4. März 2019

Charles Ives: Klavierlieder

„Wir haben zu lange auf die richterlichen Musen Europas gehört" - mit diesem Satz gab Ralph Waldo Emerson Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts der amerikanischen Literatur ihr Thema auf; programmatisch könnte diese Zeile auch über dem Gesamtwerk von Charles Ives (1874-1954) stehen. Ives verstand die Botschaft wohl, verfocht sie sein ganzes Leben lang. Er polemisierte respektlos-respektvoll gegen europäische Musiktradition, gegen deren Träger, gegen Haydn und Mozart („Musik für Ladies - hübsche kleine Zuckerpflaumenklänge"), gegen Beethoven („Ein großer Mann, aber ein ,Oh‘ für nur einen kräftigen und starken Akkord, der nicht an irgendeine Tonart gebunden ist") und anläßlich eines Besuchs der „Götterdämmerung" gegen Wagner: „Viel Lärm um nichts". Die Argumente lieferte er in Form einer musikalischen Gegenthese gleich dazu.

Wie bot sich Ives denn der Zustand der amerikanischen Musik dar? Zwar konnte sich Mitte des letzten Jahrhunderts fast jede amerikanische Kleinstadt rühmen, einen deutschen oder österreichischen Musiklehrer in ihren Mauern zu beherbergen; wer jedoch als Komponist im eigenen Land etwas gelten wollte, hatte zumindest einige Monate lang die Konservatorienbänke Europas abzusitzen. Und so schwärmten sie denn aus. William Mason, Sohn des Komponisten und Lehrers Lowell Mason, der wohl ersten „musikalischen Stimme" Amerikas, eröffnete 1849 den Exodus. Er ging ans Leipziger Konservatorium, studierte Klavier bei Moscheles und Komposition bei Moritz Hauptmann. 1857 folgte ihm John Knowles Paine, der bei Carl Haupt in Berlin Orgel und bei Joachim Raff in Frankfurt Komposition studierte. Ihm folgte Dudley Bück, der spätere Orgellehrer von Ives in Yale; ihn zog es ebenfalls zu Moscheles und Hauptmann. Nur kurzfristig durch den Civil War unterbrochen, geht es dann weiter: Henry Theophilus Finck geht nach München zu Rheinberger. 1877 folgt ihm Edward MacDowell, nimmt Klavierunterricht bei Marmontel in Paris (Debussy ist ein Studienkollege), geht 1880 nach Frankfurt zu Raff. 1882 nimmt Horatio Parker, der spätere Lehrer von Ives in Yale zwischen 1894 und 1898, seine Studien bei Rheinberger auf.

Dreizehn Jahre später scheitert Anton Dvorak am Unverständnis amerikanischer Musikfunktionäre gegenüber seiner Forderung nach einer eigenständigen „nationalen" Musik. 1894 verläßt er das National Conservatory of Music in New York, das er seit 1891 geleitet hatte und kehrt Amerika enttäuscht den Rücken. Noch ein paar Jahrzehnte später hatte Europa nichts von seiner Anziehungskraft verloren: George Gershwin versucht sein Glück bei Ravel. Der winkt ab, im Gegensatz zu Nadia Boulanger, die eine regelrechte Wallfahrt zu ihrer Pariser Lehrstätte provoziert: Aaron Copland, Walter Piston, Roger Sessions, Virgil Thomson, Wallingford Riegger - die Liste ließe sich beliebig verlängern.

Aber es gab auch eine Bewegung in umgekehrter Richtung: Edgar Varese etwa, der 1915 nach Amerika kam und 1921 die International Composers‘ Guild zusammen mit Carlos Salzedo ins Leben rief, die zahlreiche Uraufführungen unterstützte: Werke von Ruggles und Copland, aber auch von Berg und Webern. 1928 gründete Varese die Pan American Association, mit deren Unterstützung 1931/32 die drei berühmten, ausschließlich amerikanischen Komponisten gewidmeten Konzerte in Paris und Berlin stattfanden. Charles Ives war im ersten der beiden Pariser Konzerte mit den „Three Places in New England" vertreten, die anderen Komponisten waren Cowell, Ruggles, Varese, Weiss, Roldan, Sanjuan, Chavez, Riegger und Cartula. Wetterte der angesehene Musikkritiker Philip Haie aus dem fernen Boston: „Die (in Paris) vorgestellten Komponisten gelten bei ihren Landsleuten nicht als führende Stimmen auf ihrem Gebiet, auch nicht bei den Dirigenten unserer großen Orchester. Hätte Mr. Slonimsky (der Dirigent der Konzerte) Kompositionen von Loeffler und Hill, eine der Suiten von Deems Taylor oder Foote ausgewählt, hätte er Geschmack gezeigt. Das Publikum in Paris würde einen besseren Eindruck von dem gewonnen haben, was Amerikaner auf dem Feld der Kunst leisten."

