Wie zu erwarten, wurde der älteren Generation der Vortritt gelassen: daher wurden Boito, Faccio und Ponchielli nicht berücksichtigt, aber es tauchten die Namen von Coccia und Mabellini auf, die sich zu der Zeit recht großer Popularität erfreuten. Verdi selbst äußerte eine Vorliebe für die Vertonung des Libera me, denn er hatte diese Worte immer bewundert, als er noch regelmäßig Orgel in der Kirche spielte. Das Komitee willigte zunächst ein, änderte dann allerdings seine Meinung und wies Verdi das Dies irae zu; schließlich kehrte man jedoch zu der ursprünglichen Entscheidung zurück. Obwohl der eigentliche Plan abgeändert werden mußte (Mercadante war inzwischen zu alt und unsicher, um eine solche Aufgabe anzugehen, und Petrella lehnte ab), wurde die Messe rechtzeitig fertig, doch die Aufführung fand nie statt.
Der Direktor der Oper in Bologna lehnte es ab, seinem Orchester die nötige Probenzeit zu bewilligen, da dadurch die Einnahmen der Opernsaison zu sehr gemindert würden und er schließlich eine Frau und mehrere Kinder zu ernähren habe. Es wurde daraufhin der Vorschlag gemacht, das Requiem in Mailand aufzuführen, doch Verdi, unnachgiebig wie immer, wollte von dieser Idee nichts wissen; das ganze Projekt, so sagte er, würde damit völlig seinen ursprünglichen Zweck verfehlen. Die Messe müsse in Bologna gegeben werden oder überhaupt nicht. So schickte man die meisten der Autographen an die Komponisten zurück, und die schön leserlichen Kopien blieben in den Archiven des Verlags Ricordi, wo sie auch heute noch liegen.
Zwei Jahre später pries Mazzucato, der Mitglied des Komitees gewesen war, das Libera me in einem Brief an Verdi in den höchsten Tönen. Verdi antwortete darauf, daß ein solches Urteil von so einem verehrten Kollegen ihn fast in Versuchung führe, später einmal die ganze Messe zu schreiben, “um so mehr als ich, bei einigerer ausführlicherer Entwicklung das Requiem und das Dies irae schon fertig hätte, deren letzter Nachhall ja in dem bereits komponierten Libera me zu finden ist".
Der junge Guiseppe Verdi [Quelle: Internationale Giuseppe Verdi Stiftung] |
In der Zwischenzeit protestierte Verdi Mazzucato gegenüber, daß es schon genug Requien gäbe und daß noch eines recht überflüssig sei, und er hasse überflüssige Dinge. Doch der Same fiel auf fruchtbaren Boden und ging nach Manzonis Tod im Jahre 1873 auf. Manzonis berühmter Roman I promesi sposi war schon zu Verdis Jugendzeit ein Klassiker. Man bezeichnete ihn sogar als den ‘italienischen Walter Scott’, doch es gibt einen wichtigen Unterschied: Manzonis Arbeit ist von einer tiefen Religiosität durchzogen, einem tief empfundenen und freien katholischen Glauben, und davon fühlte sich Verdis Generation stark angesprochen.
Verdi selbst erachtete den Roman als eine der genialsten Arbeiten eines menschlichen Geistes und seinen Autor als eine Art Heiligen seiner Zeit. (Er hatte es sogar schon einmal in Erwägung gezogen, La notte dell’Innominato — die Nacht, in der ein Räuberbaron bekehrt wird — als dramatische Szene zu vertonen.) Allerdings finden wir hier ein Paradox vor, denn Verdi war in seinen Ansichten nicht nur anti-kirchlich, sondern stritt auch jede religiöse Regung ab, was denjenigen, die ihm nahestanden, oftmals Kummer bereitete. Doch das Paradox erstreckt sich auch auf seine Musik, die enorme geistliche Höhen erreicht, jedoch jegliche konventionelle Frömmigkeit vermeidet.
Die Premiere, die am 22. Mai 1874 in Mailand in der Kirche von San Marco stattfand, war ein Ereignis von nationaler Bedeutung. (Der deutsche Dirigent Hans von Bülow äußerte sich damals spöttisch — ja, das ist zwar wahr —, doch wurden ihm diese Worte sein Leben lang vorgeworfen, und er bat den Komponisten später unterwürfig um Verzeihung.) Dies war jedoch noch nicht die endgültige Fassung, denn einige Wochen nach der Premiere entschied Verdi sich, das als Fuge gesetzte Liber scriptus als Solo für seinen Mezzosopran Maria Waldmann umzuschreiben. Es erklang zum ersten Mal am 12. Mai 1875 bei einer Aufführung in der neuerbauten Royal Albert Hall in London. Verdi hätte es ebensogut in der kürzlich vorangegangenen Pariser Aufführung vorstellen können, doch vielleicht, so schrieb er an die Sängerin, würde es dem Publikum mißfallen, und die Franzosen würden es kritisieren. Die unmusikalischen Engländer würden das vermutlich nicht tun.
