Rückblickend bekannte der Komponist über ein Vierteljahrhundert später vor einer BBC-Sendung im August 1968 (protokolliert in Peter Dickinsons The Music of Lennox Berkeley), die Klarheit, Ordnung und subtile Gefühlsstimmung des Werkes seien Einflüssen der französischen Musik des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts zu verdanken, "einer gewissen Art von Harmonie … wie man sie später insbesondere in der Musik von Poulenc antrifft". Sollte er ein weiteres Quartett schreiben (was er dann 1970 tatsächlich tat), so werde er sich wohl "genötigt fühlen, diesem eine flüssigere Form zu geben, die Ideen wachsen und Gestalt annehmen zu lassen und derart viele Wiederholungen zu vermeiden". Der im Dreiertakt gehaltene Kopfsatz mit seiner recht konventionellen Sonatenform kann zwar einige Wiederholungen nicht leugnen, doch schlägt die Reprise nach erneuter Darstellung des schwungvollen ersten und flüssigeren zweiten Themas einen anderen Kurs ein als die Exposition und zieht deren energischem Höhepunkt einen stillen, unklaren Ausklang vor. Indes ist der mittlere langsame Satz durchaus flüssig gestaltet. Sein unschlüssiges Eröffnungsthema wird von einer beständig sich entfaltenden lyrischen Melodie abgelöst und nur noch nur in rudimentärer Form wiederaufgegriffen. Das Finale bedient sich der Wiederholung auf eher unkonventionelle Weise, indem es von dem eindrucksvollen Eröffnungsthema in muskulösen Oktaven organisch einem ruhenden Zentrum in Gestalt eines unbehaglichen Chorals zuschreitet und dann seinen Weg zurückverfolgt, frei hin zu einer Wiederholung des Eröffnungsthemas und einem überzeugenden Abschluss in G-Dur.
Lennox und Michael Berkeley |
Michael und Lennox Berkely in den 1980ern |
Quelle: Anthony Burton, im Booklet [Übersetzung: Andreas Klatt]
TRACKLIST Lennox and Michael Berkeley Chamber Works for Strings Michael Berkeley (b. 1948) premiere recording [1] Abstract Mirror (2002)* 22:41 for String Quintet Sir Lennox Berkeley (1903-1989) premiere recording String Quartet No. 2, Op. 15 (1940) 17:36 [2] I, Allegro moderato 6:45 [3] II, Lento 4:58 [4] III. Allegro 5:52 Michael Berkeley premiere recording [5] Magnetic Field (1995) 14:29 for String Quartet TT 54:56 Thomas Carroll cello* Chilingirian Quartet: Levon Chilingirian violin Charles Sewart violin Susie Mészáros viola Philip de Groote cello Recording venue: Potton Hall, Dunwich, Suffolk: 13-15 March 2005 Recording producer: Rachel Smith - Sound engineer: Jonathan Coopcr Assistant engineer: Michael Common - Editor: Rachel Smith A & R administrator: Charissa Debnam (P) + (C) 2006
Raymond Aron:
Die Intellektuellen und ihr Vaterland
Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), Intellektueller |
Die Verteilung der Arbeitskraft innerhalb der einzelnen Beschäftigungsarten verändert sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung: der Prozentsatz der in der Industrie beschäftigten Arbeitskräfte steigt, der Prozentsatz der Arbeitskräfte in der Landwirtschaft nimmt ab, während der Umfang des sogenannten tertiären Sektors anschwillt‚ der verschiedenste Berufe von unterschiedlichem Ansehen umfaßt, von dem des „Papierkratzers“ in einem Büro bis zu dem des Forschers in seinem Laboratorium. Die Industriegesellschaften beschäftigen Nichthandarbeiter in einer größeren Zahl — und zwar absolut wie relativ — als alle früheren Gesellschaften. Organisation, Technik und Verwaltung werden immer komplizierter, als ob sie das Ziel hätten, die Handgriffe der eigentlichen Arbeiter möglichst stark zu vereinfachen.
In der modernen Wirtschaft werden auch Proletarier gebraucht, die lesen und schreiben können. Mit zunehmendem Wohlstand stellt die Allgemeinheit wachsende Summen für die Erziehung der Jugend zur Verfügung: die Ausbildung in der höheren Schule dauert länger und wird mit jeder Generation einem größeren Teil der Jugend vermittelt.
