2. Dezember 2016

Georges Onslow / Franz Hünten: Klavierwerke zu vier Händen

Der Stellenwert Georges Onslows im heutigen Musikbetrieb steht - und dies hat er bekanntlich mit vielen seiner Komponistenkollegen des 19. Jahrhunderts gemein - im krassen Widerspruch zur Reputation, die er zu Lebzeiten erfuhr: Einst weithin verehrt, ist er heute beinahe in Vergessenheit geraten. Stellvertretend für viele gleichartige Kommentare sei in diesem Zusammenhang ein längerer Ausschnitt eines Artikels aus der damals höchst einflußreichen Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung zitiert, der diesen Eindruck nachdrücklich bestätigt. Im November 1842 heißt es dort:

Es ist nunmehr 25 Jahre, daß dieser höchst talentierte Tondichter in die Öffentlichkeit getreten. Sein erstes Beginnen war aber nicht das eines Anfängers, eines Schülers, Onslow ist als vollendeter Meister vor das Forum der musikalischen Kritik hingetreten, und hat schon damals viele Beweise seiner Meisterschaft geliefert. Schnell hat sich sein Ruhm verbreitet, namentlich aber die Deutschen haben den Meister freundlich bei sich willkommen geheißen, ja sie haben ihm einen Ehrenplatz unter ihren ersten Componisten der Kammermusik angewiesen. Onslow's Compositionsweise ist aber auch eine durch und durch deutsche, nur zuweilen in dem stärkeren Hinneigen zum Trübsinne ist der melancholische Sohn des nebligen Insellandes nicht zu verkennen. Seine Werke […] sind klar und verständlich und wenn auch nicht immer heiter, so erklingen sie doch aus der Tiefe des Herzens herauf, ungeschminkt und ungeziert. Seine harmonische Durchführung ist großartig und originell und läßt überall die Einwirkung der deutschen Schule erkennen. Ja selbst dann, wenn er zuweilen bizarr wird, trägt seine Sonderbarkeit den Stämpel der Originalität und des ausgezeichneten Talents.

Georges Onslow wurde am 27. Juli 1784 in Clermont-Ferrand in der Auvergne geboren, wo er 1853 auch verstarb. Als Sohn des englischen Lords Sir Edward Onslow wurde ihm die seinem Stand angemessene, sorgfältige Erziehung zuteil, bei der die Musik zunächst keine allzu große Rolle spielte. Im Alter von zehn Jahren folgte er seinem Vater nach London, der in Frankreich aufgrund unklarer politischer Machenschaften in Ungnade gefallen war und das Land als "conspirateur" und "réacteur royaliste" zu verlassen hatte. In London genoß George bald den Unterricht führender Musiker wie Nikolaus Joseph Hüllmandel, Johann Ladislaus Dussek und Johann Baptiste Cramer. Eine sich anschließende zweijährige Reise durch Deutschland und Österreich erlaubte es ihm, seinen musikalischen Horizont auszubauen, und er wandte sich nun der Komposition eigener Werke zu. 1807 gelangten schließlich in Paris seine ersten Werke an die Öffentlichkeit, die drei Streichquintette op.1.

Erst jetzt erkannte Onslow die Notwendigkeit eingehender theoretischer Studien, die er 1808 beim berühmten Anton Reicha am Pariser Konservatorium aufnahm. Reicha vermittelte Onslow jenen ausgeprägten Sinn für Form und Struktur, der ihm immer wieder von zeitgenössischen Rezensenten bescheinigt wurde. Während der nächsten Jahrzehnte widmete sich Onslow fast ausschließlich der Komposition von Kammermusik, und das mit grossem Erfolg: Hector Berlioz beispielweise nannte Onslow den "französischen Beethoven", und Robert Schumann bezeichnete seine Kammermusikwerke gar mit denen Mozarts, Beethovens, Spohrs und Mendelssohn-Bartholdys als nachahmenswerte Muster.

Georges Onslow (1784-1853)
So verwundert es nicht, daß er mit seinen Kompositionen eine Reihe von Auszeichnungen erhielt: 1832 wurde er zum Ehrenmitglied der Philharmonic Society in London gewählt, noch spektakulärer war seine Aufnahme in die Pariser Académie des Beaux-Arts im Jahr 1842, als Nachfolger des verstorbenen Luigi Cherubini (zu den vergebens sich um diese Position mühenden Kandidaten zählte übrigens auch Hector Berlioz). Zu dieser Zeit lebte Onslow bereits zurückgezogen auf seinen Gütern in der Auvergne, wo er "über den wahren Sinn der Musik" grübelte, wie ein Biograph festhielt. Nur selten kam er in den Wintermonaten nach Paris, um in kunstliebenden Kreisen seine neuesten Werke vorzustellen.

Onslows Werkliste ist so vielseitig wie umfangreich: Er komponierte drei Opern, vier Sinfonien und zahlreiche kammermusikalische Werke, darunter 34 Streichquintette, 35 Streichquartette, zehn Klaviertrios, ein Nonett und zwei unterschiedlich besetzte Sextette. Zu seinen Klavierkompositionen zählen neben einigen Variationsreihen und Toccaten auch drei Klaviersonaten (die Opera 2,13 und 28) sowie die beiden auf dieser CD vereinten vierhändigen Werke, die Sonate in e-Moll, op.7 (1810) und die Sonate in f-Moll, op.22 (1820).

