15. Juni 2009

Don Carlo Gesualdo: Madrigali libri quinto & sesto, 1611

Hühner scharren im trockenen Lehm, eine Kuh blickt auf, eine Ziege. Aus dem Schatten alter Mauern treten Bewohner und gucken misstrauisch. Ein Fremder ist gekommen, ein kleiner alter Mann. Er spricht mühsam Italienisch und möchte das Schloss besichtigen. Ein Komponist habe hier gelebt, sagt der Alte. Er deutet auf die Inschrift im Sims: CAROLVS GESVALDVS.

Den kennen sie nicht. Der Alte stellt sich vor: Igor Strawinsky, Komponist. Ebenfalls unbekannt. Aber gut, er darf ins Schloss. Bröckelnder Putz, billige Möbel. Der Alte sagt, sein Kollege habe nicht nur Musik geschrieben, sondern auch seine Frau umgebracht. Sie verstehen ihn falsch und blicken beunruhigt: Dieser Strawinsky hat seine Frau umgebracht?

So etwa verlief der Besuch, den der große Russe im Sommer 1956 seinem toten Kollegen abstattete, 100 Kilometer östlich von Neapel. Er hat ihn später geschildert. Die Szene steht am Anfang einer langen Wiederentdeckung. In den Jahrzehnten seither hat der Vergessene wieder Gestalt angenommen - als gäbe es eine Nähe zwischen seiner Epoche und unserer Zeit: Carlo Gesualdo, 1566 geboren, 1613 gestorben, ist eine gefährliche Gestalt.

Doppelmörder war er, Tyrann, Masochist, Melancholiker und Komponist, der jeden Maßstab infrage stellt. Das reizte nicht nur Romanautoren. Werner Herzog ist mit einem Fernsehfilm am Stoff gescheitert, Kompositionen über Gesualdo häufen sich, allein zwei Opern sind in den letzten Jahren entstanden. Glenn Watkins' grundlegendes Buch über den Komponisten ist 2000 in deutscher Sprache erschienen. Und erstmals seit 400 Jahren gibt es Leute, die seine Stücke wirklich singen können. Doch je näher man diesem Fürsten von Venosa und Meister des Madrigals kommt, desto mehr entzieht er sich.

Zunächst war Carlo Gesualdo da Venosa ein Fürst wie andere im Cinquecento auch. Gewohnt, sich von vier Bedienten das Nachtmahl ans Bett bringen zu lassen, wichtigere Reisen mit einem Gefolge von 150 Leuten anzutreten und das Vermögen zu verwalten, das seine normannische Familie seit 1059 zusammengerafft hatte dort, wo sich jetzt die Landstraße 303 durch eine hübsche Hügelgegend schlängelt. Um das Geld in der Familie zu halten, hatte man Carlo, als er 19 war, mit einer Cousine verheiratet, Maria d'Avalos. Sie war 25, klug und schön und schon zweifache Witwe. Ihr erster Mann war angeblich "dem übermäßigen Genuss ehelicher Wonnen" erlegen. Es wird behauptet, dass sie auch mit Carlo anfangs "eher wie ein Liebespaar statt wie Mann und Frau" zusammenlebte.

Wenn das so ist, muss der junge Mann, hoch begabt, hoch vermögend, vom Himmel in die Hölle gefallen sein, als Maria sich mit ihm zu langweilen begann und sich in Fabrizio Carafa, den Herzog von Andria, verliebte. Auf einmal wurden die Abgründe real, die Schmerzen, von denen man seit einem halben Jahrhundert in seinen Kreisen so stilvoll sang. Er soll es zuerst nicht geglaubt haben.

"Wenn du mir dich zu lieben verwehrst, ach, nur daran zu denken - der Schmerz tötet mich, und die Seele entflieht im Flug." Wer heute so einen Text liest, spürt das Floskelhafte, entdeckt im "Ahi", dem "Ach", der fliehenden Seele die höfische Pose. Doch wer hört, was Gesualdos fünf Stimmen daraus machen, erschrickt. Man kann gleichsam dem Schmerz beim Töten zuschauen. Da es Liebesschmerz ist, beginnt er sanft auf den Worten "il duol", "der Schmerz", bei denen zwei Stimmen liegen bleiben und zwei gemeinsam nach oben steigen, von B-Dur nach Es-Dur. Zu "m'ancide", "tötet mich", gleitet der Sopran noch einen Halbton höher.