Charles Ives schreibt dazu im August 1931: „Tante Philip Nathan Haie hat entweder für Musik kein Gespür oder Haie ist bewußt unfair; um es kurz zu machen: Er ist entweder dumm oder ein Schwindler." - Die Zeit gab Ives recht; Namen wie Loeffler oder Foote, Taylor und Hill sind heute an die musikalische Peripherie gedrängt.

Copland erinnert sich, daß seine Komponistengeneration in den 20er und 30er Jahren nach einer „Vaterfigur" der amerikanischen Musik Ausschau gehalten hätte. Ives hätte es damals sein können, so wie er es heute ist. Nur: Als Ives 1954 starb, waren von seinen Orchesterwerken allein die „Three Places in New England" gedruckt, die dritte Sinfonie - eine Nachschrift, Gustav Mahler, der wohl als einer der ersten die Bedeutung von Ives erkannte, nahm 1910 die Originalpartitur mit nach Europa, um sie dort aufzuführen; sie gilt als verloren - sowie eine völlig korrumpierte Fassung der zweiten Sinfonie, die mittlerweile vom Peer-Verlag revidiert wurde. Hinzu kommen noch die Concord- Sonate und die „Essays Before A Sonata", die Sammlung der „114 Songs" von 1921/22 und einige kleinere Werke - nahezu alles auf eigene Kosten gedruckt, und dies zu einer Zeit, als Ives schon nicht mehr komponierte. Kein geeigneter Ausgangspunkt für eine Verbreitung seines Werks mithin, zumal sich Ives darum nicht sonderlich scherte. Was er von öffentlichen Ehrungen hielt, faßt er anläßlich der Bekanntgabe des Pulitzer-Preises für die 3. Sinfonie, 1947, so zusammen: „Preise sind die Abzeichen der Mittelmäßigkeit". Er lehnt ab.

Charles Ives starb mit 79 Jahren als reicher Mann. Seit 1909 war er Kompagnon eines Versicherungsbüros, das einer der drei größten Gesellschaften auf diesem Gebiet in New York angegliedert war; seine Komponiertätigkeit verlegte er auf die Abendstunden und Wochenenden. Zieht man den Radius, in dem praktisch alle größeren Werke entstanden, weit, so bleibt die Spanne zwischen 1894, dem Beginn des Studiums in Yale, und 1916, dem Abschluß der vierten Sinfonie - rund zwanzig Jahre. Was nach 1916 kam, bestand zur Hauptsache in der Sichtung und Ordnung des angesammelten Materials. Für die Ausgabe der „114 Songs", wohl der bedeutendsten Liedsammlung Amerikas, wurden Klavierfassungen hergestellt - „Klavierreduktionen" nannte sie Ives - und einige Lieder hinzukomponiert. Abgeschlossen wurde 1920 die Concord-Sonate mit den „Essays", die, wie auch seine politischen Schriften, starke Impulse empfingen von den „praktischen Transzendentalisten" des „Concord Club", insbesondere von Emerson und den Sozialrevolutionären Schriften Thoreaus.

Darüber hinaus ließ Ives in späteren Jahren noch zuweilen seine alten Zinnsoldaten aufmarschieren, Projekte, mit denen er sich über Jahrzehnte hinweg auseinandersetzte: so etwa 1932 seine gigantische „Universe Symphony", deren Vorarbeiten bis auf das Jahr 1902 zurückgehen und die wohl eines der gewaltigsten Experimente „räumlicher" Musik hätte werden sollen (spatial music heißt es später bei John Cage, der sich bei Kompositionen wie „HPSCHD" ausdrücklich auf die „Universe Symphony" beruft.) Ives zu seinem Freiluft-Spektakel: „In der Universe Symphony sollten sechs bis zehn verschiedene Orchester auf Bergspitzen postiert werden, die, alle unabhängig voneinander, einen eigenen zeitlichen (und musikalischen) Ablauf verfolgen. Ein gemeinsames Treffen ist nur dann gegeben, wenn die einzelnen Kreise zusammenfallen." Zu dieser Zeit, etwa zu Beginn der dreißiger Jahre, war an eine Ausführung dieses kühnen Experiments aufgrund der angegriffenen Gesundheit des Komponisten nicht mehr zu denken.

