5. November 2012

Charles Ives (1874-1954): Sonaten für Violine und Klavier

Charles Ives stammte aus Neu-England. Er wurde zunächst von seinem Vater unterrichtet und studierte später in Yale bei dem in Deutschland ausgebildeten Horatio Parker. Unter den amerikanischen Musikern seiner Zeit war Ives schon allein deshalb eine Ausnahme, weil er einerseits zwar in der »klassischen« Tradition komponierte, andererseits aber auch volkstümliche und traditionelle Idiome seiner Heimat verwandte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er als Chef einer Versicherungsagentur, und daneben schuf er eine Fülle an Kompositionen, deren großen Wert man erst viel später erkannte. Zu seinen kammermusikalischen Werken gehören vielsätzige »Sets« für kleine Ensembles sowie Streichquartette, Klaviersonaten und anderes.

Von etwa 1902 bis 1916 erlebte Charles Ives den Gipfel seiner Komponistenkarriere. In dieser Zeit schrieb er unter anderem vier Sonaten für Violine und Klavier, die alle mehr oder minder derselben Welt zu entstammen scheinen - anders als die sehr unterschiedlichen »Gruppenmitglieder« anderer musikalischer Gattungen. Sämtliche Violinsonaten sind dreisätzig; jede enthält mindestens einen Satz in »kumulativer« Form; sie alle sind gefärbt vom protestantischen Kirchenliedgut Amerikas, enden allesamt mit einem Finale, das auf einem Lied basiert und sind - gemessen an Ives` Standard - vergleichsweise »leichte« Stücke.

Gleichwohl hat jede Sonate ihre eigenen Merkmale. In der ersten und vierten Sonate benutzt Ives die traditionelle Satzfolge schnell-langsam-schnell, die Sonaten Nr. 2 und Nr. 3 hingegen folgen dem ungewöhnlichen Muster langsam-schnell-langsam, das Ives erstmals in seiner dritten Symphonie ausprobiert hatte. Die Sonaten 1 und 3 sind insofern abstrakter, als sie keine außermusikalischen Satztitel enthalten. Die Sätze der zweiten Sonate sind mit »Herbst«, »Auf der Tenne« und »Die Wiedererweckung« überschrieben, und die gesamte vierte Sonate bezeichnete Ives als »Children's Day at the Camp Meeting« (Kindertag beim Camp Meeting).

Ein Wort zu der »kumulativen Form«, die lediglich in den Mittelsätzen der Sonaten 1 und 2 nicht nachzuweisen ist: Der Ives-Forscher J. Peter Burkholder prägte diesen Begriff 1995 in seiner Magisterarbeit All Made of Tunes: Charles Ives und The Uses of Musical Borrowing (Alles besteht aus Melodien: Charles Ives und die musikalische Entlehnung). Diese kumulativen Stücke beginnen stets mit versteckten Andeutungen und der Entwicklung musikalischer Bruchstücke, die auf eine bereits vorhandene Melodie hinweisen; im Laufe des Prozesses wird ein Zielpunkt angesteuert, der dann die »entliehene« Melodie schlicht und vollständig offenbart, wobei dieser Augenblick oft auch wie die Klimax des gesamten Ablaufs erscheint. Im wesentlichen war Ives selbst der Erfinder dieser Form, die er in seiner Reifezeit bevorzugte.

Zu drei der vier Sonaten hat Charles Ives jene Art pittoresker Kommentare geschrieben, die wir von ihm gewohnt sind.

Zur ersten Sonate: »Teilweise ein allgemeiner Eindruck, eine Art der Reflexion und Erinnerung an jene Versammlungen im Freien, wo die Männer aufstanden und ungeachtet irgendwe1cher Konsequenzen sagten, was sie dachten. - Der erste Satz weist gewissermaßen auf etwas hin, das die Natur und die menschliche Natur einander bisweilen vorsingen. Der zweite Satz bereitet eine Stimmung, als kämen ,The Old Oaken Bucket' und ,Tramp, Tramp, Tramp, the Boys are Marching' über die Hügel herbei, um die Traurigkeit des Bürgerkriegs wieder auf1eben zu lassen. Der dritte Satz schließlich zeigt, wie die Farmer sich bei ihrem camp meeting durch Gesang und Arbeit motivieren, für die kommende Nacht zu schaffen«.

