Als der 26-jährige Boulez 1951 in Donaueschingen mit der Uraufführung seiner Polyphonie X für 18 Soloinstrumente antrat, sorgte er gleich für einen "Skandalerfolg", der ihn mit einem Schlag zu einem der vielbeachtetsten Komponisten machte. Polyphonie X gilt bis heute als die strengste serielle Komposition, wurde jedoch vom Komponisten, nachdem er die Aufnahme zu Gehör bekam, ebenso zurückgezogen wie die 1958 uraufgeführte Poésie pour pouvoir. Dank der Mitschnitte sind beide Werke aber zumindest als Tondokumente verfügbar, was den Wert dieser Einspielungen unterstreicht. Die serielle Technik, die Messiaen, an Schönbergs und Weberns Reihentechnik anknüpfend, entwickelt hatte und die von Boulez und Stockhausen perfektioniert wurde, wird noch lange das Musikdenken der gesamten europäischen Avantgarde beherrschen.
In Poésie pour pouvoir, nach einem Text von Henri Michaux entstanden, kombinierte Boulez die serielle Technik mit elektronischer Klangerzeugung. Begeistert über die Möglichkeiten des seinerzeit neuen Mediums, schrieb er an seinen Freund John Cage: “So wird jedes Werk sein eigenes Universum haben, seine eigene Struktur und seinen eigenen Modus der Erzeugung auf allen Ebenen.“ Boulez wird zwar ein großer Verfechter der elektronischen Musik bleiben, hat sich aber auch in den späteren Kompositionen nie ausschließlich der Elektronik gewidmet.
Als Boulez 1959, ein Jahr nach der Aufführung von Poésie pour pouvoir, erstmals in Donaueschingen als Dirigent auftrat, brach die Kritik sofort in Lobeshymnen aus, wogegen die Aufführung seines Tombeau à la mémoire du Prince Max Egon zu Fürstenberg geradezu verblasste. Dass es sich dabei um ein "work in progress", die erste Fassung des Schlussteils eines weiteren großen Werkes handelte, nämlich Pli selon pli, konnte niemand ahnen, das brachte erst die Geschichte zutage.
Structures II (1961) gehört zu den wenigen endgültig abgeschlossenen und nicht zurückgezogenen Werken. Wie schon in seiner Dritten Klaviersonate arbeitete Boulez mit aleatorischen Verfahren, dem "gelenkten Zufall", die den Interpreten für ihr Zwiegespräch, das in diesem Werk gemeint ist, gewisse Freiheiten gestattet und so jede Aufführung zu einem neuen Ereignis werden lassen.
Quelle: Ralf Kasper, im Booklet
Pierre Boulez (1925-2016) [Quelle] |
TRACKLIST Pierre Boulez (1925-2016) Orchestral Works and Chamber Music Polyphonie X for 18 solo instruments (1951) 16:21 [01] modéré 07:24 [02] lent 04:09 [03] vif 04:48 SWF Symphony Orchestra Hans Rosbaud, director [04] Poésie pour pouvoir (1958) 18:29 SWF Symphony Orchestra Hans Rosbaud / Pierre Boulez, directors Michel Bouquet, voice (on tape) Ludwig Heck, technical director Fred Bürck / Susanne Vogt / Hans Wurm, sound engineers [05] Tombeau à la mémoire du Prince Max Egon zu Fürstenberg (1959) 07:16 Eva-Maria Rogner, soprano Ensemble Domaine Musical Paris Pierre Boulez, director Structures II pour deux pianos 7 deuxième livre (1961) 35:00 [06] Chapitre I 08:54 [07] Chapitre II / Version 1 13:11 [08] Chapitre II / Version 2 12:55 Yvonne Loriod / Pierre Boulez, pianos total time 77:55 Recordings October 1951 / 1958 / 1959 / 1961, World Premieres Donaueschinger Musiktage Mastering: Jiri Pospichal Editors: Brigitte Weinmann / Dominik Weinmann (P) 1951 / 1958 / 1959 / 1961 (C) 2000
Jacob Burckhardt:
Die Ruinenstadt Rom
Giovanni Battista Piranesi: Das Kolosseum, 1757 |
Wie oft seitdem bis auf Gibbon und Niebuhr hat diese Ruinenwelt die geschichtliche Kontemplation geweckt.
