Ihre Karriere, die Clara Haskil als Wunderkind begonnen hatte, kam erst in Fahrt, als sie schon über fünfzig Jahre alt war. Rasch wurde sie in den letzten fünfzehn Jahren ihres Lebens eine der international gefragtesten Pianistinnen. Die skrupulöse "Prinzessin der Musik", wie der Freund Dinu Lipatti sie nannte, aber schrieb noch als gefeierte Künstlerin nach vielen Konzerten "gräßlich" oder "sehr schlecht gespielt!" in ihr Tagebuch. Posthum jedoch wurde sie zum Idol der Pianistenwelt.
In ihren späteren Lebensjahren wurde Clara Haskil als überragende Mozart-Pianistin ihrer Generation gefeiert; aber in jüngeren Tagen zeichnete sie sich in Werken wie Balakirews "Islamey", "Das große Tor von Kiew" aus Mussorgskis "Bilder einer Ausstellung", "Feux Follets" aus Liszts "Etudes d´exécution transcendante" und dem B-Dur-Konzert von Brahms aus, das sie in nur zwei Tagen lernte. Ihr war ein Leben voll Prüfung und Drangsal auferlegt. In ihren Zwanzigern brach eine Skoliose (Rückgratverkrümmung) aus. Kurz nach der Flucht aus dem von den Nazis besetzten Paris, im Juni 1942, unterzog sie sich in Marseille einer schweren Operation: Ein Tumor drückte auf den Sehnerv. Aber solche Rückschläge überwand sie mit unbezwinglichem Geist.
Die Fünfzehnjährige Clara Haskil nach dem Gewinn des ersten Preises am Pariser Konservatorium |
Nach dem Tod ihres Vaters nahm der Onkel Avram Moscuna, der fortan für ihre Erziehung verantwortlich war, sie nach Wien mit. Der gefeierte Klavierpädagoge Anton Door hörte sie. In einem Artikel in der Neuen Freien Presse (1902) beschrieb er das Wunderkind: Nachdem sie ein Stück ein einziges Mal gehört hatte, wiederholte sie es und transponierte es in jede ihr vorgeschlagene Tonart. Vom-Blatt-Lesen erwies sich als ebenso einfach für sie, und einen Satz aus einer Beethoven-Sonate spielte sie fehlerlos prima vista.
Ihre Klavierstudien begann sie 1903 bei Professor Richard Robert, der auch Rudolf Serkin und George Szell ausbildete. Er nahm sich der jungen Künstlerin besonders sorgfältig an. Nicht lange nach dem Beginn ihrer Ausbildung verblüffte sie das musikalische Wien mit einer Aufführung von Mozarts Klavierkonzert A-Dur KV 488. Zwei Jahre danach, mit zehn, gab sie ihren ersten Solo-Klavierabend. 1905 wechselte sie zum Pariser Conservatoire, dessen Direktor Gabriel Fauré von ihren einzigartigen musikalischen Gaben tief beeindruckt war. 1907 wurde die Zwölfjährige für Alfred Cortots Meisterklasse zugelassen, die sie fünfzehnjährig mit dem Premier Prix abschloß.
Ausgiebige Konzerttourneen folgten in Frankreich, der Schweiz und in Italien. Auch nach Bukarest kehrte sie zurück. Busoni, damals auf seinem künstlerischen Höhepunkt, hörte die Sechzehnjährige in der Schweiz. Gepackt von Clara Haskils Wiedergabe seiner Transkription von Bachs d-Moll-Chaconne, lud Busoni die junge Künstlerin spontan zum Studium bei ihm in Berlin ein. Ihre Mutter jedoch verhinderte das Angebot unter dem Vorwand, die Tochter sei noch zu jung. Statt dessen wurde eine Serie von Konzertreisen arrangiert, bis 1913 der erste von ernsten gesundheitlichen Rückschlägen die erfolgreiche Karriere zeitweise blockierte: Vier Jahre mußte Clara Haskil in einem Gipskorsett aushalten, um das Voranschreiten der Skoliose möglicherweise aufzuhalten.
In England trat Clara Haskil zum ersten Mal 1926 auf, mit Sir Hamilton Hartys berühmtem Hallé-Orchester. In der Wigmore Hall debütierte sie 1946. Im gleichen Jahr hatte sie eine Aufnahmeserie bei der BBC. Während der fünfziger Jahre spielte sie oft in England. In dieser Zeit war sie endlich international gefragt; sie trat mit vielen führenden Dirigenten und bei den wichtigsten Festivals auf. Die Konzertserien in Boston, mit Charles Munchs Boston Symphony Orchestra, und in der New Yorker Carnegie Hall erregten Aufsehen und wurden im Time Magazine besprochen. 1957 ernannte sie der französische Staat zum Ritter der Ehrenlegion.
