24. Februar 2020

Pierre Boulez: Polyphonie X | Poésie pour pouvoir | Structures II

Wäre es nach dem Willen seines Vaters gegangen, wäre der 1925 in Montbrison an der Loire geborene Pierre Boulez nie Musiker geworden, sondern hätte nach einem Mathematikstudium die Ingenieurslaufbahn eingeschlagen - und der Musikwelt wäre ein großes Mehrfachtalent vorenthalten worden: So ist aus dem Schüler Olivier Messiaens nicht nur einer der bedeutendsten und zu Beginn seiner Karriere auch innovativsten französischen Komponisten des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein weltberühmter Dirigent und wichtiger Musiktheoretiker geworden.

Als der 26-jährige Boulez 1951 in Donaueschingen mit der Uraufführung seiner Polyphonie X für 18 Soloinstrumente antrat, sorgte er gleich für einen "Skandalerfolg", der ihn mit einem Schlag zu einem der vielbeachtetsten Komponisten machte. Polyphonie X gilt bis heute als die strengste serielle Komposition, wurde jedoch vom Komponisten, nachdem er die Aufnahme zu Gehör bekam, ebenso zurückgezogen wie die 1958 uraufgeführte Poésie pour pouvoir. Dank der Mitschnitte sind beide Werke aber zumindest als Tondokumente verfügbar, was den Wert dieser Einspielungen unterstreicht. Die serielle Technik, die Messiaen, an Schönbergs und Weberns Reihentechnik anknüpfend, entwickelt hatte und die von Boulez und Stockhausen perfektioniert wurde, wird noch lange das Musikdenken der gesamten europäischen Avantgarde beherrschen.

In Poésie pour pouvoir, nach einem Text von Henri Michaux entstanden, kombinierte Boulez die serielle Technik mit elektronischer Klangerzeugung. Begeistert über die Möglichkeiten des seinerzeit neuen Mediums, schrieb er an seinen Freund John Cage: “So wird jedes Werk sein eigenes Universum haben, seine eigene Struktur und seinen eigenen Modus der Erzeugung auf allen Ebenen.“ Boulez wird zwar ein großer Verfechter der elektronischen Musik bleiben, hat sich aber auch in den späteren Kompositionen nie ausschließlich der Elektronik gewidmet.

Als Boulez 1959, ein Jahr nach der Aufführung von Poésie pour pouvoir, erstmals in Donaueschingen als Dirigent auftrat, brach die Kritik sofort in Lobeshymnen aus, wogegen die Aufführung seines Tombeau à la mémoire du Prince Max Egon zu Fürstenberg geradezu verblasste. Dass es sich dabei um ein "work in progress", die erste Fassung des Schlussteils eines weiteren großen Werkes handelte, nämlich Pli selon pli, konnte niemand ahnen, das brachte erst die Geschichte zutage.

Structures II (1961) gehört zu den wenigen endgültig abgeschlossenen und nicht zurückgezogenen Werken. Wie schon in seiner Dritten Klaviersonate arbeitete Boulez mit aleatorischen Verfahren, dem "gelenkten Zufall", die den Interpreten für ihr Zwiegespräch, das in diesem Werk gemeint ist, gewisse Freiheiten gestattet und so jede Aufführung zu einem neuen Ereignis werden lassen.

Quelle: Ralf Kasper, im Booklet

Pierre Boulez (1925-2016) [Quelle]

TRACKLIST

Pierre Boulez 
(1925-2016) 

Orchestral Works and Chamber Music


Polyphonie X for 18 solo instruments (1951)    16:21
[01] modéré                                    07:24 
[02] lent                                      04:09 
[03] vif                                       04:48 
SWF Symphony Orchestra 
Hans Rosbaud, director 

[04] Poésie pour pouvoir (1958)                18:29 
SWF Symphony Orchestra 
Hans Rosbaud / Pierre Boulez, directors 
Michel Bouquet, voice (on tape) 
Ludwig Heck, technical director 
Fred Bürck / Susanne Vogt / Hans Wurm, sound engineers 

[05] Tombeau à la mémoire du 
     Prince Max Egon zu Fürstenberg (1959)     07:16
Eva-Maria Rogner, soprano 
Ensemble Domaine Musical Paris
Pierre Boulez, director 

Structures II pour deux pianos 7 deuxième livre 
     (1961)                                    35:00 
[06] Chapitre I                                08:54 
[07] Chapitre II / Version 1                   13:11 
[08] Chapitre II / Version 2                   12:55 
Yvonne Loriod / Pierre Boulez, pianos 