Gerade letztere waren zur Zeit ihrer Entstehung ausgesprochen beliebt, wie die beinahe unüberschaubare Anzahl ihrer Nachdrucke bei unterschiedlichen Verlagen belegt. Und nicht nur bei den damals so zahlreich praktizierenden "Liebhabern", sondern auch bei der gestrengen Fachkritik, Vertretern des "Kenner"-Standes also, stießen die Sonaten durchweg auf positive Resonanz. So stellte der französische Musikwissenschaftier André Marmontel in bezug auf die Kopfsätze beider Stücke ihre "perfekte stilistische Einheit, die Klarheit der Exposition und die logische Entwicklung der musikalischen Ideen" heraus (1889). Und bereits fünf Jahre nach ihrer Veröffentlichung bescheinigte ein Kritiker der Allgemeinen Musikalischen Zeitung der f-Moll-Sonate, sie sei "ein wahres Meisterstück" und eines der besten, ausgewogensten vierhändigen Werke "seit Mozarts Sonate in F" (1825).

Nicht viel anders sieht es übrigens die Musikforschung des 20. Jahrhunderts, auch wenn sie sich bislang nur recht selten mit Onslows Werken auseinandersetzte. Walter Georgii jedenfalls hält die Beiträge Onslows mit denen Hummels für die wichtigsten zur vierhändigen Klaviersonate zu Lebzeiten Schuberts. Onslows Sonaten entfalteten weniger Glanz als die Hummelschen, überragten diese jedoch an "Ernst und Innerlichkeit". Der Mittelsatz der zweiten Sonate, das Moderato, sei "eine Perle" und nehme den Typus des "verhaltenen, leise bewegten, melancholisch angehauchten Charakterstücks vorweg" (1950). Walther S. Newmann bezieht sich auf beide Sonaten, wenn er feststellt, daß sich hier "wahre Originalität" auf jeder Seite offenbare aufgrund "harmonischer Streuung, unerwarteter Modulationen, der frischen Ideen und der klugen, oft kontrapunktischen Verteilung der Partien" (1969). In der Tat lassen sich diese Charakterisierungs- bzw. Wertungsversuche bei einer näheren Betrachtung der Partituren nachvollziehen. […]

Franz Hünten (1793-1878)
(Ur-)Aufgeführt wurden die Sonaten mit einiger Sicherheit in Pariser Salons, die als eine zentrale Institution der Virtuosenzeit fungierten. Nur solche Musiker, die dort auftraten, hatten die Chance auf eine öffentliche, internationale Karriere, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eben meist von Paris ausging. Nun sind Onslows Sonaten keine eigentliche Salonmusik. Zwar spricht die Besetzung für eine Verwendung im Salon, der kompositorische Anspruch geht jedoch darüber hinaus. Das Salonmusikrepertoire basierte nämlich zum großen Teil auf kleineren Formen, wie in einem zeitgenössischen Artikel nachzulesen ist:

Salonmusik nennt man bekanntlich die Fantasien, Lieder ohne Worte, Potpourris, Impromptus, Bagatellen, Etuden, Notturnos, Scherzos, Transcriptionen, Charakterstücke, Variationen, Balladen, Polonaisen, Walzer, Mazurkas. Boleros u.s.w.

Ein Komponist, der überaus erfolgreich den Bedürfnissen nach solchen Piecen nachkam, war Franz Hünten (1793-1878). Geboren in Koblenz, wuchs er in sehr bescheidenen Verhältnissen auf. Den ersten Musikunterricht erhielt er von seinem Vater Daniel Hünten, der als Amateurkomponist auch mit kleineren Werken hervorgetreten ist. Eine Musikerlaufbahn seines Sohnes aber wollte er verhindern. Dennoch begann Franz bereits im Alter von zehn Jahren zu komponieren und erteilte bereits als Jugendlicher Klavierunterricht. Auf Anregung eines Freundes ging er 1819 nach Paris, wo er Schüler am dortigen Konservatorium wurde (wie Onslow studierte er u.a. bei Anton Reicha). Er gab weiter Klavierunterricht und schrieb vor allem auf den Musikmarkt zugeschnittene Klavierstücke. Mit diesen kam er nach und nach so in Mode, daß er schließlich zu den bestbezahlten Komponisten seiner Zeit gehörte. So berichtet die Allgemeine Musikalische Zeitung 1837 von Hünten, er habe

den höchsten Gipfel des Honorars erstiegen, den ein sterblicher Klavierkomponist auf Erden bis auf diesen Tag erreicht hat, so dass sich ihm keiner hierin an die Seite stellen kann, auch nicht einer.

Es war ihm dadurch rnöglich, einen Lebensstil zu führen, um den ihn die meisten seiner Kollegen beneideten. Mit Kompositionsaufträgen wurde er zeitweise so überhäuft, daß er tatsächlich kaum in der Lage war, alle Bestellungen sofort anzunehmen bzw. auszuführen. Immer wieder verlangte man gleiches von ihm: virtuose, effektvolle Phantasien und Opernvariationen sowie elegante Salonstückchen, Pariser Modeware also. Konzerte oder Sonaten schrieb Hünten - vielleicht aus Zeitmangel, wie ein zeitgenössischer Kritiker bissig anmerkte - dagegen überhaupt nicht.

