Artur Schnabel gehört zweifellos in die Spitzengruppe der Klaviervirtuosen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Name, seine Tonaufnahmen und seine zahlreichen Kompositionen dürften dem breiten Publikum heute vermutlich nahezu unbekannt sein - vor allem in Deutschland, wo Schnabel über 30 Jahre lang in Berlin lebte, musizierte und unterrichtete. Für die damaligen berühmten »Berliner« Dirigenten Bruno Walter, Otto Klemperer und Wilhelm Furtwängler war er für die wichtigen Konzerte der Solist erster Wahl - bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933.
Die Übertragung seiner letzten drei Konzerte im Zyklus der gesamten Beethoven-Klaviersonaten wurde am 28. April 1933 vom Reichsrundfunk boykottiert - Schnabel war aus einer gemäßigt jüdisch-orthodoxen Familie. Schon am nächsten Tag verließ er Deutschland. Nie wieder betrat Schnabel deutschen Boden, nie wurde er dorthin eingeladen, auch nicht nach dem Krieg. Die Lücke, die sein Fortgang im deutschen Musikleben hinterließ, schloss sich schnell und nachhaltig.
Schnabels Vermächtnis wird in Deutschland auf breiterer Basis zwar erst seit den Neunzigerjahren wahrgenommen, dafür aber umso viel versprechender. So erschien seine beachtete Autobiografie
»My Life and My Music« (»Aus dir wird nie ein Pianist«) 1991
erstmals in deutscher Übersetzung - nachdem sie in den USA, England und anderen europäischen Ländern seit Anfang der Sechzigerjahre bereits mehrfach aufgelegt wurde. Und das wichtigste für Schnabels ehemalige Heimatstadt Berlin: Im Rahmen der Gedenkveranstaltungen zum fünfzigsten Todestag des Pianisten und Komponisten erhielt das Archiv der Berliner Akademie der Künste im Jahre 2001 von der
Familie Schnabel eine
enorme Schenkung aus dem Nachlass des Künstlers. Die weltweit größte Sammlung enthält mehr als 14 laufende Meter an Büchern, Partituren, Noten, Fotos, Notizen und Briefen. Sie ist nicht nur ein Zeichen der Versöhnung, sondern auch die Verpflichtung, weiterhin das »Phänomen Artur Schnabel« zu erforschen und vermitteln.
Es gilt also einige der Fakten darzustellen, warum Schnabels Tonaufnahmen, seine Kompositionen und Schriften auch heute noch für uns von Bedeutung sind - obwohl er, der publicityscheue »Anti-Virtuose«, von dem Beginn der Stereo-Ära bis ins heutige digitale Zeitalter von den »modernen« und populären Pianisten längst aus dem Kopf des breiten Publikums verdrängt wurde.
KINDHEIT UND AUSBILDUNG
1882-1900
Artur Schnabel wurde am 17. August 1882 im
polnischen Dorf Lipnik (bei Bielitz-Biala, heute Bielsko in Polen) geboren, das damals als nördlicher Teil von Österreichisch-Schlesien zur Donaumonarchie gehörte, die 14 verschiedene Nationen (unter Zwang) vereinte. Seine Eltern waren österreichische Staatsbürger jüdischen Glaubens - der gemäßigt orthodoxe Teil der Familie Schnabel. Die provinziellen, kleinbürgerlichen jüdischen Kaufmannsfamilien waren ehrgeizig in der Ausbildung ihrer Kinder, um Ihnen den gesellschaftlichen Aufstieg zu ermöglichen. Die ältere Schwester erhielt mit sechs Jahren ihren ersten Klavierunterricht und der kleine Artur schnappte dabei einiges auf - und überholte sie schon sehr bald, ohne Unterricht. Die Eltern folgten schnell der Empfehlung der Klavierlehrerin, das Wunderkind zu fördern. Schnabel, der fast nie zur Schule ging, erhielt stets Privatunterricht und wurde zunächst von Kräften vor Ort für die Pianistenlaufbahn in Wien vorbereitet.
1889 zog ein Teil seiner Familie mit ihm also nach Wien - der Vater blieb seiner Geschäfte wegen in der Provinz. Im Alter von sieben Jahren begann Artur Schnabel das Klavier- und Musikstudium zunächst bei
Professor Hans Schmidt. Es gab im Wien jener Zeit noch jede Menge vermögender Familien und hoch gestellter Persönlichkeiten, die sich in der Förderung junger Talente engagierten; ein nobles Understatement in der zum Untergang verurteilten Donaumonarchie. Während der nächsten acht Jahre wurde Schnabel von drei Familien unterstützt und musste dafür keinerlei Gegenleistungen erbringen. Auch wenn er in der (Salon-) Gesellschaft herumgereicht wurde, blieb ihm das übliche Wunderkindschicksal erspart. Schon in dieser Zeit entwickelte Schnabel seine gewisse Scheu gegen Publicity. Zwei seiner nicht minder talentierten Mitschüler spielten bereits regelmäßig am Kaiserlichen Hof, Schnabel dagegen nie. Als ein Familienfreund Schnabel damit aufzog, soll er geantwortet haben: »Was versteht der Kaiser denn schon von Musik?« Das war sehr scharfsinnig für ein Kind: In der Tat war das mondäne Wien der Jahrhundertwende, das Schnabel später ironisch den »Ballsaal Europas« nannte, in erster Linie noch immer der zentrale »Musikmarkt« In Europa - es ging hier also nicht in erster Linie um das Verständnis und die Evolution von Musik. Wo der Hof war, gehörte die Verpflichtung von Komponisten und Musikern zur gehobenen Grundausstattung, nur dort konnten sie sich wirklich ernähren - das galt schon für Mozart, Beethoven und Brahms ebenso.
Vom trockenen und introvertiertem Professor Schmitt wechselte Schnabel zu Theodor Leschetizky. Dieser hatte kein offizielles Lehramt mehr und lebte recht zurückgezogen, galt aber schon zu seinen Lebzeiten als der
größte Klavierpädagoge der Epoche und Region. Von dessen Assistentin, Madame Episoff, wurde Schnabel monatelang für den Meister vorbereitet und erhielt gleichzeitig
Theorieunterricht bei Dr. Eusebius Mandyczewski, welcher das Archiv der berühmten Gesellschaft der Musikfreunde verwaltete und die Werke von Schubert, Haydn und Brahms editierte. Über Mandyczewski lernte Schnabel weitere bedeutende Wiener Familien und schließlich
auch Johannes Brahms persönlich kennen. Dieser war schon ein alter Herr und an Kindern nicht besonders interessiert. Über die oft genannte Legende, dass Brahms Schnabel bei seinem ersten Konzert spielen hörte und so beeindruckt gewesen sei, dass sie enge Freunde wurden, hat sich Schnabel stets amüsiert: »Vielleicht lese ich eines Tages auch, ich habe mit Mozart Billard gespielt...« In der Tat war es umgekehrt: Schnabel hörte gelegentlich bei Mandyczewski und zu anderen Gelegenheiten Brahms dessen eigene Stücke spielen - die Musik und die unbekümmerte Art, wie Brahms sie vortrug, beeindruckte Schnabel sehr.