Die Zahl der drei Typen von Nichthandarbeitern, Schreiber, Fachleute und Künstler‚ nimmt gleichmäßig zu, wenn auch nicht im gleichen Rhythmus. Die Bürokratien eröffnen Schreibern von geringerer Qualifikation Arbeitsmöglichkeiten, die Einteilung der Arbeiter und die Organisation der Industrie verlangen zahlreiche Fachleute mit immer wachsenden Spezialkenntnissen, die Schulen, die Universitäten, die der Zerstreuung und Mitteilung dienenden Einrichtungen (Kino und Radio) beschäftigen Literaten, Künstler, Techniker des Wortes und der Schrift, Fabrikanten des Massengeschmacks. Gelegentlich degradiert die Einbeziehung in solche Unternehmen den Literaten zu einem durchschnittlichen Fachmann: der Schriftsteller wird zum Nachschreiber (rewriter). Die Vervielfachung der Beschäftigungsmöglichkeiten bleibt ein sehr kompliziertes Problem, das keiner verkennt, dessen Bedeutung aber nicht immer richtig eingeschätzt wird.
Nicolas Chamfort (1741-1794), Intellektueller |
Die Gelehrten besitzen in unserer Zeit eine Geltung und ein Ansehen, die sie den Einflüssen der Kirche entziehen (Ausnahmen sind selten und im Rahmen der Gesamtheit ohne Bedeutung). Das Recht der freien Forschung, selbst auf Gebieten, die die Dogmatik berühren — Ursprung des Menschen, Entstehung des Christentums —, wird kaum angefochten. In dem Maß, wie das Publikum an Zahl zunimmt und die Mäzene verschwinden, gewinnen Schriftsteller und Künstler an Freiheit; dabei verdienen viele sich ihren Lebensunterhalt durch irgendeinen Beruf, der mit ihrer schöpferischen Tätigkeit wenig zu tun hat. Weder die Privatunternehmer noch der Staat bezahlen etwas, ohne Gegenleistungen zu verlangen. Aber sowohl Filmgesellschaften wie Universitäten erwarten außerhalb der Studios oder der Hörsäle kaum eine orthodoxe Haltung.
Schließlich bieten alle politischen Regimes denen Chancen, die das Talent besitzen, mit Worten und Ideen umzugehen. Nicht mehr der Feldherr besteigt dank seinem Mute oder seinem glücklichen Geschick den Thron, sondern der Redner, dem es gelungen ist, die Massen, die Wähler oder die Kongresse zu überzeugen, und der Doktrinär, der ein Gedankensystem ausgearbeitet hat. Geistliche, Gelehrte und Künstler haben es niemals abgelehnt, die Macht zu rechtfertigen, aber in unserer Zeit braucht diese Macht Fachleute der Kunst des Wortes. Theoretiker und Propagandist werden ist eins: der Generalsekretär der Partei arbeitet die Doktrin aus und führt zu gleicher Zeit die Revolution an.
Maximilien de Robespierre (1758-1794), Intellektueller |
Nicht nur zahlreicher, sondern auch im Besitze von mehr Freiheit und Ansehen, selbst von Macht erscheint uns in unserem Jahrhundert eine soziale Kategorie, die wir sehr unbestimmt mit dem Begriff „berufsmäßige Intelligenz“ bezeichnen. Die Definitionen dieses Begriffs sind in gewisser Hinsicht aufschlußreich und verhelfen dazu, die verschiedenen Züge dieser Kategorie zu analysieren.
Die umfassendste Bezeichnung ist die der Nichthandarbeiter. In Frankreich wird aber niemand einen Büroangestellten als Intellektuellen bezeichnen, selbst wenn dieser eine Universität besucht und einen akademischen Grad erworben hat. Der Akademiker, der in ein Kollektivunternehmen aufgenommen und auf eine ausführende Tätigkeit beschränkt ist, bleibt doch nur ein Handlanger, dem die Schreibmaschine als Arbeitsinstrument dient. Die Qualifikation, die erforderlich ist, um den Titel eines Intellektuellen zu verdienen, nimmt mit der Zahl der Nichthandarbeiter zu, d. h. mit der wirtschaftlichen Entwicklung. In jedem unterentwickelten Land gilt jeder Akademiker als Intellektueller: ein nicht ganz falscher Brauch. Ein junger Mann, der aus irgendeinem arabischen Land gekommen ist und in Frankreich studiert hat, nimmt tatsächlich gegenüber seinem Vaterland die typische Haltung eines Wissenschaftlers an. Der „bäuerliche“ Akademiker entspricht in diesen Ländern einem Schriftsteller der westlichen Welt.