Zu den beliebtesten Beiträgen des Salonmusik-Genres zählten Phantasien oder Variationen über bekannte Opernmelodien. Ein Paradebeispiel dafür liefern Hüntens 1827 veröffentlichte Variationen über ein Thema aus Rossinis "Barbier von Sevilla" op. 17 für Klavier vierhändig, die alle typischen Mittel der Salonmusik aufweisen: Brillant-virtuoses Passagenwerk wechselt sich ab mit eingängigen und süßlichen Melodien. Der Reihe voran steht eine kurze Introduktion (Allegro moderato), die dramatische Spannung erzeugen soll. Ihr folgt das eigentliche Thema (Andante). Diesem schließen sich vier Variationen und ein sich davon abgrenzendes Finale an. Während die ersten drei Variationen vor allem der Zurschaustellung der technischen Möglichkeiten der Interpreten dienen, beruhigt die vierte Variation (Adagio) vorübergehend die musikalische Situation, wodurch das lebendige Finale (Allegretto) umso effektvoller die Variationen beschließt.

Quelle: Markus Bröhl, im Booklet

Dieses Tier, wahrscheinlich eine Birmakatze, war 1978 in einer russischen Fernsehsendung zu sehen. In Rußland weiß man
nicht viel über Katzenmalerei, und über diese spezielle Katze ist überhaupt nichts bekannt. Die bemerkenswerte Symmetrie
ihrer abstrakten Komposition weist sie aber als bereits arrivierte Künstlerin aus.

TRACKLIST

ONSLOW / HÜNTEN: Klavierwerke zu vier Händen


GEORGES ONSLOW (1784-1853) 

Sonate in e-Moll op.7 

[1] Allegro espressivo                                                   9:53 
[2] Romanze                                                              6:42 
[3] Finale: Agitato                                                      7:55 

FRANZ HÜNTEN (1793-1878) 

[4] Variationen über ein Thema aus Rossinis Barbier von Sevilla op. 17  10:11
Introduktion (Allegro moderato) - Variation I - Variation II - 
Variation III - Variation IV (Adagio - Vivace) - Finale: Allegretto 

GEORGES ONSLOW 

Sonate in f-Moll op.22 

[5] Allegra moderato                                                    11:46 
[6] Minuetto: Moderato                                                   6:33 
[7] Largo                                                                2:35 
[8] Finale: Allegro espressivo                                           7:55 

                                                             Insgesamt [64:03] 
Liu Xiao Ming und Horst Göbel, Piano 

Recording: 8/1998, Traumton-Studio Berlin - Producer: Horst Göbel 
Balance Engineer: Hartmut Bauer - Mastering: Horst Göbel 
Assistance/Digital Editing: Liu Xiao Ming 
(P) 2000 

Warum Katzen malen



Eine Theorie der Katzen-Ästhetik

Bonnie beim Bemalen einer Wand. Boston 1989. Wegen ihrer oft völlig
selbstvergessenen, hingebungsvollen Art zu malen haben Biologen den
Katzen die Fähigkeit zu echter, bewußter Kreativität abgesprochen und die
Katzenkunst als "Ausdruck eines zwanghaften Spieltriebs" und
"zufällige Farbschmiererei, die nichts bedeutet" diskriminiert.
An einem Vormittag im Frühjahr 1978, zwei Wochen nach einer Diskussion mit einem eher konservativen Kollegen darüber, was Kunst ist und was nicht, erhielten wir die abgebildeten Schnappschüsse aus einer russischen Fernsehsendung über eine Katze, die "malte". In dem Briefumschlag mit den Fotos lag ein Zettel unseres Kollegen mit der ironischen Bemerkung: "Ich nehme an, das ist auch Kunst, oder?" So wurden wir erstmals mit der Möglichkeit konfrontiert, daß Katzen vielleicht tatsächlich malen können. Das faszinierte uns. Die Entwürfe wiesen eine Symmetrie auf, die sogar für eine dressierte Katze bemerkenswert war, und es lag etwas darin, was zu den elementarsten Kriterien für die Beurteilung eines Kunstwerks gehört: eine potentielle Aussage.

Als unser Kollege aus Moskau zurückkam, überhäuften wir ihn mit Fragen über diese Katze. Aber er erinnerte sich nicht mehr so genau an die Sendung und hatte auch keine Ahnung, worum es da ging, weil er kein Russisch verstand. Er hatte die Fotos abends vor dem Fernseher in seinem Hotelzimmer gemacht, um uns zu provozieren, und wußte gar nicht, ob der Film in einem Labor entstanden war, ob ein Dresseur beteiligt war und wann er den Film in welchem Programm gesehen hatte. Er erinnerte sich nicht einmal mehr, welche Wodkamarke er an jenem Abend getrunken hatte. Unsere Versuche, vom russischen Fernsehzentrum in Ostankino Näheres zu erfahren, stießen auf ein kategorisches "njet". Wir waren schon nahe daran, aufzugeben, da erinnerte sich einer unserer Freunde an einen Leserbrief in der Zeitschrift Folkestone Star über eine Katze, die Küchenschranktüren bemalte.

