15. März 2019

Franz Schmidt: Das Buch mit sieben Siegeln

Zwar gilt Franz Schmidt als österreichischer Komponist; tatsächlich aber wurde er als Nachkomme ungarischer, deutscher und slawischer Vorfahren in der polyglotten Österreichisch—ungarischen Stadt Pressburg (heute: Bratislava) geboren. Er studierte Komposition bei Anton Bruckner und war gleichermaßen als Pianist, Cellist und Organist begabt — das heißt, er gehörte zu den vielseitigsten Künstlern seiner Zeit. Von 1896 bis 1914 wirkte er als Cellist im Orchester der Wiener Hofoper und bei den Wiener Philharmonikern. Unter anderem bewunderte Gustav Mahler die Fähigkeiten des gefragten Künstlers, der sich auch als Kammermusiker einen Namen machte — als Cellist nämlich des Streichquartetts, in dem Arnold Schönbergs Freund und Franz Schmidts Arzt Oskar Adler die erste Geige spielte (es sei bemerkt, dass Schmidt und Schönberg trotz ihrer ganz erheblichen stilistischen Unterschiede ein herzliches Verhältnis hatten). Nachdem Schmidt seine Orchestertätigkeit aufgegeben hatte, wurde er zunächst Professor und schließlich sogar Direktor der Wiener Staatsakademie.

Der Komponist Franz Schmidt fand seine Sprache erst allmählich, doch zumindest in Österreich wurde er vom Ende des 19. Jahrhundert bis zu seinem Tode im Jahre 1939 immer bekannter. Er bewegte sich vornehmlich in großen Formen (Symphonien, Opern, Konzerte, Quartette, Quintette, Orgelmusik) und setzte damit die Tradition der Wiener Klassik und Romantik, das heißt die Linie eines Schubert, Brahms und Bruckner fort. Zugleich bediente er sich des „zigeunerischen“ Stils, den wir von Liszt und Brahms kennen. Seine zutiefst tonalen und monumental geformten Werke enthalten oft innovative Elemente, die deutlich von den jüngsten Entwicklungen Mahlers und Schönbergs beeinflusst sind.

Albrecht Dürer: Die Apokalypse des Hl. Johannes
 9. Johannes verschlingt das Buch.
Die späteren Lebensjahre des Künstlers waren tragisch umdüstert. Er selbst litt immer wieder an schweren Krankheiten und war zutiefst vom Tod seiner geliebten Tochter erschüttert; schließlich zerbrach auch noch seine erste Ehe (seine Frau kam in eine Irrenanstalt und wurde später ein Opfer der nationalsozialistischen „Euthanasie“-Gesetze). Franz Schmidt brach körperlich und geistig zusammen, fand aber doch einen menschlichen und künstlerischen Ausweg aus dieser Krise — nicht zuletzt durch seine Vierte Symphonie (1933) und ganz besonders durch das Oratorium Das Buch mit sieben Siegeln, mit dem er sein schöpferisches Leben krönte.

Wie viele seiner Zeitgenossen war Franz Schmidt offenbar von der Idee eines „großdeutschen Reiches“ begeistert, ohne dass er geahnt hätte, welche Gefahren mit Hitlers Aufstieg einhergingen. Die Nazis zollten ihm zynisch ihr Lob, und bei der triumphalen Uraufführung eines Oratoriums, die kurz nach dem sogenannten Anschluss stattfand, sah man ihn auf „deutsche Weise“ grüßen. Sein letztes, unvollendetes Werk war eine Kantate, die die neue Ordnung verherrlichen sollte. Diese Tatsachen haben seinem posthumen Ansehen lange Zeit geschadet; Oskar Adler allerdings, der 1938 vor den Nazis floh, hat immer wieder betont, dass sein Freund Franz Schmidt weder Antisemit noch Nazi gewesen sei. Und tatsächlich waren viele der bedeutendsten Kollegen und Freude des Komponisten jüdischer Herkunft, und sie alle profitierten von seiner Großzügigkeit.