Don Carlo Gesualdo, Principe di Venosa (* 8. März 1566 † 8. September 1613)

Und dann geraten diese Bewegungen in eine Harmonik, für die es kein System gibt, nicht im Mittelalter, nicht bei Palestrina, nicht bei Bach und schon gar nicht bei Wagner, der viel mehr Rücksicht auf tonale Zentren nimmt, als er uns weismacht. Erst nach ihm findet man Bodenlosigkeiten wie bei Gesualdo - dann aber ohne dessen Notwendigkeit.

Der lässt auf einen A-Dur-Septakkord, dem das A fehlt, Es-Dur folgen, und solche Harmonik deckt sich mit Stimmenführung und Wortausdeutung. Der Schmerz tötet langsam und will, da er doch an die Liebe erinnert, wiederholt werden. Da, wo uns das Es-Dur schockiert, beginnt "il duol" noch einmal tiefer, diesmal ohne den Sopran, der sozusagen schon gestorben ist.

Carlo Gesualdo komponierte das zehn Jahre nachdem er zum Mörder geworden war. Im Untersuchungsbericht der Gran Corte della Vicaria zu Neapel vom 27. Oktober 1590 ist alles nachzulesen: Maria, seit fünf Jahren mit Carlo verheiratet, hatte ihre Liaison mit Fabrizio immer unvorsichtiger betrieben. Letzterer soll kurz nach vier Uhr morgens auf der Straße gepfiffen und dann die Gemächer Marias im Stadtpalais Gesualdos betreten haben. Eine Stunde später wurde er dort, mit einem Damennachthemd bekleidet, erschossen. Das besorgten drei Diener des Fürsten, der dann erst selbst den Raum betrat und seine Frau tötete. Er hat ihr danach "noch einige Wunden" zugefügt mit den Worten: "Ich kann nicht glauben, dass sie tot ist." Der Zustand der Leichen, den die Richter vor Ort protokollierten, bezeugte die ausgiebige Anwendung von Messern, Dolchen, Hellebarden, Schwertern und Handfeuerwaffen.

Dass Schwertstöße durch die Körper tief in den Boden gedrungen waren, gehört noch zu den schlichteren Details dieser Schlachtung. Nach herrschendem Konsens war es eine Sache der Ehre und der Gehörnte im Recht. Man fand nur stillos, dass auch Schergen aus dem Pöbel Hand an erlauchte Personen gelegt hatten. Tasso schrieb zwei tränenreiche Sonette, in denen er keinem einen Vorwurf machte. Vermutlich wäre Carlo Gesualdo dennoch verfolgt worden, hätte er nicht zur aristokratischen Elite gehört. Kaum vorstellbar, dass sein Zeitgenosse Monteverdi, ein Handwerkerssohn, nach so einer Tat noch weit gekommen wäre. Das Gericht legte den Fall zu den Akten, und Gesualdo ließ für alle Fälle ein Kloster mit Kapelle bauen. Immerhin hatte er gegen das fünfte Gebot verstoßen.

Madrigali Libro Sesto

Um von seiner Musik getroffen zu sein, muss man nicht an seine blutigen Lebenserfahrung in Sachen Liebe und Tod denken. Sie wäre belanglos ohne die poetische Ausdruckskraft, die sich bei allen großen Madrigalkomponisten findet. Arcadelt, Willaert, Rore, Marenzio, de Wert, Gabrieli und Hunderte andere haben mitgewirkt am differenziertesten gemeinsamen Vokabular, das es in der Musikgeschichte je gegeben hat. Noch zu Beginn des 16. Jahrhunderts hatten sich Worte und Töne eher unabhängig voneinander bewegt, menschliche Affekte waren kaum der Gegenstand polyphoner Musik. Dann entwickelte sich, zuerst an Petrarcas Lyrik, eine Gefühlskunde, die für jede Textnuance eine klingende Entsprechung suchte, für Angst und Freude, Licht und Schatten. Das war kein starrer Katalog, sondern eine flexible Übereinkunft. Auch wenn sich für "Flucht" schnelle Notenwerte empfahlen und für "Seufzer" Halbtonschritte abwärts, blieb unendlich viel Platz für Wagnisse der Textausdeutung und der Kontrapunktik, und die Kürze dieser Madrigale steigerte ihre Attraktivität und Beweglichkeit.