In ihrem letzten Lebensjahrzehnt rätselte sie oft: "Warum will mich plötzlich jeder hören? Ich spiele doch überhaupt nicht anders als früher." Strengte man sein Vorstellungsvermögen an, so konnte man den Unterton heraushören: " ... tatsächlich spiele ich jetzt nicht so gut." Das war eine Ausgeburt ihrer extremen Bescheidenheit. Trotz Leid und Rückschlägen war es ein Wunder, daß diese zerbrechliche Frau einen solchen Gipfel der Vollkommenheit erreichte.
Am 6. Dezember 1960 reiste sie mit ihrer Schwester Lili mit dem Zug nach Brüssel, zum Beginn eine Konzerttournee mit dem belgischen Geiger Arthur Grumiaux. Kurz nach ihrer Ankunft im Bahnhof stolperte sie, fiel auf die Treppe und verletzte ihren Kopf auf dem Beton. Eilig wurde sie in die Clinique Longchamps transportiert. Dort starb sie, im Beisein ihrer Schwestern Lili und Jeanne, in den frühen Morgenstunden des 7. Dezember, nur einen Monat vor ihrem sechsundsechzigsten Geburtstag.
Quelle: Peter Feuchtwanger, "Mozart für die Götter" (Zuerst erschienen in der FAZ Mr. 6 vom 7. Januar 1995)
TRACKLIST THE WORLD OF CLARA HASKIL CD 1 (61:03) ROBERT SCHUMANN (1810-1856) *Piano Concerto in a minor, Op. 54 01. I. Allegro affettuoso 14:02 02. II. Intermezzo. Andantino grazioso 04:36 03. III. Allegro vivace 10:17 FRANZ SCHUBERT (1797-1828) Piano Sonata No. 21 in B flag major D 960 04. I. Molto moderato 13:27 05. II. Andante sostenuto 08:05 06. III. Scherzo 03:37 Allegro vivace con delicatezza 07. IV. Allegro, ma non troppo 06:54 CD 2 (68:55) DOMENICO SCARLATTI (1685-1757) 11 Sonatas 01. in c sharp minor K247 05:22 02. in G major K2 01:44 03. in C major K132 05:54 04. in g minor K35 02:25 05. in E flat minor K193 04:07 06. in f minor K386 02:29 07. in f minor K519 02:46 08. in A major K322 02:53 09. in b minor K87 04:34 10. in C major K515 02:43 11. in F major K437 02:31 WOLFGANG AMADEUS MOZART (1756-1791) **Piano Concerto No. 20 in d minor KV 466 12. I. Allegro 14:10 13. II. Romanze 09:30 14. III. Rondo (Allegro assai) 07:19 CLARA HASKIL, piano * The Hague Philharmonic Orchestra, dir. Willem von Otterloo ** Winterthur Symphony Orchestra, dir. Henry Swoboda Recordings: 1950 (CD 2) & 1951 Cover Photo: Hulton Getty, Agenzia Laura Ronchi ADD mono (P) & (C) 2002
CD 1, Track 7: Franz Schubert, Klaviersonate in B, D960
Als Clara Haskil zum ersten Male die B-Dur-Sonate op. posth. D 960 von Schubert spielte, war dieses Werk zuvor nur selten zu hören gewesen. Seither wird dieses Spätwerk wahrscheinlich öfter gespielt als alle anderen Schubertschen Sonaten. Aber bekanntlich werden nur wenige Pianisten diesem Werk mit seinen "himmlischen Längen" wirklich gerecht - ist doch der Pianist hier den gleichen Schwierigkeiten ausgesetzt wie ein Dirigent der "großen" C-Dur-Sinfonie von Schubert. Leicht kann der erste Satz zerstückelt wirken, wenn er seiner klassischen Form beraubt wird. Und Form ist für ein Kunstwerk nicht nur Hülle, sondern zugleich auch Skelett. Bei Clara Haskil begreift man, daß jede Note für den Gesamtbau von Bedeutung ist, daß jede Nuance klar definiert sein muß.
Die Akkorde des Anfangsthemas werden aufs schönste balanciert. Melodie und Begleitung heben sich klar gegeneinander ab, im polyphonen Gefüge läßt sie jede Stimme hervortreten und sich entwickeln. Leider wiederholt Clara Haskil nicht die Exposition; dadurch verlieren wir neun strukturell wichtige Takte. Trotz der Länge dieses Satzes sollten Pianisten die Wiederholungen nicht scheuen, erklingt doch der Pianissimo-Triller des Anfangs nur am Ende dieser neun Takte ein einziges Mal fortissimo; überirdisch schön wirkt danach wieder das Anfangsthema. Auch die Art, wie Clara Haskil die Pause mit der Fermate einhält, ist der Erwähnung wert.