Ungeachtet seiner außerordentlichen politischen Naivität war seine Musik ebenso wirklichkeitsnah wie prophetisch: Das Buch mit sieben Siegeln klingt wie eine machtvolle Vorahnung der Katastrophe, die schon bald über Europa hereinbrechen sollte. Durchweg bewegt sich die Inspiration des Komponisten auf genialem Niveau: Das Werk kann als letzter erhabener Repräsentant der großen deutschösterreichischen Oratorientradition gelten, die über Bruckner und Brahms bis zu Haydn, Bach und Händel zurückreicht. Daneben gibt es viele Beziehungen zu Chorsymphonien wie der Symphonie der Tausend von Gustav Mahler oder der Neunten Symphonie von Ludwig van Beethoven.

Albrecht Dürer: Die Apokalypse des Hl. Johannes
 10. Die mit Sonne bekleidete Frau und der
siebenköpfige Drache.
Schmidts Oratorium ist nichts weniger als der Versuch, die gesamte Offenbarung des Johannes in konzentrierter Form zu realisieren. Einige Teile des rätselhaften und visionären Textes hatten schon viele Komponisten fasziniert (unter anderem Johannes Brahms); Schmidt aber war der erste, der die Apokalypse als Ganzes vertonen wollte: von der himmlischen Revolte und dem Ende der Welt über das Jüngste Gericht bis zur Erschaffung der neuen Erde und des neuen Himmels. Dazu verwendet er ein großes Orchester, einen Solotenor sowie vier weitere Vokalsolisten‚ einen großen Chor und eine Orgel, der hier eine ungewöhnlich prominente Rolle zukommt — insofern sie die Zwischenspiele liefert und die zweite Hälfte des Werkes mit einem kontrapunktischen Präludium einleitet.

Der gläubige Katholik Franz Schmidt hat sich den Text mit großem Geschick eingerichtet. Das zweiteilige Oratorium wird nach den Worten des Komponisten von der „Begrüßungsansprache“ und der „Abschiedsansprache" umrahmt, die Johannes an die sieben christlichen Kirchen richtet. Der Heilige wird dabei nicht als alter Mann dargestellt; vielmehr muss er von einem Heldentenor gesungen werden, der über einen Tonumfang von mehreren Oktaven verfügt — mithin von einer ebenso heroischen wie leichten Stimme, die an die Evangelisten der Bachschen Passionen erinnert. Er steht im direkten Kontrast zu der stillen, ruhigen und marmornen Stimme des Herrn, die einem Bass zugewiesen ist. Es gibt viele überwältigende Effekte in diesem Werk, gewaltige Chöre wie die massive, unheilvolle Fuge am Ende des ersten Teils, in der das Erdbeben sowie die Wasser- und Feuersnot beschworen werden, die der Erde bevorstehen. Daneben aber gibt es auch intime und anrührende Episoden wie die Klage der Mutter und der Tochter oder die Begegnung zweier Menschen, die die Schlacht überlebt haben.

Albrecht Dürer: Die Apokalypse des Hl. Johannes
12. Das Seeungeheuer und das Tier
mit dem Schafshorn.
Desgleichen komponierte er mystische, gefahrvolle Momente wie die Musik, die nach dem Orgelpräludium zum zweiten Teil und der Öffnung des siebten Siegels „die große Stille im Himmel" symbolisiert — oder den Bericht des Johannes vom Erscheinen des Drachens. Die bildhafte Besetzung trifft immer genau den Punkt, bis hin zu dem knöchernen Xylophon, das den bleichen Reiter auf dem bleichen Pferd beschreibt. Der kraftvollste Moment des Werkes dürfte wohl der triumphale Glanz des „Halleluja-Chores" sein, in dem Franz Schmidt mit ungarischen Zigeunerrhythmen und periodischen Tempomodifikationen einen überschwänglichen Jubel ausdrückt. Im Anschluss an diese grandiosen Passagen wird wieder die äußerste Einfachheit angesteuert — wenn nämlich die „Geläuterten" (Tenöre und Bässe) zu hören sind. Dann bringt der fröhliche, männliche Ton des Johannes mit seinem „Abschied" das Werk zum Abschluss.