(Quelle: Volker Hagedorn, In Seufzern abwärts, Die ZEIT, 2000/48)

TRACKLIST

Don Carlo Gesualdo
ca. 1560 - 1613

V. Madrigalbuch [Madrigali libro quinto, 1611]

01. I     Gioite voi col canto              02:31
02. II    S'io non miro non moro            02:35
03. III   Itene, o miei sospiri             02:36
04. IV    Dolcissima mia vita               02:16
05. V     O dolorosa gioia                  02:33
06. VI    Qual fora, donna                  01:42
07. VII   Felicissimo sonno                 02:11
08. VIII  Se vi duol il mio duolo           02:53
09. IX    Occhi del mio cor vita            02:26
10. X     Languisce al fin                  02:50
11. XI    Merce grido piangendo             03:24
12. XII   O voi, troppo felici              01:20
13. XIII  Correte, amanti, a prova          02:30
14. XIV   Asciugate i begli occhi           02:28
15. XV    Tu m'uccidi, o crudele            02:27
16. XVI   Deh, coprite il bel seno          02:03
17. XVII  Poiche l'avida sete (Prima Parte) 02:02
18. XVIII Ma tu, cagion (Seconda Parte)     02:23
19. XIX   O tenebroso giorno                02:18
20. XX    Se tu fuggi, io non resto         01:42
21. XXI   T'amo, mia vita                   02:17

VI. Madrigalbuch [Madrigali libro sesto, 1611] (Auszüge)

22. III   Tu piangi, o Filli mia            02:59
23. VI    Io parto e non piu dissi          02:53
24. XII   Candido e verde fiore             02:07
25. XIV   Ardo per te, mio bene             03:17
26. XV    Ancide sol la morte               02:35
27. XVIII Volan quasi farfalle              02:32
28. XX    Tu segui, o bella Clori           02:19
29. XXI   Ancor che per amarti              02:57
30. XXII  Gia piansi nel dolore             02:26
31. XXIII Quando ridente e bella            02:12

Gesamtspielzeit:                            76:00


Collegium Vocale Köln:

Michaela Krämer, Sopran;
Ursula Tocha, Mezzosopran;
Wolfgang Fromme, Countertenor;
Helmut Clemens, Tenor;
Hans-Alderich Billig, Bass

Leitung: Wolfgang Fromme
(C) 2006

Caravaggio: Geißelung, circa 1607, Museo Nazionale di Capodimonte, Neapel

Für das in der Stammbesetzung nur fünf Mitglieder zählende Collegium Vocale Köln ist die Zusammenarbeit mit Komponisten der Avantgarde eher signifikant. Gleich dutzendfach hat das 1966 von Wolfgang Fromme gegründete Vokalquintett bislang Uraufführungen bestritten, überwiegend von Werken, die auf seine Anregungen zustande kamen.

Ein anderer Schwerpunkt und für die Arbeit des Collegium Vocale Köln nicht weniger bedeutsam: Mille volle il di moro („Tausendmal am Tage sterbe ich"), Ausbund einer geradezu flagellantischen Todessehnsucht; bestürzender aber noch in der manisch-depressiven Verzweiflung: Moro, lasso, al mio duolo („Ich sterbe, ach, an meiner Qual") - zwei Vokalstücke aus dem 1611 in Neapel publizierten VI. Madrigalbuch von Carlo Gesualdo, Principe da Venosa.

Die Radikalität des in diesen Stücken vollzogenen Stilbruchs ist - dreihundert Jahre später - mit der Überwindung der Atonalität durch Arnold Schönberg vergleichbar: in der affektgeladenen Fluktuation von Diatonik und Chromatik, die sich brüsk über die gängigen „Modi", die Kirchentonarten hinwegsetzt und im Aufbrechen funktionsharmonischer Bindungen gleichsam atonale Elemente vorwegnimmt; aber auch im abrupten Wechsel der Tonarten, bei unvermittelt einsetzenden chromatischen Akkordfortschreitungen (G-dur/Fis-dur), in nicht leitereigenen Terzrelationen (C-E oder C-A), überdies in Querständen, verminderten Intervallsprüngen und Kadenzverzerrungen mittels dissonanter Töne. So weit hatte sich damals nicht einmal Claudio Monteverdi ins experimentelle Neuland vorgewagt. Eine musikalische Miniaturenmalerei, die noch heute jedem Spezialisten-Ensemble höchstes interpretatorisches, vor allem intonatorisches Können abverlangt.

(Quelle: Peter Fuhrmann | © DIE ZEIT, 03.10.1986 Nr. 41)

Notenbeispiele (zum freien Download), u.a. das 6. Madrigalbuch.

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Reposted on June 28, 2014

Gesualdo: Gioite voi col canto (Track 1)


Gesualdo: Tu piangi, o Filii mia (Track 22)

3 Kommentare:

  1. Thanks for share this great music of a great composer Gesualdo.
    Luciano Craveiro

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  2. I made a new rip & repost just now

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  3. Hello my friend, any chance of reuploading this gem? Many thanks for sharing!

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