Eine zweite, weniger umfassende Bezeichnung unterscheidet Fachleute und Literaten. Die Grenze zwischen den Schreibern und den Fachleuten ist verschwommen: allmählich geht eine Kategorie in die andere über. Gewisse Fachleute, wie z. B. die Ärzte, bleiben selbständig und Angehörige der sogenannten freien Berufe. Die Unterscheidung zwischen „Selbständigen“ und „Gehaltsempfängern“, die manchmal die Denkmethoden beeinflußt, ist nichtsdestoweniger sekundär. Die Kassenärzte der Sozialversicherung hören nicht deshalb auf, Intellektuelle zu sein (soweit sie es jemals gewesen sind), weil sie ein Gehalt bekommen. Bezieht sich der entscheidende Gegensatz überhaupt auf das Wesen der Nichthandarbeit? Der Ingenieur oder der Arzt beschäftigen sich mit der anorganischen Natur oder mit den Lebensphänomenen, der Schriftsteller oder Künstler mit den Worten, mit einem Gegenstand, den er nach der Idee formt. In diesem Falle würden die Juristen oder die Organisatoren, die mit Worten oder Menschen umzugehen wissen, zur gleichen Gattung gehören wie die Schriftsteller oder Künstler, während sie sich tatsächlich mehr den Fachleuten, den Ingenieuren oder den Ärzten annähern.
Houston Stewart Chamberlain (1855-1927), Intellektueller |
Die Romanschreiber, Maler, Bildhauer und Philosophen stellen den inneren Kreis dar, sie leben für und durch die Ausübung der Intelligenz. Wenn der Wert der Tätigkeit als Kriterium genommen wird, würde man nach und nach von Balzac zu Eugène Sue, von Proust zu den Autoren von Schundromanen oder zu den Redakteuren der Spalte „Überfahrene Hunde“ in den Tageszeitungen hinabsteigen. Die Künstler, die nur Herkömmliches schaffen, ohne neue Ideen oder Formen hervorzubringen, bilden mit den Professoren auf ihren Lehrstühlen und den Forschern in ihren Laboratorien die Gemeinschaft des Wissens und der Kultur. Darunter würden die Mitarbeiter von Presse und Radio ihren Platz finden, die die auf den höheren Stufen erreichten Resultate verbreiten und die Verbindung zwischen der Elite und der großen Masse aufrechterhalten. So betrachtet, bildeten in dieser Kategorie die Schöpfer die Mitte, und ihre Grenze wäre die schlecht zu umschreibende Zone, wo die Vereinfacher nicht mehr bloß abwandeln, sondern bereits Verrat üben: auf Erfolg oder auf Geld aus, als Sklaven eines Geschmacks, wie er dem Publikum unterstellt wird, werden sie den Werten gegenüber gleichgültig, denen sie angeblich dienen.
Eine solche Analyse hat den Nachteil, zwei Betrachtungen zu vernachlässigen, einerseits die soziale Lage und die Quelle der Einkünfte, andererseits das theoretische oder praktische Ziel der beruflichen Tätigkeit. Es ist gestattet, nachträglich Pascal oder Descartes — der eine war Großbürger und entstammte einer Parlamentarierfamilie, der andere Ritter — Intellektuelle zu nennen. Man hätte nicht daran gedacht, sie im 17. Jahrhundert in diese Kategorie einzubeziehen, weil sie damals als Amateure galten. Diese sind jedoch nicht weniger Intellektuelle als die Professionellen, wenn man die geistige Qualität oder die Natur der Tätigkeit berücksichtigt. Aber in sozialer Hinsicht werden sie durch diese Tätigkeit nicht eingeordnet. In den modernen Gesellschaften nimmt die Zahl der Professionellen zu, die der Amateure ab.