                                    total time 77:55 

Recordings October 1951 / 1958 / 1959 / 1961, World Premieres
Donaueschinger Musiktage
Mastering: Jiri Pospichal
Editors: Brigitte Weinmann / Dominik Weinmann
                                   
(P) 1951 / 1958 / 1959 / 1961 
(C) 2000 


Jacob Burckhardt:

Die Ruinenstadt Rom

Giovanni Battista Piranesi: Das Kolosseum, 1757
Vor allem genießt die Ruinenstadt Rom selber jetzt eine andere Art von Pietät als zu der Zeit, da die Mirabilia Romae und das Geschichtswerk des Wilhelm von Malmesbury verfaßt wurden. Die Phantasie des frommen Pilgers wie die des Zaubergläubigen und des Schatzgräbers tritt in den Aufzeichnungen zurück neben der des Historikers und Patrioten. In diesem Sinne wollen Dantes Worte verstanden sein: Die Steine der Mauern von Rom verdienten Ehrfurcht, und der Boden, worauf die Stadt gebaut ist, sei würdiger, als die Menschen sagen. Die kolossale Frequenz der Jubiläen läßt in der eigentlichen Literatur doch kaum eine andächtige Erinnerung zurück; als besten Gewinn vom Jubiläum des Jahres 1300 bringt Giovanni Villani seinen Entschluß zur Geschichtschreibung mit nach Hause, welchen der Anblick der Ruinen von Rom in ihm geweckt. Petrarca gibt uns noch Kunde von einer zwischen klassischem und christlichem Altertum geteilten Stimmung; er erzählt, wie er oftmals mit Giovanni Colonna auf die riesigen Gewölbe der Diokletiansthermen hinaufgestiegen; hier, in der reinen Luft, in tiefer Stille, mitten in der weiten Rundsicht, redeten sie zusammen, nicht von Geschäft, Hauswesen und Politik, sondern, mit dem Blick auf die Trümmer ringsum, von der Geschichte, wobei Petrarca mehr das Altertum, Giovanni mehr die christliche Zeit vertrat; dann auch von der Philosophie und von den Erfindern der Künste.

Wie oft seitdem bis auf Gibbon und Niebuhr hat diese Ruinenwelt die geschichtliche Kontemplation geweckt.

Dieselbe geteilte Empfindung offenbart auch noch Fazio degli Uberti in seinem um 1360 verfaßten Dittamondo, einer fingierten visionären Reisebeschreibung, wobei ihn der alte Geograph Solinus begleitet wie Virgil den Dante. So wie sie Bari zu Ehren des St. Nicolaus, Monte Gargano aus Andacht zum Erzengel Michael besuchen, so wird auch in Rom die Legende von Araceli und die von S. Maria in Trastevere erwähnt, doch hat die profane Herrlichkeit des alten Rom schon merklich das Übergewicht; eine hehre Greisin in zerrissenem Gewand — es ist Roma selber — erzählt ihnen die glorreiche Geschichte und schildert umständlich die alten Triumphe; dann führt sie die Fremdlinge in der Stadt herum und erklärt ihnen die sieben Hügel und eine Menge Ruinen — che comprender potrai, quanto fui bella! —

Giovanni Battista Piranesi: Der Tempel der Cibele an der
 Piazza della Bocca della Verita, aus 'Ansichten von Rom'.
Leider war dieses Rom der avigonesischen und schismatischen Päpste in bezug auf die Reste des Altertums schon bei weitem nicht mehr, was es einige Menschenalter vorher gewesen war. Eine tödliche Verwüstung, welche den wichtigsten noch vorhandenen Gebäuden ihren Charakter genommen haben muß, war die Schleifung von 140 festen Wohnungen römischer Großer durch den Senator Brancaleone um 1258; der Adel hatte sich ohne Zweifel in den besterhaltenen und höchsten Ruinen eingenistet gehabt. Gleichwohl blieb noch immer unendlich viel mehr übrig, als was gegenwärtig aufrecht steht, und namentlich mögen viele Reste noch ihre Bekleidung und Inkrustation mit Marmor, ihre vorgesetzten Säulen und andern Schmuck gehabt haben, wo jetzt nur der Kernbau aus Backsteinen übrig ist. An diesen Tatbestand schloß sich nun der Anfang einer ernsthaften Topographie der alten Stadt an.