Der junge Luigi Cherubini. [Bilder des alten/toten Luigi Cherubini sind hier] |
Verdi, dem es ohnehin immer um den musikalischen Gesamtausdruck ging, gelang es, dieses Dilemma völlig zu vermeiden. Sein Kontrapunkt ist lebhaft und frisch und hat nichts Schulmeisterliches an sich (Sanctus, Libera me); an anderer Stelle scheut er sich nicht, auf Mittel zurückzugreifen, die sich in seinen Opern bestens bewährt hatten: der harmonische Seitensprung im Domine Jesu (Rigoletto), die Fanfaren von verschiedenen Orten im Tuba mirum (Aida) und die spannungsgeladenen Harmonien im Requiem aeternam (Macbeth, zweite Fassung).
Das Lacrymosa hat einen direkten Bezug zur Oper, denn es war ursprünglich ein Duett für Tenor, Baß und Chor, das Verdi 1866-67 für die erste Fassung seines Don Carlos geschrieben hatte, dann aber wieder verwarf. Merkmale wie diese, in Verbindung mit der unerschrockenen Theatralik von Nummern wie dem Dies irae, schreckten manche ab, für die ein Requiem eine Angelegenheit ernsthafter Trauer und Strenge zu sein hatte. Der Großteil der Zuhörer fühlte sich jedoch schon immer von der Pracht, der Dramatik und der eindeutigen Aufrichtigkeit von Verdis großartiger Schöpfung angesprochen; denn Musik von solcher ehrfurchtgebietender Kraft hätte nicht von einem Komponisten geschrieben werden können, der nicht wirklich von den Texten berührt war, die er vertonte — Texte, die letztendlich für jede lebendige Seele genauso viel Drama haben, wie die Librettos von Aida oder Don Carlos, die Opern, an denen Verdi zur gleichen Zeit arbeitete.
Quelle: Julian Budden [Übersetzung: Martina Parkes], im Booklet
Cherubini: Requiem c-moll
Luigi Cherubini wurde 1760 in Florenz geboren. Vier Jahre jünger als Mozart, überlebte er diesen um mehr als ein halbes Jahrhundert. Auf Drängen seines Landsmannes, des Komponisten Giovanni Battista Viotti, hatte Cherubini sich 1787 in Paris niedergelassen. Während der Großen Revolution gehörte er zu den berühmtesten Musikern Frankreichs und wurde 1795 als einer von fünf Professoren an das neugegründete „Conservatoire de Musique“ berufen, dem er von 1822 bis 1842 als Direktor vorstand.
1816 komponierte er sein Requiem in c-moll für vierstimmigen gemischten Chor und Orchester im Auftrag Louis XVIII. Dem c-moll Requiem ließ Cherubini 1836 ein weiteres in d-moll, für Männerchor und großes Orchester, folgen, das für seine eigene Totenfeier bestimmt war.