Katzen hinterlassen nicht nur Duftmarken, ihr Revier zu kennzeichnen, sondern markieren es auch durch sorgfältige Linien,
die wie Pfeile darauf hinweisen. Andere Katzen erkennen diese Zeichen auch dann noch, wenn sich der Geruch verflüchtigt
hat. Die Erde, die dabei an ihren Pfoten hängenbleibt, benutzt die Katze, um noch deutlichere Reviermarkierungen an einem
Baumstamm zu hinterlassen. Dieses vertikale Markierungsverhalten ist wahrscheinlich der biologische Ursprung der Katzenmalerei.
In dem ausgezeichneten Archiv dieser Zeitschrift entdeckten wir den Brief, den eine gewisse Mrs. M. Smith aus Canterbury geschrieben hatte. Mühsam fragten wir uns zu ihr durch, bis es schließlich zu einem persönlichen Gespräch kam. Leider war ihr Muffy schon vor drei Jahren gestorben, aber einige seiner Bilder zierten immer noch die Tapete im Flur. Und ihre Freundin hatte einen rötlichen Tigerkater, der ab und zu sehr interessante Farbkompositionen auf dem Kühlschrank hinterließ. Wir wurden eingeladen, uns das einmal anzusehen. Als wir uns am nächsten Wochenende zu siebt in der besagten Küche drängelten, war das für "Tigger" einfach zuviel. Er dachte nicht daran, ins Haus zu kommen, geschweige denn, in der Küche zu malen. Doch drei Wochen später waren wir nur zu zweit und wurden mit einer kurzen, aber fesselnden Darbietung seiner Kunst belohnt.

Tigger starrte eine Weile auf die weiße Tür des Kühlschranks. Dann ging er zu einer der Untertassen mit dickflüssiger Farbe, die neben dem Kühlschrank standen. und strich mit dem Ballen einer Pfote vorsichtig darüber. Nun stellte er sich gekonnt auf die Hinterbeine und setzte einen sehr feinen, kommaähnlichen Farbfleck in Blau direkt unter den Griff der Kühlschranktür. Das wiederholte er noch dreimal mit verschiedenen Farben, jeweils ein Komma unter dem anderen. Dann warf er noch einen kurzen, fast gelangweilten Blick auf sein Werk und schlenderte nach draußen, um seine Pfoten zu putzen. Das Ganze dauerte nur ein paar Minuten und war von einer lässigen Anmut - als sei das alles das Selbstverständlichste von der Welt.

Rexkatze Pinkle sortiert die magnetischen Buchstaben am Kühlschrank systematisch nach Farbgruppen. Man weiß nicht, ob
 Farben für Katzen eine spezielle Bedeutung haben. Aber ganz offensichtlich können sie Primärfarben unterscheiden, und
 einigen macht es offenbar Spaß, damit zu spielen. Versuche, solche Kompositionen aus Gebrauchsgegenständen mit
Collagen und Skulpturen von Marcel Duchamp zu vergleichen, sind jedoch gescheitert.
Viele Leute, die zum erstenmal eine Katze beim Malen beobachten, empfinden das gleiche wie wir: Es wirkt so natürlich, daß sie sich erst später fragen, warum die Katze das tut. Aber dann stürmen mit einem Schlag gleich auch noch viele andere Fragen auf sie ein. Versucht das Tier etwas darzustellen, vielleicht einen Gegenstand oder eine Gemütsverfassung, und wenn ja, warum? Will die Katze uns oder einer anderen Katze etwas mitteilen, oder malt sie nur, um ihre eigene Gefühlswelt zu erforschen? Gibt es wirklich Katzen, die ein ästhetisches Empfinden haben, oder ist ihre Kunst einfach nur eine Form der Reviermarkierung, wie viele Biologen meinen? Heute sind wir der Antwort auf solche Fragen viel näher als damals vor fünfzehn Jahren, als wir die ersten Fotos sahen. Seitdem hat man viele neue Erkenntnisse über Katzenmalerei gewonnen. […]

Das Markierungsverhalten bei Katzen

Die Verhaltensforschung tut sich mit der These schwer, daß Katzen aus ästhetischen Motiven malen. Statt dessen versuchte man dieses Phänomen entweder als instinktives Verhalten zur Reviermarkierung oder als spielerisches Abreagieren überschüssiger Energie zu erklären. Diese letzte Einschätzung führte zu Aussagen wie: "Die völlig selbstvergessene, hemmungslose Art und Weise, in der manche Katzen sich auf die Leinwand stürzen und Farben in alle Richtungen verspritzen, beweist, daß die 'Katzenkunst' nur Ausdruck eines zwanghaften Spieltriebs ist. Die zufälligen Farbschmierereien, die dabei entstehen, haben nicht die geringste Bedeutung." (M. Gimlet).

Wenn man diesen Gedanken konsequent weiterdenkt, dürfte man aber auch einen Großteil der modernen menschlichen Malerei nicht als Kunst anerkennen. Die Werke eines Jackson Pollock, eines Willem de Kooning und vieler anderer abstrakter Expressionisten könnte man aus ähnlichen Gründen ablehnen.

Pinkle: Rot nach oben, 1992. Plastikbuchstaben auf
Kühlschranktür, 52 x 78 cm. Fotografische Sammlung des
Museums für Nicht-Primaten-Kunst, Tokio.
Nachdem Pinkle 45 Minuten lang sortiert hatte, vollendete
 sie ihr Werk, indem sie alle roten Buchstaben nach oben
 setzte. Es scheint sich hier um eine Tätigkeit zu handeln,
die ihren Lohn ausschließlich in sich selbst trägt - also
tierische Kunst als Selbstzweck im Sinne von Desmond
 Morris. Denn obwohl ihr Besitzer sie immer wieder dazu
zu ermuntern versucht: Pinkle tut das ausschließlich dann,
wenn sie es will. Hinter diesem Ordnen der Buchstaben
nach Farben scheint kein anderer Beweggrund zu
stecken als das rein ästhetische Vergnügen,
 das diese Tätigkeit ihr bereitet.
Schon ernsthafter ist der Ansatz jener Verhaltensforscher, die Katzenmarkierungen als Teil ihres Revierverhaltens betrachten. Sie verweisen darauf, daß Hauskatzen sich dabei nicht nur auf ihre Duftmarken aus Kot oder Urin beschränken, sondern ihre Gebietsansprüche zusätzlich auch noch markieren, indem sie mit der Pfote sorgfältig Linien ziehen, die von diesen Fäkalien ausgehen. Wir alle haben sicher schon einmal Gelegenheit gehabt, eine Katze dabei zu beobachten. Sie kratzen deutliche, lange Furchen in die Erde oder Katzenstreu, die wie ein Pfeil auf die Endprodukte ihrer Verdauung zeigen.

