19. Februar 2018

Ernst Krenek: Reisebuch aus den österreichischen Alpen


Das äußerst umfangreiche und gehaltvolle Schaffen Ernst Kreneks steht im Zeichen des Wandels und der Wende. Liegt das an seinem Geburtsjahr 1900? Man möchte es fast glauben, zumal das OEuvre anderer um die Jahrhundertwende geborener schöpferischer Menschen ebenso Symptome öfteren Wandels aufweist, getragen von Intentionen, die keine Richtung, keine „Schule” markieren. Es sind Einzelgänger, und Krenek ist einer der hervorragendsten von ihnen. Er begann tonalitätsfrei zu komponieren (1921-1923), näherte sich dem Neoklassizismus (1924-1926), vollzog eine Wendung zur Romantik (1927-1931), erreichte dann das ihn am meisten beschäftigende und am tiefsten auf ihn einwirkende kompositorische Gerüst der Dodekaphonie (1932-1956) und arbeitete, darauf aufbauend, anschließend mit seriellen sowie postseriellen Techniken, die er nach wie vor meisterlich handhabt.

Das „Reisebuch” entstand drei Jahre nach „Jonny spielt auf“ und vier Jahre vor „Karl V.” Er schrieb es, als wieder einmal zurückgekehrter Wiener, 1929 im Verlauf von zweiundzwanzig Tagen in Wien. Es entstand also in der „romantischen Schaffensperiode”, und es wurde damals von seinem Freundeskreis als „scheinbar altväterisch”, als „gefällige oder auch ärgerliche Schrulle” abgetan. Die generationsbedingte Zwischenposition Kreneks verbietet es heute jedoch, noch daran zu glauben, das „Reisebuch” sei eine pure Idylle, angestopft mit liebreizenden Naturschilderungen. Es ist da zwar Pastellmalerei zu spüren, aus der die innige Bindung zu Heimat und Natur spricht, aber im Untergrund bohrt die pessimistische Weltsicht, das Abschiednehmen von erträumter Vergangenheit ins Gewissen und stößt schließlich, sich in einer für Krenek typischen Volte zur Ermutigung umkehrend, quer durch traditionelles Gebiet in das Grenzland der Zwölftontechnik.

Kreneks Bekenntnis, der Liederzyklus sei der „Winterreise” von Schubert nachempfunden, verstärkt den Eindruck vom nahen Abschied. Das „Reisebuch aus den österreichischen Alpen” enthält, wie der Dichterkomponist sagt, „sentimentale, ironische und philosophische Skizzen”, in welchen er die Schönheit des Heimatlandes preist und so manche seiner Probleme lyrisch diskutiert. Und so nimmt er auf die Wanderschaft durch die Alpen Gedankengepäck mit. Krenek reist aus, seine Heimat, sich selbst zu entdecken: „mit vielem begabt, doch mit Zweifeln zumeist, irren wir hin und her, suchend uns selbst und die Heimat” (No. 1). Im Augenblick glaubt er, es sei die Tonalität, aber ganz sicher ist er sich dessen nicht, sonst würde er ja nicht nachgrübeln über Sinn und Zweck seiner Fahrt. Erst rückblickend offenbart sich ihm, daß sich „innre Ruh nicht eingestellt” hat: „Wir in der Zeiten Zwiespalt haben es schwer” (No. 9). Die jedenfalls nun einzuschlagende Richtung führt von der Tonalität weg, und dieses eben erreichte Ziel wandelt sich in den Anfang einer Heimkehr zur Dodekaphonie.

Ernst Krenek in jungen Jahren
Zugleich mit seiner „Rückwendung” zur Tonalität plante Krenek deren Reform. Er gedachte, das Starre und Automatische, den Zwang zur Dissonanzauflösung aus dem Dur-Moll-System zu entfernen, um es dadurch von der Uniform funktioneller Schematik zu befreien und einem flexibleren Verhältnis zwischen Sparmung und Entspannung zuzuführen. Das bedingte ein Bereichern des harmonischen Gefüges, ein Verschachteln und Versetzen der tonalen Fundamente, deren Verbindlichkeit sich auf kurze Dauern reduzierte, schließlich ein häufiges Fluktuieren der harmonisch bestimmbaren Felder. Im „Reisebuch” drückt sich das äußerlich in der Art der Notierung aus: Es sind keine Tonarten vorgezeichnet, und es gehören auch die wenigsten der zwanzig Lieder - ohngeachtet der häufig eingesetzten harmonischen Identität von Beginn und Schluß — einer durchgehenden Tonart an. Fast jedes gleicht einem kleinen Reisebuch durch die Tonarten, wobei die Strecke den Quintenzirkel vermeidet, über Orte der Quarten- und Ganztonakkordik führt, Felder des Impressionismus berührt, Mischgebiete der Bitonalität durchschneidet, schlanke Stützen nur angedeuteter Harmonik überbrückt, und, manchmal erst nach ruppig modulierenden Umwegen, im Kopfbahnhof sauberer Dreiklänge ein Ende findet.

Dem „Reisebuch”, das von der Atmosphäre der Vergänglichkeit und Resignation sanft umflort ist, gibt ein weich patinierter Es-Dur-Rahmen Kontur. Es-Dur gliedert auch den Zyklus: „Motiv”‚ „Unser Wein”, „Politik” (hier absichtlich etwas schulmeisterlich) und „Heimkehr”. Der Text wird im allgemeinen nicht sklavisch illustriert. Krenek deutet einzelne Begriffe mit den Mitteln der Hannonik, der Motivik, der Rhythmik und durch den Einsatz kleiner Figuren. Manchmal greift er auf feinsinnige Weise zur „romantischen Ironie” („Regentag” und „Unser Wein”). Sucht man nach Elementen, welche die funktionelle Harmonik fallweise aufheben, findet man sie in der Bitonalität, Ganztonakkordik, Sequenztechnik, aber auch in der Verwendung von, wenn man so sagen darf, Störtönen und parodistischen Wendungen. Der „Epilog” ist als Appendix zu betrachten, rezitativisch zerbröckelnd‚ düster, und dennoch einen neuen Beginn, ein „Immer weiter” anzeigend: Hier findet Ernst Krenek zu seiner ersten Zwölftonreihe.

Quelle: Lothar Knessl, im Booklet


Track 8: Unser Wein

Unser Wein

Von Süd und Ost belagert stürmisch unsre Alpen unser Wein. Da ist der weiße Wein von Wien und Gumpoldskirchen, der von Krems, aus der Wachau, dann die von Baden, Soos, Pfaffstätten und der rote von Vöslau, und weiter dann im Süden unsrer Steiermark das Hochgewächs von Luttenberg. Zumeist verachtet von den Fremden wie das Meiste, das wir haben, weil zu anspruchslos im Außern ist die Gabe, ist köstlich unser Wein nur dem, der ihn zu finden weiß. Nichts ist so schön als wie im frühen Sommer durch das Weingebirg zu gehn, wo auf unabsehbar schrägen Flächen emsig still und unverdrossen an den grauen Stecken grüne Männlein aufwärtsklimmen. Weiße Rebhäuschen, schmuck und zierlich unterbrechen ihre holde Pilgerfahrt, und noch ganz oben, wo schon der schwarze Nadelwald herrschen will, drängt sich ein schmaler Weinberg zwischen die Föhren, bietet sich der Sonne dar...


TRACKLIST


Reisebuch aus den Österreichischen Alpen
Ein Liederzyklus von Ernst Krenek, Op. 62 

01. Motiv                                [01:41]
02. Verkehr                              [02:27]
03. Kloster in den Alpen                 [02:44]
04. Wetter                               [01:42]
05. Traurige Stunde                      [02:49]
06. Friedhof im Gebirgsdorf              [04:56]
07. Regentag                             [01:41]
08. Unser Wein                           [03:11]
09. Rückblick                            [02:14]
10. Auf und ab                           [01:48]
11. Alpenbewohner                        [03:04]
12. Politik                              [04:47]
13. Gewitter                             [02:48]
14. Heimweh                              [03:49]
15. Heißer Tag am See                    [02:30]
16. Kleine Stadt in den südlichen Alpen  [02:18]
17. Ausblick nach Süden                  [02:34]
18. Entscheidung                         [02:07]
19. Heimkehr                             [01:39]
20. Epilog                               [03:17]

            Gesamt: [54:13]

Julius Patzak, Tenor
Heinrich Schmidt, Klavier

Aus dem Archiv des Österreichischen Rundfunks, Studio Wien
Mono, 1950
Digital Remastered 1991


Track 11: Alpenbewohner


Alpenbewohner
(Folkloristisches Potpourri)

Die Alpen werden von wilden Nomaden bewohnt. Mit ungeheurem Lärm kommen sie hergebraust, Sommer und Winter spei’n die geduldigen Züge ihre Scharen aus. Heuschrecken gleich bedecken sie das Land. Mit unsäglicher Banalität schreien sie laut und deutlich in die Landschaft, als wollten sie den Berggeist wecken. Selten sieht man Urbewohner stumpf und mürrisch den Greu’l betrachten und im Stillen den Gewinn berechnen, den sie den Fremden aus Norden, die so seltsam sprechen, obgleich es deutsch sein soll, aus der Tasche ziehen werden. Was uns noch fehlt, sind Leute von drüben, mit schwarzen Schiffskoffern, herdenweise, rücksichtslose, furchtbare. Hätten wir “english church” und “golf de haute montagne” auch bei uns (mit achtzehn holes), sie würden lieblich sich zum Ganzen fügen. Am Samstag Abend wird das Berghotel im Handumdreh’n zum Irrenhaus, denn in dem Saale lassen, von dem Bier ermuntert, alle Eingebornen einen desperaten Cantus steigen. Auf der Veranda kräht ein altes Grammophon die neu’sten Schlager, draußen aber krachen Motorräder, wie Raketen auf dem Schlachtfeld, die von ihnen abgesessenen, schwanken drecküberkrustet, wie Vorweltungetüme in den Speisesaal, der vom Gebrüll der Barbaren dröhnt. So muß Weltuntergang sein!


