezianische Patrizier waren auch die Zabarella, deren Palazzo den Hauptplatz von Padua säumt, und die ursprünglich genuesische Bankiersfamilie Giustiniani, die in Venedig ebenso wie in Rom ein bedeutendes Mäzenatentum ausübte, seit Vincenzo Giustiniani Caravaggio gefördert und seinen bekannten Musiktraktat verfasst hatte. Die eine Hälfte von Legrenzis Opus 2 liest sich also wie ein »Who is who« jener venezianischen Adelsschicht, die sich mit Kunst und Musik umgab, um sich mit ihr zu schmücken, und dies besonders gerne und aufwendig in Kirchen tat, sei es klingend oder in Denkmälern (man denke auch an Berninis Cornaro-Kapelle in S. Maria della Vittoria in Rom).

Durch den weiblichen Artikel »La« darf man sich dabei nicht verwirren lassen. Wie bei den Porträtstücken der französischen Clavecenisten bezieht er sich auf das Musikstück, also »La (Sonata) Querini«. Gemeint sind männliche Vertreter der betreffenden Familie, wobei leider nur in Einzelfällen nachzuweisen ist, auf welchen Träger des prominenten Namens Legrenzi anspielte, wie etwa bei den Sonaten »La Sarvognan« und »La Porcia« (siehe unten). Kaum untersucht ist bisher die Frage, ob es sich bei der jeweiligen Sonate um ein musikalisches Porträt des betreffenden Adligen handelt, oder ob man die adligen Titel aus purer Gewohnheit über die Sonaten setzte, um die Gunst der Gönner zu erkaufen.

Nordportal von Santa Maria Maggiore,
 Bergamo
Dass sich ein junger Organist aus der venezianischen Provinz in seinen ersten, in Venedig erschienenen Sonaten vor diesen potentiellen Gönnern verneigte, muss nicht weiter verwundern. Schwerer zu erklären sind die anderen adligen Geschlechternamen in Legrenzis Sonaten. Es handelt sich zum einen um Adelsfamilien aus dem Friaul wie die Grafen von Collalto, die Grafen von Spilimbergo, deren Name noch heute im Zentrum der friaulischen Mosaikkunst fortlebt, und die Savorgnan, die in Lestans eine der schönsten Villen des Friaul erbauten. Legrenzi widmete sein Opus einem Mitglied dieser Familie, Carlo Savorgnan, was auf besonders enge Beziehungen hindeutet.

Eine dritte Gruppe von Gönnern weist über die Grenzen Venedigs hinaus ins Habsburgerreich. Es sind die durch Mozart allenthalben bekannten Grafen von Colloredo, die für ihre Verwegenheit berühmte kroatische Familie der Frangepano und die bis nach Böhmen verbreitete Familie Strasoldo. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Sonate »La Porcia«. Zweifellos handelt es sich dabei um Graf Porcia, den Erzieher des späteren Kaisers Leopold I., bei dem sich Legrenzi erfolglos um den Posten des Hofkapellmeisters bewarb. Die Verneigungen vor einflussreichen Höflingen aus dem Umkreis Ferdinands III. und seines Sohnes lassen das Interesse des Komponisten an Wien schon früh erkennen. In der Summe deutet Legrenzis Auswahl an Gönnernamen auf noch wenig erforschte mäzenatische Netzwerke hin, die sich von Venedig über Friaul und Kroatien bis nach Österreich erstreckten.

Mit Sicherheit darf man annehmen, dass jeder dieser Gönner musikliebend war und den Wert der Sonaten zu schätzen wusste. Was damals wie heute an diesen Stücken fasziniert, ist ihre thematische Prägnanz. Diese Qualitäten haben bekanntlich noch Johann Sebastian Bach in ihren Bann gezogen, als er seine frühe Orgelfuge über ein »Thema Legrenzianum« schrieb. Der amerikanische Musikwissenschaftler Robert Hill glaubte, das Modell für dieses Legrenzithema in der c-Moll-Sonate, op. 2, gefunden zu haben. Selbst wenn man dieser in der Bachforschung umstrittenen Zuschreibung nicht folgt, wird man beim Hören von Legrenzis Opus 2 sofort einsehen, was den jungen Bach an dessen fugierten Triosätzen anzog: der ausgeprägte Themencharakter und die dichte, sich stetig steigernde Durchführung im dreistimmigen Gewebe. Beim frühen Legrenzi schließt sich an den imitatorischen Anfang in schnellem Tempo meist noch jener bunte Wechsel kurzer ineinander übergehender Sätze an, wie er die Triosonaten des Frühbarock geprägt hatte. Doch die Form ist, wie etwa auch bei Henry Purcell, schon auf dem Weg zur mehrsätzigen Sonate mit scharf abgegrenzten Einheiten.