Zwischen 1896 und 1916 schrieb Ives seine vier Sinfonien, die vier Violinsonaten, seine beiden Klaviersonaten, eine Reihe von größeren Orchesterwerken (unter ihnen als bedeutendste das einander ergänzende Paar „The Unanswered Question" und „Central Park in the Dark", die „Robert Browning" - Ouvertüre, die „Holidays-Sinfonie", „Three Places in New England" und der zweite „Orchestral Set" - der dritte blieb unvollendet -), zwei Streichquartette und weitere Kammermusikwerke, zahlreiche Lieder (insgesamt wurden es am Schluß rund 150).

Nahezu alle Werke unterlagen langjährigen Metamorphosen. Themenkomplexe, ganze Sätze wurden ausgetauscht, uminstrumentiert, neu gruppiert, von früheren in spätere Werke transplantiert. In seinen Kompositionen hat Ives eine Art Prinzip des „musikalischen Recycling" verfolgt, das, auf langen Assoziationsketten aufbauend, sich durch sein ganzes Werk hindurchzieht. Und hier ist es insbesondere das Material, das ihm seine unmittelbare geographische wie musikalische Umwelt an die Hand gab. Ives stand mit beiden Beinen fest in Neu-England. Er war seit Kindestagen mit den Melodien der Camp Meetings, den Märschen und Liedern des Civil War und des Independence War vertraut, kannte Stephen Foster ebenso wie die Kirchenhymnen eines Mason oder des Revival-Gottesdienstes (Ives hatte nahezu 14 Jahre eine Stelle als Organist an verschiedenen Kirchen inne).

So durchziehen denn „Columbia, the Gern of the Ocean", der „Yankee Doodle", „Marching through Georgia", „Camptown Races" und wie die „Ohrwürmer" dieser Zeit auch alle heißen mögen, kreuz und quer sein Werk, bilden ein dichtes Netz von Querverweisen und Rückbezügen, markieren sozusagen den „roten Faden". Das mag den Eindruck erwecken, als sei Ives eine Art musikalischer „Grandpa Moses". Die nahezu durchweg dem Subkulturellen entstammenden Zitate stehen jedoch häufig in einem ganz bestimmten musikalischen Kontext, stechen nur selten unvermittelt und plakativ hervor, sondern werden zumeist rhythmisch gezerrt, harmonisch aufgeweicht, ironisiert - verfremdete, jedoch an keiner Stelle entfremdete „Folklore" äußert sich als historisches Bewußtsein.

Deutlich ist dies in der zweiten Sinfonie zu beobachten, einer ansonsten nicht sonderlich aufregenden, aber handwerklich sehr talentierten Komposition. Das Werk ist ebenso eine Abrechnung mit dem akademischen Lehrbetrieb in Yale wie mit europäischer Musiktradition: Brahms, Dvorák- und Beethoven-Zitate, aber auch langtaktige kontrapunktische Arbeit werden mit Liedern und Märschen von Ives' Neu-England-Heimat konterkarikiert. Die Sinfonie endet mit einer kräftigen Dissonanz; Ives hat sich für Amerika entschieden, gegen den von Parker aus Europa importierten Klassizismus-Verschnitt. Mag dies noch für eine gewisse regionale, wenn man will, auch nationale Komponente seines Werks stehen - an keiner Stelle war Ives mehr Amerikaner als gerade innerhalb dieses Zitatverbunds -, so liegt doch seine eigentliche Bedeutung in dem, was man heute mit Cluster, Polyrhythmik und -Tonalität, serieller Musik, Aleatorik, Collage, kontrapunktischen Klangmassen, spatial music, Viertelton-Musik, nichtsynchronisierten Orchestergruppen und vielem anderen mehr bezeichnet.