Das bewohnte Tuch und das Kleid der Erde



Joachim Patinir: Ruhe auf der Flucht. Berlin, Gemäldegalerie Preußischer Kulturbesitz.

Joachim Patinir: Ruhe auf der Flucht nach Ägypten, 1515-24. Öl auf Holz, 62 x 78 cm, Berlin,
Gemäldegalerie Preußischer Kulturbesitz.
[…] »Kaum war die heilige Familie aus Bethlehem geflohen, da kamen die Soldaten des Herodes. Sie töteten die unschuldigen Kinder und suchten Jesus. Dann eilten sie zu einem Felde, bei dem ein Bauer stand. Als dieser eine Stunde vorher beschäftigt war, es zu bestellen und Samen auszuwerfen, hatte der heilige Josef ihm aufgetragen: »Wenn die Soldaten kommen und nach uns fragen, so antworte: ›Als ich hier den Samen ausstreute, da sind Joseph und Maria mit dem Kinde vorbeigeritten.‹ Alsogleich keimten die Körner, wuchsen und bildeten Aehren. Die Aehren waren reif als die Soldaten sich nahten. Sie fragten den Bauern: ›Sind hier nicht Leute mit einem Kinde vorbeigeflohen?‹ Er antwortete: ›Ja‚ als ich das Feld besäte, dessen Aehren ich jetzt eben abmähte, sah ich sie nach Ägypten eilen.‹ Da dachten die Soldaten, das wäre vor drei Monaten gewesen. Sie kehrten um, und die heilige Familie war gerettet.«

Jahrhundertelang stellten Maler die Flucht nach Ägypten als Reise dar, die unter heiterem Himmel von links nach rechts in die Fremde führt: Maria mit dem Kind auf dem Esel, den Josef am Halfter nach sich zieht. 1379 wurde der heiligen Emigrantenfamilie im Bild zum ersten Mal eine Rast gewährt: Vor einer angedeuteten Landschaftskulisse kniet Maria am Boden und reicht dem Knäblein die Brust: Josef, der seinen Hunger mit einem Brötchen stillt, hält ihr die Reiseflasche entgegen, während der Esel an einem Heubündel frißt. Kein Maler der Zeit schloß sich Meister Bertrams »Ruhe« an. Hundert Jahre vergingen, bis niederländische Maler das Motiv entdeckten, das zu Beginn des Jahrhunderts der Glaubensflüchtlinge nur wenige Künstler diesseits der Alpen zu schildern versäumten. In Gerard Davids Darstellungen der Ruhe auf der Flucht erscheint Josef seiner Rolle gemäß stets im Hintergrund; wenn er nicht gerade irgendwo eingeschlafen ist, klopft er am Waldrand Nüsse vom Baum, während die Jungfrau im Grünen selbstvergessen den Gottessohn stillt oder ihm lächelnd eine Weintraube reicht. In rotes oder blaues Tuch gehüllt sitzt sie auf dem blanken Boden; ihr Thron ist ein Felsvorsprung, ein Weidenkorb ihr Reisegepäck. Der Maler zeigt sie als Ganz- oder Halbfigur aus nächster Nähe in inniger Zweisamkeit mit dem Kind vor dem Waldhintergrund eines nordischen Ägypten. Madonna und Sohn nehmen ein Drittel der Bildfläche ein, den restlichen Raum teilen sich Bäume, Felsen, Gewässer, Berge und Häuser: Erst kommt die Jungfrau, dann die Landschaft; mit Joachim Patinir kehrt sich das Verhältnis um.


Meister Joachim zeigt die Welt aus nächster Ferne, seine Perspektive ist die göttliche Vogelschau, sein »Ägypten« ein kosmisches Panorama; weil aber dem »gut Landschaftmaler« die Figurendarstellung nicht gegeben war, übernahm er sie von Kollegen. »Den Meister Joachim hab ich 4 Christophel auf grau Papier verhöcht«‚ schreibt Dürer 1521 ins Tagebuch seiner Reise in die Niederlande. In der Berliner »Ruhe auf der Flucht« hat Patinirs Freund Joos van Cleve Jungfrau und Kind ins Bild gesetzt.

Aus einem Erdklumpen wurde Adam erschaffen und auch die göttliche Mutter ist nur eine irdische Frau. Demütig hat sie im klassischen Madonnengewand auf dem grünen Anger einer Anhöhe Platz genommen. Was dem Landschaftsmaler das Kleid der Erde, ist dem Figurenmaler das »bewohnte Tuch«, wo das fließende Gewebe der blauen Seidenrobe und des roten Umhangs mit dem goldbestickten Saum auf Widerstand stößt, fügt es sich in schmiegsame Falten und Knicke; rot schillern die schattigen Bereiche des olivfarbenen Seidenfutters, das am Ärmel und über dem rechten Knie der Jungfrau sichtbar wird — anscheinend haben sich, als Maria den Säugling zum Wickeln auf den Schoß hob, die Füßchen im Saum verfangen und das Innere des Kleides nach außen gestülpt; die segnende Geste des nackten Kindes mutet wie eine unbeholfene Nachahmung der mütterlichen Gebärde an — offenbar gilt sie dem Singvogel auf dem dürren Ast eines abgebrochenen Baumes, der von unten wieder grünt; das Tote sprießt, die Quelle sprudelt wie es das Wunderkind will, das wehmütige Lied der Nachtigall ist mit seinem Segen verklungen; Philomelas schluchzender Gesang wird erst mit der Passionsgeschichte wiederkehren: »Quand le rossignol a vu ses petits, il ne chante plus.«

Die lanzettblättrige Kratzdistel und die gelbe Schwertlilie am Wasser weisen auf den Leidensweg hin; das Erdenleben ist eine Pilgerschaft von der Wiege ins Grab, Christus das Vorbild des homo viator, des Pilgers, der nur im Himmel heimisch ist. Der Maler wäre jedoch kein Maler, wenn sein Weltbild in dem der Devotio moderna aufginge. Wohl sind Patinirs Weltlandschaften in jedem Detail auf das Heilsgeschehen bezogen, aber zugleich erscheint die Natur in seinen Andachtsbildern als dem Menschen wesensverwandt. »An die Naturobjekte geben wir uns nur deshalb hin, um an ihnen alle Züge zu entdecken und herauszuschälen, die unserem eigenen Sein wesensverwandt sind; die Erforschung der ›großen Welt‹ soll nur dazu dienen, uns das Bild des Mikrokosmos immer reiner zurückzustrahlen.« Gott hat den Menschen zum Auge und Spiegel seiner Schöpfung gemacht, und zwar zu einem Spiegel, »der die Bilder der Dinge nicht von außen empfängt, sondern der sie vielmehr in sich formt und bildet.« Saper vedere, Augenbildung, ist eines der Renaissance-Ideale, im Süden wie im Norden.


Dem azurblauen Gefieder an Flügel, Kopf und Schwanz verdankt die Blaumeise ihren früheren Namen »Himmelsmeise«; im Stilleben des Pilgergepäcks hat sie sich auf dem Deckel des kunstvoll ge?ochtenen Weidenkorbs niedergelassen. »Bleib ruhig sitzen und künde vom Ziel der Reise«‚ scheint die Gebärde Mariens zu sagen, während das Vögelchen auf die prallen Säcke der um Josefs Wanderstab geschlungenen Satteltasche blickt. »Betrachtet die Vögel des Himmels! Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen«, und der himmlische Vater sorgt dafür, daß selbst heilige Pilger krümeln...

[…] Eine einzelne Rotbuche ragt mit ihrer Krone zur Rechten der Gottesmutter in den Himmel und erfüllt zwei Wünsche des Landschaftsmalers: Tiefenwirkung und schöne Aussicht, von keinem Ast am übernutzten Stamm verstellt.

Die Milch für die Suppe, die hinter Maria auf offenem Feuer köchelt, hat Josef aus dem Dorf geholt, dessen strohgedeckte Häuser sich im linken Mittelgrund des Bildes in eine Flußschleife ducken; in der Ferne sieht man den kleinen Mann seines Weges ziehen: einen Wanderstab in der Hand, den Esel am langen Halfter, kehrt er eben zum Marienanger zurück. Auf der gegenüberliegenden Seite der Landschaft erscheint auf einer Lichtung am Waldrand eine Hirschkuh als distanzierter Gast der marianischen Idylle.

Der Hirsch als Sinnbild Christi ist aus der antiken Vorstellung hervorgegangen, der »sanftmütige« Wiederkäuer sei ein Feind der bösen Schlange. »Auch Hirsche leben mit den Schlangen im Streit«‚ schreibt Plinius im Buch über die Landtiere, »sie spüren ihre Höhlen auf und ziehen sie, so sehr sie auch Widerstand leisten, durch das Schnauben ihrer Nasen heraus. Daher eignet sich der Geruch von verbranntem Hirschhorn auch ganz besonders zur Vertreibung von Schlangen.«


Im frühchristlichen Physiologus mutiert die Schlange zum Drachen, der Hirsch zum Herrn: »Wenn der Drache vor dem Hirsch flieht in die Spalten der Erde, geht der Hirsch hin und füllt sich die Höhle seines Bauches mit Quellwasser, und speit es aus in die Spalte der Erde, und so bringt er den Drachen heraus und schlägt ihn nieder und tötet ihn. / So hat auch unser Herr getötet den großen Drachen, den Teufel, durch die himmlischen Wasser, nämlich durch die göttlichen Heilslehren.«

Göttlich wirkt der Hirsch, gottgefällig die Hirschkuh. Während er sich im Kampf gegen das Böse bewahrt, geht sie im Dürsten und Stillen auf. »Wie die Hindin lechzt nach frischem Wasser, / so lechzt meine Seele, Gott, nach dir«‚ klagt im 42. Psalm der Levit im Exil. MENS INTENTA DEO heißt die Devise der Hirschkuh im Emblembuch des Joachim Camerarius; das Sinnbild zeigt die Hindin, wie sie durch die Landschaft streift und den fallenden Tau der Sonne trinkt. Die Legenda aurea schildert sie als mütterliches Gnadentier des heiligen Ägidius, der als Einsiedler im wilden Wald in einer Höhle mit Brunnen vor der »Gefahr des irdischen Ruhmes« Schutz suchte, »und Gott sandte ihm eine Hirschkuh, die kam alle Tage zu allen Zeiten und nährte ihn mit ihrer Milch«. Königliche Jäger verfolgten das Tier. Als der Einsiedler zu Gott betete, er möge ihm die Hindin erhalten, traf ihn der Pfeil, der ihr galt. So wurde Ägidius zum Schutzpatron der stillenden Mütter und der Tiere.