In Poggios Wanderung durch Rom ist zum erstenmal das Studium der Reste selbst mit dem der alten Autoren und mit dem der Inschriften (welchen er durch alles Gestrüpp hindurch nachging) inniger verbunden, die Phantasie zurückgedrängt, der Gedanke an das christliche Rom geflissentlich ausgeschieden. Wäre nur Poggios Arbeit viel ausgedehnter und mit Abbildungen versehen! Er traf noch sehr viel mehr Erhaltenes an als achtzig Jahre später Raffael. Er selber hat noch das Grabmal der Caecilia Metella und die Säulenfronte eines der Tempel am Abhang des Kapitols zuerst vollständig und dann später bereits halb zerstört wiedergesehen, indem der Marmor noch immer den unglückseligen Materialwert hatte, leicht zu Kalk gebrannt werden zu können; auch eine gewaltige Säulenhalle bei der Minerva unterlag stückweise diesem Schicksal. Ein Berichterstatter vom Jahre 1443 meldet die Fortdauer dieses Kalkbrennens, »welches eine Schmach ist; denn die neueren Bauten sind erbärmlich, und das Schöne an Rom sind die Ruinen«. Die damaligen Einwohner in ihren Campagnolenmänteln und Stiefeln kamen den Fremden vor wie lauter Rinderhirten, und in der Tat weidete das Vieh bis zu den Banchi hinein; die einzige gesellige Reunion waren die Kirchgänge zu bestimmten Ablässen; bei dieser Gelegenheit bekam man auch die schönen Weiber zu sehen.

Giovanni Battista Piranesi: Der sogenannte Tempel der Concordia,
 aus 'Ansichten von Rom', 1774
In den letzten Jahren Eugens IV. (gest. 1447) schrieb Blondus von Forli seine Roma instaurata, bereits mit Benutzung des Frontinus und der alten Regionenbücher, sowie auch (scheint es) des Anastasius. Sein Zweck ist schon bei weitem nicht bloß die Schilderung des Vorhandenen, sondern mehr die Ausmittelung des Untergegangenen. Im Einklang mit der Widmung an den Papst tröstet er sich für den allgemeinen Ruin mit den herrlichen Reliquien der Heiligen, welche Rom besitze.

Mit Nicolaus V. (1447-1455) besteigt derjenige neue monumentale Geist, welcher der Renaissance eigen war, den päpstlichen Stuhl. Durch die neue Geltung und Verschönerung der Stadt Rom als solcher wuchs nun wohl einerseits die Gefahr für die Ruinen, anderseits aber auch die Rücksicht für dieselben als Ruhmestitel der Stadt. Pius II. ist ganz erfüllt von antiquarischem Interesse, und wenn er von den Altertümern Roms wenig redet, so hat er dafür denjenigen des ganzen übrigen Italiens seine Aufmerksamkeit gewidmet und diejenigen in der Umgebung der Stadt in weitem Umfange zuerst genau gekannt und beschrieben. Allerdings interessieren ihn als Geistlichen und Kosmographen antike und christliche Denkmäler und Naturwunder gleichmäßig, oder hat er sich Zwang antun müssen, als er z. B. niederschrieb: Nola habe größere Ehre durch das Andenken des St. Paulinus als durch die römischen Erinnerungen und durch den Heldenkampf des Marcellus? Nicht daß etwa an seinem Reliquienglauben zu zweifeln wäre, allein sein Geist ist schon offenbar mehr der Forscherteilnahme an Natur und Altertum, der Sorge für das Monumentale, der geistvollen Beobachtung des Lebens zugeneigt. Noch in seinen letzten Jahren als Papst, podagrisch und doch in der heitersten Stimmung, laßt er sich auf dem Tragsessel über Berg und Tal nach Tusculum, Alba, Tibur, Ostia, Falerii, Ocriculum bringen und verzeichnet alles, was er gesehen; er verfolgt die alten Römerstraßen und Wasserleitungen und sucht die Grenzen der antiken Völkerschaften um Rom zu bestimmen. Bei einem Ausflug nach Tibur mit dem großen Federigo von Urbino vergeht die Zeit beiden auf das angenehmste mit Gesprächen über das Altertum und dessen Kriegswesen, besonders über den trojanischen Krieg; selbst auf seiner Reise zum Kongreß von Mantua (1459) sucht er, wiewohl vergebens, das von Plinius erwähnte Labyrinth von Clusium und besieht am Mincio die sogenannte Villa Virgils.