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Postcard from Artur Schnabel to Max Kowalski, April 16, 1921:
"Dear Kowalksi, will you be in Wiesbaden when Therese will sing
Mahler Lieder and my own, 'Notturno'?" [Quelle] |
Als Schnabel allerdings 1893 mit dem druckfrischen Opus Nr. 119 von Brahms
(drei Intermezzi und eine Rhapsodie für Piano) in den Unterricht kam - er durfte sich die Stücke selbst aussuchen - fühlte sich Leschetizky durch die Kühnheit seines elfjährigen Schülers in seiner Autorität verhöhnt und schickte ihn zornig nach Hause. Erst drei Monate später wurde Schnabel wieder vom Meister empfangen. Diese kleine Episode verdeutlicht das Dilemma Schnabels: Im Grunde war er als Pianist bereits gelangweilt, hatte er doch die meisten technischen Herausforderungen schon gemeistert. Er wollte nur noch musizieren, wollte am liebsten jede ihm unbekannte Komposition kennen lernen, sie bewusst »von innen nach außen durchleben« - er war in diesem Lebensabschnitt musikalisch schlichtweg unersättlich. Leschetizky akzeptierte das und ließ ihn die »unbestellten Felder beackern«; er begann mit den quasi unbekannten und schwierigen Klaviersonaten Schuberts. So wurde Schnabel zu dem rastlosen Pionier, wie wir ihn heute wahrnehmen.
Drei Jahre lang blieb Schnabel alleine in Wien, die Mutter und Schwestern kehrten in die Provinz zurück. Erst die letzten drei Jahre, bevor Schnabel 1900 nach Berlin ging, war die ganze Familie wieder vereint. Schnabel besuchte nur kurz eine öffentliche Schule und wurde sonst ausschließlich von Privatlehrern unterrichtet. Ausreichend unterstützt, wie gesagt, ohne jegliche Verpflichtungen, musste er niemanden Rechenschaft ablegen und war sein eigener Herr. Er nahm an vielen Gesellschaften der damaligen Elite teil, lehrte die progressiven wie auch die konservativen Literaten, Künstler und Philosophen kennen - was den übrigen Gleichaltrigen meist verwehrt blieb.
Seine Bildung, Weltanschauung und die Fähigkeit zum Diskurs erwarb sich Schnabel also in den Wiener Salons. Vom Bruder einer bekannten Wiener Familie eingeladen, kam Schnabel 1898 erstmals nach Berlin. Wie in Wien war er auch dort zu Gast in einer vornehmen, großzügigen und intellektuellen Familie. Zurück in Wien, komponierte Schnabel einige kleine Klavierstücke, die sogar im berühmten Verlag Simrock erschienen. Mit vielen Empfehlungen ausgestattet kehrte Schnabel gut vorbereitet im Jahre 1900 nach Berlin zurück, endgültig. Von dort aus begann er seine »echte«, die internationale Karriere.
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Artur Schnabel with Carl Flesch and
Vladimir Horowitz, 1930's [Quelle] |
DIE GOLDENEN ZWANZIGER
Berlin 1900-1933
Die Berliner Freunde und Förderer verschafften Schnabel schnell die richtigen Kontakte:
Hermann Wolff, der damals führende Konzertagent in Deutschland, nahm sich seiner an und verschaffte ihm die ersten Engagements. In einem Privatkonzert gab er 1902 sein Debüt als Solist bei den
Berliner Philharmonikern unter Artur Nikisch, der als der Erste »moderne« Dirigent des 20. Jahrhunderts berühmt wurde und dieses Orchester auf seinen Weg zur Weltspitze vorbereitete.
Dennoch musste Schnabel zunächst alle angebotenen musikalischen Gelegenheitsarbeiten annehmen: als Begleiter für Kammermusiker, Konzerte mit Militärkapellen und eine Tournee (ebenfalls als Begleiter) ins »exotische« Norwegen. Ebenso nahm er den üblichen, unbequemen Weg durch die Konzertsäle der Provinzen auf sich, wo er mit seinem großen und ungewöhnlichen Repertoire (wie den Schubert-Sonaten) immer wieder auffiel - in beide Richtungen. So wurden in Leipzig seine Brahms-Interpretationen gefeiert (»streng, nordisch karg und tief ernst«) und die Schubert-Sonaten verrissen: »keinen Zugang für diese freundliche und schwungvolle Musik« hiess es dort. Das genaue Gegenteil dessen »zu wienerisch gelassen, unbedarft und melancholisch« - stellte die Kritik in München über Schnabel fest. Interessanterweise behielt Schnabel bis zum seinem Fortgang 1933 in den beiden Städten diese Etiketten: als »zu sinnlich« (in München) und als »zu intellektuell« - in Leipzig.
Bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr war Artur Schnabel also bereits ein universeller und erfahrener Begleiter und Solist sowie auch ein gefragter Klavierlehrer. Als Begleiter verschiedener Ensembles lernte er auch die bekannte Altistin Therese Behr kennen,
die er 1905 schließlich heiratete. Die beiden gemeinsamen Söhne wurden
1909 (Karl Ulrich) und
1912 (Stefan) geboren. Der Höhepunkt der kammermusikalischen Zusammenarbeit der Eheleute Schnabel war eine Reihe von Schubertabenden in Berlin im Jahre 1928.
In die Geschichte der Kammermusik schrieb sich Schnabel als Interpret ebenfalls ein: Mit dem ersten »Schnabel«-Trio - mit Alfred Wittenberg (Violine) und Anton Hekking (Cello)- sowie dem zweiten mit Carl Flesch (Violine) und Jean Gerardy am Cello (später von Hugo Becker ersetzt) feierte er internationale Erfolge. Auch die Zusammenarbeit mit wechselnden »All-Stars«-Gruppen, den führenden Solisten Casals, Feuermann, Fournier, Hindemith, Huberman, Szigeti und Primrose vergrößerte Schnabels Ruhm, Kompetenz und Horizont erheblich. Mit dem Cellisten Gregor Piatigorsky, einer seiner treuen Begleiter und später ein Weltstar, hatte er die Gelegenheit, an einer der ersten Aufführungen von Schönbergs »Pierrot lunaire« teilzunehmen. Schnabel war, wie erwähnt, stets an allen Entwicklungen der zeitgenössischen Musik interessiert. Er stand im ständigen Kontakt mit den musikalischen Vordenkern jener Zeit, voran den Komponisten Hindemith, Hába, Erdmann, Krenek und Schönberg. Von ihnen bekam Schnabel die meisten
Impulse für seine eigenen Kompositionen dieser Zeit: die
Sonate für Violine solo (1919), die Klaviersonate (1923) und sein 3. und
4. Streichquartett (1923/24; 1924).
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Signed Photograph. Matte-finish 3.25 x 5.25 real photo
postcard of Schnabel, signed at the bottom in black ink,
"Artur Schnabel, 1-Febr-1912." A few edge dings and
silvering to dark areas of the image, otherwise fine
condition. Originates from the collection of American
violinist and pianist Louis Persinger (1887-1966),
who trained at the Leipzig Conservatory and later
taught at Juilliard.