Seit 1933 arbeitete Franz Schmidt an dem Oratorium, das er im Februar 1937 vollendete. Gewidmet ist das Werk „der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien zur Feier des hundert und fünfundzwanzigsten Bestandes“. Die Uraufführung fand am Mittwoch, den 15. Juni 1938, in Wien statt — acht Monate vor dem Tod des Komponisten.

Quelle: Malcolm MacDonald [Übersetzung: Eckhardt van den Hoogen], im Booklet

Albrecht Dürer: Die Apokalypse des Hl. Johannes
11. Der Hl. Michael bekämpft den Drachen.

TRACKLIST


Franz Schmidt (1874-1939)


Das Buch mit sieben Siegeln (1935-7)
The Book with Seven Seals
Le Livre aux sept sceaux

Oratorium aus der Offenbarung des heiligen Johannes
Oratorio from The Revelation of St John the Divine
Oratorio tiré de L’Apocalypse de saint Jean

Stig Andersen (Johannes/John/Jean) Tenor/ténor
Rene Pape (Die Stimme des Herrn/The Voice of the Lord/La Voix du Seigneur) Bass/hasse

Christiane Oelze Sopran/soprano
cornelia Kallisch Alt/contralto
Lothar Odinius Tenor/ténor
Alfred Reiter Bass/basse

Friedemann Winklhofer Orgel/organ/orgue

Chor des Bayerischen Rundfunks (Michael Gläser)
Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Dirigent/conducted by/direction
Franz Welser-Möst


CD 1                                                                                61.01

01 Gnade sei mit euch (Johannes)                                                     3.50
02 Ich bin das A und das O (Die Stimme des Herrn)                                    1.35
03 Und eine Tür ward aufgetan im Himmel (Johannes)                                   4.24
04 Heilig, heilig ist Gott, der Allmächtige (Die vier lebenden Wesen, Die Ältesten)  5.40
05 Und ich sah in der rechten Hand (Johannes, Engel)                                 5.25
06 Nun sah ich, und siehe, mitten vor dem Throne (Johannes, Chor)                    6.28
07 [Orgel solo]                                                                      3.36
08 Und als das Lamm der Siegel erstes auftat (Johannes, Chor)                        2.13
09 Und als das Lamm der Siegel zweites auftat (Johannes, Krieger, Frauen)            6.07
10 Und als das Lamm der Siegel drittes auftat                                        3.57
   (Johannes, Der schwarze Reiter, Tochter und Mutter, Frauen)
11 Und als das Lamm der Siegel viertes auftat (Johannes, Zwei Überlebende)           3.49
12 Und als das Lamm der Siegel fünftes auftat (Johannes, Chor)                       4.21
13 Und es wurde ihnen einem jeglichen gegeben ein weißes Kleid                       2.13
   (Johannes, Die Stimme des Herrn)
14 Und ich sah, daß das Lamm der Siegel sechstes auftat (Johannes, Chor)             7.19


CD 2                                                                                45.47

01 [Orgel solo] Nach dem Auftun des siebenten der Siegel                             5.55
02 Ein Weib, umkleidet mit der Sonne                                                 3.08
03 Und sie gebar einen Sohn                                                          2.12
04 Im Himmel aber erhob sich ein großer Streit (Johannes)                            6.27
05 Und als die große Stille im Himmel vorüber war                                    9.59
   (Johannes, Altsolo, Chor, Tenorsolo, Basssolo, Soloquartett)
06 Vor dem Angesichte dessen, der auf weißem Throne saß                              3.51
   (Johannes, Die Stimme des Herrn)
07 Ich bin das A und das O (Die Stimme des Herrn)                                    4.55
08 Hallelujah! (Chor)                                                                4.51
09 Wir danken dir, o Herr, allmächtiger Gott (Männerchor)                            2.19
10 Ich bin es, Johannes, der all dies hörte (Johannes, Chor)                         2.06


Recorded live/Live-Mitschnitt/Enregistré en public: 16 - 17.X.1997, 
Herkulessaal der Residenz, Munich
Producer/Produzent/Directeur artistique: Bernhard Albrecht
Executive Producer/Aufnahmeleiter/Producteur délégué: Peter Alward
Balance Engineer/Tonmeister/Ingenieur du son: Peter Urban
Editor/Schnitt/Montage: Monica Graul