CD 1, Track 10: Verdi: Messa da Requiem. II. Dies irae - Ingemisco
TRACKLIST Compact Disc 1 65.24 Giuseppe Verdi 1813-1901 Messa da Requiem No.1 - Requiem e Kyrie 01 Requiem aeternam 5.14 02 Kyrie eleison 3.52 No.2 - Dies irae 03 Dies irae 2.04 04 Tuba mirum 1.54 05 Mors stupebit 1.24 06 Liber scriptus 5.02 07 Quid sum miser 3.59 08 Rex tremendae majestatis 3.52 09 Recordare 4.21 10 Ingemisco 3.41 11 Confutatis maledictis 5.11 12 Lacrymosa dies illa 6.42 No.3 - Offertorio 13 Domine Jesu Christe 10.09 14 No.4 - Sanctus 2.26 15 No.5 - Agnus Dei 5.25 Compact Disc 2 69.56 01 No.6 - Lux aeterna 6.49 02 No.7 - Libera me 13.54 Renata Scotto soprano/Sopran Agnes Baltsa mezzo-soprano/Mezzosopran Veriano Luchetti Tenor/ténor Evgeny Nesterenko bass/Baß/basse Recorded/Aufgenommen/Enregistre: VI.1979, Kingsway Hall, London Balance Engineers/Tonmeister/Ingénieurs du son: Neville Boyling & Peter Bown Luigi Cherubini 1760-1842 Requiem in C minor/c-moll/ut mineur 03 Introitus et Kyrie 7.18 04 Graduale 1.42 05 Dies irae 10.08 06 Offertorium 16.33 07 Sanctus 1.20 08 Pie Jesu 3.49 09 Agnus Dei 7.50 Recorded/Aufgenommen/Enregistre: VII.1980 Kingsway Hall, London Balance Engineers/Tonmeister/Ingénieurs du son: Peter Bown --------------------------------------------------------------- Ambrosian chorus Chorus Master/Chorleitung/Chef des choeurs: John McCarthy Philharmonia Orchestra conducted by/Dirigent/direction Riccardo Muti Producer/Produzent/Directeur artistique: John Mordler (P) 2004
CD 2, Track 8: Cherubini: Requiem in C minor. VI. Pie Jesu
Räderuhren und Gangunterschiede
Eine Erfindung ohne Erfinder
Heinrich Seuse erscheint die göttliche Milde in Gestalt einer kunstvollen Uhr. Illustration aus "Horologium Sapientiae", Meister von Jean Rolin II, um 1455. |
Viel Staub konnte er nicht aufwirbeln, solange die Erfindung der Hemmung lediglich den Vorschlag des Robertus Anglicus von 1271 realisierte, auch ihn bloß zur Hälfte. Die neue Maschine sollte durchaus nicht die alte Zeitordnung umstürzen. Es war Fortschritt genug, wenn man das Astrolab, nach Art einer Wasseruhr mechanisiert, nur einmal morgens, einmal abends neu einstellte; dann zeigte es so gut wie bisher die ›krummen‹ Temporalstunden des folgenden Tags und der nächsten Nacht, die das Leben noch immer beherrschten und auf Astrolabien an den Kurven der Einlegescheibe abzulesen waren. Bei Tag und Nacht mußten Fachleute nicht mehr für jede Zeitansage umständliche Messungen anstellen, und Laien brauchten nicht mehr die Hände, um die Stunde zu erfahren, nur die Augen, nachts sogar bloß die Ohren. Daß die neue Maschine ein Schlagwerk erhielt, also zusätzlich die Funktion einer Glocke übernahm, veränderte das Zeitgefühl nicht von Grund auf. Wenn jetzt kleinere Zeitmaße als die sieben Stundengebete und die zwölf Temporalstunden vom Turm verkündet wurden, war es zunächst noch immer der Glöckner, der sie von Hand läutete, sobald ihn das Schlagwerk weckte.
Trotzdem setzte sich der Kerngedanke des Robertus Anglicus durch, weil die Maschine beinahe automatisch den gleichförmigen Äquinoktialstunden einen Vorrang verschaffte. Wer die Uhr nicht zweimal täglich justieren mochte, hatte nur noch das Räderwerk von Fall zu Fall aufzuziehen, sobald er Zeiger und Schlagwerk auf die ›geraden‹ 24 Stunden umstellte, die dem Vollkreis am Außenrand des Astrolabs entsprachen. Sie wurden von den Fachleuten als ›natürliche‹ Stunden favorisiert; die Laien lasen sie leicht ab, von einenm Zifferblatt. Alle technischen und gelehrten Vorteile hätten freilich wenig bewirkt, wäre die Umstellung nicht zugleich der Mentalität von Stadtbürgern entgegengekommen. Ihre Tagesarbeit, immer öfter durch Werkzeuge terminiert und durch Geldzahlung entlohnt, sollte innerhalb der Stadtmauern kalkulierbar und kontrollierbar, mithin gleichförmig sein; so mußte es die gemeinsame Uhr für Arbeitgeber und Arbeitnehmer ebenfalls sein.
Älteste Darstellung der Sanduhr, in der Hand der Temperantia, Gemälde von Ambrogio Lorenzetti (Ausschnitt) im Friedenssaal des Palazzo Communale von Siena 1338. |
Daß es sichtbar am Kirchturm hing und hörbar die Stunde schlug, vereinheitlichte die Zeit nur im Kirchturmshorizont. Man zählte die Tagesstunden von Ort zu Ort anders: kleine Uhr, große Uhr, ganze Uhr, und selten begann man um Mitternacht wie wir. Trotzdem erschütterte die Räderuhr das Zeitbewußtsein des Spätmittelalters dadurch, daß sie die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aufdeckte. Sie schuf nicht ›die Neuzeit‹ und schon gar keine ›Weltzeit‹‚ wie Fortschrittsgläubige schwärmen; sie blockierte Bacons Synthese und ermutigte wenigstens vier Zeitauffassungen mit beträchtlichen ›Gangunterschieden‹. Alle vier verstanden die Uhr als Sinnbild für gemessene Lebensgestaltung inmitten chaotischer Umstände; jedoch waren die Zeichen am Zifferblatt nur schneller lesbar, nicht leichter deutbar als die Lettern des Buchs, mit dem Gelehrte die Welt vorher verglichen hatten.