Quelle: Karl Böhmer, im Booklet

Track 12: La Porcia


TRACKLIST

Giovanni Legrenzi (1626-1690)   
  
Sonate a due e tre Opus 2 1655  

01 La Cornara       2'41   
02 La Spilimberga   4'34    
03 La Frangipana    3'36  
04 La Strasoldo     3'24  
05 La Col'Alta      3'38 
06 La Raspona       2'51
07 La Donata        3'44  
08 La Fascari       2'53
09 La Colloreta     2'25    
10 La Zabarella     3'41
11 La Mont'Albana   4'04
12 La Porcia        3'39
13 La Valvasona     5'53
14 La Querini       2'42
15 La Torriana      4'18
16 La Manina        3'48
17 La Savorgnane    6'03
   
T.T.:              65'33

Parnassi musici (on period instruments):

Margaret MacDuffie, Violin [all tracks but 8, 9]
Matthias Fischer, Violin [all tracks but 7]
Sergio Azzolini, Bassoon [tracks 7-9, 11, 13, 16, 17] 
Stephan Schrader, Violoncello [tracks 1-7, 10, 12, 14, 15]
Diego Cantalupi, Theorbo [tracks 1-7, 9, 11-16]
Martin Lutz, Organ [all tracks but 9] 

Recording: Sendesaal des SWR-Studios Karlsruhe, February 3-6, 2003 
Recording Supervisor + Digital Editing: Bernhard Mangold-Märkel
Executive Producers: Burkhard Schmilgun / Wolfgang Scherer 

(P) 2004

Max Rychner: Vom deutschen Roman


William Holman Hunt: Der Geburtstag (Des Künstlers Gattin, Edith), 1868
Im Literary Supplement der Times vom 3. August 1956 wird ein Buch von Roy Pascal The German Novel ausführlich besprochen, wobei die Frage erörtert wird, aus welchem Grund es so wenige deutsche Romane von Weltrang gebe.

Es bleibt nicht bei der Frage; Antworten werden versucht. Professor Pascal beklagt es, daß «in den meisten und sogar den besten deutschen Romanen ein trauriger Mangel an Energie und Zugriff der Leidenschaft» festzustellen sei. Er untersucht zur Hauptsache die Romane: Wilhelm Meister, Nachsommer, Der grüne Heinrich, Der Zauberberg, also die berühmtesten unter den «Bildungsromanen». Diese Gattung gilt als besonders repräsentativ für die deutsche Literatur - und ist es -; dabei gibt es in der französischen von der Education sentimentale über Bourget, Rolland und Barrès bis zu Prousts Romanfolge ebenfalls eine Reihe von Romanen, die ihre Helden bestimmten Erfahrungen aussetzen und zu bestimmten Erkenntnissen, also zu ihrer Höherbildung führen wollen. Auch die Erzählungen André Gides haben fast allzu genau ins Auge gefaßte erzieherische Ziele oder Absichten, nämlich genau gewollte Befreiungen von allgemein geltenden Moralgrundsätzen. Von Jules Romains, Sartre, Aragon zu schweigen.

Rolle der Stadt

Doch bleiben wir beim eigentlichen Romanjahrhundert, dem 19., und beim deutschen Roman. Roy Pascal führt auch Gotthelf, Fontane, Raabe an. Seine These der mangelnden Leidenschaft - ist sie denn haltbar vor dem Werther, den Wahlverwandtschaften, Jean Pauls Titan, allen Romanen Gotthelfs? (George Sand, dann Ruskin haben versucht, Gotthelf in ihrem Sprachkreis einzuführen; es ist nicht gelungen.) Wofern es um schöpferische Leidenschaft geht, so ist Gotthelf den Balzac, Dickens, Dostojewski gleichzuordnen; seine dargestellte Welt ist freilich nicht so umfassend wie ihre, in deren Mitte die Großstadt mit ihrem reichgestuften gesellschaftlichen Gefüge sich ausbreitet, sie ist jedoch in ihrer Begrenzung auf das Bauerntum von uralter Würde. Der aggressive christliche Moralismus, die dem Zug der Zeit entgegengesetzte antiliberale Tendenz haben diesem Werk und seiner Aufnahme Grenzen gezogen, die sich leichterer Ware überall gerne öffneten.