Giovanni Battista Piranesi: Janusbogen (Arco di Giano), Forum Boarium.
Daß derselbe Papst auch von den Abbreviatoren ein klassisches Latein verlangte, versteht sich beinahe von selbst; hat er doch einst im neapolitanischen Krieg die Arpinaten amnestiert als Leute des M. T. Cicero sowie des C. Marius, nach welchen noch viele Leute dort getauft waren. Ihm allein als Kenner und Beschützer konnte und mochte Blondus seine Roma triumphans zueignen, den ersten großen Versuch einer Gesamtdarstellung des römischen Altertums.

In dieser Zeit war natürlich auch im übrigen Italien der Eifer für die römischen Altertümer erwacht. Schon Boccaccio nennt die Ruinenwelt von Bajae »altes Gemäuer, und doch neu für moderne Gemüter«; seitdem galten sie als größte Sehenswürdigkeit der Umgegend Neapels. Schon entstanden auch Sammlungen von Altertümern jeder Gattung. Ciriaco von Ancona durchstreifte nicht bloß Italien, sondern auch andere Länder des alten Orbis terrarum und brachte Inschriften und Zeichnungen in Menge mit; auf die Frage, warum er sich so bemühe, antwortete er: »Um die Toten zu erwecken«. […]

Kehren wir nach Rom zurück. Die Einwohner, »die sich damals Römer nannten«, gingen begierig auf das Hochgefühl ein, das ihnen das übrige Italien entgegenbrachte. Wir werden unter Paul II.‚ Sixtus IV. und Alexander VI. prächtige Karnevalsaufzüge stattfinden sehen, welche das beliebteste Phantasiegebilde jener Zeit, den Triumph altrömischer Imperatoren, darstellten. Wo irgend Pathos zum Vorschein kam, mußte es in jener Form geschehen.

Bei dieser Stimmung der Gemüter geschah es am 18. April 1485, daß sich das Gerücht verbreitete, man habe die wunderbar schöne, wohlerhaltene Leiche einer jungen Römerin aus dem Altertum gefunden. Lombardische Maurer, welche auf einem Grundstück des Klosters S. Maria Nuova, an der Via Appia, außerhalb der Caecilia Metella, ein antikes Grabmal aufgruben, fanden einen marmornen Sarkophag angeblich mit der Aufschrift: Julia, Tochter des Claudius. Das Weitere gehört der Phantasie an: die Lombarden seien sofort verschwunden samt den Schätzen und Edelsteinen, welche im Sarkophag zum Schmuck und Geleit der Leiche dienten; letztere sei mit einer sichernden Essenz überzogen und so frisch, ja so beweglich gewesen, wie die eines eben gestorbenen Mädchens von 15 Jahren; dann hieß es sogar, sie habe noch ganz die Farbe des Lebens, Augen und Mund halb offen. Man brachte sie nach dem Konservatorenpalast auf dem Kapitel, und dahin, um sie zu sehen, begann nun eine wahre Wallfahrt.

Giovanni Battista Piranesi: Ruine der Caracalla-Thermen,
aus 'Ansichten von Rom', 1766
Viele kamen auch, um sie abzumalen; »denn sie war schön, wie man es nicht sagen noch schreiben kann, und wenn man es sagte oder schriebe, so würden es, die sie nicht sahen, doch nicht glauben«. Aber auf Befehl Innocenz’ VIII. mußte sie eines Nachts vor Porta Pinciana an einem geheimen Ort verscharrt werden; in der Hofhalle der Konservatoren blieb nur der leere Sarkophag. Wahrscheinlich war über den Kopf der Leiche eine farbige Maske des idealen Stiles aus Wachs oder etwas Ähnlichem modelliert, wozu die vergoldeten Haare, von welchen die Rede ist, ganz wohl passen würden. Das Rührende an der Sache ist nicht der Tatbestand, sondern das feste Vorurteil, daß der antike Leib, den man endlich hier in Wirklichkeit vor sich zu sehen glaubte, notwendig herrlicher sein müsse als alles, was jetzt lebe.