Diese Gebietsmarkierung können fremde Katzen auch dann noch gut erkennen, wenn der Geruch der Fäkalien sich schon längst verflüchtigt hat. Um diese Markierungen noch zu erweitern, bringen manche Katzen mit der Erde, die dabei an ihren Pfoten hängenbleibt, noch deutlicher sichtbare Zeichen an einer vertikalen Oberfläche an - zum Beispiel an einem Baumstamm oder an einer Mauer.

Viele Verhaltensforscher halten die Katzenmalerei lediglich für eine Erweiterung dieser instinktiven, vertikalen Markierungsaktivitäten. Wenn man sie nach den Gründen dafür fragt, bekommt man die Erklärung, daß Katzen dazu durch den Geruch der Ammoniaksalze angeregt werden, die Acrylfarben enthalten, damit sie schneller trocknen. Diese Ammoniaksalze riechen ähnlich wie Katzenurin. Diese Annahme ist sicherlich berechtigt; doch inzwischen scheinen Katzen hauptsächlich aus ästhetischen Motiven zu malen.

Wissenschaftliche Untersuchungen haben ergeben, daß Katzen etwa drei
Prozent der Zeit, in der sie spielen oder jagen, auf dem Rücken liegend
verbringen und dabei alles verkehrt herum betrachten. Neuerdings vermutet
 man, daß dies ein Grund dafür sein könnte, warum Katzen Gegenstände
 auf den Kopf stellen, wenn sie gegenständlich malen - eine Kunstrichtung
 namens "Invertismus", die man erst vor kurzem entdeckt hat.
Was den ersten Anstoß für die künstlerischen Äußerungen von Katzen gegeben hat, werden wir wohl nie wirklich ergründen können. Aber es spricht doch vieles für die Annahme, daß sich dieses Markierungsverhalten bei Hauskatzen, die es kaum noch nötig haben, ihr Revier abzugrenzen, in einigen seltenen Fällen zu einer Aktivität weiterentwickelt, die - so Desmond Morris im Zusammenhang mit malenden Schimpansen - "ihren Lohn in sich selbst trägt". Solche Aktivitäten dienen keinem elementaren biologischen Ziel, sondern sind eher Selbstzweck. Sie sind normalerweise bei Tieren zu beobachten, die ihre Überlebensprobleme unter Kontrolle haben und bei denen ein Überschuß an nervöser Energie besteht, der anscheinend irgendwie ausgelebt werden muß.

Hinter der Katzenmalerei scheint aber noch ein anderes Motiv zu stehen. In diesen Gemälden zeigt sich eine erstaunliche Fähigkeit, Formen und Strukturen wahrzunehmen und kreativ damit umzugehen. So wissen wir zum Beispiel, daß manche Hauskatzen offenbar Vergnügen daran finden, Gegenstände in verschiedenen Farben räumlich anzuordnen. 1992 veröffentlichte der Guardian Weekly einen Bericht über einen Kater in Seattle, der Gummibärchen nach Farben sortieren konnte. Und in San Francisco verbrachte eine Rexkatze zwei Stunden damit, sorgfältig magnetische Buchstaben an einer Kühlschranktür nach Farben zu ordnen. Beide Tiere gehen völlig in dieser Beschäftigung auf, die keinen anderen Zweck zu haben scheint als das ästhetische Vergnügen.

Busters Version der Sonnenblumen von Vincent van Gogh ist ein gutes
Beispiel für die Kunstrichtung des Invertismus. Wenn man das Bild aus einer
rein visuellen Perspektive betrachtet, stellt die gebogene braune Linie ganz
 oben deutlich die dunkle Linie von Tischkante und Vasenboden dar, wie
 die nächste Abbildung verdeutlicht.
Daß manche Katzen zu gegenständlichen Darstellungen fähig sind, wurde erst vor kurzem beinahe zufällig entdeckt. Wie bereits erwähnt, begann Arthur C. Mann im Jahr 1982 das kreative Markierungsverhalten eines rothaarigen Katers namens Orangello in Sussex zu untersuchen. Gegen Ende seiner Untersuchungen betrachtete er zufällig einige von Orangellos Gemälden verkehrt herum und entdeckte, daß sie zum Teil eine recht deutliche Ähnlichkeit mit Gegenständen im Haus aufwiesen. Weitere Untersuchungen an einer weiblichen Katze überzeugten ihn im Jahr 1983 schließlich, daß manche Katzen tatsächlich zu ungefähren Darstellungen von Gegenständen fähig sind. Aber aus unerfindlichen Gründen stellen sie die Dinge dabei immer auf den Kopf. Leider starb Dr. Mann, bevor er seine Forschungen zu diesem Thema abschließen konnte; doch obwohl er niemals eine befriedigende Erklärung für dieses Phänomen fand, prägte er dafür den Begriff "Invertismus".