Zudem ist im Zeitalter der Industrialisierung und des Welthandels der städtische Mensch der vielen Möglichkeiten für die Romanschriftsteller interessanter geworden als der gern als archaisch und nach wenigen Typen als festgelegt aufgefaßte Bauer, dessen Stand an Zahl und sozialer Bedeutung im Westen verlor, als ein von aktiven Kräften strotzendes Bürgertum und eine unabsehbar wachsende, ihr Eigenbewußtsein sich erobernde Arbeiterschaft die Weltbühne betraten. Von da an führte der Weg der jugendlichen Romanhelden vom Lande oder der Kleinstadt nach Paris, London, St. Petersburg in ein Leben der größten Intensität, der härtesten Ansprüche, der zahlreichsten gesellschaftlichen Berührungen, geistigen Einflüsse, Enttäuschungen und Bewährungen. Für Lucien de Rubempré hätte ein Leben als Vicar of Wakefield kein Leben bedeutet; Pip in den Great Expectations wurde nicht in der Dorfschmiede seiner Kindheit, sondern in London zum Schmied seines Geschickes, indem er denselben Weg ging wie Tom Jones vor ihm; Raskolnikow ist einer äußersten Versuchung erlegen, deren Rechtfertigung in ihm Denkweisen der damaligen Intelligentsia von St. Petersburg voraussetzt.

Edward Burne-Jones: König Kophetua und die
 Bettlerin, 1880/84, Öl auf Leinwand, 209 x 136 cm
Welches aber ist der Ort, wo der deutsche Romanheld hingeführt wird? Auf herrschaftliche Landsitze wie Wilhelm Meister, in das von der Welt abgelegene Rosenhaus wie Stifters Heinrich Drendorf, nach dem Kurort Davos wie Hans Castorp ... Der grüne Heinrich einzig wird in eine Residenzstadt, München, gebracht, wo er sich, arm und ein Künstler, also ein doppelter Paria, vor der Welt möglichst verkriecht. Immermanns Epigonen spielen nur zum Teil in Berlin, und Berlin ist erst spät, nach der Reichsgründung 1871, zu der zwar anerkannten, aber nie recht geliebten deutschen Hauptstadt geworden. Erst mit Fontane kam der Berliner Roman zu sich, ohne daß er diese für ihn erreichte Höhe beibehalten konnte. Durch Balzac, durch Dickens hatten zwei große, historisch durchgebildete Städte als Repräsentanten ihrer den Gang der Welt bestimmenden Völker die Vielfalt ihrer Menschen erforscht und phantasiert, und auch diese Phantasien gehörten zu den sich voll auslebenden Kräften in einem Medium, wo dem Einzelnen sich tausend neue Möglichkeiten auftaten.

In den deutschen Ländern - ein Deutschland gab es ja noch nicht - kam der spät einsetzende Zug zur Einigung erst nach vielfältigen Brechungen zum Ziel, und die Energien, die in Paris und London dem zeitgenössischen Roman zuströmten, wandten sich auf deutschem Gebiet der geschichtlichen Reflexion zu, in deren Befassung mit Jahrhunderten, Völkern und großen Personen der Zeitgenosse leicht ein wenig kümmerlich erscheint. Ranke hat die Gesellschaft der europäischen Völker gesehen wie Balzac die Pariser Gesellschaft von 1840, für Mommsen war Cäsar was für Stendhal Napoleon. - Auch Italien mußte sich aus der Zerstückung erst zusammenfinden und sich den altehrwürdigen Mittelpunkt Rom wiedergeben. Der Kritiker der Times hebt hervor, durch Manzonis Promessi sposi sei Italien im Roman vor Deutschland mit England, Frankreich, Rußland führend gewesen: dieses Meisterwerk ist aber recht einsam geblieben. Manzoni hat Goethe, wie dieser ihn, hoch verehrt, und er hätte vielleicht wenn nicht den Wilhelm Meister, so Die Wahlverwandtschaften als einen der größten Romane des Jahrhunderts gelten lassen, was unser Kritiker freilich nicht billigen würde.