[Quelle, auch für die folgenden beiden Bilder] |
Fast im Widerspruch dazu fing er ebenfalls mitten in den Zwanzigerjahren an, zu »lernen, wie man richtig Beethoven spielt« - ein Prozess, den er erst nach zehn Jahren, also 1935 abschloss. Die zyklische Wiedergabe sämtlicher Beethoven-Sonaten, der Konzerte und der »Diabelli-Variationen«, die er ab 1927 auch für die Schallplatte (in England) einspielte, bedeuteten zweifellos den Höhepunkt seiner gesamten Pianistenkarriere.
Und darüber hinaus wandte sich der rastlose Schnabel - der unglaubhaft von sich behauptete, dass er immer faul gewesen sei - wieder mehr dem Konzertbetrieb zu und tourte erfolgreich durch die meisten europäischen Länder, sogar bis nach Russland. 1925 wurde er als Professor für Klavier an die Staatliche Musikakademie in Berlin berufen, wo er über die Jahre bis zu seinem Fortgang aus Deutschland einen völlig neuen, legendären Standard in der Pianistenausbildung entwickelte und etablierte.
1930 war Schnabel auf großer Tournee in den USA; sie wurde im Gegensatz zu den ersten, enttäuschenden Konzerten vor dem amerikanischen Publikum ein großer Erfolg. Bereits 1921/22 hatte er versucht mit Auftritten in New York und Chicago in Amerika Fuß zu fassen, doch mit seinen teils exotischen Programmen, wie etwa einem Abend mit sämtlichen Chopin-Preludes, überforderte er die Amerikaner gänzlich. Seine letzte und dritte US- Tournee brachte 1935 allerdings die Wende: Mit dem Erscheinen seiner Beethoven-Schallplatten setzte in Amerika geradezu ein Schnabel-Kult ein.
Zum 100. Brahms-Geburtstag 1933 bereitete die Stadt Berlin schon länger ein großes Fest vor; die Prominenten Schnabel, Huberman, Hindemith und Piatigorsky sollten die Kammermusiken des Komponisten übernehmen. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde allen Beteiligten sofort klar, dass die Veranstaltung nie mit diesen, meist jüdischen Solisten stattfinden würde. Dem verantwortlichen Vertreter der Stadt, einem umsichtigen Sozialdemokraten, wurde das Projekt sofort entzogen. Als er Schnabel von der neuen Lage am Telefon unterrichten wollte, unterbrach ihn dieser schon bald mit den Worten: »Ich habe es erwartet. Ich bin vielleicht nicht reinrassig, aber glücklicherweise kaltblütig. Ich wünsche Ihnen alles Gute.«
Das war am 28. April 1933, dem selben Tag, als die Reichs-Rundfunk-Gesellschaft die Ausstrahlung der Konzertreihe der Beethoven-Sonaten abbrach - ohne Erklärung an Schnabel oder gar ans Publikum. Es war der letzte Tag der Familie Schnabel in Deutschland. Schnabels Vater war bereits 1927 in Wien auf natürliche Weise gestorben. Seine Mutter sah er 1937 in Wien während einer Durchfahrt nach Warschau zum letzten Mal: 1942 wurde sie deportiert und überlebte den Krieg nicht - nur seinen beiden Schwestern gelang es, in die USA zu fliehen.
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Signed Photograph. Original Ilse Bing glossy photograph.
Signed, inscribed and dated 1946. A few creases (one
moderately strong across the top inch of the image),
overall in very good condition. |
EXILSTATIONEN
Schweiz und USA 1933-1951
Von 1933 bis 1938 lebte die Familie Schnabel im Sommer im italienischen Tremezzo am Comer See, wo fast alle Schnabels (der ältere Sohn Karl Ulrich wurde auch Pianist) in Sommerklassen Unterricht gaben. Ebenfalls im Jahre 1933 versuchte Furtwängler, ihn und den Geiger Huberman während des Brahms-Festes in Wien zur Rückkehr nach Berlin zu bewegen. Auf die beiden jüdischen Musiker wirkte der Versuch des leicht linkischen Furtwänglers naiv - sie erteilten ihn eine Abfuhr. Eine unglückliche Entwicklung, wenn man bedenkt dass Schnabel und Furtwängler in Berlin immer einen engen Kontakt pflegten - und dass zuvor Schnabel den noch jungen und fast unbekannten Furtwängler einst dem Konzertmagnaten Wolf empfohlen hatte.
Immer öfter hielt sich Schnabel mit der Familie in England auf, wo er in Manchester die Ehrendoktorwürde verliehen bekam. Bis zum Anschluss Österreichs 1938 konnte er mit seinen Papieren reisen, danach stellten die Engländer der Familie für die weiteren Reisen nach Übersee provisorische Reisedokumente aus. 1934 machte Schnabel sogar Halt in Palästina, das ihn beeindruckte, er das dortige Publikum aber leider überhaupt nicht: In der jüdischen Musiktradition waren schon immer Geige und Klarinette wichtigere Soloinstrumente gewesen als das Piano.
Zum Komponieren zog sich Schnabel regelmäßig in die einsame und inspirierende Kulisse der Schweizer Berge zurück, wo er in Soos-Fee seine Sonate für Violine und Klavier (1935) und seine 1. Symphonie (1937) vollendete. Sein letztes Engagement vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war 1939 in Australien. Die Kriegsjahre 1939 bis 1945 verbrachte Schnabel ungeplant in den Vereinigten Staaten, 1944 wurde er auch deren Staatsbürger. Er lebte in New York und unterrichtete von 1940 bis 1945 im Sommer in beliebten Kursen an der Universität von Michigan.