Manches hat Ives theoretisch bereits wieder verworfen, ehe es überhaupt von anderen Komponisten entdeckt wurde (etwa die Komposition nach zwölf Tönen). Beispiele für Ives' musikalische Reise in die Zukunft sind in nahezu jedem Werk greifbar. Ives blieb das Los eines Vorläufers erspart, eben nur „Vorläufer" zu sein. Er hat keine Schule gegründet, er kannte nicht das „Sacre"-Jahr 1913 eines Strawinsky. Seine Musik blieb weitgehend unbekannt. Wenigen Repräsentanten eines offiziellen Musikbetriebs, denen er die ein oder andere Partiturseite zeigte, erklärten sich interpretatorisch wie musikalisch für inkompetent. Als dann die ersten, oftmals haarsträubend entstellten Partituren erschienen waren, sich bescheidene Aufführungen anschlossen, da sprang der musikalische Funke über: auf Komponisten wie Cowell, Carter, Copland, Harris, Cage...

Quelle: »Mehr als ein Vorläufer: Charles Ives«. Eine Porträtskizze von Wolfgang Mohr. Erschienen im fono forum 7 / 1976, Seite 612 ff.




Lucien Febvre

Zwischen dem Ungefähr und dem strengen Wissen liegt das Hören-Sagen


Alexandre Koyré (1892-1964),
Philosoph und Wissenschaftshistoriker
Alexandre Koyré, der gegenwärtig in Frankreich der beste Kenner der vergleichenden Wissenschaftsgeschichte und der Technik zur Zeit Galileis und seiner Nachfolger ist, hat in der Zeitschrift Critique (Heft 28, Sept. 1948) einen Artikel veröffentlicht, der den unmittelbar einleuchtenden Titel trägt: »Du monde de l'à-peu-près a l’univers de la précision«. Der Artikel steht in einer Reihe mit anderen über das Maschinenwesen, die in derselben Zeitschrift erschienen sind (Hefte 23 und 26). Uns interessiert er in besonderer Weise, zum einen von seinem Gegenstand her, zum anderen, weil er sich teilweise auf ein Buch, Le Problème de l'incroyance au XVIe siècle stützt, von dem Koyré schreibt, obgleich es sie »nur beiläufig« berühre, habe es der Geschichte der Technik viel zu bieten.

Koyrés Artikel enthält eine Fülle neuer Ideen und origineller Problemstellungen. Was niemanden erstaunen wird, der seine Leistungen seit Jahren verfolgt. Weshalb ist das Maschinenwesen, das im 17. Jahrhundert aufkommt, nicht zwanzig Jahrhunderte früher in Griechenland aufgetreten? Weil die griechische Wissenschaft keine Physik im modernen Sinne des Wortes besaß und somit nicht zu einer wirklichen Technologie gelangen konnte. Aber wieso besaß sie keine andere Physik als die aristotelische? Weil die Statik der Dynamik vorangehen muß — und weil Galilei undenkbar ist vor Archimedes . . . Gleichwohl war doch von Archimedes bis zu Galilei genügend Zeit, um eine Dynamik zu entwickeln? Ja. Und damit stellt sich die Frage nach dem jähen Ende der griechischen Wissenschaft. Untergang der Polis? Folge der römischen Eroberung? Oder des Christentums? Sagen wir so: die griechische Wissenschaft hat keine Physik ausgebildet, weil sie gar nicht danach strebte. Und sie strebte deshalb nicht danach, weil sie so etwas gar nicht für möglich hielt. Weil sie nicht glaubte, man könnte »die Alltagswirklichkeit mathematisieren« — eben dies heißt ja für uns Physik betreiben —, denn diese Wirklichkeit ist der Bereich der Bewegung, des Unscharfen, des Ungefähren.

Von daher rührt die ungemein interessante Vorstellung, die A. Koyré formuliert: es konnte dem griechischen Denken niemals einfallen, daß die Exaktheit von dieser Welt sein könnte — daß also die mathematischen Wesenheiten, diese präzisen Abstraktionen, in die unpräzise, ungefüge und unstete Materie unserer irdischen Welt eingehen könnten. Daß es in der himmlischen Welt anders zuging‚ davon waren die Griechen überzeugt. Daß der Lauf der Gestirne aufs genauste den Gesetzen der strengen Geometrie folgte, behaupteten sie ohne Zögern. Hier die Erde, dort die Himmel. Was für diese gilt, besagt nichts für jene. Die griechische Wissenschaft hat also zielstrebig eine Himmelsmechanik entwickelt. Aber sie hat nie versucht, die Bewegung auf Erden zu mathematisieren oder auf Erden ein Meßinstrument zu verwenden: »Durch das Meßinstrument aber greift die Vorstellung der Exaktheit auf die Welt über.« Ein grundsätzlicher Unterschied der himmlischen von der irdischen Welt. Der so ausgeprägt war, daß sich, wie Koyre schalkhaft bemerkt, bei den Griechen sogar »die Sonnenuhr, das Instrument, das die Botschaft der Himmelsbewegung auf die Erde übermittelt«, gezwungen sah, nicht den Sternentag von vollkommen konstanter Länge anzuzeigen, sondern »die mehr oder weniger langen Stunden der Welt des Ungefähr . . .«