Martin Heidegger (1889-1976), Intellektueller |
Diese Analysen erlauben es nicht, sich dogmatisch für eine Definition zu entscheiden, sie zeigen nur die verschiedenen möglichen Definitionen. Entweder man hält die Zahl der Fachleute für ein Charakteristikum der Industriegesellschaften und nennt „Intelligentsia“ die Kategorie der Personen, die auf den Universitäten oder den technischen Schulen ausreichend vorgebildet wurden, um solche scharf abgegrenzten Berufe auszuüben, oder man stellt die Schriftsteller, die Gelehrten und die schöpferischen Künstler in die erste Reihe, die Professoren oder Kritiker in die zweite, die Vereinfacher und Journalisten in die dritte. Aus dieser fallen wiederum die Praktiker, wie Juristen oder Ingenieure, in dem Maße heraus, wie sie sich dem Wunsch nach Leistung allein hingeben und sich um die Kultur nicht mehr kümmern. In der Sowjetunion neigt man zu der ersten Definition: die technische „Intelligentsia“ gilt als Maßstab, und sogar die Schriftsteller sind Ingenieure der Seele. Im Westen würde man eher der zweiten Definition zuneigen und sie sogar noch einschränken, indem man sie nur für diejenigen gelten läßt, „deren Hauptberuf es ist, zu schreiben, zu unterrichten, zu predigen, auf der Bühne aufzutreten oder Künste und Wissenschaften auszuüben“ (Crane Brinton).
Der Begriff „Intelligentsia“ ist anscheinend zum erstenmal in Rußland im Verlauf des 19. Jahrhunderts geprägt worden: diejenigen, die durch die Universitäten gegangen waren und eine Kultur in sich aufgenommen hatten, die im wesentlichen westlichen Ursprungs war, bildeten eine wenig zahlreiche Gruppe außerhalb der traditionellen Schichten. Sie rekrutierten sich aus den jüngeren Söhnen aristokratischer Familien, aus den Söhnen des Kleinbürgertums oder selbst der wohlhabenden Bauern; losgelöst von der früheren Gesellschaft fühlten sie sich untereinander durch die erworbenen Kenntnisse und durch die Haltung, die sie gegenüber der bestehenden Ordnung einnahmen, verbunden. Der wissenschaftliche Geist und die liberalen Ideen trugen in gleichem Maße dazu bei, daß sich die Intelligentsia, die sich isoliert fühlte, den nationalen Traditionen feindlich gesinnt war und sich zur Gewaltanwendung angetrieben fühlte, der Revolution zuneigte.
Joseph Goebbels (1897-1945), Intellektueller |
In mancher Beziehung ist die Beschuldigung gar nicht begründet. Es ist nicht wahr, daß die Intellektuellen als solche allen Gesellschaftsordnungen feind wären. Die chinesischen Wissenschaftler haben eine mehr moralische als religiöse Doktrin, die ihnen den ersten Rang einräumte und die Hierarchie sicherte, verteidigt und gepriesen. Die Könige oder die Fürsten, die gekrönten Helden oder die zu Reichtum gekommenen Kaufleute haben immer Dichter gefunden (die nicht notwendig schlechte Dichter waren), um ihren Ruhm zu verkünden. Weder in Athen noch in Paris, weder im 5. Jahrhundert vor unserem Zeitalter noch im 19. Jahrhundert nach Christi Geburt neigte der Schriftsteller oder der Philosoph spontan zur Partei des Volkes, zur Freiheit oder zum Fortschritt. Die Bewunderer Spartas fanden sich in großer Zahl innerhalb der Mauern von Athen, wie die Bewunderer des „Dritten Reiches“ oder der Sowjetunion in den Salons oder Cafés am linken Seineufer. (Es ist klar, daß das Sparta oder Hitler gespendete Lob für den Intellektuellen in Athen oder Paris ein Ausdruck oppositioneller Haltung war.)
Alle Doktrinen, alle Parteien — Traditionalismus, Liberalismus, Demokratie, Nationalismus, Faschismus, Kommunismus — hatten und haben ihre Sänger und ihre Denker. Sind es aber in jedem Lager die Intellektuellen, die Meinungen und Interessen in eine Theorie umwandeln? Man kann es so definieren, daß sie sich nicht damit begnügen zu leben, sondern daß sie ihre Existenz auch gedanklich zum Ausdruck bringen wollen.