Recorded in co-production with/Aufgenommen in Zusammenarbeit mit
/Enregistré en collaboration avec Bayerischer Rundfunk 
(P) 1998 (C) 2004


Baumeister und Bildhauer der Medici

Michelangelos manieristisches Meisterwerk

Das Grab des Lorenzo Medici. 1524-1534.
Medici-Kapelle, Florenz. Ausschnitt: Lorenzo Medici
Die Totenkapelle der Familie Medici sollte ursprünglich viele verstorbene Sprossen des Geschlechts aufnehmen, die, vom großen ersten Cosimo abgesehen, fast alle jung abscheiden mußten. Dann aber gab man diese Absicht auf und beschränkte sich auf die Grabdenkmäler der Herzöge Lorenzo und Giuliano. Michelangelo begann mit dem Gefüge in dem verhängnisvollen Jahr 1521, da Luther seine Lehre auf dem Reichstag zu Worms vor dem Kaiser verfocht und trotz der über ihn verhängten Reichsacht die abendländische Welt in zwei feindliche Lager aufzuspalten vermochte. Diese gestörte Einheit der Christenheit findet sehr bald in allen Lebensgebieten, besonders auch in der manieristisch gespannt und gewaltsam werdenden Kunst ihren Widerhall. Michelangelo überschritt damals die Schwelle der zweiten Lebenshälfte und wendete sich endgültig in Sein und Schaffen dem Jenseits zu, und der Gedanke an den Tod begleitete ihn auf Schritt und Tritt, von Bangen und Hoffen sekundiert: Der böse Geist des Bangens entmutigte, der gute Geist des Hoffens entzückte ihn, dessen Blick nur noch auf den inneren Menschen und damit auf das Geheimnis des göttlichen Lichtes und Wortes gerichtet war.

Über den durch Papst Leo X. ergangenen Auftrag zu der neuen Sakristei und Gruftkapgele, aleso einem Gegenstück zu der alten Sakristei von San Lorenzo‚ wo schon andere Medici lagen, wissen wir kaum etwas: Das Dokument ist verschollen. Michelangelo wirkte hier als Architekt und Plastiker zugleich, wobei er offenbarte daß ein - Gott und göttlichen Dingen zugewandter - Philosoph im edlen alten Sinn ihn durchlebte und anspornte.

Neue Sakristei, San Lorenzo, Florenz, ein Meisterstück
manieristischer Architektur von Michelangelo Buonarotti.
Der geistige Gehalt des Werkes ist kaum auszuschöpfen. Bei aufmerksamer Umschau im Raume dieser Nuova Sagrestia, welcher der Außenform des Gebäudes nicht entspricht, hat man den Eindruck eines Pasticcios aus zwei nicht ganz homogenen, ineinander gearbeiteten Baustilen, nämlich einer Anlehnung an den Brunellesco der alten Sakristei und einer manieristischen, wenn nicht bereits barocken Architekturplastik. Die tektonischen Kraftlinien in der dunkelgrauen «Pietra serena» Toscanas wirken wie ein anmutiges Gerüst aus verklungenen Zeiten, in welches dann die erhabene Helle von Michelangelos begeisterter Marmorarbeit mit einer aus Strenge und Großzügigkeit gemischten Fülle sich einschmiegt. Die korinthischen geriefelten Wandpilaster mit ihrer unbekümmerten Knickung in den Ecken, wie man sie zu Anfang des 16. Jahrhunderts schon längst nicht mehr als «richtige» Ecklösung empfand, die Gesimse, die Blendbögen, die Kreise im Altarraum, alles das sieht wie reinster Brunellesco aus. Dann gibt es oben freilich statt der Rundbogenfenster jene Tabernakelfenster mit Konsolen, die Michelangelo am Erdgeschoß des Palazzo Medici bereits vorgebildet hat, noch weiter oben gar sich verjüngende Fenster, um den Raum höher scheinen zu lassen, und statt der Zeltkuppel der Sagrestia Vecchia eine dem römischen Pantheon nachempfundene Kassettenkuppel, deren Laterne außen schon jene gebündelte Verkleidung zeigt, die dann in reichster Weise an der Kuppellaterne der Peterskirche auftreten wird. Alles das ist jedoch altertümlich gehaltener Rahmen, dessen zwei rhythmische Seitentraveen die beiden nie genug zu rühmenclen dreinischigen Gräbergehäuse aus weißem Marmor mit den figürlichen, stark hervortretenden, aber doch entschieden flächenhaft gebildeten Plastikgruppen enthalten. Es ist ein erhaben Trinitäres in den beiden Grabmälern. […]