Inzwischen wuchs die sachliche Kenntnis des alten Rom durch Ausgrabungen; schon unter Alexander VI. lernte man die sogenannten Grotesken, d. h. die Wand- und Gewölbedekorationen der Alten kennen, und fand in Porto d’Anzo den Apoll von Belvedere; unter Julius II. folgten die glorreichen Auffindungen des Laokoon, der Vatikanischen Venus, des Torso der Kleopatra u. a. m.; auch die Paläste der Großen und Kardinäle begannen sich mit antiken Statuen und Fragmenten zu füllen. Für Leo X. unternahm Raffael jene ideale Restauration der ganzen alten Stadt, von welcher sein (oder Castigliones) berühmter Brief spricht. Nach der bittern Klage über die noch immer dauernden Zerstörungen, namentlich noch unter Julius II., ruft er den Papst um Schutz an für die wenigen übriggebliebenen Zeugnisse der Größe und Kraft jener göttlichen Seelen des Altertums, an deren Andenken sich noch jetzt diejenigen entzünden, die des Höhern fähig seien. Mit merkwürdig durchdringendem Urteil legt er dann den Grund zu einer vergleichenden Kunstgeschichte überhaupt und stellt am Ende denjenigen Begriff von »Aufnahme« fest, welcher seitdem gegolten hat: er verlangt für jeden Überrest, Plan, Aufriß und Durchschnitt gesondert. Wie seit dieser Zeit die Archäologie, in speziellem Anschluß an die geheiligte Weltstadt und deren Topographie, zur besondern Wissenschaft heranwuchs, wie die vitruvianische Akademie wenigstens ein kolossales Programm aufstellte, kann nicht weiter ausgeführt werden.

Giovanni Battista Piranesi: Ansicht des Nerva-Forums,
 aus 'Ansichten von Rom', 1770
Hier dürfen wir bei Leo X. stehenbleiben, unter welchem der Genuß des Altertums sich mit allen andern Genüssen zu jenem wundersamen Eindruck verflocht, welcher dem Leben in Rom seine Weihe gab. Der Vatikan tönte von Gesang und Saitenspiel; wie ein Gebot zur Lebensfreude gingen diese Klänge über Rom hin, wenn auch Leo damit für sich kaum eben erreichte, daß sich Sorgen und Schmerzen verscheuchen ließen, und wenn auch seine bewußte Rechnung, durch Heiterkeit das Dasein zu verlängern, mit seinem frühen Tode fehlschlug. Dem glänzenden Bilde des leonischen Rom, wie es Paolo Giovio entwirft, wird man sich nie entziehen können, so gut bezeugt auch die Schattenseiten sind: die Knechtschaft der Emporstrebenden und das heimliche Elend der Prälaten, welche trotz ihrer Schulden standesgemäß leben müssen, das Lotteriemäßige und Zufällige von Leos literarischem Mäzenat, endlich seine völlig verderbliche Geldwirtschaft. Derselbe Ariost, der diese Dinge so gut kannte und verspottete, gibt doch wieder in der sechsten Satire ein ganz sehnsüchtiges Bild von dem Umgang mit den hochgebildeten Poeten, welche ihn durch die Ruinenstadt begleiten würden, von dem gelehrten Beirat, den er für seine eigene Dichtung dort vorfände, endlich von den Schätzen der Vatikanischen Bibliothek. Dies, und nicht die längst aufgegebene Hoffnung auf mediceische Protektion, meint er, wären die wahren Lockspeisen für ihn, wenn man ihn wieder bewegen wolle, als ferraresischer Gesandter nach Rom zu gehen.

Außer dem archäologischen Eifer und der feierlich-patriotischen Stimmung weckten die Ruinen als solche, in und außer Rom, auch schon eine elegisch-sentimentale. Bereits bei Petrarca und Boccaccio finden sich Anklänge dieser Art; Poggio besucht oft den Tempel der Venus und Roma, in der Meinung, es sei der des Castor und Pollux, wo einst so oft Senat gehalten worden, und vertieft sich hier in die Erinnerung an die großen Redner Crassus, Hortensius, Cicero. Vollkommen sentimental äußert sich dann Pius II. zumal bei der Beschreibung von Tibur, und bald darauf entsteht die erste ideale Ruinenansicht nebst Schilderung bei Polifilo: Trümmer mächtiger Gewölbe und Kolonnaden, durchwachsen von alten Platanen‚ Lorbeeren und Zypressen nebst wildem Buschwerk. In der heiligen Geschichte wird es, man kann kaum sagen wie, gebräuchlich, die Darstellung der Geburt Christi in die möglichst prachtvollen Ruinen eines Palastes zu verlegen. Daß dann endlich die künstliche Ruine zum Requisit prächtiger Gartenanlagen wurde, ist nur die praktische Äußerung desselben Gefühls.

Quelle: Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Verlag Alfred Kröner, Stuttgart, 1988. (Kröners Taschenausgabe Bd. 53). ISBN 3-520-05311-X. Ausgezogen wurde aus dem III. Abschnitt das Kapitel "Die Ruinenstadt Rom" (Seite 131-138, geringfügig gekürzt).


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