An seine Erfolge in Europa konnte und wollte Schnabel in der neuen Heimat nicht mehr anknüpfen. Die Vertrautheit und Geschlossenheit des pädagogischen Umfeldes an der Hochschule zog er der Öffentlichkeit des Konzertlebens vor. Er war noch immer nicht bereit, im Konzertsaal Zugeständnisse an das amerikanische Publikum zu machen, seine anspruchsvollen, »kopflastigen« Programme auf populärere Häppchen zu reduzieren. So blieb Schnabel bis zuletzt ein schlechter »Businessmann«, ungeschickt und desinteressiert in den amerikanischen Disziplinen »Public Relations« und »Selfmarketing«. Geläutert und ermattet, aber sicher nicht verbittert, zog sich Schnabel in die »innere Emigration« zurück. Dabei gelang es ihm, seine Symphonien Nr. 2 (1941) und Nr. 3 (1946) in den Bergen New Mexikos zu vollenden.
Bei einem Europa-Besuch starb Artur Schnabel überraschend am 15. August 1951 in Axenstein (am Vierwaldstätter See) in der Schweiz, wo auch heute noch
am Fuße des Berges »Mythenstock« sein Grab liegt.
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Original pencil bust portrait boldly signed and dated
(16. II. 1933) in black ink by Schnabel and by the
artist "Beacon" in pencil, upper left. 3.5 x 4.6 inches.
In fine condition with mounting remnants on verso,
an unusual example. |
DAS PHÄNOMEN SCHNABEL
Der Beethovenexperte
Ein Faktum ist, dass mit Artur Schnabel eine neue Zeitrechnung in der Interpretation der Klaviermusik Beethovens begann. Als erster - und stets umstrittener - Solist überhaupt spielte er mehrfach den gesamten Zyklus aller 32 Klaviersonaten sowohl im Konzertsaal (1927 und 1932 in Berlin; 1934 in London) und auf Schallplatte (1930 bis 1934 in London) ein.
Keinem anderen Komponisten, dessen Musik er nach eigenen Aussagen vollkommen verinnerlicht hatte, fühlte sich Schnabel derart formal und geistig verbunden. Er wagte es, statt gefälliger »Best of«-Konzerte auch ganze Abende mit teils unbekannten Beethoven-Sonaten zu geben, so wie erstmals 1911 in Hamburg. Lieber forderte er das Publikum zum intellektuellen Diskurs heraus, anstatt es mit virtuoser Kraftmeierei zu beeindrucken und es in die dröge, schwärmerische Gleichgültigkeit zu entlassen.
Die technischen Schwierigkeiten der schnellen Sätze in Beethovens Klaviermusiken interessierten ihn nie; diese »Virtuosenmätzchen« überwand er fast immer ein wenig zu hastig. Um sich dafür mehr Zeit in den langsamen Sätzen nehmen zu können: für die ewige Suche nach dem einem, unverfälschten, werkgetreuen Ausdruck in der Partitur - für sein typisches, lyrisches »Espressivo«.
Schnabels Kritiker warfen ihm stets vor, dass in »seinem Beethoven« alles gleich ausdrucksvoll klang, er den Ausdruck zwischen der Melodie und Durchführungen nicht genug unterscheiden würde - egal, ob das nun ihm Sinne des Komponisten sei oder nicht. Logischerweise drehten seine Verfechter die Absicht und Bedeutung des »einheitlichen« Ausdruckes genau in die gegenläufige Argumentationsrichtung um: Eben weil Schnabel alle Skalen und Figuren, jeden kleinsten Klang und jede versteckte Textur (fast) exakt gleich betonte, konnte er die Musik überhaupt in Ihrer absoluten Gesamtheit wiedergeben und damit die sonst »unterschlagenen« Elemente dem Zuhörer - nicht dem Kenner der Partitur - erstmals vollständig vermitteln.
In der Interpretation Beethovens offenbarte sich Schnabel also weder als ein asketischer Technokrat noch als der extrovertierte Bekenntnismusiker - eher als ein allwissender, musikalischer Dokumentarist. Und es gelang. ihm, seinem eigenen Ausspruch »die Musik Beethovens ist besser, als sie je gespielt werden könnte« schließlich noch zu widersprechen:
In den Schallplattenaufnahmen der letzten fünf der Klaviersonaten (die Nummern 28 bis 32, komponiert zwischen 1816 und 1822), konnte Schnabel sich von allen Anforderungen und Grenzen des Mediums »Piano« lösen. In seiner Auffassung der Noten hatte er die »visionäre Erkenntnis« der »echten« Ausdrucks- und Klangvorstellungen Beethovens - ohne Tricks und falsche Ausbrüche, nur mit Verstand, Herz und Fingern. Das alles wirkte mit einem geläuterten und überlegenen Wissen zusammen und stellte damit die qualitative, erstmals gleichberechtigte Einheit des Komponisten Beethoven und seines Interpreten Artur Schnabel her. Diese Verbindung zwischen virtuoser Kontrolle und Freiheit in Schnabels Beethoven fasziniert Experten, Interpreten und Publikum bis heute unverändert und wird es wohl auch noch in Zukunft tun.
1935 schloss Schnabel das Kapitel »Beethoven« mit der Veröffentlichung seiner eigenen Edition der 32 Sonaten ab, es war eine Art »Interpretationsführer.« Dazu verglich Schnabel alle fassbaren Beethoven-Manuskripte und Erstausgaben und
kommentierte sie mit seinen eigenen bevorzugten Fingersätzen, Phrasierungen und Pedal-Anweisungen. Diese enorme Leistung Schnabels ist aber wegen Ihrer Ungenauigkeiten und fehlenden (nicht wissenschaftlichen) Systematik bis heute noch umstritten.
Das Universaltalent:
Virtuose, Pädagoge, Komponist
Um das Phänomen des Universalisten Schnabel weiter zu fassen, muss auch verdeutlicht werden, dass er sich schon als junger Schüler vom Ideal des reinen Virtuosentum distanzierte. Allein schon körperlich entsprach er mit seinen kurzen Fingern, dem großem Kopf und der immer dicklichen Figur nicht unbedingt dem Klischee des romantischen, »körperlichen« und extrovertierten »Klavierschauspielers«, den
Franz Liszt einst erschaffen hatte. Schnabels Spiel hatte eine innere Ruhe und Sicherheit die sich auf sein privates Leben und auf sein Verhalten auf dem Podium übertrugen. Einmal spielte er mit den New-Yorker Philharmonikern unter Bruno Walter das B-Dur-Konzert von Brahms, das er bis dahin bestimmt schon mehr als hundertmal öffentlich aufgeführt hatte. Im Andante, dem langsamen dritten Satz, unterlief Schnabel ein großer Schnitzer und er spielte anders weiter als das Orchester. Mit einem Seufzer des Erschreckens aus dem Publikum erstarb auch die Musik. Während der Dirigent verzweifelte, ging Schnabel lächelnd und achselzuckend zum Pult hinüber. Nach kurzen Anweisungen und Getuschel ging das Konzert da weiter, wo es aufgehört hat - die
meisten Solisten heute hätten wohl kaum so eine Nervenstärke bewiesen wie Schnabel.