»Problème de l'incroyance«, Febvres Studie
über Rabelais, ist inzwischen auch
auf Deutsch erschienen.
A. Koyré beschränkt seine Überlegungen nicht auf die griechische Welt. Seine Äußerungen zur Geschichte oder besser Vorgeschichte der technischen Revolution des 17. und 18. Jahrhunderts sind nicht weniger interessant und überzeugend. Kennzeichnend für die ersten Maschinen sei es gewesen, daß sie nie »berechnet« gewesen seien. Und darum habe man ihnen nur die gröbsten industriellen Verrichtungen übertragen. Die anderen, feineren, wurden von Menschenhand ausgeführt.

Wie hätten die Maschinen jener Zeit dies sein können: berechnet? Der Mensch des Mittelalters, noch der Mensch der Renaissance versteht nicht zu rechnen. Und Koyré bezieht sich hier auf das, was ich im Problème de l'incroyance dazu gesagt habe, auf etwa fünfzig Seiten, die eine Art Inventar der Möglichkeiten des wissenschaftlichen Geistes im 16. und vor dem 16. Jahrhundert darstellen. Dabei verlängert er meine Feststellungen in Richtung eines vollkommenen Idealismus. »Ich glaube«, schreibt er (S. 813), »daß es nicht ausreicht, mit Lucien Febvre zu sagen, es habe dem Menschen des Mittelalters und der Renaissance am materiellen und geistigen Rüstzeug gefehlt, um dies (nämlich zählen, wiegen, messen) zu tun.« Gewiß war noch der Gebrauch der einfachsten, heute völlig üblichen Instrumente ihnen unbekannt. Gewiß hatten sie weder einheitliche Bezeichnungen noch allgemein anerkannte Maße. Aber erklärt sich nicht dieses doppelte Manko vor allem aus der Mentalität der Zeiten des Ungefähr? Liefert uns nicht der Fall der Alchemie eine entscheidende Antwort? Im Laufe ihrer tausendjährigen Existenz ist es ihr, ihr als einziger, gelungen, »sich ein Vokabular, eine Notation und sogar ein Werkzeug zu verschaffen, das unsere Chemie geerbt und bewahrt hat«. Und doch ist ihr niemals ein präzises Experiment gelungen, hat sie nie die Bedingungen des Experimentierens im modernen Sinne des Wortes definiert. Weshalb nicht? Weil sie es nie versucht hat. Und was stets den Alchemisten vom Weg des strengen Experiments abhielt, war nicht die »materielle Unmoglichkeit«‚ Messungen durchzuführen, sondern das Nichtvorhandensein der »Vorstellung«‚ daß man sie durchführen müßte. Mit anderen Worten: »Nicht das Thermometer fehlt, sondern die Vorstellung, daß Wärme sich exakt messen läßt.«

Koyrés Artikel steckt voll präzisen Wissens, ist bis in alle Details durchdacht, und man liest ihn mit Gewinn und Vergnugen. Etwas aber möchte ich noch hinzufügen.

In meiner Bibliothek stehen zwei in Kalbsleder gebundene Bücher, zwei kleine Quartbände, das gängige Format der Zeit. Ihr Titel: Journal des Voyages de M. de Monconys, conseiller du Roy en ses Conseils d'Estat et Privé, et lieutenant criminel du Siège présidial de Lyon. Das Werk‚ herausgegeben von Herrn de Liergues, dem Sohn des Verfassers, erscheint 1665 in Lyon bei Horace Boissat und Georges Remens. Das 16. Jahrhundert liegt weit zurück. Rabelais ist seit mehr als hundert Jahren tot.