Entwurf zum Grabe eines Medici. Louvre, Paris.
Die auf den Voluten der Sarkophage, wie auf einer gleitenden Unwirklichkeit gelagerten Figuren bilden mit den in rechteckigen Nischen sitzenden Gestalten Dreiecke, die durch ihre emporstrebenden Umrisse das Auge sofort auf die Statuen der Verewigten und dann überhaupt himmelwärts lenken. Michelangelo wollte ganz unten noch gelagerte Stromgötter anbringen, wodurch die pyramidische Form abermals betont worden wäre. Die beiden flachen Nischen zu Seiten der Herzöge fangen mit ihren Segmentgiebeln den Umriß der Sarkophage noch einmal auf, und es gibt überdies eine Menge architektonischer und ornamentaler Eigentümlichkeiten, über die vieles zu äußern wäre, aber es gilt hier die Sammlung auf das wesentlichste von all dem Wesentlichen des großen Werkes, in welchem Michelangelo zu seiner ihm ganz eigentümlichen Klassik gelangt ist, einer Stille und Harmonie, wie sie in der Mitte eines universalen Wirbelsturms dennoch herrschen muß und herrscht.

Der Künstler geht hier vom Individuellen und Erdgebundenen gelassen und kühn ins Allgemeine und Ewige. Die Herzöge sind keine Porträtfiguren, sondern Bildnisse einer inneren Wirklichkeit. Er hat die beiden Herren, die große Würden innehatten, ohne daß die Geschichte etwas Besonderes über sie berichtete, sicherlich von Angesicht zu Angesicht gekannt und offenbar keinen Anlaß gefühlt, ihre Züge der Nachwelt mitzuteilen. Irgendwelchen Tadlern entgegnete er scharf, in tausend Jahren werde ohnehin niemand mehr wissen, wie sie wirklich ausgesehen hätten. Allein er wußte sehr wohl, daß in jeder menschlichen Individualität etwas Außerordentliches, ein göttliches Erbe steckt, das nur, wie es zu gehen pflegt, von den Trägern teilweise oder gar nicht zur Auswirkung gebracht wird — aus Trägheit, Karma, Erbsünde, wer weiß? - und somit im physischen Aussehen kaum mehr hervortritt. Da die jung abgeschiedenen Standesherren sich anscheinend nicht weiter ausgezeichnet haben, versuchte der Künstler, das ihnen vielleicht nie zu Bewußtsein gekommene Substantielle und Paradigmatische ihrer Persönlichkeit, ihr ewiges und durch den Übertritt ins Jenseits etwa wieder licht gewordenes Selbst zum Ausdruck zu bringen. Wenn Michelangelo nichts weiter geleistet hätte als diese sichtbar gemachte Metamorphose zufälliger Personen, so würde er damit schon seine Einzigartigkeit bewiesen haben.

Das Grab des Giuliano Medici.
1524-1534. Medici-Kapelle, Florenz.
Giuliano war der jüngste Bruder des Papstes Leo X. und führte dank seiner Gattin Filiberta von Savoyen den Titel eines Herzogs von Nemours; er war pontifikaler Generalissimus und starb 1516 als achtunddreißigjähriger Mann. Diesen Würdenträger, dem Machiavelli sein berühmtes Buch über den Fürsten («Niccolo Machiavelli al Magnifico Lorenzo di Piero de’ Medici») gewidmet hatte, stellte der Meister als lebenden Ausdruck des aktiven Lebens dar und gab ihm - einzige Ähnlichkeit! - einen Feldherrnstab in die Hand.