Fakt ist, dass Schnabel und seine Generation der Klaviervirtuosen die wirklichen, letzten Individualisten waren; ihre Ausbildung und Bewertung war noch vom Begriff des künstlerischen (musikalischen) Genies - wie Mozart oder Beethoven - geprägt. Solche Genies werden heute ja wohl nicht mehr geboren - oder falls doch, dann werden sie als solche nicht mehr erkannt. Genauso wenig gibt es heute noch die Klaviervirtuosen mit »Ecken und Kanten«, mit offensichtlichen und charakteristischen Mängeln im Spiel - so wie Artur Schnabel oder
Alfred Cortot. In einem Zeitalter, in dem jeder Ton digital beliebig manipulierbar ist, kann und wird nur noch zwischen »perfekt« und »nicht pertekt« klingenden Solisten unterschieden werden.
Eine weitere, für die Gegenwart der Klavierkunst bedeutsame Tatsache ist die, dass Schnabel ein international geschätzter Pädagoge war und eine Menge Schüler hatte - besonders viele aus England und den USA. Einige von Ihnen sind selbst weltberühmte Virtuosen geworden - z.B. Clifford Curzon, Rudolf Firkusny, Claude Frank und Lili Kraus - und viele wiederum haben selber Schüler gehabt und so weiter. Man kann die Wirkung einer spezifischen »Schnabel-Schule« in der heutigen Klavierpädagogik noch immer ausmachen: »The teaching of Artur Schnabel« (»Was wir von Artur Schnabel lernen können«, 1979, von
Konrad Wolff) lautet ein Standardtitel, der auch heute noch konsultiert wird.
Bereits als etwa vierzehnjähriger Klavierschüler begann Schnabel selbst zu unterrichten, auch ältere Schüler, die ihm sein Professor Leschetizky schickte: »Gehen Sie zu Schnabel und gehen Sie das Stück mit ihm durch«. Als Pädagoge war er immer der Gesprächspartner und Vermittler, nicht der »Vorturner«. Er pflegte keine Patentrezepte, dafür aber seine Erfahrungen weiterzugeben; seine Autorität nutzte er dazu, die Schüler zum eigenständigen Denken zu motivieren - so wie er auch selbst ausgebildet wurde. Denn Leschetizky versuchte stets alle natürlichen Ressourcen seiner Zöglinge ohne Zwänge freizusetzen, nach dem Motto »der Lehrer kann allenfalls eine Tür öffnen, hindurchgehen muss der Schüler selbst.«
Das Einzige, was Leschetizky von seinen Schülern forderte, war die Authentizität des Ausdrucks. Der ideale Interpret war für ihn jener, der gewissenhaft genau das wiedergab, was geschrieben stand, der alle Bezeichnungen mit wachem Urteil und mit Intelligenz berücksichtigte.
Der Einzelgänger Schnabel, der kaum Umgang mit gleichaltrigen hatte, legte die kindliche Unbedarftheit schnell ab, um bald ein »kleiner Erwachsener« zu werden: selbstständig, ernsthaft, intellektuell, ein scharfer Beobachter mit scharfer Zunge. Um über den Tellerrand hinaus zu schauen, begann er schon früh zu komponieren, was sicher nicht ungewöhnlich ist. Es sollte seine musikalische Auffassung und Interpretationsvorstellung erheblich erweitern, denn er betrachtete fortan die Musik aus beiden Perspektiven: als Interpret und auch als Komponist. Und obwohl er in beiden Disziplinen noch auf dem Höhepunkt der romantisch-individuellen Genietradition ausgebildet wurde, zielte Schnabel selbstsicher und entschieden in die »Moderne«. Auch Leschetizky bemerkte das Doppelwesen Schnabels, was ihn zu jenem legendären Ausspruch veranlasste: »Artur, aus dir wird nie ein Pianist. Du bist Musiker.«
Als Interpret pflegte Schnabel ein überschaubares Repertoire der Klavierliteratur: Bach, Beethoven, Brahms, Mozart, Schubert und Schumann, die er je nach Schaffensphase verschieden betonte. In seiner Jugend war er für alles offen, für die Werke der alten und neuen Zeitgenossen wie Brahms, Debussy, Erdmann oder Schönberg; auf seinem Zenit aber verweilte er bei Beethoven und Schubert - und schließlich setzte er sich »altersweise« erneut und intensiv mit Mozarts Musik auseinander.
Im Gegensatz zu dieser Traditionspflege
überschritt er als Komponist bereits in der Voravantgarde überraschend die formalen Grenzen der späten Romantik in die Richtung der modernern Atonalität von Arnold Schönberg, ohne sich aber der (Zweiten) Wiener Schule oder einer anderen Richtung eindeutig zuordnen zu lassen.
Schnabels Werk umfasst drei Symphonien, fünf Streichquartette, ein Klavierkonzert (das er im Alter von 19 Jahren schrieb), viele Lieder aus derselben Zeit, sieben Klavierstücke, eine Rhapsodie für Orchester, ein Streichtrio und sein letztes Meisterwerk, »Duodemicu!« für Streicher, Bläser und rhythmische Instrumente.
Artur Schnabel - der sehr kritisch und zurückhaltend zu seiner Arbeit stand - liess nur einen Bruchteil seiner Werke zu Lebzeiten veröffentlichen, aber in der jüngsten Zeit dringen sie langsam und ausgewählt in die Aufnahmestudios und die Konzertsäle vor.