In der dörflichen Welt im Mittelgrund der Landschaftsbühne hat Patinir das zeitliche Nacheinander der Fluchtepisoden räumlich nebeneinander gestellt. Im flämischen Bethlehem hinter dem Wäldchen der Hindin erleiden die Unschuldigen das von Herodes befohlene Massaker, einen Augenblick weiter geben die Verfolger der heiligen Familie nach der wahren Auskunft des Bauern am wunderbaren Weizenfeld vor dem Dorf ihre Suche auf, während das weiterwandernde Auge auf einem Felsen über dem Haupt der Madonna das winzige Standbild eines Götzen kopfüber von einer vegetabilischen Sockelspitze à la Hieronymus Bosch stürzen sieht.

Die Leichtigkeit, mit der das Auge des Betrachters in der gemalten Landschaft herumspaziert, wurde auf wundersame Weise auch den Flüchtenden zuteil. Der Weg von der Quelle zum Götzen wurde im Nu zurückgelegt. Nach dem Pseudo-Matthäus-Evangelium löschten die Pilger an der Wunderquelle ihren Durst und wanderten weiter in der sengenden Hitze des Landes. Josef wollte am Meer entlangziehen, um in den Küstenstädten ausruhen zu können, aber das Jesuskind versprach, den Weg abzukürzen: »Was ihr in einem Zeitraum von dreißig Tagen zurückzulegen im Begriffe wart, sollt ihr an einem Tage ausführen.« Und sogleich erblickten sie die Berge und Städte Ägyptens. »Freudig und jubelnd kamen sie im Gebiet von Hermopolis an und zogen in eine ägyptische Stadt ein, die Sotinen heißt. Und da sich in ihr kein Bekannter befand, den sie um Gastfreundschaft hätten bitten können, traten sie in einen Tempel ein, der ›Kapitol Ägyptens‹ genannt wurde.«


Sotinen ist wie Silena eine Phantasiestadt. Der Name könnte von Sothis abgeleitet sein, dem Sirius oder Hundsstern der Ägypter, der der Isis geweiht war. Das Erscheinen des hellsten aller Gestirne in der Morgendämmerung des Monats Thoth kündigte mit der Nilschwelle den Jahresbeginn an. 365 Tage zahlte das ägyptische Kalenderjahr und ebensoviele Abgötter zerschellen nach Pseudo-Matthäus im Tempel. In einer anderen apokryphen Schrift ist das Wunder auf den Sturz eines einzelnen Götzen beschränkt.

Patinirs Idol hält ein Zepter in der erhobenen Rechten; unter der Lupe mutet der stürzende Torso im ärmellosen Kleid wie eine Götzin mit einem spitzen Tierkopf an.

Der Mann mit Turban und Wanderstab auf dem gewundenen Weg zur befestigten Stadt im Inneren des pittoresken Felsenmantels und die Figur mit Zipfelhaube‚ die ihm in einigem Abstand folgt, sind entweder dem einen oder dem anderen Kindheitsevangelium entsprungen. Das arabische erzählt von der Heilung des besessenen Sohnes eines Priesters von Hermopolis, während Pseudo-Matthäus vom obersten Sotinenser Affrodosius berichtet, der mit seinem Gefolge zum Tempel eilte und vor dem Scherbengericht der 365 zerschellten Abgötter die Jungfrau und das Kind anbetete.

Endlose Steinstufen führen zur Hermes-, Helios- oder Isis-Stadt mit dem runden Tempel, die nach dem Sturz der falschen Tiergötter die feste Burg des Monotheismus darstellt. Per aspera ad astra, auf steinigem Weg erreicht der Mensch das Heil. Seine Würde liegt in seiner Wandlungsfähigkeit beschlossen. »Vom Geist der Cherublm beseelt (…) werden wir in philosophischer Betrachtung über die Stufen der Leiter, das ist der Natur, von einem Endpunkt zum anderen alles durchschreiten und dabei bald hinabsteigen, das Eine wie den Osiris mit titanischer Gewalt in eine Vielheit zerstückeln, bald hinaufsteigen, die Vielfalt gleichsam als Glieder des Osiris mit phöbeischer Macht zum Einen sammelnd, bis wir endlich im Schoß des Vaters über der Leiter ruhen und durch die Glückseligkeit der Theologie zur höchsten Vollendung gelangen.«


Wie eine abgebrochene Säule des Himmels, deren Trümmer ringsum in der Landschaft verstreut sind, ragt der schroffe Fels in die Wolken. Das Vorbild der bizarren geologischen Formation haben Kunsthistoriker in Südfrankreich ausgemacht. Eine Nische in einer Felswand bei Marseille galt lange Zeit als Wüstenort Maria Magdalenas, aus der die heilige Sünderin nach dreißigjähriger Buße mit täglich siebenmaliger Ekstase gen Himmel fuhr. Als »Tsente Marie Magdalenen ter Spelonken« war der Wallfahrtsort Sainte Baume auch in Flandern bekannt. Aber so sehr sich die Felsen durch ihre umgürteten Burgen innerlich gleichen, so verschieden ist ihre äußere Gestalt. Die abgebrochene Felsensäule Patinirs hat mit dem Tafelgebirge bei Marseille nichts gemein. Einzig das um den Säulenberg und am Flußufer gestrandete Gestein scheint reale Verwandte zu haben: die Felszinnen im Maas-Tal in der Heimat des Malers, auf die man seine Neigung, groteske Felsen als Repoussoir zu nutzen, gern zurückführt.

Felsen kennzeichnen seit van Eyck, Bouts und David die Wüste der Heiligen, sie sind die Klippen, an denen der Ungläubige scheitert und die der Gläubige im Vertrauen auf die Nähe Gottes erklimmt: »Die Klippen hieß er in der Wüsten springen / und klaren Trank aus ihrer Tiefe dringen.« Mit Patinir und Bles nimmt der Fels in der Malerei immer phantastischere Formen an. Pfeiler, Kegeln, Nadeln, Zinnen, Obelisken‚ Pyramiden, Säulen, Hörner und Pilze, zerrissenes, zerklüftetes, verwittertes‚ schiefriges und zu Toren und Gewölben ausgehöhltes Gestein türmt sich, bald senkrecht, bald waagerecht geschichtet, über- und nebeneinander oder ragt vereinzelt, wie von Giganten-Macht in die Erde gerammt, aus der Landschaft hervor.

Zwar sind alle Klippen Klippen, aber Fels ist nicht gleich Fels. Der, auf den man baut, ist ein anderer als »der Stein an den man anstößt, / der Felsen an dem man zu Fall kommt«. Nur »Schlangenbrut« kann den gött- lichen Fels in der Wüste, der Jakob umhüllte und »hütete wie seinen Augenstern«, ihn nährte mit den Früchten des Feldes, ihn stillte »mit Wein aus den Felsen, / mit Öl aus Felsspalten«, mit den Glut-Breccien des Teufels verwechseln, die die Feuersbrunst von Sodom und Gomorra reflektieren.


Ob Felsmantel oder gefährliche Klippe, Mahnmal des Chaos oder Säule der Beständigkeit, vom schroffen Fels in lieblicher Landschaft geht im Guten wie im Bösen eine furchteinflößende Wirkung aus. So ungeheuerlich wie die steingewordene Macht des Teufels ist die felsenfeste Allmacht des Herrn. »Gott kann aus diesen Steinen Kinder Abrahams machen«, predigt Johannes der Täufer der Schlangenbrut in der Wüste. Wer die Gewässer mit der hohlen Hand, die Himmel mit der Spanne gemessen, die Berge und Hugel gewogen und den Staub der Erde in ein Maß gefaßt hat, der kann auch Steine lebendig werden lassen, Täler heben, Berge und Hügel senken, das Krumme gerade und das Hügelige eben machen, die Wüste in ein Eden und die Öde in einen Garten verwandeln. »Hört auf mich, die ihr der Gerechtigkeit nachjagt«, beginnt Jesaia seine Prophezeiung der Wiederherstellung Zions, »Blickt auf den Felsen aus dem ihr gehauen seid, / auf den Schacht, aus dem ihr herausgebohrt wurdet.«

Die Vegetation auf dem schmalen Felsgrat zwischen den Abgründen des Schachtes und der Welt zeugt von der Genügsamkeit ihrer Natur: von keinem Sturm gebeugt reckt sich ein kleiner Baum in den Himmel die Wurzeln in den Fels gekrallt, trotzen Gräser und Stauden dem Wind. Schönwetterwolken bilden eine Flotte, die hoch über dem diesigen Horizont in westöstlicher Richtung am azurblauen Himmel entlangzieht. In der blauen Ferne der Welt münden die Arme eines scheldehaften Nil ins Meer; Schiffe segeln dort in den Hafen einer großen Stadt mit hohen Türmen, die, mit oder ohne Pharos ein flämisches Alexandria oder ägyptisches Antwerpen darstellt.