Dieser Herr de Monconys ist weiß Gott kein Dummkopf. Von Hause aus interessiert er sich für curiositez und Erfindungen. Sein Sohn erinnert daran, daß vor sechzig Jahren (also um 1600) »ein Präsident dieses Namens eine Einrichtung ersann, die großen Kähne auf den Flüssen von einer Maschine ziehen zu lassen« (I, 1). Er selbst, Herr de Monconys, interessiert sich unterschiedslos für alles. Er betrachtet die schönen Bilderer in Italien oder in den Niederlanden mit derselben Leidenschaft wie die schönen hydraulischen Maschinen.

»Journal des Voyages de M. de Monconys,
conseiller du Roy en ses Conseils
d'Estat et Privé, et lieutenant criminel
du Siège présidial de Lyon.« (Lyon, 1665).
Nachdem er 1663 in Magdeburg »Monsieur Otoh Gerike, Bürgermeister und ein hochgelehrter Mann in der Pneumatik«‚ welcher »das Experiment der Leere« meisterhaft beherrscht (II, 231), besucht hat, hält ihn das nicht davon ab, ebenso in Amsterdam bei »Maler Vandreuvelde« haltzumachen, von dem er ein Seestück für zwei Zechinen kauft, oder in Leyden bei »dem berühmten Maler Mirris« und seinem Meister »namens Dau« — phonetische Umschriften von Mieris und Dow. Er verfaßt leichthin eine Denkschrift über die Erschaffung der Welt (I, 155) oder die Nilflut in Agypten (I, I58)‚ produziert aber auch gelegentlich ein Sonett (I, 144) oder interessiert sich in Leyden fur eine hübsche Magd, die ihm zu bestätigen scheint, was Guiccardini von der Schönheit der Frauen in dieser Stadt sagt (II, 152). Umtost von einem Dezembersturm im Mittelmeer gegen Ende des Jahres 1646, wird er weder (physisch) krank noch (moralisch) »verwundert« ob solch wildem Wüten, und dieweil die Meeresbrandung den Schiffskoch daran hindert, sein Feuer anzuzünden, läßt er sich, ganz Stoiker, des Abends »Spiegeleler in Papier über einer Kerze« braten (I, 145).

Im September 1646 sehen wir ihn in Marseille. Er spürt sogleich nach Seekarten und . . . Seeigeln‚ erkundigt sich bei zwei Reisenden, die dort geweilt haben, nach der Levante, geht zur Messe bei den Kapuzinern, begrüßt »in der Allee der Lorbeerbäume« Herrn de Scuderi, geht sodann zu einem Destillateur, um sich Salpetergeist und Vitriol zu besorgen. »Besagter Herr sagt mir«, und Monconys notiert brav und kommentarlos das Rezept, »daß wenn man uriniert, bevor das Quartfieber ausbricht, und man tränkt sodann ein Brot mit diesem Urin und gibt das ganze Brot einem Rüden zu fressen, so geht das Fieber auf ihn, und der Kranke genest« (I, 88).

Unfug, denken wir, und schwach entwickeltes Kritikvermögen. Immer sachte! Einige Zeit zuvor hatte Monconys in London haltgemacht, und am 8. Mai 1645 hatte er die Oberin der Ursulinerinnen, »die nach allgemeiner Meinung ehedem besessen gewesen« (I, 8), besucht. Gebeten, ihm die Male zu zeigen, die der Dämon, der sie besessen, bei seiner Austreibung auf ihrer Hand hinterlassen hatte, leistet die Oberin bereitwillig Folge, und, fährt Monconys fort, »indem sie den Handschuh von ihrer linken Hand zog, erblickte ich dort in blutroter Schrift die Worte Jesus, Maria, Joseph und weiter unten F. de Salles«. Hieran knüpft sich das Gespräch. Die Oberin tadelt den Bruder Grandier, der das Kloster »verhext« habe, erzählt die ganze Geschichte — und wendet sich zum Gehen. Doch bevor sie sich zurückzieht, bittet Monconys sie, ihm noch einmal ihre Hand zu zeigen und betrachtet sie aufmerksam: »Ich bemerkte zu ihr«, schreibt er, »daß das Rot der Schrift nicht mehr so leuchtend sei wie als sie gekommen«, und daß die Buchstaben abzublättern schienen . . . Tatsächlich entfernt unser Kritiker »durch eine leichte Berührung« mit dem Fingernagel »ein Stück vom Fuß des M«. Damit hat es sich. In seinem Journal notiert Herr de Monconys nur: »Dies befriedigte mich.« (I, 9).