Zur dritten Sonate heißt es: »Ein Versuch, das Gefühl und die oft eher lautstarke als religiöse Glut zu beschwören, mit der man bei den neu-englischen camp meetings der siebziger und achtziger Jahre Lieder und Erweckungsweisen zu singen pflegte. Die hier benutzten bzw. angedeuteten Weisen sind Beulah Land, There'll Be No More Sorrow und Every Hour I Need Thee Der erste Satz ist so etwas wie ein vergrößerter Hymnus, dessen vier Strophen allesamt mit demselben Refrain enden. Der zweite Satz könnte ein Meeting darstellen, wo Füße, Körper und Stimme gemeinsam die allgemeine Spannung steigern. Der letzte Satz ist ein Experiment. Zuerst kommt eine freie Fantasie, dann entwickelt sich die Durchführung nicht von den Themen weg, sondern zu ihnen hin; und die Coda bringt dann diese Themen erstmals in ihrer Gesamtheit und in Verbindung miteinander … Von der Tonalität wird durchweg erwartet, dass sie sich um sich selbst kümmert.«

Zur vierten Sonate ("Children's Day at the Camp Meeting") schreibt Ives: »Es gab bei diesen sommerlichen Meetings für gewöhnlich immer nur einen Kindertag. Den nutzten die Kinder voll aus, und sie machten oft genug den besten Teil der gesamten Veranstaltung daraus … Der erste Satz ist von einem tatsächlichen Ereignis inspiriert: Der Organist übt sein Postludium und wird dabei vom schnellen Marsch der Knaben klanglich überlagert, wobei die lautesten Sänger besonders falsch singen. Der zweite Satz ist ruhiger und ernster; er dreht sich in der Hauptsache um ein altes, sehr beliebtes Lied [die Melodie Jesus Loves Me], während die Begleitung die Geräusche widerspiegelt, die man an solchen Sommertagen hören konnte: Der Westwind in den Kiefern, der rieselnde Bach. Der dritte Satz zeigt wieder die marschierenden Knaben. Einige der alten Männer beteiligen sich und marschieren ebenso zügig mit - zu Shall We Gather at the River

Zur zweiten Sonate hinterließ Ives keinen Kommentar. Womöglich glaubte er, dass die Satztitel ausreichten. Die Überschrift des Kopfsatzes (»Herbst«) könnte nicht nur auf die Jahreszeit selbst anspielen, sondern auch auf die entlehnte Liedmelodie Autumn, die üblicherweise auf den Textanfang Mighty God! While angels bless Thee (Mächtiger Gott! Während die Engel dich heiligen) gesungen wird. Ives bevorzugte allerdings die zweite Strophe, die mit den Worten For the Grandeur of Thy Nature (Um der Größe deines Wesens willen) beginnt. Der zweite Satz ist ein Square Dance (»Auf der Tenne«) und dementsprechend werden viele alte Melodien gefiedelt: »Money Musk«, »Sailor's Hornpipe«, »The White Cockade«, »Turkey in the Straw« sowie eine Walzervariante des Refrains aus »The Battle Cry of Freedom«. Der dritte Satz (»Die Wiedererweckung«) beschwört die allmählich sich steigernde Intensität eines Camp Meeting. Grundlage der Musik ist eine zunehmend sich belebende Variationsfolge über der frühamerikanischen Liedmelodie Nettleton, die besonders häufig auf den Text »Come, thou fount of ev'ry blessing« (Komm, du Quell aller Glückseligkeit) gesungen wurde.

Heute schätzen die Interpreten (und viele Zuhörer) sowohl die technischen als auch die musikalischen Herausforderungen dieser Werke, die zu den wichtigsten amerikanischen Beiträgen zur Violinliteratur zu rechnen sind. Anfangs sah das noch ganz anders aus. Bevor Ives 1914 seine dritte Sonate vollendete, lud er den Geiger Franz Milcke ein, mit ihm die beiden ersten Sonaten durchzunehmen. Milcke war, wie Ives in seinen Memos von 1931-32 schrieb, eine »Primadonna unter den Sologeigern … stammte aus Deutschland und hatte in der Carnegie Hall Konzerte gegeben … Der ,Professor' begann mit dem ersten Satz der ersten Sonate. Er kam nicht mal bis zum Ende der ersten Seite. Die Rhythmen und Töne verwirrten ihn, und er geriet in Wut. Er sagte: ,Das kann man nicht spielen. Das ist schrecklich. Das ist keine Musik, das macht keinen Sinn.' Er kam nicht einmal damit zurecht, nachdem ich es ihm mehrmals vorgespielt hatte und meinte: ,Wenn Ihnen etwas schrecklich Unverdauliches schwer im Magen liegt, dann können sie das loswerden, doch ich kriege diese schrecklichen Klänge nicht aus meinen Ohren'. Nachdem er gegangen war, befiel mich dasselbe Gefühl, das ich immer wieder einmal hatte: Ist was mit meinen Ohren verkehrt? Niemand sonst scheint so zu hören wie ich.«

Erst Jahrzehnte später - nach dem Zweiten Weltkrieg und Jahre nach Ives Tod - erkannte man, dass mit Ives` Ohren alles in Ordnung gewesen und dass er seinen Zeitgenossen nur weit voraus gewesen war.