Nichtsdestoweniger schließt die übliche Vorstellung, die die Soziologen (J. Schumpeter) in einer verfeinerten Form wieder aufgenommen haben, eine gewisse Wahrheit ein: daß nämlich die Intellektuellen infolge beruflicher Bestimmung revolutionär seien.
Georg Lukács (1885-1971), Intellektueller |
Entsprechend den Gesellschaftsordnungen ändert sich auch die Rekrutierung der Intelligentsia. Das Prüfungsverfahren in China scheint auch dem Bauernsohn den Aufstieg ermöglicht zu haben, obwohl man über die Häufigkeit dieser Fälle sich noch nicht einig ist. Der erste Rang, den man in Indien den Denkern zugestand‚ war mit dem Regime der Kasten und auch damit nicht unvereinbar, daß jeder in dem Stand blieb, in dem er geboren war. In den modernen Gesellschaften erleichtert die Universität den sozialen Aufstieg. In gewissen Ländern Südamerikas oder des Nahen Ostens ermöglichen Offiziersschulen und die Armee einen ähnlichen Aufstieg.
Obwohl die Herkunft der Akademiker in den westlichen Ländern verschieden ist - die Studenten von Oxford und Cambridge haben sich bis zum Krieg von 1939 aus einer schmalen Schicht rekrutiert, und die Schüler der bedeutenden französischen Schulen kamen selten aus den Familien der Arbeiter und Bauern, aber häufig aus kleinbürgerlichem Milieu, d. h. mit zwei Generationen Abstand aus Kreisen des Volkes —, ist die Intelligentsia immer großzügiger und aufgeschlossener als die herrschende Klasse. Diese Demokratisierung hat die Tendenz, sich noch zu verstärken, weil die Industriegesellschaften ein wachsendes Bedürfnis nach Kadern und nach Technikern haben.
Bertolt Brecht (1898-1956), Intellektueller |
Ob Schriftsteller oder Künstler, der Intellektuelle ist ein Mensch der Ideen, der Gelehrte oder der Ingenieur ein Mann der Wissenschaft. Er teilt den Glauben an die Menschen und an die Vernunft. Das Kulturbild, das die Universitäten vermitteln, ist optimistisch und rationalistisch: die Formen des gemeinsamen Lebens, die sich dem Blick bieten, erscheinen als das zufällige Werk von Jahrhunderten, nicht als Ausdruck eines klarblickenden Willens oder eines überlegten Planens. Der Intellektuelle, dessen berufliche Tätigkeit ihn nicht zur Beschäftigung mit der Geschichte veranlaßt, spricht gern über die „bestehende Unordnung“ ein unwiderrufliches Verdammungsurteil.
Die Schwierigkeit beginnt, sobald man sich nicht mehr darauf beschränkt, die bestehenden Verhältnisse zu verurteilen. Logischerweise kann man drei Verhaltensweisen unterscheiden. Durch die Kritik an den Methoden stellt man sich an den Platz derjenigen, die regieren oder verwalten, man empfiehlt Maßnahmen, die die Übel, die man anprangert, mildern würden, man akzeptiert aber die Abhängigkeit des Tuns, die unvorstellbare mannigfaltige Struktur der Gemeinwesen, gelegentlich sogar die Gesetze des bestehenden Regimes. Man beruft sich jedoch nicht auf eine ideale Organisation, auf eine strahlende Zukunft, sondern auf Resultate, die mit mehr Verstand und mehr gutem Willen erreichbar wären.
Die moralische Kritik stellt dem, was ist, die unbestimmte, aber gebieterische Vorstellung dessen, was sein müßte‚ gegenüber. Man lehnt die Grausamkeiten des Kolonialismus ab, die kapitalistische Selbstentfremdung, den Gegensatz zwischen Herren und Sklaven, das skandalöse Nebeneinander von Elend und Luxus. Selbst wenn man die Konsequenzen dieser Empörung oder die Mittel, sie in Taten umzuwandeln, nicht kennt, fühlt man sich doch getrieben, sie auszusprechen in Form einer Verurteilung oder eines Appells, einer Umwelt gegenüber, die ihrer selbst unwürdig ist.