Und so geht es fort. Auf der Reise in Italien trifft Monconys in Florenz ein, geht »beim Buchhändler Céchi« ein und aus, wo ihn Herr Torricelli empfängt; er sieht dort »etliche Galiläer«, besucht am darauffolgenden Tage wieder Torricelli, probiert seine Brillen, geht dann mit ihm in der Annunciata die Messe hören. Auf Brillen und Mikroskope ist er seit langem neugierig (I, 177); »er hat als erster in Frankreich Sehgläser von Eustatio Divini mit 2 Konvexlinsen gehabt«, hat sich ein solches zu vier Gläsern vom Pater Reitha anfertigen lassen, und hat später »bei dem besagten Divini ein Teleskop von 15 Schrauben mit 5 Gläsern machen lassen — und bei dem Schwiegersohn von Viselius ein Mikroskop, das er sehr schätzte«. Er begnügt sich nicht damit, (oft sehr teure) Instrumente zu kaufen. Er versteht sich auch auf ihre Theorie und diskutiert mit Herrn Roberval »über den Schnitt der Gläser nach der Lehre von Herrn Desuxrtes« (I, 117 f.). Kurz, er ist ein gelehrter Mann, der über die neuesten Fortschritte der wissenschaftlichen Technik seiner Zeit Bescheid weiß.

Älteste publizierte Darstellung einer Wasserhose in Europa.
Gezeichnet von Balthasar de Monconys, beobachtet am 31. Dezember 1648
vor der sardinischen Küste.
Was ihn nicht davon abhält, ein »Geheimnis« — eines unter hundert anderen — aufzuzeichnen, das ihm Firminio Maselet anvertraut, der es seinerseits von seiner Gastgeberin in Deutschland hat. Diese ehrenwerte Dame hatte, »um einen Schnupfen zu kurieren, sich bloß in ein Papier geschneuzt, in das sie noch eine kleine Münze, etwa einen Kreuzer, wickelte, um es dann zu Boden fallen zu lassen, auf daß der erste, der es aufhöbe, den Schnupfen finge und sie davon geheilt wäre«.

Ich sage bewußt: unter hundert anderen. In Rom lehrt ihn der Pater Kircher (und er schreibt es gleich frisch auf, II, 452), »daß die Steine, die sich im Körper der Vipern finden«, legt man sie »der Wunde eines Hundes auf, der von einer Viper gebissen wurde«, dort haften bleiben, bis daß sie »das ganze Gift herausgezogen haben«; danach fallen sie von selbst ab und reinigen sich, wenn man sie in Milch legt. Im Juli 1663 zeigt ihm in Brüssel ein Herr Longin, »der sich an der Chemie ergötzt«, Steine, die in Darmstadt wachsen, und die »ganz wie Knochen aussehen«. Aufgebraut »wehren sie allen Arten von Knochenbrüchen«. Die Gründe sind ähnlich denen, die bewirken, daß die hl. Klara . . . klarsichtig macht (II, 117).

Ich wiederhole von Monconys, was ich kürzlich über die Richter der Wahnsinnigen von Ranfaing geschrieben habe. Diese Richter, die man in Nancy versammelt, um über das Schicksal eines Arztes zu befinden, den eine Hysterikerin der Hexerei beschuldigt, diese Richter, deren Entscheidung uns schockiert, repräsentieren eine Elite. Und Monconys, der uns feierlich dies Rezept gegen Migräne überliefert, das ich einfach wiedergeben muß (II, 332; Februar 1664): »Schneide einer Kröte das linke Vorderbein ab und laß sie laufen; dann laß das Bein auf einer Ziegel gut ausdörren — und trägt nun eine von der Migräne befallene Person dies Pulver stets auf ihrem Herzen, so wird sie in weniger als drei Monaten für immer davon geheilt sein . . .« — Monconys, dieser leichtgläubige Monconys, ist ein kultivierter, wißbegieriger Mann, der es versteht, grundsätzlich zu denken, nach cartesischer Weise, gelassen und verständig; er sieht genau hin, was so banal nicht ist; er hegt kritisches Mißtrauen; als man ihm in London erzählt, das Schiff von St. Paul’s Cathedral sei länger als das des Petersdoms (II, 12), schreibt er: »Ich konnte es nicht beurteilen, da ich es nicht hätte messen können«; er gehört zu jener internationalen Gesellschaft von »gelehrten Männern«‚ in die uns der Pater Mersenne einführt, und die uns in Frankreich durch das ausgezeichnete Buch von Pintard bekannt ist; er bewegt sich in einer Welt von Sehgläsern (bzw. Ferngläsern) und Teleskopen — aber auch von Mikroskopen und bereits von Thermometern und Barometern, die sozusagen vom Thermometer abzweigen. Also ganz das Gegenteil eines Dummkopfes, eines Ignoranten, eines Leichtgläubigen. Und doch . . .