Quelle: H. Wiley Hitchcock (Übersetzung: Cris Posslac), im Booklet

Track 11: 4. Violionsonate "Children's Day at the Camp Meeting", II. Largo



TRACKLIST


CHARLES IVES (1874-1954)VIOLIN SONATAS NOS. 1 - 4


First Sonata for Violin and Piano             22:44
(01) Andante - Allegro vivace                  7:02
(02) Largo cantabile                           6:43
(03) Allegro                                   8:59

Second Sonata for Violin and Piano            14:15
(04) Autumn                                    5:30
(05) In the Barn                               4:36
(06) The Revival                               4:09

Third Sonata for Violin and Piano             30:06
(07) Verse 1 (Adagio) - Verse 2 (Andante)
     Verse 3 (Allegretto) - Refrain (Adagio)  14:52
(08) Allegro                                   4:49
(09) Adagio                                   10:25

Fourth Sonata for Violin and Piano
"Children's Day at the Camp Meeting"           9:42
(10) Allegro                                   2:19
(11) Largo                                     5:38
(12) Allegro                                   1:45

Playing Time:                                 76:47


Curt Thompson, Violin
Rodney Waters, Piano

Recorded at Duncan Recital Hall, Rice University Shepherd School of Music,
Houston, on 8th-10th January (1-3,10-12), 26th-27th May (4-6) and
16th-18th December (7-9), 1998
Recording Producers: Curt Thompson + Rodney Waters
Recording Engineer: Andy Bradley - Editors: Jose Feghali + Rodney Meyers
Cover Photo: Charles Ives c. 1947 in New York City by Clara Sipprell
(P) 2003 (C) 2004 
*

Hagesander, Polydoros, Athanadoros (?),
Laokoon-Gruppe, Zustand 1960,
Rom, Vatikanische Museen
Laokoon und seine Söhne


« ... allen Werken in Malerei und Bronzeplastik vorzuziehen»

Am 14.Januar 1506 vermeldete ein Felice de Fredis in Rom, er habe in einem zugemauerten Raum unter seinem Weinberg in der Nähe der Kirche San Pietro in Vincoli eine große Marmorgruppe gefunden. Auf der Stelle schickte der Papst den Architekten und Bildhauer Giuliano da Sangallo, der in seinen Diensten stand, zu diesem Weinberg auf dem Esquilin, um Erkundigungen einzuholen. Mit von der Partie waren Michelangelo und der kleine Francesco da Sangallo. Über sechzig Jahre später erinnert letzterer sich in einem Brief ganz genau an die lange zurückliegende Begebenheit: Zunächst hinter ihm im Sattel sitzend, hatte sein Vater ihn schließlich huckepack in den Weinberg getragen. Dort angekommen, waren sie in den unterirdischen, aber inzwischen freigelegten Raum geführt worden. Und dort hatte der Vater sofort erkannt, daß es sich bei der Gruppe um den berühmten Laokoon handeln mußte, den Plinius d. Ä. in seinem im Jahr 77 n. Chr. erschienenen, dem Kronprinzen Titus gewidmeten Werk hervorgehoben hatte. In dieser 37 Bücher umfassenden Naturalis historiae hatte Plinius in der Abhandlung über den Marmor im 36. Buch geschrieben, daß sich im Palast des Titus eine Laokoon-Gruppe befinde, «ein Werk, das allen Werken in Malerei und Bronzeplastik vorzuziehen ist. Aus einem Stein machten ihn und die Kinder sowie die erstaunlichen Windungen der Schlangen aufgrund des Ratsbeschlusses die großen Künstler Hagesander, Polydoros und Athanadoros, die Rhodier.»