Lorenzo war ein nicht unbegabter Neffe Leos X. und Enkel des großen und wirklichen Magnifico Lorenzo, der Michelangelo zum Künstler hatte erziehen lassen. Als Herzog von Urbino anstelle des verdrängten Rovere und Nepoten des Papstes Julius H. starb er sieben- undzwanzigjährig in Verstandesverdüsterung. Diesen traurigen Umstand erhöhte der Meister zum Gestaltsymbol des kontemplativen Lebens. […]

Der Aktive und der Kontemplative, sie sind entrückt in einen Ewigkeitsbereich der Anschauung Gottes, wohlbemerkt des weiblichen Poles der Gottheit in Gestalt der Madonna an der Eingangswand‚ auf die beider Blick gerichtet ist und von der noch zu sprechen sein wird. […]

Die beiden Herzöge sind also der Zeit enthoben, deren Polarität, jeweils dargestellt durch die zwei auf den Urnen gelagerten nackten Gestalten, die ja ganz besonders die Bewunderung der Wallfahrer zu diesem Florentiner Mausoleum erregt haben. Der Meister hat der Figur des verewigten Herzog von Urbino, die man in Italien seit alters den «Pensieroso» nennt, «Crepuscolo» (Abenddämmerung) und «Aurora» (Morgen), die beiden einander doch so ähnlichen Gegensätze, beigegeben, und zwar so, daß sein gesenktes und beschattetes Haupt sich zugleich zum links gelagerten männlichen Genius des Abends und zur Madonna der Eingangswand hinwendet, gewissermaßen der weiblichen, wehmütig dem Schlummer entsagenden Frühe nicht achtend. […]

Die Nacht. Ausschnitt.
Es ist, als seien hier Weltanfang und Weltende dargestellt, und weiter oben, im Metakosmischen, sinncnd und schlichtend, ein ruhender Bote der prästabilierenden Gestaltungskraft. Er hält gefährliche Gaben in Bereitschaft: stützt er sich doch auf ein Kästchen mit Fledermauskopf geziert und verbirgt in der behandschuhten Rechten einen Lederbeutel. Was wird in diesen Dingen gehütet? Verfängliches Geld? Fesselnde Verträge? Und vom beschattenden Helm herab dräut ein Löwenhaupt. Zwielichtig ist dieser Besinnliche: er verfügt über Macht und Besitz. Gibt er sie weg an die Welt und sich selber an sein eigenes Innerstes - denn es ist in seiner gekreuzten, fast tänzerischen Beinstellung eine Auflösung der unteren Welt angedeutet - und läßt dort nur die göttlich ein- und ausatmenden Kräfte gebieten?

Alles ist hier Empfang und Stockung, Schwangerschaft und Todesbereitschaft, aber nur ahnbar, dem Wort entweichend. Manches ist nicht ganz beendet, und der Kopf des Crepuscolo in seiner bloßen Andeutung und tiefen Sehnsucht nach Stille das scheinbare Verlöschen, aber baldiges Aufgeben in einem höheren Sein vorwegnehmend. In beiden Liegefiguren ist ein Überfluß von leisen Bewegungsmotiven durch einen wunderbaren Parallelismus der Körperglieder zur Harmonie gebracht. Man prüfe das etwa an Haupt und linkem Unterarm der Aurora‚ an Kopf und linkem Oberarm des Crepuscolo, um nur auf weniges von vielem hinzuweisen. Übrigens spricht der Gegensatz zwischen der bekleideten Figur und den unterhalb von ihr lagernden nackten Gestalten ein großes Geheimnis aus: Identität und Polarität; denn alle drei sind identisch, Ausstrahlung und Sammlung zugleich, Wirklichkeit und Moglichkeit, Doppelwesen der Dämmerung, der Ich und alles Du umfassenden Kontemplation. Daß die Konsolen unter den Sarkophagen fischig geschuppt sind‚ zeigt, daß alles aus dem Bereich des seelenhaften, schöpferischen Wassers emporwächst. Es waren ganz unten, wie schon erwähnt, ja Stromgötter vorgesehen, ohne freilich zur Ausführung gekommen zu sein.