Vermessung des Puy de Dome mit Torricellis Barometerröhre.
Illustration aus Louis Figuier: Les Merveilles de la Science (1867).
Und doch, ich wiederhole, was ich anderswo gesagt habe: diese Männer »sind nicht fixiert«. Sie debattieren in einem Universum ohne Grenzen, in dem alles zu erkennen ist, alles ihnen Fragen stellt oder, wenn man lieber will, alles ihnen Rätsel aufgibt. Und wie soll man es angehen, von welchem festen und gehörig gesicherten Punkt? Keine Ahnung. Sie haben das Wirkliche noch nicht im Griff. Haben noch keine Hebel, um ein Stück herauszulösen, wie klein es auch sei. Zuviel Pflanzen, zuviel Tiere, zuviel mineralische Körper, zuviel Organe im menschlichen Körper, zuviel Krankheiten, zuviel von allem. Wie etwa soll man das Mögliche vom Unmöglichen scheiden, nach welchem Kriterium? Und so bleibt der große Wille der des Menschen, welcher spricht, behauptet, versichert, Hand aufs Herz, als getreuer Beobachter die Wahrheit zu sagen. Meist unter Berufung auf die Erfahrung eines anderen, eines glaubwürdigen anderen, versteht sich . . .

Denn Monconys Rezepte sind ja in der Tat nicht anonym. Sie wurden ihm mitgeteilt an dem und dem Tag, zu der und der Stunde, da und da, von dem gelehrten Herrn Soundso, einem Mann, dessen Rechtschaffenheit außer Zweifel steht. Monconys gibt acht, identifiziert seine Gewährsleute, tut alles oder fast alles, was er kann, um redlich zu verfahren. Blinder Glaube ist nie seine Sache. Aber Zweifel ist es auch nicht — eher schon Abwarten. »Probieren wir’s. Probieren kostet nichts. Warum eigentlich nicht?« In der Tat, warum nicht? Es ist ja alles Ansichtssache.

Die paar Prinzipien, die es später, einiges später, den Europäern erlauben werden, mit einiger Sicherheit das Mögliche vom Unmöglichen zu scheiden — diese Prinzipien besitzen die Zeitgenossen Monconys’ nicht. Descartes nützt ihnen nichts oder so gut wie nichts auf dem ungeheuren Feld jener Biologie, die noch keinen Namen hat zur Zeit Monconys’ und erst viel später einen erhält (vermutlich mit Lamarck, der 1802 zum ersten Mal ein Wort im Französischen gebraucht, das zur selben Zeit der Naturforscher Treviranus ins Deutsche einführt). Es ist eine Welt des Ungefähr. Aber das ist noch nicht alles. Es ist auch das Königreich des Hören-Sagens. Des Hören-Sagens, das unerschütterlich auf seinem Thron sitzt und alle »gelehrten Männer« à la Monconys beherrscht bis zu dem Tage, da die ersten Physiologen, von Lavoisier bis Claude Bernard, daran gehen, das Gebäude einer auf Beobachtung und Experiment beruhenden Wissenschaft zu errichten, und man sich allmählich jener Wissenschaft zu nähern vermag, die täglich die Fronten des Lebens hinausschiebt — und die, vorsichtig vom Bekannten zum Unbekannten schreitend, zwar nicht das physische Universum in Besitz nimmt, wohl aber immer mehr und immer dichtere Netze über es wirft. Wohl sind sie allesamt provisorisch, doch von Mal zu Mal rücken sie dem Unbekannten etwas näher — auch wenn es sich nie ganz intelligibel machen lassen wird. Denn verlöre nicht das Leben seinen Reiz, ja, vielleicht seinen Sinn, wenn dies dem Menschen gelänge? Doch einstweilen droht uns dieses Unheil nicht.

Quelle: Lucien Febvre: Das Gewissen des Historikers. (Hrg und übersetzt von Ulrich Raulff.) Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 1988. ISBN 3 8031 3539 7. Seite 199-204. (Die französische Originalfassung erschien in Annales, V, 1950)


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