Mit der Identifizierung bewies Sangallo zum einen, daß er seinen Plinius gelesen hatte, zum anderen aber auch, daß er sich mit der antiken Mythologie auskannte und zumindest wußte, daß Laokoon und seine beiden Söhne von riesigen Schlangen angefallen und zu Tode gewürgt und gebissen worden waren. Nichts anderes als einen nackten Mann mit zwei Knaben, die von riesigen Schlangenkörpern umwunden und gefesselt werden, stellt die Figurengruppe dar.

Die Kunde von dem Fund verbreitete sich in Rom wie ein Lauffeuer, und Sangallos Identifizierung als die römische Laokoon-Gruppe der drei Bildhauer aus Rhodos wurde fraglos übernommen. Doch wer war überhaupt Laokoon, der mit seinen Söhnen gegen riesige Schlangen kämpfte? Und was genau ist dargestellt?

Der Mythos bietet mehrere Varianten, die hier aufzuführen für die Interpretation nicht unwichtig ist. Fest steht, daß Laokoon ein troianischer Priester war, der dem Apollon diente. Als Bruder des Anchises und damit Onkel des legendären Gründers der Stadt Rom - Äneas - war er mit dem troianischen Königshaus verwandt. Die weniger bekannte und ältere Sage erzählt, er habe als Priester Apollons der Ehe entsagen sollen und damit natürlich auch der Vaterschaft. Statt dessen zeugte er sogar im Tempel (!) mit seiner Frau Antiope die beiden Söhne Antiphas und Thymbraeus. Nur eine Quelle nennt diesen Frevel als Grund, weshalb Schlangen ihn und seine Söhne töten. Arktinos von Milet berichtete in seiner Ilioupersis auch schon in griechischer Zeit von einem Zusammenhang des Laokoon mit dem troianischen Pferd, eine Geschichte, die Sophokles im 5. vorchristlichen Jahrhundert in einem heute verlorenen Theaterstück verarbeitete: Die Troer berieten nach Abzug der Griechen, was sie mit dem zurückgelassenen hölzernen Pferd machen sollten. Sie nahmen es als ein positives Zeichen und feierten ein Freudenfest. Da schickte Apollon zwei Seeungeheuer übers Meer, die den Laokoon und einen der beiden Söhne töteten zum Zeichen, daß der Gott seine Hand nicht mehr schützend über die Stadt halten könne. Äneas verstand dies und floh mit Sohn und Vater, bevor die Griechen angriffen.

Die bekanntere Variante kennen wir aus der 19 v. Chr. vollendeten Äneis des römischen Dichters Vergil: Die Griechen hatten die Belagerung Troias scheinbar aufgegeben und bei ihrer (vorgetäuschten) Abfahrt das hölzerne Pferd am Strand zurückgelassen. Vor ihm warnte der Priester Laokoon die Troer. Anschließend opferte er an einem Altar in der Nähe des Meeres Poseidon einen Stier. Da teilten sich die Fluten, und aus dem Meer kamen zwei schlangenartige Seeungeheuer auf ihn und seine Söhne zu. Sie umschlangen die Knaben und den Vater, der ihnen zur Hilfe eilen wollte, erstickten sie oder gaben ihnen den tödlichen Biß. Anschließend suchten sie beim Heiligtum der Athena Schutz, waren also offensichtlich von der Göttin geschickt worden. Die Troer interpretierten dies als Strafe, weil Laokoon vor dem Pferd gewarnt hatte, nahmen es mit in die Stadt, und das Schicksal Trojas nahm seinen Lauf.

Hören wir diese Geschichte, dann sehen wir automatisch vor unserem geistigen Auge die 1506 aufgefundene marmorne Figurengruppe des Laokoon mit seinen Söhnen, die sich seitdem im Vatikan befindet. Sie ist nicht nur in jeder Kunstgeschichte abgebildet, sie ist uns mit Sicherheit im Schulbuch begegnet und wurde seit ihrer Auffindung von zahlreichen Künstlern in unterschiedlichen Größen und Varianten kopiert, aber auch als Zitat in ganz andere Zusammenhänge versetzt.

Baccio Bandinelli, Marmorkopie der
Laokoon-Gruppe, 1525, Florenz, Uffizien
Doch stellt die Gruppe überhaupt die Geschichte dar, die Vergil erzählt hat? Und sind wir sicher, daß uns immer die antike Gruppe gezeigt wird und nicht eine ganz andere?