Jean-Paul Sartre (1905-1980), Intellektueller |
Jede dieser Kritiken hat ihre Aufgabe und ihre Würde, aber jede kann in ihrer Bedeutung auch abgewertet werden. Die Methodiker stehen im Banne des Konservativismus: die Menschen ändern sich nicht, ebensowenig wie die unangenehmen Notwendigkeiten des Gemeinschaftslebens. Die Moralisten schwanken zwischen der Resignation gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen und der Unduldsamkeit des Wortes: zu allem nein sagen, heißt schließlich sich mit allem abfinden. Wo ist dann die Grenze zwischen der Ungerechtigkeit, die mit der bestehenden Gesellschaft zusammenhängt, und der Ungerechtigkeit jeder nur denkbaren Ordnung? Wo ist die Grenze zwischen der Ungerechtigkeit, die mit der Gesellschaft schlechthin zusammenfällt, und den Ausschreitungen, die einzelnen Menschen zur Last gelegt werden können und moralische Verurteilung verdienen? Die ideologische Kritik wiederum spielt gern auf beiden Instrumenten. Sie verhält sich moralistisch gegen die eine Hälfte der Welt, ist aber bereit, einer revolutionären Bewegung gegenüber in einem sehr realistischen Sinne nachsichtig zu sein. Niemals ist der Schuldbeweis hinreichend, wenn der Gerichtshof in den Vereinigten Staaten seinen Sitz hat. Niemals ist die Bestrafung unangemessen, wenn sie die Gegenrevolutionäre trifft: ein Verhalten, das der Logik der Leidenschaften entspricht. Wie viele Intellektuelle haben die Partei der Revolution aus moralischer Entrüstung ergriffen, um sich schließlich dem Terrorismus und der Staatsräson zu beugen!
Jedes Land neigt mehr oder minder zu der einen oder anderen Kritik. Engländer und Amerikaner vermengen die Moralkritik mit der an den Methoden, die Franzosen schwanken zwischen moralischer und ideologischer Kritik (die Auseinandersetzung zwischen den Rebellen und den Revolutionären ist der typische Ausdruck dieses Schwankens). Vielleicht ist die Moralkritik am häufigsten der tiefe Ursprung jeder Kritik, mindestens bei den Intellektuellen. Diese Kritik bringt ihnen gleichzeitig den Ruhm eines „Wiedergutmachers von Unrecht“, eines Geistes, der stets verneint und das weniger schmeichelhafte Ansehen des nur dem Wort Verpflichteten, der den rauhen Zwang der Tatsachen nicht zur Kenntnis nimmt.
Ulrike Meinhof (1934-1976), Intellektuelle |
Wie oft haben die Privilegierten den Schriftstellern Beifall gespendet, die sie geißelten! Die amerikanischen Babbits haben in großer Anzahl zum Erfolg von Sinclair Lewis beigetragen. Die Bürger und ihre Söhne, die von den gescheiten Köpfen gestern als Philister, heute als Kapitalisten behandelt wurden, haben den Erfolg der Rebellen oder der Revolutionäre gesichert. Der Erfolg fällt denen zu, die entweder die Vergangenheit oder die Zukunft glorifizieren: man zweifelt oft daran, ob es in unserer Zeit noch ohne Schaden möglich sei, die gemäßigte Meinung zu verteidigen, daß die Gegenwart in vieler Hinsicht weder schlechter noch besser ist als andere Epochen.
Quelle: Raymond Aron: Opium für Intellektuelle oder Die Sucht nach Weltanschauung. Kiepenheuer/Witsch, Köln/Berlin 1957. Ausgezogen wurde der Beginn von Kapitel VII (Seiten 249 bis 260)
Kammermusikkammer: Wo das Streichquartett zu Hause ist:
Walter Braunfels: Streichquartette 1 & 2 | Ein neuer Status der Rationalität: Wilhelm von Ockham.
Alberto Ginastera: Die Streichquartette | Eine fixe Idee von Winckelmann: Laokoon als Schmerzensmann.
Bernhard Molique: Streichquartette op. 18 Nr 3 und op 28 | Vom Mangel zum Überfluß: Das romantische Naturbild.
Heinz Holliger: Streichquartett - Die Jahreszeiten - Chaconne | Die darstellbare Welt: Eine Funktion der Kunst-Großausstellung.
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