Quelle: Anita Albus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei. [Die Andere Bibliothek, Band 145] Eichborn, Frankfurt/Main, 2. Auflage 2005. ISBN 2-8218-4461-2. Seite 174-188


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9. Februar 2018

Clara Schumann: Sämtliche Lieder

Bis zu ihrer Heirat mit Robert Schumann am 12. September 1840 hatte die junge und erfolgreiche Pianistin Clara Wieck fast ausschließlich für ihr Instrument komponiert - Vokalwerke mußten trotz ihrer guten Ausbildung auf diesem Gebiet nur eine untergeordnete Rolle spielen, wenn es auch damals üblich war, die auf virtuoses Klavierspiel zugeschnittenen Konzertprogramme durch Liedvorträge aufzulockern. Auf dem Programm eines Konzertes in Kassel am 13. Dezember 1831 erschienen z.B. neben brillanten Klavierwerken und Kammermusik auch einige eigene Kompositionen der damals 12jährigen Clara Wieck: »… 2) Zwei Lieder von Just. Kerner: »Alte Heimath« und »der Wanderer«, komponirt von Clara … 9) Der Traum von Tiedge, komponirt von Clara …«

Während »Der Traum« und »Alte Heimat« z.Zt. als verschollen gelten müssen, wurde »Der Wanderer« unter dem Namen von Friedrich Wieck zusammen mit einem dritten Kerner-Lied, »Der Wanderer in der Sägemühle«, 1875 bei Leuckart in Leipzig veröffentlicht. Dessen erste 11 Takte hatte Clara Wieck am 28. Juli 1832 ihrem Kompositionslehrer Heinrich Dorn (1804- 1892) als Albumblatt (»Ihre dankbare Schülerin / Clara Wieck«) geschenkt. Man kann mit einigem Recht vermuten, daß beide Kerner-Lieder von Clara, vielleicht mit Hilfe ihres Vaters, komponiert worden waren.

Der Maler, Journalist und Schriftsteller Johann Peter Lyser (eigentl. Ludwig Peter August Burmeister, 1803-1870) hatte trotz seiner Taubheit eine besondere Liebe zur Musik und schrieb neben Romanen, Dramen, Märchen, Feuilletons, Rezensionen und Gedichten vor allem fantasievolle, aber auch reichlich spekulative Musiknovellen. Sie erschienen meist in der von Robert Schumann herausgegebenen »Neuen Zeitschrift für Musik«, zu deren ersten und eifrigsten Mitarbeitern Lyser gehörte. Da er Clara Wieck kannte und bewunderte, ergab es sich, daß sie einen Beitrag zur Musikbeilage seiner »Lieder eines wandernden Malers« lieferte, die 1834 bei Gustav Schaarschmidt in Leipzig erschienen. Ihr »Walzer« ist ein eher vom Klavier her konzipiertes reizendes Gelegenheitswerk, ein Salonstück von unaufdringlicher Eleganz und Stilsicherheit. Das schlichte Strophenlied »Der Abendstern« stammt wohl auch aus dieser Zeit, doch konnten bisher weder der Verfasser des nicht gerade inspirierten Textes noch ein genaueres Entstehungsdatum ermittelt werden.

Clara Schumann. Banknote der Deutschen Bundesbank ab 1989/90
Am l3. Marz 1840 schrieb Schumann mitten in der schöpferischen Euphorie seines »Liederfrühlings« an seine Braut: »Clärchen, hast Du nichts für meine Beilagen [Musikbeilagen zur »Neuen Zeitschrift für Musik«]? Mir fehlt Manuskript, … Denkst Du denn etwa, weil ich so viel componire, kannst Du müßig sein. Mach’ doch ein Lied einmal! Hast Du angefangen, so kannst Du nicht wieder los. Es ist gar zu verführerisch.« Schon am folgenden Tag wies Clara dieses Ansinnen von sich: »… Componiren aber kann ich nicht, es macht mich selbst zuweilen ganz unglücklich, aber es geht wahrhaftig nicht, ich habe kein Talent dazu. Denke ja nicht, daß es Faulheit ist. Und nun vollends ein Lied, das kann ich gar nicht; ein Lied zu componiren, einen Text ganz zu erfassen, dazu gehört Geist …«

Es dauerte aber nur wenige Monate, bis Schumann einen neuen Vorstoß in dieser Richtung wagte. Im gemeinsam mit Clara geführten Ehetagebuch notierte er Anfang Oktober 1840: »Klara gab ich ein Lied v. Burns zu componiren; sie getraut sich aber nicht.« Erst im Dezember nahm sie die Anregung ihres Mannes auf: »Das Clavier ist seit 8 Tagen ganz in den Hintergrund getreten, Alle Zeit, wo Robert ausgegangen war, brachte ich mit Versuchen, ein Lied zu componiren, (was immer sein Wunsch) zu, und es ist mir denn endlich auch gelungen Dreie zu Stand zu bringen, die ich ihm zu Weihnachten überreichen will. Sind sie freilich von gar keinem Werth, nur ein ganz schwacher Versuch, so rechne ich auf Roberts Nachsicht, und daß er denken wird, es ist ja der beste Wille dabei gewesen, auch diesen Wunsch, wie alle seine Wünsche, ihm zu erfüllen. Sey gnädig, mein Freund, und schone diese schwache, aber mit voller Liebe gespendete Gabe.«

Auf dem Titelblatt der drei Lieder (»Am Strande«, »Ihr Bildnis« und »Volkslied«) vermerkte sie: »… in tiefster Bescheidenheit gewidmet ihrem innigstgeliebten Robert zu Weihnachten 1840 von seiner Clara.« Robert Schumann war jedoch sehr angetan von den Liedern, wie er Ende Dezember dem Ehetagebuch anvertraute: »Die Christwoche ist gerade an mich gekommen. Wie gern möchte ich sie beschreiben, und wie meine Herzens Kläre mich so viel erfreut und beschenkt. Namentlich 3 Lieder freuten mich, worin sie wie ein Mädchen noch schwärmt und außerdem als viel klarere Musikerin als früher. Wir haben die hübsche Idee, sie mit einigen von mir zu durchweben und sie dann drucken zu lassen. Das gibt dann ein recht liebewarmes Heft.«

Clara Schumann. Briefmarke der
Deutschen Bundespost vom 13.11.1986
Die drei Lieder gehören in der Tat zu Clara Schumanns besten Kompositio- nen. Das von leidenschaftlicher Energie durchpulste Lied »Am Strande« nach einem Text des von Schumann besonders geschätzten schottischen Nationaldichters Robert Burns (1759-1796) erschien zuerst im Juli 1841 in der Musikbeilage zur »Neuen Zeitschrift für Musik«. Heines »Volkslied« (»Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht«), bekannt durch die Vertonungen Mendelssohns (Chorlied op. 41, Nr. 3) und Schumanns (Lied op. 64, Nr. 3, II.), ist ein besonders schönes Beispiel für Clara Schumanns Kunst, eine vollkommene Balance zwischen volksliedhafter Einfachheit und artifizieller Faktur, vor allem in der geradezu raffiniert »archaisierenden« Harmonik, zu Finden. »Ihr Bildnis« von Heine wurde 1844 als op. 13, Nr.1 in einer stark überarbeiteten Fassung veröffentlicht.

Das Projekt einer gemeinsamen Publikation des Ehepaars ließ Schumann von da an nicht mehr los. Anfang Januar 1841 notierte er im Ehetagebuch: »Die Idee, mit Klara ein Liederheft herauszugeben, hat mich zur Arbeit begeistert. Vom Montag - Montag d. 11ten sind so 9 Lieder a.d. Liebesfrühling v. Rückert fertig geworden, in denen ich denke wieder einen besonderen Ton gefunden zu haben. Kl.(ara) soll nun auch a.d. Liebesfrühling einige componiren. O thu’ es Klärchen!« Doch konnte seine Frau, die in dieser Zeit infolge ihrer ersten Schwangerschaft häufig unwohl war, die ihr zugewiesene Aufgabe zunächst nicht erfüllen. Im Ehetagebuch klagt sie Mitte Januar: »Ich habe mich schon einige Mai an die mir von Robert aufgezeichneten Gedichte von Rückert gemacht, doch will es gar nicht gehen - ich habe gar kein Talent zur Composition!«

Dessen ungeachtet wandte sich Schumann am 22. April 1841 an seinen Verleger Friedrich Kistner in Leipzig: »Seit einiger Zeit beschäftigt mich ein Gedanke, der sich vielleicht Ihre Theilnahme gewinnt. Meine Frau hat nämlich einige recht interessante Lieder componirt, die mich zur Composition einiger anderer aus Rückerts ‚Liebesfrühling’ angeregt haben, und so ist daraus ein recht artiges Ganzes geworden, das wir auch in einem Hefte herausgeben möchten …« Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch Claras Beitrage immer noch nicht fertig, ja nicht einmal begonnen. Erst Anfang Juni 1841 schreibt sie im Ehetagebuch: »Mit dem Componiren will's nun gar nicht gehen - ich möchte mich manchmal an meinen dummen Kopf schlagen! - … ich habe diese Woche viel am Componiren gesessen, und denn auch vier Gedichte von Rückert für meinen lieben Robert zu Stande gebracht. Möchten sie ihm nur einigermaßen genügen, dann ist mein Wunsch erfüllt.«

Clara Schumann, 1853.
Nach Roberts Geburtstag konnte Clara Schumann stolz vermelden: »Vier Lieder von Rückert freueten ihn sehr, und er behandelte sie denn auch so nachsichtsvoll, will sie sogar mit Einigen Eigenen herausgeben, was mir viel Freude macht.« Von den vier Liedern wurde das letzte, »Die gute Nacht, die ich dir sage«, das Schumann 1846 als gemischten Chor komponierte (op. 59, Nr. 4), zurückbehalten, die anderen drei, »Er ist gekommen in Sturm und Regen«, »Liebst du um Schönheit« und »Warum willst du and're fragen« als Nr. 2, 4 und 11 in das Gemeinschaftswerk aufgenommen. Es erschien als »Zwölf Gedichte aus F. Rückert's Liebesfrühling für Gesang und Pianoforte von Robert und Clara Schumann« in zwei Heften als ihr op. 12 und sein op. 37 rechtzeitig zu Claras 22. Geburtstag am 13. September 1841, aber nicht bei Kistner, sondern bei Breitkopf & Härtel in Leipzig, der auch fast alle weiteren Werke der Komponistin publizieren sollte.