Spätere Forschungsarbeiten von Dr. Peter Hansard mit "Ching Ching" in Cambridge (1987) und Dr. Delia Bird mit "Eliot" in Oxford (1990) haben Manns Thesen bestätigt, wenngleich sie zum Teil andere Erklärungen dafür fanden. Hansard baut seinen Erklärungsansatz auf der Tatsache auf, daß Katzen ungefähr drei Prozent der Zeit, in der sie spielen und jagen, auf dem Rücken liegend verbringen und dabei zwangsläufig alles verkehrt herum sehen. Durch Messungen der Erweiterung ihrer Pupillen konnte er nachweisen, daß Katzen sich in dieser Position in einem Zustand stärkerer gefühlsmäßiger Erregung befinden. Seine Begründung: "Die Katze nimmt das auf dem Kopf stehende Objekt als etwas Fremdes wahr, das in ihr Revier eindringt. Später malt und markiert sie es, um es sich gleichsam zu unterwerfen." Dabei "stellt sie zunächst das Objekt oder einen Teil davon in der ungewohnten Form - das heißt, verkehrt herum - dar, um es dann mit der bekannten pfeilförmigen Reviermarkierung zu versehen, wie sie es auch bei ihren Fäkalien tut. Damit erhebt die Katze Anspruch auf das ,eingedrungene' Objekt und ergreift Besitz davon, so daß es keine Bedrohung mehr für sie darstellt."

Die blauen Linien hingegen sind die Blumen. Verhaltensforscher sehen in
 diesen blauen Zeichen jedoch Reviermarkierungen, die eine ähnliche
 Funktion haben wie die pfeilförmigen Kratzspuren, mit denen Katzen auf
ihre Fäkalien hinweisen. Im Gemälde signalisieren diese Zeichen einen
 Besitzanspruch auf das auf den Kopf gestellte Motiv.
Delia Bird dagegen ist eher der Ansicht, daß der Invertismus ästhetisch begründet ist. Ihre Forschungen ergaben, daß die Gegenstände, die die Katze richtig herum betrachtet hat, in den späteren Zeichnungen der Katze ebenso häufig verkehrt herum dargestellt sind wie andere Gegenstände, die auf dem Kopf stehend betrachtet wurden. Darüber hinaus stellte sie fest, daß man viele Linien, die Hansard als Reviermarkierungen betrachtet, ebensogut als Teil des gemalten Objekts interpretieren könnte. Sie kommt zu dem Schluß, daß Katzen die Dinge möglicherweise immer dann auf den Kopf stellen, wenn sie gegenständlich malen, "... um Form und Struktur ihres Motivs aus einer neuen, unverbrauchten Perspektive zu erkunden und dabei abstrakte Gesichtspunkte hervorzuheben."

Letztendlich konnte bisher keine dieser beiden Thesen bewiesen werden. Interessant ist aber doch, daß der bekannte deutsche Maler Georg Baselitz seine Motive ebenfalls verkehrt herum malt und damit bewußt einen Gegensatz zu gewohnten Sichtweisen sucht. Dies scheint für Delia Birds These zu sprechen.

Wir sind sicherlich nicht mehr weit von einer schlüssigen Theorie des Markierungsverhaltens bei Katzen entfernt. Ein Stückchen näher ist sie bereits durch die Arbeit von Dr. Peter Williams gerückt, der die Abteilung für angewandte Ästhetik am Rudkin College in Dallas leitet. Interessante Beweise für ein ästhetisches Empfinden bei Katzen ergab eine Reihe von Versuchen, die er 1987 durchführte. Er wollte feststellen, inwieweit Hauskatzen eine Vorliebe für bestimmte menschliche Kunstwerke an den Tag legen. Dabei ergab sich, daß Katzen ein besonderes Interesse an Bildern von van Gogh zeigen. Vielleicht besteht zwischen ihrem Malstil und den spontanen, wirbelnden Pinselstrichen des holländischen Künstlers eine enge Verwandtschaft.

Katzen zeigen eine deutliche Vorliebe für Gemälde van Goghs. Man führt das unter anderem darauf zurück, daß sie sich
von dem spontanen, kräftigen Pinselstrich des Künstlers angesprochen fühlen.
Anscheinend regen Felder geringer elektromagnetischer Spannung Katzen zum Malen an. Peter Williams hat diese Felder
 "harmonische Resonanzpunkte" genannt. Obwohl van Goghs Sonnenblumen ganz in der Nähe hingen, wurde dieser
Harlekin-Kater wahrscheinlich sehr viel mehr durch eine Schwingungsresonanz inspiriert als durch das Kunstwerk des
 Holländers, zu dem seine Malerei übrigens auch kaum eine Beziehung hat.
Daher hängte Williams vier Van-Gogh-Poster an die Wand, und zwar so tief, daß die Katzen sie mühelos betrachten konnten. Sechs Wochen lang notierte er sich genau, wie lange jede Katze vor jedem einzelnen Bild saß. Das Ergebnis war erstaunlich: Alle drei Katzen, zwei Siamesinnen und ein Harlekin-Kater, verbrachten 83,3 Prozent der Zeit, die sie aufrecht saßen, vor van Goghs Sonnenblumen und starrten sie fasziniert an. Um ganz sicherzugehen, tauschte Williams die Bilder aus. Nun verbrachten die Katzen 81 Prozent ihrer Zeit vor dem Nachtcafé! Wieder hängte er nach sechs Wochen die Bilder um und stellte fest, daß jetzt die Kirche von Auvers am beliebtesten war. Was ging da vor?