Quelle: Anonymus, im Booklet
TRACKLIST
HALL OF FAME - ARTUR SCHNABEL (1882 - 1951)
Disk 1, Track 1: Beethoven: Piano Sonata No.14 in C sharp minor, op.27/2 "Moonlight": I. Adagio sostenuto
CD l Total Time: 58:14
Ludwig van Beethoven (1770 - 1827)
Piano Sonata No.14 in C sharp minor, op.27/2 "Moonlight"
01 I. Adagio sostenuto 4:50
02 II. Allegretto & Trio 2:10
03 III. Presto agitato 6:22
recorded 2 April 1934
Piano Sonata No. 15 in D major, op.28 "Pastoral"
04 I. Allegro 7:12
05 II. Andante 7:12
06 III. Scherzo & Trio: Allegro vivace 2:02
07 IV. Rondo: Allegro ma non troppo 4:23
recorded 17 February 1933
Piano Sonata No.16 in G major, op.31/l
08 I. Allegro vivace 5:48
09 II. Adagio grazioso 12:25
10 III. Rondo: Allegretto 5:29
recorded 5 & 6 November 1935
Disk 2, Track 5: Beethoven: Piano Concerto No. 2 in B flat major, op. 19: II. Adagio
CD 2 Total Time: 66:07
Ludwig van Beethoven (1770 - 1827)
Piano Concerto No. 1 in C major, op.15
01 I. Allegro con brio 16:51
02 II. Largo 12:22
03 III. Rondo: Allegro scherzando 8:38
recorded 23 March 1932
Piano Concerto No. 2 in B flat major, op.19
04 I. Allegro con brio 13:22
05 II. Adagio 9:09
06 III. Rondo: Molto Allegro 5:32
recorded 5 April 1935
London Symphony Orchestra, Sir Malcom Sargent
Disk 3, Track 6: Mozart: Piano Concerto No. 21 in C major, KV 467: III. Allegro vivace assai
CD 3 Total Time: 67:44
Wolfgang Amadeus Mozart (1756 - 1791)
Piano Concerto No. 20 in D minor, KV 466
01 I. Allegro 13:00
02 II. Romance 9:41
03 III. Rondo: Allegro assai 6:49
Philharmonic Orchestra, Walter Süsskind
recorded June 1948
Piano Concerto No. 21 in C major, KV 467
04 I. Allegro maestoso 13:29
05 II. Andante 8:17
06 III. Allegro vivace assai 6:43
London Symphony Orchestra, Sir Marcolm Sargent
recorded 12 January 1937
07 Rondo for piano No. 3 in A minor, KV 511 9:29
recorded June 1946
Disk 4, Track 5: Schubert: Quintet for piano and strings in A major D.667, op.114 "Trout": V. Finale: Allegro giusto
CD 4 Total Time: 57:40
Franz Schubert (1797 - 1828)
Quintet for piano and strings in A major D. 667,
op.114 "The Trout" (Foreilenquintett)
01 I. Allegro vivace 8:45
02 II. Andante 7:25
03 III. Scherzo: Presto & Trio 4:08
04 IV. Tema. Variazioni I-V 7:25
Andantino. Ailegretto
05 V. Finale: Allegro giusto 5:59
Alphonse Onnou (violin), Germain Prévost (viola),
Robert Mass (violoncello), Claude Hodbay (contrabass)
recorded 16 November 1935
Impromptus D. 899, op.90
06 No. 1 In C minor 8:47
07 No. 2 in E flat major 4:04
08 No. 3 in G flat major 4:51
09 No. 4 in A flat major 5:57
recorded 6-9 June 1950
Disk 5, Track 11: Schumann: Scenes from childhood, op. 15: Dreaming
CD 5 Total Time: 62:03
Johannes Brahms (1833 - 1897)
Piano Concerto No. 2 in B flat major, op. 83
01 I. Allegro non troppo 15:52
02 II. Allegro appassionato 8:06
03 III. Andante 12:24
04 IV. Allegro grazioso 8:35
Adrian Boult, BBC Symphony Orchestra,
recorded 7 & 14 November 1935
Robert Schumann (1810 - 1856)
Kinderszenen, op.15 (Scenes from childhood)
05 Von fremden Ländern und Menschen 1:11
(About foreign lands and peoples)
06 Kuriose Geschichte (A curious story) 1:02
07 Hasche-Mann (Catch me if you can) 0:29
08 Bittendes Kind (Pleading child) 0:47
09 Glückes genug (Perfect happiness) 1:15
10 Wichtige Begebenheit (An important event) 0:52
11 Träumerei (Dreaming) 2:46
12 Am Kamin (By fhe fireside) 0:50
13 Ritter von Steckenpferd 0:41
(Knight of fhe hobby-horse)
14 Fast zu ernst (Almost too serious) 1:30
15 Fürchtenmachen (Frightening) 1:30
16 Kind im Einschlummern (Child falling asleep) 1:56
17 Der Dichter spricht (The poet speaks) 2:06
recorded 3 June 1947
(P) + (C) 2002
Paul Valéry und der Manet-Blick
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Edouard Manet (1832-1883): Berthe Morisot mit dem Veilchenbukett,
1872, Musée d’Orsay, Paris. |
Im Jahre 1932 wurde ihm zu seinem hundertsten Geburtstag und zum erstenmal seit seiner Nachlaßausstellung von 1884, die mit hundertsiebenundvierzig Gemälden und Pastellen sowie zwanzig Aquarellen und Handzeichnungen in der Ecole des Beaux-Arts stattgefunden hatte, eine Gedächtnisschau gewidmet: Diesmal waren neunundneunzig Gemälde und Pastelle, dazu einunddreißig Aquarelle und Handzeichnungen in der Orangerie am Tuileriengarten versammelt - und Paul Valéry schrieb für den Katalog seinen berühmten Essay
Triomphe de Manet, was Carlo Schmid zu Recht mit »Manets Triumphzug« übersetzt hat. Es möchte hilfreich sein, angesichts des riesigen Publikumserfolgs der jetzigen [1983] Manet-Ausstellung im Grand Palais, einige Gedanken aus den so aphoristischen wie systematischen Aufzeichnungen des Dichters über den Maler in Erinnerung zu rufen. Um sich dann, im Zeitalter der »Neuen Wilden« und verwandter Phänomene, zu fragen, wer heute bereit wäre, sich einem imaginären Triumphzug des Meisters anzuschließen.