Welche der zwölf Nummern (9 Lieder und 3 Duette) von wem stammen, hat Schumann zwar in seinem Handexemplar vermerkt, ist aber im Druck nicht gekennzeichnet. Clara Schumanns Beitrage zum gemeinsamen Opus fügen sich stilistisch bruchlos denen ihres Mannes an und bewahren dennoch eigenes Profil. Dies gilt besonders für die sehr eigenständigen, klanglich opulenten und z.T. ausgesprochen virtuosen Klavierbegleitungen, welche die Hand der Pianistin verraten. »Er ist gekommen in Sturm und Regen«, dessen leidenschaftliche Erregung sich gegen Ende löst, was sich auch im Wechsel vom f-moll des Anfangs zum As-Dur des Schlusses spiegelt, zählt zu den besten Werken der Komponistin. Welche Schlüsselrolle diesem Lied mit seinem biographisch beziehungsreichen Text zukommt, hat sie selbst deutlich gemacht, indem sie den Anfang im ersten Satz ihrer Sonatine g-moll (1841) und im Deuxième Scherzo c-moll op. 14 (1844) für Klavier zitiert und paraphrasiert.

Die beiden anderen Lieder sind besonders schöne Beispiele für den von Clara Schumann bevorzugten Typus des variierten Strophenliedes. Gerade durch wenige subtile Varianten im Klaviersatz, in der Harmonik und der Melodiebildung gelingt es ihr, den virtuosen Sprachspielereien Rückerts gerecht zu werden. Daß »Die gute Nacht, die ich dir sage« nicht in das gemeinsame Liederwerk aufgenommen wurde, hat sicher nichts mit seinem musikalischen Wert zu tun. Wahrscheinlich fand sich nur keine passende Stelle in dem sehr planvoll als Dialog konzipierten Zyklus.

Clara Schumann, ca. 1850, Fotographie von Franz
Hanfstaengl, München.
Vorlage: Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Die Tradition, ihren Mann zum Geburtstag und zu Weihnachten mit eigenen Kompositionen zu beschenken, setzte Clara Schumann auch in den folgenden Jahren fort. Während sie ihn zu Weihnachten 1841 mit den ersten Sätzen einer Sonatine für Klavier überraschte, schrieb sie zum Geburtstag 1842 wiederum Lieder. »Wenig, mit Liebe meinem guten Robert zum 8ten Juni 1842 von seiner Clara« steht auf dem Titelblatt zu den beiden Liedern »Liebeszauber« (Geibel) und »Sie liebten sich beide« (Heine). Schumanns Urteil im Ehetagebuch lautete: »… das Gelungenste, was sie bis jetzt überhaupt geschrieben hat.«

Ein Jahr später konnte Clara Schumann wiederum drei Lieder präsentieren: »Lorelei« (Heine), »Ich hab‘ in deinem Auge« (Rückert) und »O weh des Scheidens« (Rückert). Die Widmung lautete diesmal: »An meinen lieben Mann zum 8ten Juni 1843.« Der Kommentar Schumanns war, obwohl ihm die Lieder sicher nicht mißfielen, nicht so enthusiastisch: »An meinem (33sten) Geburtstag, d. 8ten Juni, hatte mir Kl.[ara] wie immer bescheert.« Er war zu dieser Zeit durch die Komposition seines ersten großen Werkes, das Oratorium »Das Paradies und die Peri«, zu sehr beschäftigt. Nur das mittlere der drei Lieder wurde 1844 als op‚ 13, Nr. 5 veröffentlicht. Daß Clara Schumann Heines weltberühmte und häufig komponierte »Lorelei« als atmosphärisch dichte Ballade von geradezu genialer Stringenz und Dramatik vertont hat, dürfte selbst Kenner der Musik des 19. Jahrhunderts überraschen. Dem sprachlich subtilen Rückert-Gedicht »Oh weh des Scheidens, das er tat«‚ das wie alle von Clara komponierten Texte des Dichters aus dessen »Liebesfrühling« stammt, begegnet sie mit herben Dissonanzen und in der ersten Fassung einem offenen Schluß auf der Dominante.

im Juli 1843 komponierte Clara Schumann noch zwei Lieder nach Gedichten des auch von ihrem Mann häufig vertonten Emanuel Geibel, »Der Mond kommt still gegangen« und »Die stille Lotosblume«. Schumann glaubte nun offensichtlich, daß genügend Material für ein weiteres, diesmal eigenständiges Liederheft vorhanden sei. Schon Ende Juni 1843 hatte er im Tagebuch vermerkt: »Jetzt ist Klara am Ordnen ihrer Lieder…« Am 6. August 1843 wandte er sich wiederum an Breitkopf & Härtel: »Meine Frau sendet Ihnen hierbei mit ihren Empfehlungen ein kleines Liederheft, das sie recht bald gedruckt wünscht. Der vollständige Titel folgt nach, sobald eine Antwort aus Copenhagen da ist, von der Königin nähmlich, der sie die Lieder zu widmen gedenkt. Als Honorar gewähren Sie wohl das Übliche von 6 Louisdor…«

Clara Schumann, 1866. Fotografie von von C. v. Jagemann, Wien.
Der Verlag akzeptierte das Angebot ebenso wie die dänische Königin Caroline Amalie die Widmung. Das Titelblatt des im Januar 1844 erschienenen Liederheftes lautet: »Sechs Lieder mit Begleitung des Pianoforte componirt und Ihrer Maiestät der regierenden Königin Caroline Amalie ehrfurchtsvoll zugeeignet von Clara Schumann. Op. 13.« Es enthält folgende Lieder:
Nr. 1 »Ich stand in dunklen Träumen« (Heine, Dezember 1840)
Nr. 2 »Sie liebten sich beide« (Heine, Juni 1842)
Nr. 3 »Liebeszauber« (Geibel, Juni 1842)
Nr. 4 »Der Mond kommt still gegangen« (Geibel, Juli 1843)
Nr. 5 »Ich hab‘ in deinem Auge« (Rückert, Juni 1843)
Nr. 6 »Die stille Lotosblume« (Geibel, Juli 1843)

Major Friedrich Anton Serre (1789-1863) hatte 1817 die Kaufmannstochter Friederike Hammerdörfer (1800-1872) aus Dresden geheiratet, wo das Paar auch wohnte. 1819 erwarb er Schloß und Rittergut Maxen, »das wie die Dresdner Wohnung zum Zentrum des literarisch-künstlerischen Lebens wie auch gemeinnütziger Bestrebungen wurde …« (Gerd Nauhaus). In den Jahren 1837/38 fand Clara Wieck mehrmals Zuflucht, Trost und Hilfe bei der »Majorin« in Maxen, als sich die Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, der die Verbindung mit Schumann verhindern wollte, immer mehr zuspitzten. Vom 25. Mai bis zum 29. Juni 1846 verlebte der gesundheitlich und psychisch schwer angeschlagene Schumann mit seiner Familie einen Sommerurlaub in der Nähe des Gutes Maxen.

Während dieser Zeit komponierte Clara Schumann zwei Lieder nach Texten von Friederike Serre, um der freundlichen Gastgeberin in angemessener Weise Dank zu sagen. Die beiden melodiösen Gelegenheitskompositionen, die Schumann am 21. Juni im »Haushaltbuch« als »Klara's Lieder« erwähnt, tragen auf der Titelseite des Widmungsexemplares die Inschrift: »Zwei Gedichte von Friederike Serre / für die Verfasserin / zu / freundlicher Erinnerung / componirt / von / Clara Schumann./ Maxen / im / Monat Juni./ l846.« Während »Beim Abschied« erst vor kurzem veröffentlicht wurde, hat Clara Schumann das zweite Lied, »Mein Stern«, nicht nur mehrmals als Albumblatt verschenkt, sondern auch publiziert, und zwar in einer Fassung mit deutschem und englischem Text (»O Thou My Star«) zu einem wohltätigen Zweck (»Composed and Presented to The German Hospital at Dalston, On the occasion of the First Fancy Fair held in aid of the Funds of that Institution.«) im Mai 1848 bei dem Londoner Verlag Wessel & Co.

Clara Schumann, 1878/79.
Pastell von Franz von Lenbach, München.
In den folgenden Jahren komponierte Clara Schumann nur wenig - sie war durch die wachsende Zahl der Kinder, häufige Umzüge, Konzertreisen und vielfältige Unterstützung ihres Mannes, wie z.B. Assistenz bei Chorproben oder Anfertigen von Klavierauszügen seiner Werke, zu sehr beansprucht. Erst im Mai 1853 begann eine neue Phase der kompositorischen Tätigkeit, zunächst mit den zum 43. Geburtstag ihres Mannes entstandenen »Variationen über ein Thema von Robert Schumann« op. 20. Eine Gruppe von Liedern schloß sich an. Am 10. Juni notierte sie im Tagebuch: »2 Lieder von Hermann Rollett aus ‚Jucunde’ komponiert. Es macht mir großes Vergnügen, das Komponieren. Mein letztes Lied hab ich 1846 gemacht, also vor 7 Jahren!« Schon am 22. Juni konnte sie melden: »Ich habe heute das sechste Lied von Rollett komponiert und somit ein Heft Lieder beisammen, die mir Freude machen und schöne Stunden verschafft haben Es geht doch nichts über das Selbstproduzieren, und wäre es nur, daß man es täte, um diese Stunden des Selbstvergessens, wo man nur noch in Tönen atmet …«

Den 1853 in Leipzig erschienenen Roman »Jucunde« des österreichischen Schriftstellers und Kunsthistorikers Hermann Rollett (1819-1904) hatte Robert Schumann schon am 29. Dezember 1852 und 1.Januar 1853 gelesen, wie im Haushaltbuch vermerkt ist, und sich dazu notiert, daß hier »sehr musikalische Gedichte« enthalten seien. Die »Sechs Lieder aus Jucunde von Hermann Rollet [sic!] für eine Singstimme mit Begleitung des Pianoforte …« op. 23 sind erst im Januar 1856 bei Breitkopf & Härtel erschienen. Angesichts des traurigen Schicksals ihres in der Heilanstalt Endenich dahinsiechenden Mannes dürfte Clara Schumann die Drucklegung dieser Lieder, in denen Anmut, Heiterkeit und Lebensfreude vorherrschen, nicht besonders forciert haben.