Menschlichkeit

Läßt sich indessen das Schicksal des deutschen Romans soziologisch hinreichend erklären? Vieles daran wohl, alles nicht. Die marxistische Kritik besteht darauf, daß Deutschland industriell im Rückstand geblieben war und nie zu der Erfahrung einer siegreichen Revolution gekommen sei, im Gegensatze zu England und zu Frankreich, was die innere Freiheit des Einzelnen nie voll ausschlagen ließ wie drüben. Allzu obrigkeitlich gesinnt, habe der deutsche Romanschriftsteller das gesellschaftskritische Salz, welches dem Roman physiologisch notwendig sei, mangels einer modern entwickelten hauptstädtischen Gesellschaft nicht anwenden können oder dann mit einer Verspätung, die ihn international als Nachzügler entwertet habe. Es ist ja so, daß im Werk der Balzac und Dickens die beiden gesellschaftlich höchstentwickelten Nationen Selbstgenuß und Selbstkritik genial vereinigt vorfinden und daran mit Herz und Kopf teilhaben konnten. Ist es aber so, wie der Kritiker der Times behauptet: der Mangel an weltgültiger menschlicher Bedeutung des deutschen Romans bezeuge «einen Mangel an Liebe zur Menschlichkeit»? (Is ultimately traceable to a lack of love for humanity.) Ein schwerer Vorwurf, der wohl eher in Hitler und seinem Kriege den Grund hat als in der künstlerischen Erkenntnis der Romankunst.

John Everett Millais: Ophelia, 1852, Öl auf Leinwand, 76 x 112 cm
Gemeint ist die Liebe zum Menschenwesen überhaupt, die ganz ursprüngliche, unzergrübelte Freude an allen Spielformen des Menschen. Novalis Heinrich von Ofterdingen, Eichendorff Ahnung und Gegenwart, Mörike Maler Nolten, alle drei nicht genannt von dem Gewährsmann der Times, sind Gebilde von poetischer, subtiler Menschlichkeit, die freilich den Anforderungen des realistischen Gesellschaftsromans nicht entsprechen. Sie gehören zu einer andern Gattung von Roman, die auch ihre Berechtigung hat und deren Wert nicht an ihrer Breitenwirkung über die Grenzen hin zu ermessen ist. Die drei erwähnten Dichter sind nicht geborene Romanciers: diese stoßen mit stürmischer Besessenheit Band um Band hervor, vom Rücken her getrieben von ihrer Idee der Ganzheit ihres Weltentwurfes. Ihr Genius jagt sie durch die Fülle der Erscheinungen, fieberhaft greifen sie hinein - über zweitausend Menschen hat Balzac geschaffen, Dickens nicht weniger - nicht nur aus «Liebe» zum Menschlichen, sondern aus einem dämonischen Interesse daran; kaum haben sie die Fünfzig überschritten, sinken sie hin und sterben im Stil ihrer Romane, gehen zum Schluß in ihr Werk ein wie jener chinesische Maler, der in sein Bild einer Landschaft trat und auf dem gemalten Pfad fortwandernd sich in mythische Fernen verlor. Mit ihnen verglichen, sind Novalis, Eichendorff, Mörike keine echtbürtigen Romanciers, denn ihr einziges Werk dieser Gattung hat nicht Folge zu bilden vermocht - von Eichendorffs zweitem Versuche Dichter und ihre Gesellen abgesehen.

Sie sind zu wenig gekommen, weil sie zuviel wollten, verschüchtert durch größte Beispiele und die romantischen Romantheorien, die ungeheuerlich anspruchsvoll waren, dabei leichtfertig hingeworfen in der genialischen Manier von Jena um 1800. Da hatte Friedrich Schlegel den Roman definiert als «ein Kompendium des ganzen Geisteslebens eines genialischen Individuums», welches sich so gänzlich in dem einen Werk ausgeben müsse, daß es ein weiteres erst planen sollte, nachdem es ein neuer Mensch geworden sei ... Welch überspannende Forderung! Und das gleich am Beginn der Entwicklung des deutschen Romans, angesichts des Wilhelm Meister, der zum erdrückenden Vorbild erhoben wurde. Balzac und Dickens haben ihre Schriftstellerlaufbahn als Schmierer begonnen, unbedenklich, mit der Absicht, ein Stück Leben zu erzählen, Menschenfiguren, die ihnen gefielen, zueinander zu bringen, miteinander zu verwickeln, nicht aber ein Kompendium ihres Geisteslebens zu geben (das in ihren Anfängen noch wenig beträchtlich war).