Der Tag. Aussschnitt.
Das Wandgrab gegenüber, vermutlich später gearbeitet, gehört Giuliano, dem Herzog von Nemours und Obergeneral des Papstes, der gleich Lorenzo in römische Feldherrntracht gehüllt, aber barhäuptig ist. Dieses herrliche Gegenstück ist jener Darstellung des kontemplativen Lebens in allen Wesenszügen ähnlich und im ornamentalen und kompositionellen Aufbau gleich, freilich der geistigen Stimmung nach gewissermaßen um einen Himmelsquadranten weitergedreht, da es hier die Konfiguration des aktiven Lebens gilt. Deshalb sind nicht die Dämmerungen‚ sondern Tag und Nacht dem Verewigten beigegeben, dessen Bewegungsmotiv merkwürdigerweise schlichter und lockerer wirkt, von Überschneidungen einigermaßen frei ist und - freilich auf sehr gedämpfte und charakterlich unterschiedene Weise - an den Mose anklingt.

War die Gewandbehandlung an der Figur des Lorenzo zwar reich, aber doch verhalten und wie von dumpfem Zwielicht verzaubert, so strahlt sie an Giulianos Gestalt geradezu von sonnenhaftem Prunk. Die lässig über dem Marschallstab liegenden, bloßen und nervigen Hände scheinen insgeheim von Tatkraft zu vibrieren, während das jugendliche und imperatorische Lockenhaupt trotz gespannter und energischer Hinwendung nach der Madonnenseite doch fast einen schwärmerischen und leise versonnenen Ausdruck zeigt. Man spürt, daß das kriegerische Element in den skythisch-sarmatisch anmutenden Fratzen des Lederpanzers sich nach außen hin verflüchtigt hat und innerlich ein Seelenglanz geblieben ist, der nichts Gewalttätiges mehr an sich hat.

Man fühlt sich versucht, in Giuliano den Genius des Lebens, in Lorenzo den des Todes zu gewahren. Waren Crepuscolo und Aurora keine entschiedenen Gegensätze, sondern nur gleichsam Umkehrungen voneinander, so sind nun dem Repräsentanten des aktiven Lebens die lagernden Gestalten von Tag und Nacht (er wendet sich von ihr ab!) beigegeben. Sind nun diese erstaunlichen Figuren Allegorien oder Symbole? Wohl weder das eine, noch das andere, sondern ganz und gar eigentümliche Zeugungen des großen Künstlers voll magischer Wirklichkeit, die vorübergehend versteintes Leben nach Art orientalischer Märchen zu sein scheint.

Das Grab des Lorenzo Medici.
1524-1534. Medici-Kapelle, Florenz.
Wir mögen diese Bilder Tag und Nacht nennen. Aber sie sind noch mehr und anderes. Sie sind geradezu paradox: denn es werden - nicht ohne Grund! - in der Figur der Nacht weibliche Häßlichkeit und Verbrauchtheit zu berückender Schönheit und in der Figur des Tages männlich athletische Schönheit — wie käme einem hier der antike Torso von Belvedere nicht in den Sinn? - zu erschreckender Häßlichkeit. Mit anderen Worten: Die bedrohliche mürrische Überkraft des heftigen Tages stößt ab, und die Schlaffheit des von Erleben, Empfangen und Gebären erschöpften Leibes der seligmüden Nacht mit Mond und Stern im Kopfputz samt Mohnbündel, Kauz und skeptischer Maske zieht an. Diese Statue ist nicht nur etwas Seltenes, sondern schlechthin einzigartig, wie schon Vasari bemerkt hat. Auch diese mit Worten nicht auszulotenden Polaritäten sind Aufspaltungen der menschlichen Ambivalenz des verewigten Giuliano, der uns als Genius des Lebens anmutete. Denn der Aktive ist ja doch auch ruhend und insgeheim meditativ, gleichsam ein Feldherr, welcher der von ihm imaginierten Schlacht neutral zusieht‚ ein Schachspieler, der mit sich selber spielt. Der Pensieroso hingegen verbirgt etwas, er verbirgt nicht nur sein Gesicht, vielleicht auch Leidenschaften, Zweifel, Entsetzen, und in seiner tiefen Versunkenheit und Entrücktheit zuckt dennoch etwas Lauerndes und Unheimliches, das nicht allein durch die Fledermausfratze am Kästchen unterm linken Ellenbogen Giulianos angedeutet ist. Kurzum, alle diese Gestalten sind mehr oder minder ambivalent, sogar polyvalent. Man wird in ihrer Ausdeutung nie fertig werden. Sie sind nicht einfach geistige Symbole oder theatralische Allegorien, sie sind mehr, sie sind unfaßlich existent. Sie sind fertig zum Leben, nichts fehlt ihnen als Gottes Odem, den ihnen nicht einhauchen zu können Michelangelos Kummer ist. Das ist ja der unendliche Verlust des aus dem Paradies verjagten Menschen, daß er nicht mehr willentlich ewiges Leben zeugen kann und darf, anheimgegeben dem Wogenprall und Sturmgeheul der trügerischen Zeit.