Die beiden nichtgelehrten Symbolisierungen predigten Demut. Für die erste, spiritualisierte Zeit der Mystik möge der deutsche Dominikaner Heinrich Seuse stehen, mit seinem ›Horologium sapientiae‹ von 1334. In einer Vision erschien ihm die göttliche Milde des Erlösers in Gestalt einer kunstvollen Uhr, deren wohlklingende Glocken alle 24 Stunden schlugen. Räderuhr und Glockenspiel wurden zum Spiegelbild der Seele. Sie ließ sich durch Betrachtung des leidenden Christus jederzeit, ein Leben lang, zur ewigen Weisheit auferwecken und sich im Augenblick, »im Nu«, über alle äußere Zeit hinwegheben. Die gottliebende Seele empfand diese innere Zeit ähnlich wie Augustin, teilte sie aber allein mit ihrem Herrn, weder mit der Kirchengemeinde noch mit der Stadtkommune.
Quadrant. Eine Seite aus "Tractatus quadrantis veteris" von Robertus Anglicus von Montpellier, [Quelle] |
Zwei gelehrte Theorien predigten Stolz. Eine dritte, atomisierte Zeitvorstellung nutzte die Bruchteile von Stunden, die man zuvor allenfalls hatte berechnen, nicht darstellen können. Jetzt schlug die Turmuhr auch die halben und die Viertelstunden, und schon dachte man in Minuten und Sekunden, die bislang nur von Astronomen gebraucht worden waren. Ließ sich jetzt nicht endlich, wie Firmicus Maternus verlangt hatte, die Einwirkung der Planeten auf das Menschenschicksal zuverlässig ermitteln? Der Oxforder Mathematiker Richard von Wallingford, inzwischen zum Abt von St. Albans befördert, baute um 1330 nicht nur eine planetarische Räderuhr; er stellte Kleinkindern der Königsfamilie auch persönliche Horoskope und legte ihnen damit die ganze Zukunft in die Wiege. Damit fand er zahlreiche Nachahmer.
Der Naturwissenschaftler Nicole Oresme kann den vierten, mechanisierten Zeitbegriff der Spätscholastik vertreten. Oresme beschrieb 1377 in seinem französischen ›Buch vom Himmel und von der Welt‹ das Universum als horloge, als regelmäßiges Uhrwerk, das weder vorgeht noch nachgeht noch stehenbleibt und im Sommer wie im Winter, bei Nacht wie bei Tag seinen Dienst tut. Dann verglich er die Bewegungen der Himmelskörper direkt mit einer Räderuhr, die alle Kräfte durch die Hemmung ausbalanciert. »Das ist so ähnlich, wie wenn ein Mensch ein horloge gemacht hat und in Gang setzt und es sich dann von selber bewegt.« Vor allem die planetarische Uhr wurde zum Abbild des Kosmos, mehr zum verbesserten Astrolab als zum exakten Zeitmesser; ihre Konstrukteure konnten sich mit dem Schöpfer der Weltmaschine vergleichen.
Turmwächteruhr aus St. Sebald in Nürnberg, frühes 15. Jh., heute Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Inventarnummer WI999. Ungewiß, ob mit der ältesten Uhr von 1386 identisch, 16-Stunden-Zifferblatt, ein kleiner Wecker für den Türmer, der dann die Glocke von Hand anschlug. |
Das moderne Zeitsystem der von Menschen gemachten Symbole war also am Ende des 14. Jahrhunderts bereits fertig ausgebaut; aber Europa war weniger denn je geneigt, seine Erdentage durch einen gemeinsamen Nenner zu dividieren. Die Reformkonzilien des frühen 15. Jahrhunderts unternahmen einen neuen Anlauf dazu, nachdem die päpstlichen Ansätze im Schisma steckengeblieben waren. Hatte ein Konzil, das von Nicaea 325, die vergangene Zeitordnung grundgelegt, so mußte ein neues Konzil sie zurechtrücken und damit der kirchlichen Wiedervereinigung die Zukunft sichern. Darum wünschten diese Versammlungen aller geistlichen, politischen und gelehrten Häupter der Christenheit verbesserte Zeitrechnung aufgrund präziser Zeitmessung. Kardinal Pierre d’Ailly trug dem Konstanzer Konzil 1417 eine schon 1411 verfaßte ›Exhortatio super correctione calendarii‹ vor, mit dem zeitkritischen Wortspiel, früher hätten große Männer mehr Sorgfalt verwandt auf die calculatio der Tage und Momente als auf die computatio der Pfennige und Moneten. Trotzdem pries der Franzose die Fortschritte der griechischen und arabischen Astronomen zur praecisa veritas, zur exakten Zeitmessung; ihnen müsse sich das veraltete Wissen christlicher compotistae beugen.