Die 184 Zentimeter hohe Marmorgruppe steht seit ihrer Auffindung auf einem Sockel. Zwei Stufen, die fest mit den Figuren verbunden sind, leiten über zu einem recht hohen Quader, dem Altar, an dem Laokoon seine Opfer vollzog und auf dem er jetzt selber geopfert wird. Die Tücher, die seine Blöße bedeckten, sind auf den Altar geglitten. Laokoon stützt sich mit dem rechten Fuß auf der oberen Stufe ab, die Zehenspitzen des linken berühren den «Boden» (also den eigentlichen Sockel), und so steht er halb, halb sitzt er aber auch auf dem Altar und versucht, sich der Schlangen zu erwehren. Der mächtige Oberkörper ist gestreckt und gleichzeitig nach links gedreht, der rechte Arm hoch erhoben und angewinkelt. Wahrscheinlich hat er mit der «verlorenen» rechten Hand ebenfalls versucht, eine der Schlangen abzuwehren. Mit der linken hat er die zweite gegriffen, die ihn gerade in die Hüfte beißt. Laokoons Kopf neigt sich bereits nach links und wird gleich kraftlos zur Seite fallen.

Der jüngere Sohn an seiner rechten Seite hat den Kampf schon verloren. Dicht beim Vater, der ihm nicht mehr helfen kann, sind die beiden doch unlösbar miteinander verbunden, denn die eine Schlange hat sich um das eine Bein des Vatcrs wie um das des Sohnes gewunden. Das andere Tier schlingt sich um seinen Oberkörper, stützt ihn, so daß er nicht fällt, hat ihn aber bereits in die Seite gebissen. Er hat noch versucht, den Kopf des Ungeheuers mit der linken Hand wegzuschieben, erfolglos, und nun wirkt es so, als streichele er den Kopf der todbringenden Schlange.

Der ältere Sohn, links vom Vater, ist den tödlichen Bissen noch entgangen. Er steht etwas entfernt vom Altar und abseits der Stufen «auf der Erde». Sein Gewand hängt ihm noch von der Schulter (und dient gleichzeitig dazu, die Figur zu stabilisieren). Er versucht, das Schwanzende der einen Schlange von seinem Fußgelenk zu streifen, während sich die andere Schlange, die dem Vater (wahrscheinlich) gerade den tödlichen Biß gibt, um seinen Arm windet. Entsetzt schaut er zum Vater, sieht seinen Todeskampf und muß erkennen, daß von ihm keine Hilfe mehr kommen kann. Er ist auf sich selbst gestellt, nur er allein kann sich noch retten. Und es scheint, als ob ihm dies gelingen wird, daß er nicht auch noch geopfert wird und deshalb außerhalb des Altarbereiches gezeigt ist.

In der von Vergil berichteten Variante sterben alle drei der Angegriffenen. Hier aber scheint der ältere Sohn zu überleben. Deshalb liegt es nahe, als literarisches Vorbild für das Bildwerk nicht Vergils Version anzunehmen, sondern eher die Ilioupersis des Arktinos von Milet, seine Lebensdaten sind unbekannt, oder das verlorene Theaterstück des Sophokles aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert.

Die Gruppe wurde so gearbeitet, daß sie nicht allansichtig ist, sondern ihre Dynamik nur in der Vorderansicht entfaltet. Auch wenn einige Teile fehlen, einige Stücke der Schlangen nicht wiedergefunden wurden und sie sich so kompliziert winden, daß man nur am Objekt selbst mit Sicherheit sagen kann, welche Windung zu welcher Schlange gehört, so faszinieren die Körperdarstellung, die Bewegung der Leiber, der Ausdruck von Schmerz. Die Adern des muskulösen Vaters scheinen vor Anstrengung anzuschwellen und treten sichtbar unter der Haut hervor. Muskulös, aber noch nicht so kräftig ausgeprägt wie der Vater, strebt der ältere Sohn entsetzt zur Seite. Der jüngere Sohn hingegen befindet sich erst an der Schwelle vom Kind zum Jüngling, sein Körper ist noch weich und zart ausgeformt. Kein Wunder, daß die Schlangen bei ihm am schnellsten zum Ziel gelangen, die Giftzähne in das noch zarte Fleisch bohren, ihr Angriff keinen ernsthaften Widerstand findet. Genaue Naturbeobachtung stellt somit schon ein ganzes Repertoire an Ausdrucksformen bereit, das sich in den Kopfhaltungen, der Mimik und dem Licht- und Schattenspiel der Gesichter dramatisch steigert.