Reflexion

Der Ursprung des deutschen Romans aus der romantischen Reflexion hat ihn unter ein schweres Daseinsgesetz gestellt: er begann mit der Überzüchtung, noch bevor er ein paar lebenskräftige Generationen vorausgeschickt hatte. Die Sternbald, Ofterdingen, Nolten u. a. treten uns nicht so sehr aus dem Raume ursprünglicher Kunstschöpfung entgegen, sondern aus der Reflexion über das Wesen der Kunst, von des Gedankens Blässe angekränkelt, und auch die vom Leben scheinbar selbst gegebenen unmittelbaren Verhältnisse bezeugen dann allzuoft eine absichtsvoll ausgedachte Naivität. Und wie viele Künstler sind - leider - die Helden! Der Vorsatz, im Künstler einen totalen Menschen hinzustellen, führt dazu, daß dieser zu einem im einzelnen beziehungsschwachen Egotisten wird und sich jederzeit in seine Kunstfrömmigkeit zurückzuziehen vermag, die dem Leser vorgeführt wird, damit er sie als Talent nehme. Denn dieses läßt sich ja nicht zeigen, und so muß man an einen Kunstglauben glauben.

Ford Madox Brown: Romeo und Julia, 1868/71,
Wasserfarbe und Gouache, 24,5 x 32,1 cm, Privatbesitz
Die romantische Theorie, wonach der Dichter sich nicht in seine Menschengeschöpfe und deren Schicksale hineinwerfen, sondern in der Reflexion ihnen beständig überlegen seine spielende Freiheit bewahren solle, hat die mit ganzem Einsatz des Temperaments geleistete Identifizierung des Dichters mit jeder, auch der letzten seiner Gestalten behindert und hat diesen viel von den besten Kräften entzogen. Darum wirken viele so, als litten sie an einer Fistel, durch die ihnen laufend Lebenssäfte abgezapft werden. Von irgendeinem festgehaltenen Punkt des Daseins aus ist höchste erzählende Kunst möglich; für deutsche Dichter war durch die damals in einer Kettenreaktion hervorgeschleuderten Werke der Philosophie (Fichte, Hegel, Schelling u. a.) die Versuchung gegeben, der Welt gegenüber von vornherein den Standort des absoluten Geistes einzunehmen, als Ganzes sie ehrfürchtig hinnehmend, ihre unscheinbaren Einzelheiten jedoch ins Unbedeutende zu relativieren oder sie von bloß erdachter Überlegenheit aus zu ironisieren.

Ein Beispiel dafür ist Schlegels Lucinde, der aus satirischem Geist entstandene kleine Roman eines ideenreichen Kritikers, nicht eines geborenen Erzählers, der als Theoretiker den Don Quixote als Muster des Romans empfahl, als eine überlegene phantastische Weltspielerei. Die Grenzen zwischen Spiel und Ernst sollten aufgehoben werden in einem doppeldeutig ironischen Zwielicht, in dem auch die scharfen Grenzen der Gattungen und Formen keine pathetische Geltung mehr hätten. Den Roman, sagte er, könne er sich nicht anders denken als «gemischt aus Erzählung, Gesang und anderen Formen». Daher wurden denn die Übergänge zu lyrischen Gedichten, Märchen, Träumen, phantasmagorischen Zwischenspielen mitten im Roman leicht, einer Formflucht entsprechend, die sich als Vielfalt, Nähe zum Spontanen, Perspektivenwechsel, Freiheit gegenüber dem Detail rechtfertigte. Dem Zwang, im erzählerischen Kontinuum auszuharren, wurde allzugern ausgewichen mit Rückzügen in unepische subjektive Bereiche, auf einen Standort, der außerhalb des Vollbringens angeblich dichterischer sein sollte als das Dichten. Damit wurde die Einheit und die in ihr begründete Notwendigkeit des Romangeschehens aufgehoben; der Fortgang der Handlung erhielt etwas Beliebiges, oft stoßend Willkürliches, proteisch Ausweichendes: die Einfälle behindern sich gegenseitig, die einzelnen Motive werden nicht ausgewertet, sondern vorzeitig fallengelassen, weil jedes sogleich wieder an Bedeutung durch ein neu es überboten werden soll. In jedem Moment, d. h. in zu geringen Zeiteinheiten, sollte ein Höchstmaß an Expression erreicht werden.