Die Zueignung »Frau Livia Frege in Freundschaft gewidmet« ist ein Zeichen für die enge Verbundenheit mit der Sängerin, die 1843 in der Uraufführung von Schumanns »Das Paradies und die Peri>>« die Titelrolle in maßstabsetzender Weise kreiert hatte und die bereits Widmungsträgerin der Lieder op. 36 von Robert Schumann war. Ungeachtet der bisweilen allzu blumigen Texte hat Clara Schumann in den Jucunde-Liedern einen Höhepunkt ihres Schaffens erreicht. Formale Klarheit durch die Bevorzugung des Strophenliedes bzw. des variierten Strophenliedes verbindet sich mit höchster Differenzierungskunst in den Klavierbegleitungen, die sowohl volksliedhafte Schlichtheit wie die virtuos-konzertante Geste kennen, mit einer farbigen, vor interessanten Dissonanzen nicht zurückschreckenden Harmonik und melodischer Einfallskraft.

Clara Schumann, 1882.
Abbildung aus "Die Gartenlaube".
Nach den Jucunde-Liedern griff Clara Schumann wieder zu einem sehr bekannten Text und beschwor damit einen Vergleich herauf, bei dem sie keineswegs schlecht abschneidet. Ihr Biograph Berthold Litzmann schreibt: »Aber schon am 8. Juli meldet sie die Komposition eines neuen Liedes, ‘Goethes Veilchen’, ohne Ahnung von Mozarts Komposition, sie muß sich dafür von Robert auslachen lassen, bemerkt aber vergnügt: ’doch meine Komposition gefiel ihm'.« Bei diesem Lied gelang es Clara Schumann, mit einfachen Mitteln eine bezaubernde bukolische Szene von heiterer Anmut zu beschwören; es ist ihr letztes Lied und zugleich ihre letzte Vokalkomposition. Übrigens hat sie Mozarts »Veilchen« entgegen ihrer eigenen Aussage nachweislich doch gekannt; sie hörte es schon 1841 in einem Konzert, was damals »einen eigenen Eindruck« auf sie machte, der in ihrer Komposition einen reizvollen Nachhall findet, und begleitete es sogar selbst in einem Konzert in Düsseldorf am 3. März 1853.

Quelle: Joachim Draheim, im Booklet


Track 1: Am Strande (Robert Burns)

Am Strand
(Robert Burns)
(Deutsche Ubersetzung von Wilhelm Gerhard)


Traurig schau ich von der Klippe,
auf die Flut, die uns getrennt,
und mit Inbrunst fleht die Lippe,
schone seiner, Element!

Furcht ist meiner Seele Meister,
ach, und Hoffnung schwindet schier;
nur im Traume bringen Geister
vom Geliebten Kunde mir.

Die ihr, fröhliche Genossen,
gold'ner Tag’ in Lust und Schmerz,
Kummertränen nie vergossen,
ach, ihr kennt nicht meinen Schmerz!

Sei mir mild, o nächt'ge Stunde,
auf das Auge senke Ruh,
holde Geister, flüstert Kunde
vom Geliebten dann mir zu.


TRACKLIST


Clara Schumann (1819-1896)

Complete Songs

01 Am Strande (Robert Burns)                                  2'17
02 Volkslied (Heinrich Heine)                                 2'58
03 Die gute Nacht (Friedrich Rückert)                         2'11
04 Das Veilchen (J.W. von Goethe)                             1'37
05 Beim Abschied (Friederike Serre)                           4'44
06 Er ist gekommen op.12,2 (Friedrich Rückert)                2'32
07 Liebst du um Schönheit op.12,4 (Friedrich Rückert)         1'51
08 Warum willst du and're Fragen op.12,11 (Friedrich Rückert) 2'03
09 Walzer (Johann Peter Lyser)                                3'08

Sechs Lieder op.13                                           l3'16
10 Ihr Bildnis - Erstfassung (Heinrich Heine)                 2‘30
11 Sie liebten sich beide - ErstFassung (Heinrich Heine)      1‘57
12 Liebeszauber (Emanuel Geibel)                              1‘56
13 Der Mond kommt still gegangen (Emanuel Geibel)             l‘49
14 Ich hab‘in deinem Auge (Friedrich Rückert)                 l'56
15 Die stille Lotosblume (Emanuel Geibel)                     3'08

16 Der Abendstern                                             2'20
17 Lorelei (Heinrich Heine)                                   2'09
18 Mein Stern (Friederike Serre)                              1'44
19 Oh weh des Scheidens (Friedrich Rückert)                   2'17
20 Der Wanderer (Justinus Kerner)                             1'59
2l Der Wanderer in der Sägemühle (Justinus Kerner)            2'59

Sechs Lieder aus »Jucunde« von Hermann Rollett op.23         14'27
22 Was weinst du, Blümlein                                    1'44
23 An einem lichten Morgen                                    3'03
24 Geheimes Flüstern hier und dort                            4'25
25 Auf einem grünen Hügel                                     2'26
26 Das ist ein Tag, der klingen mag                           1'00
27 O Lust, o Lust                                             1'49

                                                      T. T.: 64'46
Gabriele Fontana, Soprano
Konstanze Eickhorst, Piano

Recording: Sendesaal Radio Bremen, 2-5 June 1993
Recording Supervisor: Christian Böhm
Recording Engineer: Frauke Schulz
Recording Technician: Christine Potschkat
Executive Producers: Burkhard Schmilgun, Peter Schilbach
(P) 1994


Track 2: Volkslied (Heinrich Heine)

Volkslied
(Heinrich Heine)

Es fiel ein Reif in der Frühlingsnacht,
er fiel auf die zarten Blaublümelein,
sie sind verwelket, verdorrt.

Ein Jüngling hatte ein Mädchen lieb,
sie flohen heimlich von Hause fort,
es wußt’ weder Vater noch Mutter,

Sie sind gewandert hin und her,
sie haben gehabt weder Glück nach Stern,
sie sind gestorben, verdorben.



Der Drachentöter im Laubmeer


Albrecht Altdorfer: Laubwald mit dem Heiligen Georg. München, Alte Pinakothek.

Albrecht Altdorfer: Laubwald mit dem Heiligen Georg, 1510. Öl auf Leinwand auf Lindenholz,
22,5 x 28,2 cm. München, Alte Pinakothek.
Während sich in der Stadt am versandeten Zwin der erste flämische Schößling der Gattung Waldlandschaft entfaltete, ging in Regensburg an der Donau eine ganz andere Saat des Waldgenres auf: Altdorfers Thema ist nicht der gehegte, sondern der wilde Wald. Silva, das älteste Gesicht der Natur, wie Silvestris in der Cosmographia schreibt, »unermüdliche Gebärerin der Vermehrung‚ erster Entwurf der Formen, Materie der Körper und Grundlage der Substanz«.

Durch einen Laubwald‚ in dem er die Bäume vor lauter Blättern kaum sieht, sprengt auf weißem Pferd Sankt Georg in schwarzem Harnisch; winzig erscheint der Ritter auf seinem Roß in der gottverlassenen Wildnis‚ die über ihm uferlos ins Dunkle quillt; der üppige Federbusch seines Helms verschmilzt mit dem Gefieder des wuchernden Gebüschs; in fiebrigen Kräuseln schreibt sich das Licht in die Laubmassen, die sich vom Wind aufgewühlt in der schwülen Atmosphäre des Urwaldes bauschen; eine Prinzessin ist nicht in Sicht; indessen hat sich das undurchdringliche Dickicht ein wenig geöffnet und den Blick auf hügeliges Ackerland vor blauen Bergen am niedrigen Horizont freigegeben; aber den Weg in die Welt versperrt ein fleischrotes Ungeheuer mit einem Kamm auf dem schwärzlichen Rücken: die Flossenflügel neben dem Krötenkopf ausgespannt, in dem die Augen aus den Höhlen quellen, bleckt das Untier mit heraushängender Zunge vor dem Schimmel die Zähne; reglos verharrt der Ritter im wogenden gelbgrünen Laubmeer, als zweifle er an seinem Drachentöterverstand.

Weit war der Weg des Truppenführers aus Kappadozien ins Drachenland. Das Monster hauste in Libyen in einem See, »der so groß als ein Meer« war, und verpestete mit seinem Gifthauch Stadt und Land. Zwei Schafe täglich stillten nicht seine Gier, denn es lechzte nach Menschenfleisch. Viele Söhne und Töchter des Dattellandes mußten dran glauben, bis schließlich das traurige Opferlos auf die einzige Tochter des Königs fiel, die zu retten der erste der vierzehn heiligen Nothelfer im Eifer der Christianisierung auf sich nahm. Seine Lanze brach die Macht des geflügelten Wurms, ohne ihn sofort zu vernichten. »Dann sprach er zu der Jungfrau ›Nimm deinen Gürtel und wirf ihn dem Wurm um den Hals, und fürchte nichts‹. Sie tat es, und der Drache folgte ihr nach wie ein zahm Hündlein.« Als die Prinzessin den Lindwurm am Bändchen in die Stadt führte, ergriffen die Einwohner Silenas in panischem Schrecken die Flucht und verkrochen sich in den Höhlen der Berge. Das war des Kreuzritters Stunde, die Heiden von der Drachen- zur Gottesfurcht zu bekehren. Auf sein Versprechen, das Land für immer vom Seeungeheuer zu erlösen, strömten der König und alles Volk herbei, 20000 Menschen, »Weiber und Kinder nicht gerechnet«, um die Taufe zu empfangen. Da endlich zückte Sankt Georg sein Schwert und tötete den Drachen. »Darnach gebot er ihn aus der Stadt zu schaffen, und vier paar Ochsen zogen ihn vor die Stadt auf ein großes Feld.«

Albrecht Altdorfer: Hl. Georg tötet den Drachen, 1511
Holzschnitt, 19,6 x 15,1 cm.
Jahrhundertelang war das einzige Monster der Georgslegende ein König oder Kaiser gewesen, der Christen verfolgte und den Bannerträger »von Cappadozischem Geschlecht« nach ungeheuerlichen Torturen mit dem Schwert enthaupten ließ, als im 12. Jahrhundert aus dem Morgenland heimkehrende Kreuzritter die Fabel ihres Schirmherrn mit dem Drachenkampf zur Errettung der libyschen Königstochter ausschmückten. Die Drachen-Legende ist eine Pfropfchimäre der Minnesängerzeit, die das Martermärchen des Heiligen bald gänzlich überwucherte. Der Erfolg der Verwandlung Sankt Georgs zum irdischen Vertreter des Erzengels Michael verdankt sich der Pfropfung antiker Drachentöterelemente auf den christlichen Stamm. Kein Glaubensstreiter scheint zur Anverwandlung heidnischer Götter besser geeignet als der Großmartyrer aus Kappadozien, der, aufs Rad geflochten, in Kessel mit siedendem Blei getaucht, von Pferden gevierteilt und den Kopf mit sechzig Nägeln gespickt, dreimal starb und dreimal wieder auferstand. Wer sollte den Mut eines Perseus, Kadmos’ Kühnheit Herkules’ Tatkraft, Bellerophons Streitbarkeit verkörpern, wenn nicht der unerschrockene Soldat Christi aus dem Land, das berühmt war für seine Pferdezucht?