Dieselbe geteilte Empfindung offenbart auch noch Fazio degli Uberti in seinem um 1360 verfaßten Dittamondo, einer fingierten visionären Reisebeschreibung, wobei ihn der alte Geograph Solinus begleitet wie Virgil den Dante. So wie sie Bari zu Ehren des St. Nicolaus, Monte Gargano aus Andacht zum Erzengel Michael besuchen, so wird auch in Rom die Legende von Araceli und die von S. Maria in Trastevere erwähnt, doch hat die profane Herrlichkeit des alten Rom schon merklich das Übergewicht; eine hehre Greisin in zerrissenem Gewand — es ist Roma selber — erzählt ihnen die glorreiche Geschichte und schildert umständlich die alten Triumphe; dann führt sie die Fremdlinge in der Stadt herum und erklärt ihnen die sieben Hügel und eine Menge Ruinen — che comprender potrai, quanto fui bella! —
Giovanni Battista Piranesi: Der Tempel der Cibele an der Piazza della Bocca della Verita, aus 'Ansichten von Rom'. |
In Poggios Wanderung durch Rom ist zum erstenmal das Studium der Reste selbst mit dem der alten Autoren und mit dem der Inschriften (welchen er durch alles Gestrüpp hindurch nachging) inniger verbunden, die Phantasie zurückgedrängt, der Gedanke an das christliche Rom geflissentlich ausgeschieden. Wäre nur Poggios Arbeit viel ausgedehnter und mit Abbildungen versehen! Er traf noch sehr viel mehr Erhaltenes an als achtzig Jahre später Raffael. Er selber hat noch das Grabmal der Caecilia Metella und die Säulenfronte eines der Tempel am Abhang des Kapitols zuerst vollständig und dann später bereits halb zerstört wiedergesehen, indem der Marmor noch immer den unglückseligen Materialwert hatte, leicht zu Kalk gebrannt werden zu können; auch eine gewaltige Säulenhalle bei der Minerva unterlag stückweise diesem Schicksal. Ein Berichterstatter vom Jahre 1443 meldet die Fortdauer dieses Kalkbrennens, »welches eine Schmach ist; denn die neueren Bauten sind erbärmlich, und das Schöne an Rom sind die Ruinen«. Die damaligen Einwohner in ihren Campagnolenmänteln und Stiefeln kamen den Fremden vor wie lauter Rinderhirten, und in der Tat weidete das Vieh bis zu den Banchi hinein; die einzige gesellige Reunion waren die Kirchgänge zu bestimmten Ablässen; bei dieser Gelegenheit bekam man auch die schönen Weiber zu sehen.
Giovanni Battista Piranesi: Der sogenannte Tempel der Concordia, aus 'Ansichten von Rom', 1774 |
Mit Nicolaus V. (1447-1455) besteigt derjenige neue monumentale Geist, welcher der Renaissance eigen war, den päpstlichen Stuhl. Durch die neue Geltung und Verschönerung der Stadt Rom als solcher wuchs nun wohl einerseits die Gefahr für die Ruinen, anderseits aber auch die Rücksicht für dieselben als Ruhmestitel der Stadt. Pius II. ist ganz erfüllt von antiquarischem Interesse, und wenn er von den Altertümern Roms wenig redet, so hat er dafür denjenigen des ganzen übrigen Italiens seine Aufmerksamkeit gewidmet und diejenigen in der Umgebung der Stadt in weitem Umfange zuerst genau gekannt und beschrieben. Allerdings interessieren ihn als Geistlichen und Kosmographen antike und christliche Denkmäler und Naturwunder gleichmäßig, oder hat er sich Zwang antun müssen, als er z. B. niederschrieb: Nola habe größere Ehre durch das Andenken des St. Paulinus als durch die römischen Erinnerungen und durch den Heldenkampf des Marcellus? Nicht daß etwa an seinem Reliquienglauben zu zweifeln wäre, allein sein Geist ist schon offenbar mehr der Forscherteilnahme an Natur und Altertum, der Sorge für das Monumentale, der geistvollen Beobachtung des Lebens zugeneigt. Noch in seinen letzten Jahren als Papst, podagrisch und doch in der heitersten Stimmung, laßt er sich auf dem Tragsessel über Berg und Tal nach Tusculum, Alba, Tibur, Ostia, Falerii, Ocriculum bringen und verzeichnet alles, was er gesehen; er verfolgt die alten Römerstraßen und Wasserleitungen und sucht die Grenzen der antiken Völkerschaften um Rom zu bestimmen. Bei einem Ausflug nach Tibur mit dem großen Federigo von Urbino vergeht die Zeit beiden auf das angenehmste mit Gesprächen über das Altertum und dessen Kriegswesen, besonders über den trojanischen Krieg; selbst auf seiner Reise zum Kongreß von Mantua (1459) sucht er, wiewohl vergebens, das von Plinius erwähnte Labyrinth von Clusium und besieht am Mincio die sogenannte Villa Virgils.
Giovanni Battista Piranesi: Janusbogen (Arco di Giano), Forum Boarium. |
In dieser Zeit war natürlich auch im übrigen Italien der Eifer für die römischen Altertümer erwacht. Schon Boccaccio nennt die Ruinenwelt von Bajae »altes Gemäuer, und doch neu für moderne Gemüter«; seitdem galten sie als größte Sehenswürdigkeit der Umgegend Neapels. Schon entstanden auch Sammlungen von Altertümern jeder Gattung. Ciriaco von Ancona durchstreifte nicht bloß Italien, sondern auch andere Länder des alten Orbis terrarum und brachte Inschriften und Zeichnungen in Menge mit; auf die Frage, warum er sich so bemühe, antwortete er: »Um die Toten zu erwecken«. […]
Kehren wir nach Rom zurück. Die Einwohner, »die sich damals Römer nannten«, gingen begierig auf das Hochgefühl ein, das ihnen das übrige Italien entgegenbrachte. Wir werden unter Paul II.‚ Sixtus IV. und Alexander VI. prächtige Karnevalsaufzüge stattfinden sehen, welche das beliebteste Phantasiegebilde jener Zeit, den Triumph altrömischer Imperatoren, darstellten. Wo irgend Pathos zum Vorschein kam, mußte es in jener Form geschehen.