Äußere Welt

Das ging auf Kosten der Bewältigung von realer Welt, doch um Gründe dafür war man nicht verlegen. Schleiermacher, Schlegels Freund, schrieb in seinen Vertrauten Briefen über die Lucinde auf den Einwurf, man «vermisse die äußere Welt gar sehr» darin, das Leben des Romans «ist nur abstrahiert von der bürgerlichen Welt und ihren Verhältnissen, und das ist doch, weil sie so sehr schlecht sind, in einem der Liebe geheiligten Kunstwerk schlechterdings notwendig ... Das ist nur eine wunderliche Verwöhnung, daß Du die äußern Begebenheiten alle mit haben willst, um die Lücken der Charakteristik daraus zu ergänzen ... » Diese Begründung ist ebenfalls wunderlich: die unmittelbaren Lebensverhältnisse gelten, weil «schlecht», nicht als würdig, dargestellt zu werden; eine hochmütige Zimperlichkeit, im Grunde Scheu vor der Anstrengung, etablierte sich als dichterisch in zweiter Potenz, und die Folge war, daß später das kielkröpfige Schlagwort von der «schnöden Wirklichkeit» aufkam, vor welcher der Dichter am besten Reißaus nehme, statt sich ihr zu stellen.

John Williams Waterhouse: Tristan und Isolde,
1916, 106,7 x 81,3 cm
Die Theorie kam dem deutschen Hange entgegen, das «Wesentliche» - oder gar «Wesenhafte» - zu herabgesetzten Preisen einzuhandeln und das Begriffliche dafür zu nehmen, das seinen Wert, in bestimmten Denkvorgängen errungen, einzig in diesen bewahrt. Die freie Verfügbarkeit der Begriffe richtet noch heute in Erzählern Unheil an, deren glücklichste Werke erst in Lesern zum Begriff kommen sollten, da sie u. a. eine Philosophie sind, nicht haben. Es ist zu fragen, ob bei Musil dieses Sein das Haben aufwiegt, bei ihm, der allerdings dadurch herausragt, daß er Abstrahiertes nicht ohne die «Anstrengung des Begriffs» aufnahm. Wie oft aber sieht man Autorengestalten ihre selbstgeschaffene Bühne betreten und mit gebrechlichen Armen Gewichte heben, auf denen gemalt steht: 500 kg - aber sie sind aus Pappe, der Kraftaufwand besteht nur in gepreßtem Atem, damit das Gesicht rot anlaufe und von der Windbeutelei der Unternehmung ablenke. Thomas Manns Verehrung für Gerhart Hauptmann galt einem Dichter, der in Gestalten und Vorgängen dachte, nicht in Begriffen, denen er nicht gewachsen war und die ihm seine Fülle vertrocknet hätten: eine wegweisende Verehrung!

Die Helden nun des in der Romantik wurzelnden deutschen Romans sind meistens empfindsam empfängliche Naturen, mit wenig Willen ausgerüstet, denn der Wille zieht scharfe Grenzen und verwirft vieles in unserer Welt, die jene jungen Männer indessen nicht so sehr als Verstrickung denn als Vorspiel zur Erlösung durch Weltanschauung zu erfahren begehren. So neigen sie innig zur Kunst, deren Werke ihnen die eigentlichen Lebenswunder bedeuten, vor denen das gesellschaftliche Leben für sie auf einen zweiten Rang ab sinkt. Begabt mit lyrischer Teilhabe am Ganzen der Welt, mit persönlicher Reflexion auf ihr ideelles mehr als ihr empirisches Ich, sind diese Heinriche und Friederiche eigentümlich weltlos, arm an Mitwirkung und Wirkung innerhalb der Gemeinschaft. «Es gab zu allen Zeiten eine Heimlichkeit der Welt, die mehr wert in Höhe und Tiefe der Weisheit und Lust als alles, was in der Geschichte laut geworden ... »