Auf die antike Herkunft der Drachensage Sankt Georgs weist in der Goldenen Legende die Örtlichkeit hin. »Afrika nannten die Griechen Libyen und das Meer davor das Libysche.« In ihrer Vorstellung bildete das Land, in dem Atlas das Himmelsgewölbe trug, den Rand der Welt; Lage und Klima begünstigten jegliche Drachenbrut und Mischwesen aller Art; im Hort dämonischer Kreaturen kam den schnellfüßigen und scharfblickenden Silenen trotz Pferdeohren, -schweif und -beinen noch die größte Menschenähnlichkeit zu. Als musikliebende Elementargeister der waldigen Teile des Atlasgebirges kommen diese Pferdemenschen in Gesellschaft bocksbeiniger Kumpane noch bei Plinius vor:

Albrecht Dürer: Hl. Georg tötet den Drachen, 1504
Holzschnitt, 21,4 x 14,3 cm.
»Tagsüber sehe man niemanden von den Bewohnern; alles schweige, nicht anders als im Schauder der Wüsten; ein stiller Schauer ergreife die Gemüter der Nahenden und dazu ein Schrecken vor dem über die Wolken und in die Nähe der Mondbahn emporragenden Berg. In den Nächten schimmere er auch von zahlreichen Feuern, werde durch die Ausgelassenheit der Aigipane und Satyrn erfüllt und halle wider vom Spiel der Flöte und der Pfeife und vom Lärm der Pauken und Zimbeln. Dies berichten anerkannte Autoren neben den dort vollbrachten Taten des Herakles und Perseus. Die Entfernung zu ihm ist unermeßlich und noch nicht sicher bekannt.«

Landeinwärts der ungastlichen Gestade der kleinen Syrte soll einst zwischen bewaldetem Gebirge und Wüste der vom Tritonfluß gespeiste See Tritonis gelegen haben, der so groß wie ein Meer war und von fruchtbarem Land umgeben. Zur Monsterfauna dieser sagenhaften Region gehören neben tritonischen Fisch- und Schlangendämonen auch die drei Graien und die drei Gorgonen. Die schöne Gestalt der sterblichen Medusa wurde von Pallas Athene in ein geflügeltes Ungeheuer mit Vipernhaaren, Stupsnase, aus den Höhlen quellenden Augen, einem grinsenden Maul mit Eberzähnen und heraushängender Zunge verwandelt. Ein Beiname der streitbaren Athene war Tritogeneia, weil sie am Ufer des Tritonsees in voller Rüstung aus dem Haupt ihres Vaters sprang, nachdem Zeus die schwangere Metis verschluckt hatte. Die Göttin des Krieges, der Wissenschaft und Künste war Herrin der Streitwagen und Pferde, Erfinderin des Zaumzeugs und Beschützerin der Drachentöter. Nach attischer Sage war sie es, die die schwangere Medusa enthauptete‚ aus deren Rumpf die Kinder Poseidons sprangen, das Flügelroß Pegasos und der Krieger Chrysaor; nach anderen Überlieferungen begnügte sich die unbezwingbare Jungfrau mit dem Beschirmen und überließ Perseus das blutige Geschäft.

»Während als Sieger er schwebt über Libyens sandigen Flächen, / fielen aus Gorgos Haupt hinab die Tropfen des Blutes, / welche die Erde empfing und zu mancherlei Schlangen belebte; / drum ist der Boden dort so reich an bösem Gewürm.«

Lucas Cranach d. Ältere: Hl. Georg, den Drachen tötend,
um 1513. Holzschnitt 16,4 x 12,8 cm.
Das Medusenhaupt im Zaubersack, flog Perseus, von zwistigen Winden hin- und hergejagt, über Libyen. Silena konnte er aus des Äthers Höhen nicht erspähen, denn ein Ort dieses Namens war der Antike unbekannt. Weder griechischen noch römischen Autoren wäre es in den Sinn gekommen, Berg- und Walddämonen eine Stadt anzudichten. Die urbanisierten Silene sind reine Kreuzritterphantasie. Silena ist eine Pfropfchimärenstadt aus dem Zeitalter, in dem Sankt Georg seine Martyrerhaut abstreifte und sich in den rasselnden Harnisch des Drachentöters warf. Auf die Metamorphose des Heiligen folgte die Mutation des Bösen; im 13. Jahrhundert häutet sich die flügellose romanische Drachenschlange und erscheint als gotischer Drache mit dem Zackenkamm einer Echse und den Hautflügeln des lichtscheuen Wesens, das steile Felsklüfte und dunkle Höhlen bewohnt. Die Fledermausflügel der diabolischen Mächte scheinen auf Tartarenwegen aus China ins Abendland gedrungen zu sein. Mongolen herrschten von den Küsten des Gelben Meeres bis an die Grenzen Europas, als Jacobus in Genua aus vielfältigen Quellen die Heiligenviten für seine Legenda aurea kompilierte. Sein Georgsdrache unterscheidet sich von den antiken Vorbildern durch die Fähigkeit, das Element zu wechseln. Halb Schlange des Mars, halb Andromedas Seeungeheuer, haust er bald im Wasser, bald im waldigen Berghöhlenland. Der Ritter teilt die Erfahrung der griechisch-römischen Heroen, daß Drachen sich nicht auf einen Streich töten lassen. Vergeblich stieß Perseus dem Schnaubenden die Klinge bis ans Heft in den Bug, kaum entging er dem gierigen Schlund des Rasenden, erst als sein Sichelschwert eine Blöße im muschelschalenbesäten Rücken des Monsters durchdrang, dann die Flanken und schließlich die Weichen, wo der gewaltige Rumpf sich zum schmächtigen Fischschwanz verjüngte, gab der Drache seinen bösen Geist auf.

Auch Cadmus’ Drachenkampf verlief in zwei Phasen: »Stand ein alter Wald, von keinem Beile verwundet. / Dort eine Höhle inmitten, mit dichtem Strauchwerk verwachsen‚ / bildet, aus Steinen gefügt, einen flach sich wölbenden Bogen, / reich an üppig quellender Flut. Im Innern verborgen / hauste die Schlange des Mars, mit goldenem Kamme gezeichnet. / Feuer die Augen ihr sprühn, am ganzen Leib sie von Gift schwillt, / dreifach züngelt’s im Maul, dreireihig stehn ihr die Zähne.« Das Ungeheuer wirft sich auf Cadmus’ Gefährten, »mordet diese mit Bissen, mit mächtiger Umschlingung / jene und die mit dem Hauch des tödlich giftigen Geifers«. Cadmus’ gezielter Steinwurf prallte an den harten Schuppen des Schlangenpanzers ab, doch die eiserne Spitze seines Wurfspeers drang der Bestie in die Eingeweide; wild vor Schmerzen riß sie den Speer aus der Wunde, »doch blieb in den Rippen hängen das Eisen. / Aber jetzt, da zur Wut, der gewohnten, getreten ein neuer / Grund, jetzt blähte die Kehle sich auf von schwellenden Adern, / weißlicher Geifer umschäumt den verderbenbringenden Schlund, die / Erde ertönt vom Rasseln der Schuppen, dem höllischen Maule / schwarzer Atem entquillt und schwängert die Lüfte mit Pesthauch. / Einmal schließt sie den Leib zu unermeßlichem Kreise, / steht dann steiler gereckt als der ragende Stamm eines Baumes‚/ fährt wie ein Gießbach dahin, den Regen geschwellt hat, mit wilder / Wucht und wirft mit der Brust, was an Wald ihr begegnet, zu Boden.« Mit vorgehaltenem Spieß hält Cadmus das drängende Maul zurück und sticht schließlich das Eisen tief in die Kehle des Ungeheuers, dessen Nacken zuletzt an den Stamm einer Eiche gespießt wird, »Nieder bog sich der Baum von der Last der Schlange und ächzte, / daß der Stamm ihm gepeitscht von dem zuckenden Ende des Zagels. // Während der Sieger das Maß des besiegten Feindes betrachtet, / klang eine Stimme plötzlich, woher war nicht zu erkennen, / aber sie klang: »O Sohn des Agenor, was schaust die erlegte / Schlange du an, auch dich wird einst als Schlange man schauen.«

Jacopo Bellini, Drachenreiter. Cabinet des Dessins, Louvre, Paris.
Der Held, der dem Ungeheuer furchtlos entgegentrat, erstarrt in kaltem Entsetzen vor dem prophetischen Wort. Mit Grauen erkennt sich der Drachentöter im Drachen. Da eilt Pallas Athene herbei und rät, die Drachenzähne in die Erde zu streuen. Bald keimt die zwieträchtige Saat:

»Es erscheinen zuerst aus den Furchen die Spitzen der Lanzen, / dann der Häupter Bedeckung mit farbig nickendem Helmbusch; / Schultern tauchen dann auf und Brust und, gerüstet mit Waffen / schwer, die Arme; es wächst die Saat der beschildeten Männer.«

Wie der Drachenzahnsaat entsprossene Nachkommen muten vom 14. bis ins 16. Jahrhundert Roß und Reiter im Harnisch an. In perfekter Mimikry ahmen die Streitkräfte des »Guten« die Streitkräfte des »Bösen« nach. Gezahnte Auswüchse, Schuppen, Stacheln und Krallen sprießen aus den Rüstungen der Ritter und Pferde, Flossen wachsen an Ellbogengelenken, Muscheln am Kniebuckel, Drachen breiten ihre Fledermausflügel auf Sturmhauben aus, Affenteufelsfratzen auf dem Maskenvisier tragen Fledermausflügel statt Ohren und à la Fledermaus läuft der Faltenrockschurz am Harnisch in Krallen aus; Kampfhelme stellen Drachenköpfe mit aufgerissenen Mäulern dar, Zahnkämme bilden das Rückgrat des Roßharnischs oder wachsen aus dem Zaumzeug, und vollkommen paßt sich die Roßstirn in Drachenform der Anatomie des Pferdes an.