Bei dieser Stimmung der Gemüter geschah es am 18. April 1485, daß sich das Gerücht verbreitete, man habe die wunderbar schöne, wohlerhaltene Leiche einer jungen Römerin aus dem Altertum gefunden. Lombardische Maurer, welche auf einem Grundstück des Klosters S. Maria Nuova, an der Via Appia, außerhalb der Caecilia Metella, ein antikes Grabmal aufgruben, fanden einen marmornen Sarkophag angeblich mit der Aufschrift: Julia, Tochter des Claudius. Das Weitere gehört der Phantasie an: die Lombarden seien sofort verschwunden samt den Schätzen und Edelsteinen, welche im Sarkophag zum Schmuck und Geleit der Leiche dienten; letztere sei mit einer sichernden Essenz überzogen und so frisch, ja so beweglich gewesen, wie die eines eben gestorbenen Mädchens von 15 Jahren; dann hieß es sogar, sie habe noch ganz die Farbe des Lebens, Augen und Mund halb offen. Man brachte sie nach dem Konservatorenpalast auf dem Kapitel, und dahin, um sie zu sehen, begann nun eine wahre Wallfahrt.
Giovanni Battista Piranesi: Ruine der Caracalla-Thermen, aus 'Ansichten von Rom', 1766 |
Inzwischen wuchs die sachliche Kenntnis des alten Rom durch Ausgrabungen; schon unter Alexander VI. lernte man die sogenannten Grotesken, d. h. die Wand- und Gewölbedekorationen der Alten kennen, und fand in Porto d’Anzo den Apoll von Belvedere; unter Julius II. folgten die glorreichen Auffindungen des Laokoon, der Vatikanischen Venus, des Torso der Kleopatra u. a. m.; auch die Paläste der Großen und Kardinäle begannen sich mit antiken Statuen und Fragmenten zu füllen. Für Leo X. unternahm Raffael jene ideale Restauration der ganzen alten Stadt, von welcher sein (oder Castigliones) berühmter Brief spricht. Nach der bittern Klage über die noch immer dauernden Zerstörungen, namentlich noch unter Julius II., ruft er den Papst um Schutz an für die wenigen übriggebliebenen Zeugnisse der Größe und Kraft jener göttlichen Seelen des Altertums, an deren Andenken sich noch jetzt diejenigen entzünden, die des Höhern fähig seien. Mit merkwürdig durchdringendem Urteil legt er dann den Grund zu einer vergleichenden Kunstgeschichte überhaupt und stellt am Ende denjenigen Begriff von »Aufnahme« fest, welcher seitdem gegolten hat: er verlangt für jeden Überrest, Plan, Aufriß und Durchschnitt gesondert. Wie seit dieser Zeit die Archäologie, in speziellem Anschluß an die geheiligte Weltstadt und deren Topographie, zur besondern Wissenschaft heranwuchs, wie die vitruvianische Akademie wenigstens ein kolossales Programm aufstellte, kann nicht weiter ausgeführt werden.
Giovanni Battista Piranesi: Ansicht des Nerva-Forums, aus 'Ansichten von Rom', 1770 |
Außer dem archäologischen Eifer und der feierlich-patriotischen Stimmung weckten die Ruinen als solche, in und außer Rom, auch schon eine elegisch-sentimentale. Bereits bei Petrarca und Boccaccio finden sich Anklänge dieser Art; Poggio besucht oft den Tempel der Venus und Roma, in der Meinung, es sei der des Castor und Pollux, wo einst so oft Senat gehalten worden, und vertieft sich hier in die Erinnerung an die großen Redner Crassus, Hortensius, Cicero. Vollkommen sentimental äußert sich dann Pius II. zumal bei der Beschreibung von Tibur, und bald darauf entsteht die erste ideale Ruinenansicht nebst Schilderung bei Polifilo: Trümmer mächtiger Gewölbe und Kolonnaden, durchwachsen von alten Platanen‚ Lorbeeren und Zypressen nebst wildem Buschwerk. In der heiligen Geschichte wird es, man kann kaum sagen wie, gebräuchlich, die Darstellung der Geburt Christi in die möglichst prachtvollen Ruinen eines Palastes zu verlegen. Daß dann endlich die künstliche Ruine zum Requisit prächtiger Gartenanlagen wurde, ist nur die praktische Äußerung desselben Gefühls.
Quelle: Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Verlag Alfred Kröner, Stuttgart, 1988. (Kröners Taschenausgabe Bd. 53). ISBN 3-520-05311-X. Ausgezogen wurde aus dem III. Abschnitt das Kapitel "Die Ruinenstadt Rom" (Seite 131-138, geringfügig gekürzt).
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