Allerdings repetierte der modernistische Kardinal bloß die alten Vorschläge von Grosseteste und Bacon. Mit Bacons Worten räumte er ein, was seit den Alfonsinischen Tafeln nicht mehr ganz zutraf, »daß uns die wahre Dauer des Jahres noch nicht mit voller Sicherheit bekannt ist«, und empfahl wie einst Reiner von Paderborn, sich am althebräischen Kalender zu orientieren. Worin unterschied sich dann der Fortschritt zur Präzision vom Rückfall in die Tradition? Wenn die Astronomie noch immer keine exakten Daten liefern konnte, zogen es gewissenhafte Konzilsväter vor, das Reformprojekt zu vertagen. Anscheinend war die Wissenschaft mit ihren Messungen noch nicht so weit, und wissenschaftlich mußte die Reform nun einmal sein, wenn ihr die Christenheit vertrauen sollte.
Andere Ansicht der Sebalder Uhr (WI999) |
Nikolaus von Kues hatte dieses Achselzucken der Laien vor Augen, als er für das Baseler Konzil 1436 ›De correctione kalendarii‹ schrieb. Unbarmherzig hielt er fest, daß die pünktliche Wahrheit der Zeitverschiebungen, punctalis veritas, sogar mit den größten Instrumenten bisher nicht in unfehlbarem Versuch habe gemessen werden können. Auf Fortschritte der Wissenschaft sei nicht zu hoffen. Himmelsbewegung und Menschenverstand hätten gar kein gemeinsames Maß. Zwischen den Bahnen der Himmelslichter selbst bestehe ein Mißverhältnis, disproportio; aus früheren Regelmäßigkeiten dürfe man nicht auf künftige schließen. Die Astronomen seien seit Alfons dem Weisen in ihrer subtilen Art noch mehr auf Präzision versessen als die computistae vom Schlag Sacroboscos‚ und die hätten auf ihre grobe Weise, modo grosso, schon die gesamte Weltzeit in ein viel zu genaues Schema gezwängt, mit fixierten Ausgangstagen für die Frühlingsgleiche von Tag und Nacht und mit gleichmäßigen Zyklen für die Umdrehungen von Sonne und Mond.
Weitere Ansicht der Sebalder Uhr (WI999). |
Die Wiener Universitätslehrer Johannes von Gmunden und Johannes Regiomontanus entwarfen 1439 und 1474 lateinische Kalender, die alsbald ins Deutsche übersetzt und früh gedruckt wurden. Sie berechneten die derzeitigen Mondphasen für ein halbes Jahrhundert voraus und lieferten so der Zeitrechnung wichtige, von jedermann nachprüfbare Anhaltspunkte, machten aber keine generellen Reformvorschläge für den Kalender. Sie wollten dessen Termine bloß für überschaubare Zukunft festgelegt sehen. Das fünfte Laterankonzil von 1512-17 vertagte die Kalenderreform erneut, weil die Astronomen noch immer nicht die exakte Korrelation zwischen Sonnenjahr und Mondmonat angeben konnten. Von pünktlicher Zeitmessung erhofften sich die Gebildeten inzwischen mehr als von grober Zeitrechnung; aber noch am Ende wie am Anfang galt der Epoche des Computus Zeitbestimmung nicht als Selbstzweck. Das europäische Mittelalter wollte nicht beim antiken Kalender verharren, nicht in eine moderne Zukunft aufbrechen, nur seine Gegenwart einstweilen erträglich gestalten.
Quelle: Arno Borst: Computus. Zeit und Zahl in der Geschichte Europas. Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek 28, Wagenbach, Berlin 1990. ISBN 3 8031 5128 7. Zitiert wurde Kapitel »Räderuhren und Gangunterschiede im 14. und 15. Jahrhundert«, Seite 77-83.
Im Infopaket befindet sich auch die wissenschaftliche Abhandlung "Die ältesten Räderuhren und modernen Sonnenuhren" von Ernst Zinner (Naturforschende Gesellschaft Bamberg).
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