Antike Skulpturen waren damals von Sammlern heiß begehrt. Im Zeitalter der Entdeckungen, als man anderswo neue Kontinente erforschte, wurde im Boden unter Rom fieberhaft gegraben. Oft fand man nur Torsi, Fragmente. Und so nimmt es nicht wunder, daß Julius II. diese erstaunlich unversehrte Gruppe begehrte, zumal nachdem Sangallo sie als Laokoon bestimmt und Michelangelo dem Urteil offensichtlich nicht widersprochen hatte. Für seinen Skulpturenhof, der als Verbindungsbau zwischen dem Papstpalast und der päpstlichen Villa Belvedere gerade unter Leitung des Architekten Bramante im Entstehen war, kam der Laokoon dem Papst wie gerufen. Der Laokoon stellte somit den Grundstock der päpstlichen Antikensammlung dar.

Bereits am 1.Juni 1506 scheint der Laokoon in der eigens für ihn geschaffenen Mittelnische des Belvedere-Hofes gestanden zu haben. Und im Zuge der Aufstellung hat wohl auch Jacopo Sadoleto das Festgedicht geschrieben, das die einhellige Begeisterung der Zeitgenossen in Worte faßte:

Laokoon-Gruppe mit Ergänzungen
des Agnolo Montorsoli, 1532/33,
Rom, Vatikanische Museen
(Zustand vor 1960)
«Seht her! Aus Bergen von Erde, den riesiger Ruinen
Eingeweide, hat nach langer Zeit der Tag den Laokoon
zurück ans Licht gebracht. Einst in königlichen Hallen
stand er und schmückte Dein, O Titus, Haus.
Ein Bildwerk göttlicher Kunst; die alten Gelehrten kannten
kein edleres. Jetzt sieht es wieder, befreit aus dem Dunkel,
des wiedererstandenen Rom wehrhafte Mauern.»

Nachdem er dann beschrieben hatte, wie die Gruppe aussieht, kam er auf die «großen Künstler» zu sprechen:

«Ihr seid die vortrefflichsten, um den Stein zu lebender Form
zu beseelen und in atmendem Marmor lebendiges Fühlen
zu pflanzen; wir sehen Bewegung, Zorn und Schmerzen,

und wir hören das Stöhnen. Euch zeugte das glänzende
Rhodos. Die Schönheit Euerer Kunst war unendlich lange
verdunkelt, das zweite Rom sieht sie wieder im Licht.
Und sie wird immer rühmen und den Werken der Alten
frische Anmut verschaffen. Um so größer im Geist ist also,
wer stets durch Leistung vermehrt, was das Schicksal ihm zumaß,
statt Stolz, Reichtum und eitle Pracht zu vermehren.»
Die Begeisterung des Sadoleto entzündete sich an dem Fund, der Darstellung und den ausführenden Künstlern. Und er sprach in dem Gedicht nicht nur seine eigenen Empfindungen aus, sondern die der Künstler und der künstlerisch ambitionierten Römer. Eine antike Skulptur, bei der die Körper Angst, Verzweiflung, Hingabe und Widerstand ausdrückten, bei der jeder Muskel zu erkennen war, war bisher nirgends aufgetaucht. Hinzu kam, daß die Gruppe offensichtlich schon in der Antike als Meisterwerk gegolten hatte, wie die rühmenden Worte des Plinius überliefern.

Die Künstler Roms begannen, die Körper zu studieren. Der Bildhauer Baccio Bandinelli richtete im Belvedere-Hof eine Akademie ein. Dort hatten die Schüler im Angesicht der Laokoon-Gruppe zu arbeiten. Und die Gefesselten Sklaven Michelangelos für das Grabmal Papst Julius' II. sind ohne das Vorbild dieser antiken Skulptur nicht denkbar. Kunsthistoriker sind sogar so weit gegangen zu behaupten, daß ohne Kenntnis des Laokoon die Entwicklung der barocken Kunst nicht stattgefunden hätte, zumindest aber anders verlaufen wäre.

Für die langandauernde künstlerische Rezeption des Laokoon sind dessen unterschiedliche Zustände von Bedeutung. Denn auch wenn die Gruppe erstaunlich gut erhalten war, so fehlte doch jeder Figur der rechte Arm, und es fehlten Teile der Schlangenkörper. In diesem Zustand aber kennen wir die Gruppe gar nicht. Denn sie wurde sehr bald nach ihrer Auffindung vervollständigt.