Das steht in Arnims Kronenwächtern; es ist eine Formel, die für den deutschen Roman durch alle sich folgenden, jeweils für eine Weile modernen Zeiten, trotz realistischer, naturalistischer usw. Programmparolen niemals ganz ihre Geltung verlor. Sie bezeichnet seine Schwäche, insofern man einzig dem realistischen Roman Berechtigung und die Möglichkeit weltgültiger Größe beimißt; sie bezeichnet aber auch eine Sphäre, deren Werte diesem Urteil nicht unterstehen, denn die Welt ist vielleicht doch nicht darauf angelegt, um einer historisch bestimmbaren, weil bedingten Gattung innerhalb der viele Zeiten umfassenden Gattung Roman am besten zu entsprechen. Arnims Heimlichkeit ist eine Dimension der Welt und kann mithin auch eine der erzählten Welt sein, erfahrbar dort, wo das Zeitliche an Grenzen gelangt, die es zwingen, nach seinem Sinn zu fragen. Balzac wußte um sie und hat im Louis Lambert u. a. eine direkte Beschwörung innerster Kräfte unternommen.

Dante Gabriel Rossetti: Die Kindheit der Jungfrau Maria,
1848/49, Öl auf Leinwand, 65,4 x 83,2 cm,
Tate Gallery, London
Der Hang zur Heimlichkeit ist gekoppelt mit Scheu vor der Gegenwart: diese wird gern vertauscht mit einem schön hergerichteten Mittelalter (Arnim), oder dem Renaissance-Nürnberg Dürers (Tieck), oder der Trauminsel Orplid (Mörike), oder der etwas akademischen Fluchtburg Rosenhaus (Stifter) - in dem Bestreben, nicht so sehr die Poesie der zeitgenössischen Wirklichkeit als die Poesie der Poesie zu vermitteln. Immer wieder machen die Dichter den Versuch, sich umzuwenden, um die den Epiker im Rücken treibende Idee direkt zu erschauen statt in Bildern der Welt.

Da kommt die Lebenskraft ihrer Helden zu kurz, weil ihr Anliegen oder ihr «Sinn» bedeutender sein soll, als ihre Person zu sein vermag. Eichendorffs Friedrich in Ahnung und Gegenwart geht am Schluß ins Kloster: «In Friedrich entwickelte diese Abgeschiedenheit endlich die ursprüngliche religiöse Kraft seiner Seele, die schon im Weltleben, durch gutmütiges Staunen geblendet, durch den Drang der Zeiten oft verschlagen und falsche Bahnen suchend, aus allen seinen Bestrebungen, Taten, Poesien und Irrtümern hervorleuchtete.» Eine andere Hauptgestalt wandert aus übers Meer, eine nach Ägypten, um sich faustisch der Magie zu ergeben; einer nur, ein Dichter, bleibt mit seiner edlen Rastlosigkeit im Lande, in welchem er sich ziellos auf Wanderschaft begibt. Der Schluß bietet ein Bild der Auflösung, während doch alle auf Geborgenheit aus sind. Das Parzivalische spukt immer wieder mit, eine manchmal schöne Reinheit, welche die Welt als Befleckung empfindet, dann wieder zuweilen eine fast rührende Gimpelhaftigkeit, die sich auf poetisch ausreden will.

Widergespiegelt ist in diesen Gestalten ein Bürgertum, das die Kunst als ein reines Jenseits haben will und die «platte Wirklichkeit» seines Alltags am Abend jeweils verachtet. Zu sich kommen, das heißt ihm Transzendieren: in eine künstlerisch gereinigte Stilleben-Welt, in der es keine Tendenz, keine Psychologie, keine Nachtfarben des Daseins gäbe, aber in innerweltlicher Abgeschiedenheit die Erfahrung geschenkter Fülle alles Seins. Die Kunstreligion sollte ersetzen, was man, gut aufgeklärt, von der Religion nicht mehr zu erhoffen vermochte. Der Dichter sollte dem Einzelnen private Eleusinien bereiten; er blieb, seiner Anlage und Neigung folgend, dem Geiste der Musik näher als jener Gegenständlichkeit, die Goethe, wohl wissend warum, ihm so angelegentlich empfahl. So ist man in Versuchung, auf die Frage nach dem weltläufigsten deutschen Roman Wagners Ring zu nennen ...

[…]

Quelle: "Vom deutschen Roman" in Max Rychner: Arachne. Aufsätze zur Literatur. Manesse, Zürich, 1957, Seite 31-43 (gekürzt)

Max Rychners Aufsatz wurde von mir mit optischen Zutaten aus der großartigen "WikiArt Visual Art Encyclopedia" garniert.

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