Am Schluß der Durchführung, wo das Hauptthema nach den wie aus der Ferne erklingenden Baßtrillern dreimal erscheint (einmal pp, dann ppp und schließlich nur p - einer der schönsten Momente dieses Satzes), erzielt Clara Haskil einen Klang von unbeschreiblicher Durchsichtigkeit und Zartheit: besser gespielt kann man sich das nicht denken. Trotz allem verliert sie nie den Überblick über den Gesamtaufbau. Und wenn das Anfangsthema wieder erscheint, versteht man plötzlich, wie viel in der Kunst ebenso unvermeidlich wie unvoraussehbar ist.
Clara Haskil und Dinu Lipatti
Der zweite Satz wird nicht - wie so häufig - adagio, sondern andante sostenuto gespielt, doch ohne die Modulationen zu verwischen, die ihn zu einem der schönsten Sätze Schuberts machen. Im Mittelteil läßt Clara Haskil die thematische Verwandtschaft mit dem Hauptthema des ersten Satzes erkennen und nach einer eintaktigen Pause die Wiederholung des ersten Andante-Themas mit ihren leicht veränderten Begleitfiguren ganz natürlich und ungezwungen erklingen. Selten hört man eine Wiedergabe, die deutlicher demonstriert, daß im langsamen Tempo die Kohärenz nur dann gewahrt bleibt, wenn der Klang der gehaltenen Noten fortlebt. Auch verfällt Clara Haskil nie der Gefahr, ihr Spiel vorwiegend vom gefühlsmäßigen Inhalt des Stückes bestimmen zu lassen; die rein emotionale Beziehung zur Musik führt leicht zu Verzerrungen der großen Linie.
Nach den zwei langen getragenen Sätzen folgt das beschwingte und humorvolle Scherzo, mit einer Schlichtheit gespielt, die auf tiefer Überlegung beruht. Die "hinkenden" Synkopen des Trios werden nie übertrieben. Die Oktave G, welche den vierten Satz ankündigt, ermangelt hier des typischen Fortepiano-Akzents; er ist leicht mit dem richtigen Finger-, Handgelenk und Pedalgebrauch zu erzielen, aber kann, falsch ausgeführt, zum leeren Effekt werden. Clara Haskil hatte für solche Effekthascherei nichts übrig. Ihre Oktave ist Ankündigung, wie ein Gongschlag. Er erinnert an das c-Moll-Impromptu op. 90 Nr. 1, an das Finale des Forellenquintetts und das Gran Duo oder auch an das Finale des letzten Satzes von Beethovens B-Dur-Quartett op. 130. Für die Einspielung dieser Sonate erhielt Clara Haskil den Grand Prix du Disque.
Quelle: Peter Feuchtwanger, "Zartheit war ihre Stärke" (Zuerst erschienen in der FAZ Nr. 218 vom 20. September 1975)
CD 2, Track 5: Domenico Scarlatti, Klaviersonate in Es, K193
Linktipps:
Der von mir zitierte Pianist, Komponist und Klavierpädagoge Peter Feuchtwanger hat auf seiner Webpräsenz noch weitere liebevolle Texte zu Clara Haskil veröffentlicht.
Wolfgang Lempfried hat ein Sendemanuskript für den Deutschlandfunk Köln verfaßt und auf KölnKlavier veröffentlicht.
Im Tamino Klassik Forum fand eine ausführliche Diskussion zu den veröffentlichten Aufnahmen von Clara statt.
Der Internationale Klavierwettbewerk Concours Clara Haskil ist ebenso am Web vertreten wie die Lipatti-Haskil Foundation, die das Andenken beider Ausnahmekünstler pflegt.
Von Dinu Lipatti habe ich bekanntlich vor einem Jahr eine Doppel-CD präsentiert, die im selben Label und in der selben Reihe wie die vorliegende Haskil-Ausgabe erschienen ist. (Das Coverbild war ebenfalls der Sammlung Getty Images/Hulton Archive entnommen). Den Bilderbeißer habe ich erneut besucht, er hat einige Novitäten in seinem Studio ausgestellt.
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Die vorliegende CD ist wahrscheinlich out-of-print (Die im Booklet angegebene Webadresse existiert nicht mehr):
CD Info (Tracklist, Covers, Booklet, Music Samples, Pictures) 45 MB
1fichier - Filepost - Depositfiles - Mediafire - Firedrive
Unzip the x73.rar and read the file "Download Links.txt" for links to the FLAC+CUE+LOG files
Reposted on February 15, 2014
CD 1, Track 2: Robert Schumann, Klavierkonzert in a, Opus 54
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