Die erste Kopie, die gleichzeitig eine Rekonstruktion der fehlenden Teile darstellte, stammt von dem schon erwähnten Bandinelli. Sie ist Ergebnis der Friedensverhandlungen zwischen dem französischen König Franz I., der 1515 Mailand eingenommen hatte, und dem Papst. Franz wünschte die Überführung der antiken Gruppe in seine Residenz nach Fontainebleau. Dieses Ansinnen konnte Papst Leo X. allerdings abwenden, indem er eine Kopie zusicherte, mit der er Baccio Bandinelli beauftragte. Die Kopie war erst 1525 vollendet, wurde aber nicht, wie verabredet, nach Frankreich geschickt, denn der neue Medici-Papst, Clemens VII., fand so außerordentlichen Gefallen daran, daß er sie nach Florenz transportieren ließ. Noch heute befindet sie sich dort in den Uffizien. Erst Napoleon sollte es 1797 gelingen, die antike Gruppe als Kriegsbeute bis 1815 nach Paris zu holen.

Bandinelli hatte in seiner Kopie bei allen drei Figuren den rechten Arm ergänzt. Der des jüngeren Sohnes beschreibt einen Bogen, so daß die Hand weit über seinen Kopf hinausragt. Der Vater hebt den seinen ergänzten Arm rechtwinklig zum Unterarm und hält ein Gewirr von Schlangenkörpern empor. Der ältere Sohn streckt die erhobene offene Hand so, als wehre er etwas Unsichtbares damit ab.

Zehn Jahre später, also 1532/33, erhielt Giovann' Agnolo Montorsoli den Auftrag, die Antiken im Belvedere-Hof zu restaurieren. Und eine solche Restaurierung verlangte, sie zu vervollständigen. Montorsoli übernahm die Rekonstruktionen Bandinellis nicht. Vielmehr fand er eine neue Lösung. Laokoon fügte er einen ausgestreckten rechten Arm aus Terrakotta an, mit dem dieser kraftvoll versucht, die Schlange abzuwehren, die entsprechend ergänzt ist. Dem jüngeren Sohn gab Montorsoli ebenfalls einen rechten Arm, der nach oben zeigt und so der Gruppe kompositorisch einen Abschluß gibt. Die rechte Hand des älteren Sohnes ist nicht mehr im Gestus des Entsetzens geöffnet, sondern greift ins Leere. Auch der Kopf der Schlange, die Laokoon gerade in die Hüfte beißt, ist von Montorsoli ergänzt, interpretierte er doch die Spuren an der Hüfte des Laokoon als Bißspuren. Montorsolis Version des Laokoon blieb bis in die fünfziger Jahre des 20.Jahrhunderts die offizielle Fassung. 1905 hatte man den antiken rechten Arm des Laokoon zwar wiedergefunden, es dauerte aber noch einmal fünfzig Jahre, bis er als authentisch erkannt und montiert wurde.

Francesco Primaticcio, Bronzenachguß
 der Laokoon-Gruppe, 1540, Fontainebleau, Museum
Da Franz I. vergeblich auf die versprochene Kopie des Laokoon wartete, schickte er 1540 Francesco Primaticcio nach Rom, der von mehreren Antiken Bronzenachgüsse anfertigen sollte. Sein Laokoon, der heute noch in Fontainebleau steht, zeigt jenen Zustand, in dem sich die Gruppe bei ihrer Auffindung befand, besitzt also keine Ergänzungen und ist schon deshalb ein äußerst wertvolles Dokument.

In den Studioli, den Kunstkammern der Renaissancefürsten, waren Antikenkopien in Gestalt von Kleinbronzen sehr beliebt, und so gibt es zahlreiche kleine Laokoon-Gruppen, die entweder der Gruppe von Bandinelli nachempfunden sind oder die Ergänzungen Montorsolis übernommen haben. Und nur wenn wir alle vier Versionen nebeneinander sehen, erkennen wir die Unterschiede, die auch zu unterschiedlichen Auslegungen und kontroversen stilistischen Interpretationen geführt haben.