Valery beschwor die drei Exponenten der französischen Literatur des vergangenen Jahrhunderts, die sich, als überzeugte Zeitgenossen des Malers und dem allgemeinen Urteil entgegen, öffentlich zur Kunst und zur Person Manets bekannt haben: Baudelaire, Zola und Mallarmé. Baudelaire, der sich »als Kritiker nie geirrt«, der mit der ihm eigenen »sensualité raisonnée« das »Moderne«, die sich widersprechenden »Wahrheiten« der Epoche vorgefühlt habe, er sei »der Meinung gewesen, daß Manet sowohl der zur Neige gehenden malerischen Romantik wie dem Realismus zugehörte«. So habe er »für Baudelaire ziemlich genau das Problem verkörpert, das sich ihm selbst stellte, will sagen: den kritischen Zustand eines Künstlers, in dem etliche widerstreitende Versuchungen miteinander ringen und der überdies in der Lage ist, auf vielerlei bewunderungswürdige Weise er selbst zu sein«. Beide, der Dichter und der Maler, »lehnen gleichermaßen Wirkungsmittel ab, die sich nicht aus dem sauberen Bewußtsein und dem Besitz ihres Handwerkszeugs herleiten; gerade hierin wohnt und besteht die Reinheit in der Materie von Malerei und Poesie. Beide sind nicht bereit, auf das
sentiment zu spekulieren oder
Ideen ins Spiel zu bringen, ohne ihre
sensation klug und subtil geordnet zu haben. Sie verfolgen und erreichen das höchste Ziel der Kunst,
le charme, ein Wort, das sich hier in seinem ganzen Gewicht verstehen möchte.«
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Edouard Manet: Olympia, 1863 (Ausschnitt), Musée d'Orsay, Paris. |
Zola hingegen, der nicht wie Baudelaire und Manet altem Pariser Bürgertum entstammte, »stellte sich mit der für ihn bezeichnenden Heftigkeit ... hinter einen ganz anders gearteten Künstler, dessen Gewalt, dessen bisweilen brutal erscheinende Kunst, dessen Kühnheit der Vision indessen aus einer Natur hervorgingen, die durchaus von Eleganz eingenommen war, durchdrungen von jenem Geist heiterer Freiheit, wie er damals in Paris noch herrschte. Was endlich Doktrinen und Theorien anbelangt, so glaubte Manet, Skeptiker und wenig beschwerter Pariser, der er war, allein an die gute Malerei.« - »Daß Zola und Mallarme, an den entgegengesetzten, äußersten Enden der Literatur angesiedelt, ... so sehr für seine Kunst entbrannten, mußte ihn mit großem Stolz erfüllen.
Der eine glaubte in aller Einfalt an die Dinge selbst: nichts war ihm zu handfest, zu grob, zu mächtig; und in der Literatur konnte ihm nichts deutlich genug gesagt werden. Er war davon überzeugt, die Prosa sei dafür da, wiederzugeben, ja beinahe neu zu erschaffen: die Erde und die Menschen, die Städte und die Organismen, die Gebräuche und die Leidenschaften, das Fleisch und die Maschinen. Im Vertrauen auf Massenwirkung durch eine Fülle von Details, die Zahl der Seiten und der Bände fühlte er sich getrieben, über den Roman auf die Gesellschaft, die Gesetze, die Massen einzuwirken. … Mit einem Wort: Zola zählte zu den Künstlern, denen die Meinung des Durchschnitts gilt und die die Statistik befragen. Übriggeblieben sind bewunderungswürdige Bruchstücke einer riesigen Anstrengung.
Der andere, Stephane Mallarmé, war sein genaues Gegenteil ... Im Tiefsten um Vollkommenheit besorgt, frei von jeder naiven Hoffnung auf die Gunst der Vielen, schrieb er wenig und für wenige, für seinesgleichen ... Er glaubte, die Welt sei dazu geschaffen, in ein schönes Buch auszugehen, daß eine absolute Poesie ihre Vollendung bedeute.
Ich kann hier, wegen der kräftigen Worte, die dabei fielen, ein Gespräch nicht wiedergeben, das vor fünfzig Jahren zwischen Zola und Mallarmé stattfand. Der Gegensatz zwischen beiden wurde so höflich in der Form wie grausam offenbar. Während Zola [...] in der Kunst Manets die gegenständliche Gegenwart der Dinge, die lebendig und kraftvoll erfaßte
Wahrheit sah, genoß Mallarmé darin die auf der Leinwand vollzogene Umsetzung von Sinnlichem und Geistigem! Im übrigen war er von Manets Persönlichkeit hingerissen.«
Mit dieser subjektiv und auch pro domo formulierten Charakteristik seiner nicht weniger pro domo sprechenden Kollegen in ihrem Verhältnis zu Manet (und untereinander) gab Valéry zugleich sein persönliches Bild vom Maler und seiner Kunst. Er fügte hinzu: »Ich habe weder die Absicht noch steht es mir zu, die Substanz der Manetschen Kunst, das Geheimnis seines Einflusses zu erforschen, noch im einzelnen zu definieren, was er bei der Ausführung eines Bildes betont und was er opfert (ein Hauptproblem!). Die Ästhetik ist nicht meine Stärke, und überhaupt, wie soll man von Farben sprechen? So hat es schon seinen Sinn, daß nur die Blinden darüber streiten, so wie wir anderen über Metaphysik; doch die Sehenden wissen nur zu gut, daß sich das Wort nicht an dem messen läßt, was sie sehen. - Immerhin will ich versuchen, einen meiner Eindrücke zu fixieren.«
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Edouard Manet: Das Frühstück im Atelier, 1868,
(Ausschnitt: Léon Koella),
Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München. |
Und er gab seine wundervolle »Beschreibung« des Bildnisses der
Berthe Morisot mit dem Veilchenbukett, beschwor die »présence d'absence« ihres Blicks. Er hat der Malerin und Manet-Schülerin, der »Tante Berthe«, zudem einen eigenen Aufsatz gewidmet, an den sich jene
Abschweifung anschließt, die der deutsche Maler Max Liebermann im denkwürdigen letzten Heft von
Kunst und Künstler im Mai 1932 übersetzt hat. In dieser
digression aber heißt es, in der Übersetzung Max Liebermanns, der hier nicht weniger pro domo formulierte: »Stellen wir uns einmal vor [...], die Erscheinung der Dinge, die uns umgeben, wäre uns nicht zur Gewohnheit geworden, sie würde uns nur ausnahmsweise gewährt, wir erhielten nur durch ein Wunder Kenntnis vom Tag, von den Wesen, vom Himmel, von der Sonne und den Menschen! Was würden wir von diesen Offenbarungen sagen, und in welchen Ausdrücken würden wir über diese Unendlichkeit von merkwürdig ausgeglichenen Tatsachen sprechen? Was würden wir von der sinnlichen, vollkommenen und soliden Welt sagen, wenn sie uns nur ausnahmsweise und für Augenblicke die unbeständige und unzusammenhängende Welt, die nur Seele ist, durchschritte, sie blendete und zermalmte? Ich habe mich weit von meinem Gegenstand entfernt [...], ich wollte begreiflich machen, daß ein Leben, das den Formen und Farben geweiht ist, von vornherein nicht weniger tief, nicht weniger bewunderungswürdig ist als ein in den
inneren Gesichten zugebrachtes Leben.«
Diesen ausführlichen Zitaten mag der Leser entnehmen, wie hoch ich Valérys »Kunsturteil« stelle - nicht zuletzt seine beispielhafte Scheu, das »Inkommensurable« des Sichtbaren mit dem Wort zu benennen! Dennoch möchte ich Valéry, gerade im Sinne seines Kunsturteils und seiner Scheu, in einem Passus seines Manet-Aufsatzes widersprechen - und dieser Widerspruch fand sich angesichts der Pariser Ausstellung wieder und wieder bestätigt! Der Dichter schreibt u. a. über die
Olympia, »la nue et froide Olympia, monstre d'amour banal«. Er sagt: »Ihr Kopf ist leer, ein schwarzes Sammetband trennt ihn vom Wesentlichen ihres Seins« - eben vom elfenbeinfarbenen Fleisch ihres Leibes.