Die Ahnlichkeit mit dem Ungeheuer ist nicht allein durch die Maske bedingt. Harnisch im übertragenen Sinn gehört zum Wesen des Pferdes. Der Furor des Drachen ist wie der Furor des Pferdes gorgonischer Natur. Blémma gorgón heißt das feurige Auge des schreckhaften Wesens, dem bei seinen Anfällen von Kopflosigkeit die Augäpfel aus den Höhlen quellen; heftiges Gebaren, unberechenbare Raserei, weißer Geifer am Maul, Aufbäumen, Stampfen und Schnauben sind die infernalischen Aspekte, die das Pferd mit dem Drachen und der Gorgo Medusa teilt.

Aus der Erfahrung des Grauens, das die Begegnung mit den eigenen finsteren Aspekten auslöst, ging die Zahnsaat des chthonischen Drachen hervor; die Drachentravestie christlicher Ritter gedeiht auf dem Boden der gleichen Erkenntnis: Nichts Schrecklicheres kann dem Drachen des Unglaubens begegnen als das eigene Spiegelbild.

Martin Schongauer: Hl. Georg als Drachentöter, um 1470. Kupferstich.
»In ländlichen Gegenden war das Haupthindernis für das Christentum das zähe Fortleben anthropomorpher Kulte; in diesem Fall mußte das Prestige der Quell-, Baum- und Berggottheiten durch eine zusätzliche Humanisierung bekämpft werden.« In Menschen verwandelt und urbanisiert, kommen die Silene der Legenda aurea ohne Roßgliedmaßen aus; ihr Heidentum ist der Pferdefuß, den die griechischen Vegetations- und Herdengötter mit dem Teufel der Christen teilen. Nicht von ungefähr findet der Drachenkampf im Land der Wald-, Berg- und Höhlenbewohner statt. »Georgius kommt von geos, Erde, und ogre, bauen.« Das frische Grün ist die Farbe des »Märtyrers vom unzerstörbaren Leben«, sein Gedenktag der 23. April, der Tag, an dem an vielen Orten die Weidezeit mit dem Austrieb des Viehs beginnt; die finsteren Drachenmächte sind bezwungen, »der Mythos wechselt, während der Brauch bestehen bleibt«. Georgsfeste und -spiele stellen eine Verchristlichung heidnischer Frühjahrsbräuche dar; Slovenen und Zigeuner führten am 23. April einen in Laub gehüllten Burschen als grünen Georg umher, der zum Regenzauber am Ende ins Wasser getunkt werden mußte. Die ungezügelte Fruchtbarkeit antiker Wald- und Weidegeister ist im »heiligen Fürchter« aufgegangen. Als Schutzpatron der Hirten und Herden, der Wachstum, Fruchtbarkeit und Unverletzlichkeit bewirken sollte, mußte Sankt Georg wie seine pferdefüßigen Vorgänger über geheimes Wissen von den Naturkräften verfügen. Wer Georgstaler als Amulett bei sich trug, war hieb-, stich- und kugelfest, konnte nicht vorn Pferd stürzen und selbst das tobende Meer sollte ihm nichts anhaben können. In tempestate securitas stand auf der Rückseite der Drachenkampfmünze unter dem Bild eines Schiffes im Sturm.

Die Schiffahrt über das Meer des Lebens mit dem Stoiker-Motto war ein vertrautes christliches Sinnbild antiker Provenienz: »Ein new Schiff / frische Segel führt/ Durch vngewitter wird probiert. / Mannstugend vnd Beständigkeit / Erscheint in Wiederwertigkeit« heißt die moralische Botschaft frei nach Seneca im Epigramm. Sicherheit in stürmischer Zeit hat Sankt Georg bewiesen, als er, konfrontiert mit dem Bösen, sich nicht vom Gefühlssturm überwältigen ließ. Den kritischen Augenblick vor dem Wendepunkt, in dem eine Hemmung den Entschluß zur Drachentötung in der Schwebe hält, hat Albrecht Altdorfer im Bild verewigt. Wie im kosmischen Panorama seiner großen »Alexanderschlacht« spiegelt im Drachenkampfwald die Natur das seelische Drama. Man täusche sich nicht über das »niedliche« Ungeheuer — die Gefühlsdimension seiner Erscheinung tritt im uferlosen Laubmeer ans Licht.

Meister J.A.M. von Zwolle: Drachentöter. Kupferstich,
Ende 15. Jh.. Grafische Sammlung Albertina, Wien.
Niemand vor und niemand nach Altdorfer hat die Drachenkampfepisode in einem Urwald dargestellt, und kein anderes Georgsbild zeigt eine Schrecklähmung des Ritters. Berge, Felsenhöhlen, Stadt und See der goldenen Georgslegende bilden im gemalten Drachenkampf diesseits und jenseits der Alpen die Kulisse, und wenn der Drache noch nicht gestorben ist, zögert kein heiliger Fürchter, dem Untier die Lanze in den Rachen zu stoßen. In späteren Darstellungen hat auch Altdorfer den Augen- blick der Drachentötung vor mehr oder weniger klassischem Hintergrund gezeigt.

Der glückliche Einfall, den Märtyrer vom unzerstörbaren Leben im wuchernden Grün eines Waldes im Bann des Drachens darzustellen, könnte Altdorfer bei der Jacobus-Lektüre gekommen sein. Das Sonderbare der Silena-Fiktion konnte ihm so wenig verborgen bleiben wie die Verwandtschaft des grünen Georg mit den Silenen. Niemand wußte besser als Altdorfer, daß die unbekümmerte Sinnlichkeit der gente silvatica, die jede Kleidung verschmähten, nur im Wald in ihrem Element war, denn er hatte eine Schwäche für Waldleute der wüsten und der frommen Art, häufig hat er wilde Weiber mit und ohne wildes Balg, wilde Männer mit und ohne Lendenschurz, Satyrfamilien, Hexen und Eremiten in Wäldern dargestellt, die vom Baumsterben gezeichnet sind. Der Lamettawuchs geschädigter Fichten, kahles Geäst‚ von dem Schlingpflanzen und Flechten herabhängen, und die federbuschartigen Triebe übernutzter Bäume mit Kopfschneitelung waren ganz nach seinem Geschmack. Wie alle Maler der Donauschule schwelgte er im Schnörkelspiel‚ alles Bauschige, Gewellte, Gefiederte, Bewegte schmeichelte seinem Sinn.

Auf allen Ebenen der Betrachtung stellt Altdorfers Drachenkampfwildnis den Gegenpol zur davidischen Waldansicht dar. 28 cm x 22 cm mißt das kleine Bild, das wie eine Miniatur auf Pergament gemalt ist. Ungewöhn- lich ist die Verwendung von Ölfarbe auf diesem Grund; die Technik alla prima bricht mit der Tradition. Zwar sind die gelbgrünen Laubschnörkel ins olivfarbene Dunkel gemalt, die Glanzlichter darin nachträglich gehöht, aber das Ganze ist nicht mehr Schicht für Schicht aufgebaut, dem vollendeten Bild ging keine analytische Zerlegung voraus. Frei ist der Pinsel des Malers, beschwingt die Kalligraphie; die Hand will sich nicht verbergen, die Kunst triumphiert im Linienspiel. Die festumrissene Gestalt der Blätter und Bäume läßt Altdorfer kalt, was ihn entflammt, sind die Kaskaden des Lichts in den Turbulenzen des Laubmeeres‚ die der Wind erzeugt.

Ikone aus Wysokie, Slowakei, um 1500. Sie zeigt
nicht nur die Tötung, sondern auch die Zähmung
des Drachens, den Martha am Halsband hält.
Auf der Skala zwischen den Polen seiner Zeit steht Altdorfer ganz auf der optischen und malerischen Seite, Verschmelzung und Bewegung kennzeichnen seinen Stil, und auch der Eigenwert der Farbe ist sekundär. Sein Wald ist kein Wald der Symbole, kein »im geistigen Spiegel zusammengezogenes Bild«, das mit seinem Gegenstand identisch wäre. Altdorfers imaginäres Laubmeer hat den Gefühlswert der Musik und wartet noch immer auf den Komponisten, der die Partitur aus seinem rauschenden Blattwerk liest.

Quelle: Anita Albus: Die Kunst der Künste. Erinnerungen an die Malerei. [Die Andere Bibliothek, Band 145] Eichborn, Frankfurt/Main, 2. Auflage 2005. ISBN 2-8218-4461-2. Seite 158-171

ANITA ALBUS lebt als Autorin und Malerin in München und im Burgund. Für DIE ANDERE BIBLIOTHEK hat sie Porträts aus dem 19. Jahrhundert von Jules und Edmond de Goncourt übersetzt („Blitzlichter“. Nördlingen 1989) und Werke von Rudolf Borchardt und Claude Lévi-Strauss illustriert („Der leidenschaftliche Gärtner“ und „Die eifersüchtige Töpferin“. Nördlingen 1987).


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