"In experimentellen Situationen", schrieb Williams später, "ist man manchmal so besessen von seiner Hypothese, daß man auf die naheliegendsten Erklärungen gar nicht kommt. Ich hätte viel früher erkennen müssen, daß weder die Bilder noch ihre Position etwas mit dem Verhalten der Katzen zu tun hatten. In Wirklichkeit saßen die Tiere einfach aus irgendeinem Grund besonders gern an einem bestimmten Platz im Zimmer, unabhängig von dem Bild, das zufällig dort hing." Auch die Art, wie sie vor dem Bild saßen, erweckte den Eindruck, als hätten sie Freude daran: "Sie saßen mit halbgeschlossenen Augen da, schnurrten und wiegten ihren Oberkörper manchmal leicht vor und zurück, als sei das Bild vor ihnen einer der herrlichsten Anblicke der Welt - was van Goghsche Gemälde für uns Menschen ja auch tatsächlich sind."

Maxwell: Blaue Blumen, 1991. Textilfarbe auf gelbem
 Karton, 48 x 72 cm.
Vermutlich ließ Maxwell sich zu diesem Bild durch van
 Goghs berühmte Schwertlilien anregen. Ein Druck von
diesem Bild hängt über dem Bett der Besitzerin.
wo der Kater jede Nacht schläft.
Ein Schüler von Williams verfolgte die täglichen Wege von zehn Katzen mit Hilfe kleiner Funksender und fand heraus, daß vier der Tiere ganz bestimmte Lieblingsplätze hatten, wobei Wärme, Geruch oder Revieransprüche kaum eine Rolle spielten. Die Katzen machen hier einfach halt, bleiben gleichsam mitten im Nirgendwo sitzen und fangen an zu schnurren, als sei ihnen gerade eine höchst erfreuliche Idee gekommen. Das Faszinierende daran war: Genau zu diesem Zeitpunkt - und nur dann - wurden kleine Mengen niedrigfrequenter elektrischer Ströme von den kleinen Sendern registriert, die die Katzen trugen.

Allem Anschein nach sind Katzen fähig, solche geringen, örtlich begrenzten Spannungsfelder oder Meridiane wahrzunehmen und sich für ihre künstlerischen Aktivitäten zunutze zu machen. Peter Williams bezeichnet diese Orte als "harmonische Resonanzpunkte" und meint, daß sie bei der Motivation der Katzen zum Malen eine wichtige Rolle spielen könnten. Es scheint wohl so zu sein, denn inzwischen haben vier weitere Forschungsarbeiten unabhängig voneinander bestätigt, daß von den wenigen Katzen, die malen, fast alle lange Zeit an solchen Resonanzpunkten sitzen, ehe sie ans Werk gehen.

Zwar weiß man bisher nicht, warum das so ist - aber die Katze scheint eine gewisse Kraft aus diesen Feldern zu beziehen. Sicherlich gibt es Katzen, meist junge und unerfahrene, die ahnungslos in ein solches Energiefeld hineinstolpern und dann plötzlich von einer so überwältigenden Energie durchströmt werden, daß sie wie verrückt durch die Gegend rasen.

Die typische Haltung einer Katze, wenn sie an einem harmonischen
Resonanzpunkt sitzt. Die Augen sind halb geschlossen, meist schnurrt die
 Katze auch und wiegt sich sanft vor und zurück. Fast alle malenden Katzen
 verbringen mindestens zehn Minuten an einem solchen Punkt, ehe sie mit
einem neuen Werk beginnen. Das läßt darauf schließen, daß sie irgendeine
 Inspiration aus diesen unsichtbaren Niedrigfrequenz-Energiefeldern beziehen.
Möglicherweise lenkt die Katze diese Energie durch ihr Schnurren in die gewünschten Bahnen, oder sie imitiert damit die Schwingung des harmonischen Resonanzpunkts, was ihr eine Art Ersatzbefriedigung verschafft. Bis jetzt sind das alles nur Vermutungen. Aber die harmonischen Resonanzpunkte könnten sehr wohl der Schlüssel zu einer Erklärung dafür sein, wie ästhetische Reaktionen bei Katzen zustande kommen. Inspiriert diese Energie die Katzen zum Malen, oder stellen sie diese Kraft in ihren Gemälden lediglich dar? Und was vielleicht noch wichtiger ist: Liegt es womöglich an der Einwirkung sich kreuzender Ley-Linien, daß wir Dinge auf eine ganz bestimmte Art und Weise wahrnehmen und den Wunsch verspüren, sie zu malen? Vielleicht können wir noch viel über menschliche Kunst lernen, indem wir die Kunst von Katzen studieren.

Misty. Die formale Expansionistin

Misty wurde hauptsächlich durch den bildhaften, symbolträchtigen Charakter ihrer Werke bekannt. Die eleganten, zweifarbigen Motive von bis zu zehn Meter Länge wecken eine Vielfalt an Assoziationen und fordern unterschiedliche Interpretationen geradezu heraus. Bei ihrem neueren Bild Kleiner Sprung aus Übermut ist die Oberfläche über und über mit kurzen, schwarzen Vertikalen bedeckt, die eine längliche, gewundene Form voller Dynamik ergeben. Die Spannung sammelt sich unten, baut sich nach oben hin auf und strömt in den ovalen oberen Teil über, wo sie sich wieder abbaut (oder jäh abbricht?). Das Faszinierende an dieser Arbeit ist neben ihrer offenkundigen technischen Brillanz ihre starke Symbolik. Verbunden mit einer gewissen Unsicherheit im Hinblick auf den Kontext regt sie zu vielen verschiedenen Deutungen an.