Valérys so empfindliches Auge hat sich hier für einmal blenden lassen von der leuchtenden Leiblichkeit der nackten Gestalt - »Ärgernis, Idol, Macht und öffentliche Gegenwart eines elenden Arkanums unserer Gesellschaft«. Denn ihr Kopf, der vorgeblich leere, ist nicht weniger wesentlich als ihr Körper - blickt er doch als Organ des gesamten Bildes den Beschauer vor dem Bilde gerade an - und durch ihn hindurch in eine fremde Ferne, nicht »frech« oder »herausfordernd«, wie man immer wieder gemeint hat. Mutatis mutandis - das berühmt-berüchtigte Modell, die von Manet so geschätzte und auf zahlreichen seiner Bilder erscheinende Victorine Meurant, mit der es dann auch ein böses Ende genommen hat, sie war als Mensch gewiß der in sehr anderem Sinne höchst liebenswürdigen Berthe Morisot nicht zu vergleichen -, mutatis mutandis aber wohnt im »unverschämten« Blick der
Olympia eine durchaus entsprechende »présence d'absence« wie im Bildnis der Malerin von 1872.
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Edouard Manet: Spanischer Sänger ("Guitarrero"),
1860, Metropolian Museum of Art, New York. |
Wer dies aber einmal erkannt hat, wird ihm immer wieder begegnen im Werk des Meisters bei Frauen, Kindern, Männern, in Einzelbildnissen oder in den Rollenporträts, aber auch in den zwei- oder mehrfigurigen Kompositionen - dem »Manet-Blick«. Zumeist, nicht immer, aus dunklen, kaum je mit Glanzlichtern akzentuierten, nur gelegentlich mit Lichtpunkten versehenen, offenen Augen findet sich der Betrachter getroffen. Ungerührt, ohne die barocke Anrede, ohne das barocke Einverständnis oder auch das nicht weniger die Epoche charakterisierende, taxierende Abstandnehmen wie bei Frans Hals, bei Rubens, van Dyck oder Velázquez, oder gar den Seelenton bei Rembrandt, geht dieser Blick der Fremdheit durch uns hindurch. Das vor Manet hier und da im Selbstbildnis eines Dürer oder eines Friedrich aufschien, hat Manet als ein Erster im Menschen schlechthin erkannt, als ein Stigma des »modernen Menschen« - ich zögere, das Wort »Entfremdung« zu gebrauchen, obwohl es hier wirklich trifft.
Der Rundgang durch die Ausstellung erweist, daß es bei dieser Beobachtung nicht etwa um das individuelle Merkmal des einen oder des anderen Modells gehen kann. Nicht nur die Victorine trägt dieses Stigma als
Straßensängerin, als
Espada, als
Frau mit dem Papagei, als Nackte auf dem
Frühstück im Freien, als Frau mit dem Kind vor dem Eisenbahngitter der Gare Saint-Lazare oder als Rauchende am Caféhaustisch in
La Prune, da sie von 1862 bis 1878 wieder und wieder für den Maler posierte! Nicht nur bei den Frauen auf den Bildern, zu denen Berthe Morisot saß, stand, wie dem
Balkon oder dem
Repos - von Mal zu Mal beherrscht dieser stumme Blick die optische Aussage ganzer Bildkompositionen, bei der Madame Guillemet auf dem
Gewächshaus bis hin zu der Blonden, Helläugigen auf dem
Bar aux Folies-Bergère, mit dem Manet von der Welt des Sichtbaren mit ihren von Valery beschworenen »Offenbarungen« Abschied nimmt.
Ebenso aber beim
Guitarrero, von dem Théophile Gautier 1860 behauptete, daß er »wohlgemut gröle - man hört ihn förmlich!«. Denn auch dieses Bild blickt aus stummen Augen, so wie der
Pfeifer, der
Astruc, der Léon Koella auf dem
Frühstück im Atelier und endlich der Marcellin Desboutin auf dem
Artiste, dem Inbegriff des europäischen Künstlerbildnisses, des Menschenbildnisses im 19. Jahrhundert, des modernen Menschenbildes. Daß gerade dieses Bild zwar im Katalog, nicht aber in der Ausstellung im Original erscheint, ist besonders beklagenswert. Der »leere«, der »nichtssagende«, der »hochmütige«, der »ausdruckslose« Blick dieser Menschen geht uns nach, weil er uns angeht.
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Edouard Manet: Die Eisenbahn, 1872/73, (Ausschnitt),
National Gallery of Art, Washington D.C. |
Ein Kunstwerk sei »ein Winkel aus der Natur, gesehen durch ein Temperament«, hat Emile Zola, übrigens ursprünglich nicht auf Manet bezogen, behauptet. Die Bilder dieses Malers sind von Grund auf anders. Sein »Realismus«, sein »Impressionismus«, seine Malerei, seine Farbe, von der ein früher Kritiker gesagt hat, sie sei für ihn »Sprache, Musik - und er spricht diese Sprache, statt sie in sentimentale Phrasen zu übersetzen«, seine Kunst sperrt sich jedem Klischee. »Mit Manet verglichen, sind fast alle Maler des 19.Jahrhunderts Illustratoren - den Begriff im weitesten Sinne genommen! Das will sagen: sie dachten und fühlten, ehe daß sie bildeten, und ihr Geist bestimmte die Vision; seine Gedanken und Gefühle dagegen entstammen Gesichten und gehen rein auf in Form und Farbe. ›Dies ist noch Musik‹, hat ein Dichter abweisend vom Werk eines anderen gesagt! ›Dies ist noch Dichtung‹, hätte Manet von den Bildern seiner Vorgänger sagen können.« Diese Worte schrieb Max J. Friedländer vier Jahre vor Valérys
Triomphe in den Katalog einer Manet-Ausstellung in Berlin.
Quelle: Günter Busch: Das Gesicht. Aufsätze zur Kunst. S. Fischer, Frankfurt am Main, 1997. ISBN 3-10-009629-0. Seite 127 - 137.
Günter Busch, geboren 1917, wurde 1945 Kustos, 1950
Direktor der Kunsthalle seiner Vaterstadt Bremen. 35 Jahre leitete er sie als beispielhaftes Museum. Er verfaßte Standardwerke über Eugène Delacroix, Paula Modersohn-Becker und Max Liebermann. Die Schriften des letzteren gab er als
Die Phantasie in der Malerei heraus.
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Reposted on July 3rd, 2017