Der Laokoon hat also mehrere Sternstunden erlebt. Auffindung und Rezeption in Renaissance und Barock waren nicht die letzten. Johann Joachim Winckelmann, dem Stammvater des Klassizismus, diente diese Gruppe als Idealbild für seine Vorstellung der «edlen Einfalt und stillen Größe», die er 1764 publizierte und die den Geschmack des Klassizismus beherrschen sollte. Bereits 1766 erschien als Erwiderung auf Winckelmanns Hymne die unvollständig gebliebene Abhandlung Gotthold Ephraim Lessings mit dem Titel Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie, in der sich erstmals ein Schriftsteller mit den Unterschieden zwischen Poesie und bildender Kunst beschäftigte und die die Grundlage für die moderne Kunstkritik werden sollte. Lessings Äußerungen bildeten den Auftakt zu einem der berühmtesten kunsttheoretischen Dispute «über den angemessenen Ausdruck» und den «einzigen Augenblick» der Wiedergabe, an dem sich 1798 unter anderen auch Johann Wolfgang von Goethe beteiligte, der seine Argumentation auf den Biß der Schlange in die Hüfte des Laokoon gründete - wie wir heute wissen, eine Rekonstruktion Montorsolis - und in den Figuren die «Zusammenwirkung von Streben und Fliehen, von Wirken und Leiden, von Anstrengen und Nachgeben» hervorhob.

Die emotional geführten Debatten über den Laokoon rissen und reißen nicht ab. Heute werden sie von den Archäologen besonders über Entstehung und Datierung der Gruppe geführt. Auslöser war ein Fund, der 1506 wahrscheinlich ähnlich spektakulär gewesen wäre wie der des Laokoon, 1957 jedoch nur noch Archäologen und kunstinteressierte Laien bewegte: In einer Höhle am Meer nahe der Villa des Tiberius in Sperlonga wurde eine monumentale Marmorgruppe entdeckt, die die Geschichte des Angriffs der Skylla auf das Schiff des Odysseus nach der Odyssee des Homer darstellt. Die Figuren sind von jenen drei Künstlern signiert, die Plinius als Urheber der Laokoon-Gruppe genannt hatte: Hagesander, Polyodoros und Athanadoros. Der Fund belegte aber nicht nur die Existenz der Genannten, sondern machte auch deutlich, daß es sich bei den drei Bildhauern aus Rhodos um Kopisten handelte, die in Rom eine große und gutgehende Werkstatt besaßen. Und nun wurden für den Laokoon je nach Standpunkt unterschiedlichste Theorien aufgestellt, die sich auf folgende Fragen reduzierten:

- Ist der Laokoon die römische Kopie eines hellenistischen Originals aus Pergamon? Oder ist der Laokoon, den wir kennen, das Original, von dem eine Kopie angefertigt wurde?

- Ist die entdeckte Laokoon-Gruppe identisch mit jener, die Plinius gesehen hat? Oder beschrieb er nur eine Kopie?

- Wenn der Laokoon nun gar nicht mit dem von Plinius erwähnten identisch wäre und darüber hinaus (was wahrscheinlich ist) nicht nach der Äneis des Vergil, sondern nach der älteren griechischen Quelle gearbeitet ist, nach der einer der Söhne am Leben bleiben durfte? Dann wäre der Datierungsspielraum von 19. v. Chr., der Vollendung der Äneis, bis 70 n. Chr., dem Bericht des Plinius, hinfällig.

Die neuerlich entfachte Diskussion um den Laokoon wird von den Archäologen sehr kontrovers geführt. Eine wirklich gesicherte Antwort ist nicht abzusehen. Doch der Befürchtung, die Laokoon-Gruppe sei als Ideal entthront, gleichsam von ihrem Podest gestoßen, nachdem man festgestellt hat, sie sei eine Kopie, stehen fünfhundert Jahre Rezeptionsgeschichte gegenüber, in denen diese Plastik unsere Vorstellungen von der Antike maßgeblich beeinflußt hat und deren Wirkung auf das Kunstschaffen unbestreitbar ist. Für jeden, der einmal vor dem Original in Rom oder einem Abguß gestanden und - wie weiland Goethe - ganz schnell hintereinander die Augen geschlossen und wieder geöffnet hat, dem wird sich noch immer der von dem Dichter beschriebene Eindruck einstellen: «... so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden ... wie sie jetzt dasteht, ist sie ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke, da sie gegen das Ufer anströmt.» Und vielleicht wird der Betrachter dann ebenfalls zu dem Schluß kommen: «Genug, wir dürfen kühnlich behaupten, daß dieses Kunstwerk seinen Gegenstand erschöpfe und alle Kunstbedingungen glücklich erfülle.»

Quelle: Susanna Partsch: Sternstunden der Kunst. Von Nofretete bis Andy Warhol, C.H. Beck, München 2003, ISBN 3 406 49412 9. Zitiert wurde Seite 31-42 (Leseprobe)

Mehr zum Laokoon im Web:
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Reposted on October 23, 2014

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