Mit raschen Strichen legt Misty zuerst die rosafarbenen Spannungsbereiche an. - Die Aktionsstruktur des Gemäldes besteht
 aus dichtgedrängten schwarzen, senkrechten Linien, die eine Reihe miteinander verbundener Kurven bilden.
Misty bestand darauf, daß ihr Frauchen ihr einen Hocker an diese Stelle rückte, damit sie die obere Kurve zu ihrer
 Zufriedenheit fertigstellen konnte. Viele von Mistys Bildern reichen über die Leinwand hinaus, einige beziehen sogar
den Fußboden mit ein.
Mistys Besitzerin Zenia Woolf neigt zu der Ansicht, daß dieses Bild sich mit einem Vorfall auseinandersetzt, bei dem ihr vierjähriger Sohn Misty vom Balkon aus absichtlich mit einem Gartenschlauch naßgespritzt hat. Für Mrs. Woolf stellen die rosafarbenen Motive eindeutig den gekrümmten Rücken einer Katze dar, die sich mit raschen Sätzen vor einer Gefahr in Sicherheit bringt. Die langen schwarzen Striche dagegen geben das Wasser wieder, das von oben auf die Katze herniederprasselt. Mrs. Woolf ist überzeugt: Die Katze wußte, daß ihr Werk nicht verstanden werden würde, wenn es sich auf den Karton begrenzte. Als Misty die Wand nicht mehr weiter bemalen konnte, weil sie nicht so hoch hinaufreichte, miaute sie so lange, bis ihre Besitzerin ihr einen Hocker hinstellte. In den Augen der Besitzerin beabsichtigte Misty mit ihrem Gemälde, den erschreckenden Vorfall so klar wie möglich darzustellen und das Kind möglichst von weiteren Quälereien abzuhalten.

Michael Dover von der Orion Art Gallery in North York, Toronto, neigt jedoch eher zu einer anderen Deutung. Er findet, daß man es sich zu leichtmacht, wenn man traumatische Ereignisse aus dem Leben der Katze in dieses Werk hineininterpretiert. Mit Recht weist er darauf hin, daß Misty in der Woche, bevor sie das Bild fertigstellte, mit ihrer Familie nach Port Credit gefahren war. Auf der Rückfahrt zog der Sohn der Woolfs Misty am Schwanz. Sollten wir uns deshalb in Mutmaßungen über die Tatsache ergehen, daß die Form des Gemäldes fast genau den Verlauf der Küstenstrecke zwischen Port Credit und Toronto wiedergibt? Ganz sicher haben Katzen einen außergewöhnlichen Orientierungssinn. Dennoch ist es unwahrscheinlich, daß Misty die Küstenlinie auch aus der Vogelperspektive kennt - es sei denn, sie wäre die Strecke auch schon einmal geflogen.

Misty: Kleiner Sprung aus Übermut, 1993. Acrylfarben auf Karton und
 Wand. 120 x 170 cm. North York, Toronto.
Mistys Bilder werden vor allem wegen ihrer starken und zugleich
vieldeutigen Symbolik geschätzt, die zu sehr unterschiedlichen Auslegungen
 anregt. Die Faszination dieser Art von Katzenkunst liegt gerade in ihrer
 Unverständlichkeit, die den Betrachter herausfordert und neugierig macht.
Dover sucht deshalb lieber nach einem funktionelleren Zugang zu diesem Werk. Seiner Ansicht nach stellt das Bild wichtige Aspekte der Strategie einer Katze beim Springen dar. Die gekrümmten schwarzen Linien beschreiben den Sprung selbst. Die Darstellung beginnt mit der Kauerstellung einer Katze, die zum Sprung in die rechte Bildhälfte ansetzt. Der rosafarbene Bildteil stellt - auf einige wenige, aussagekräftige Pfotenhiebe reduziert - die Landung der Katze dar.

Die Kunstkritikerin Emma Way interpretiert das Werk ähnlich, in ihren Augen allerdings springt die Katze in die andere Richtung - von oben nach unten -, und die rosafarbenen Motive stellen die kritischen Absprungpunkte dar, die über Erfolg oder Mißerfolg der Aktion entscheiden. Andere Kritiker sehen darin einen nach rechts springenden Saurier, wieder andere ein Eichhörnchen, das von rechts nach links hüpft. Letztendlich können wir niemals hundertprozentig sicher sein, was Misty wirklich gemeint hat. Aber das ist auch nicht das eigentlich Entscheidende. Viel wichtiger ist, daß wir niemals aufhören, uns Gedanken darüber zu machen und unsere Deutungen zu hinterfragen: Durch die suggestive Vieldeutigkeit ihres Werks regt die Künstlerin uns bewußt zu immer neuen lnterpretationsansätzen an.

Quelle: Heather Busch und Burton Silver: Warum Katzen malen. Eine Theorie der Katzen-Ästhetik. Benedikt Taschen Verlag, Köln 1995. ISBN 3-8228-8812-5. Seiten 10-11, 26-35, 55-57


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  1. Very nice text!
    Unfortunately not my language and automatic translation is not very effective... but really appreciated, thanks.

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