Die Abenddämmerung. Ausschnitt.
Vieles noch ist zu betrachten in diesem Kapellenwerk: Throne, Kannen, Masken, Widderschädel, Muscheln, Zierstäbe - alles trächtig von Sinn und ästhetisches Entzücken erregend. Ein ganzes Buch wäre mit auslegenden Gedanken darüber zu füllen. Aber es bleibt noch eine Figur unbedingt zu betrachten und zu erschließen: die Madonna Medici, welche, an sich in vielen Teilen unvollendet, vor der kahlgebliebenen Eingangswand schlecht und recht Aufstellung finden mußte, als Michelangelo später sich mit der ganzen Sache nicht mehr zu befassen wünschte und Florenz für alle Zeit den Rücken gekehrt hatte.

Gerade diese das Kind stillende Madonna, an der Michelangelo mindestens zehn Jahre lang meditiert und gearbeitet hat, ohne auch nur in die Nähe des Abschlusses zu kommen, ist der substantielle Sinn des Ganzen, auf das sich alle Einzelideen des den Ostergedanken der Auferstehung verbildlichenden Kapellenwerks beziehen. Sie ist die unvergängliche Leuchte, aus der die Menschenseelen hüben und drüben leben, sie ist die Weltseele schlechthin, Gottes mütterlicher Aspekt, darum vom Künstler schwebend und schwerelos vorgestellt: nur ihr Fuß tastet sich gleichsam spielend an die Tiefe heran. Das Bildwerk mutet an wie eine symphonische Erweiterung und Erhöhung der kammermusikalischen Thematik in der Madonna von Brügge. Die Jungfrau offenbart sich nun göttlicher, und wenn sie das Kind stillt, wie einst in Gestalt der Madonna an der Treppe, so ist diese Beziehung zwischen Mutter und Kind jetzt kein irdischer und diesseitiger Vorgang mehr, sondern ein allweltliches Symbol, indem die Mutter unerschöpflich liebend in ihr Kind hinüberfließt, wie die Welt - wofern hier ein Gleichnis aus einem fremden mythologischen Bezirk gewagt werden darf - Brahmas Nahrung ist.

Die Morgendämmerung. Ausschnitt.
Ein ungemein kompliziertes Linienspiel‚ das als manieristisch zu bezeichnen man sich doch scheuen sollte, wird zu einer Einheit zusammengedichtet, die als unfaßliche Ruhe und Harmonie herauskommt, wozu die sehr deutliche Mittelachse und der linke, fast geometrisch senkrechte Rand der Gruppe (der schon so viele Betrachter irritiert zu haben scheint) erheblich beitragen. Das Antlitz dieser göttlichen Jungfrau, obwohl nicht zu endgültiger Verfeinerung und Ausschleifung gelangt, ist so himmlisch schön, wenn nicht schöner als alles, was wir vom attischen Phidias besitzen oder zu besitzen und zu ahnen glauben. Die ganze Figur aber zeigt sogar den klassischen Stil des «nassen Ge- wandes». Diese michelangeleske Feuchte des Gewands und des Blicks ist freilich nicht des Wassers oder der Tränen, sondern des geistigen Feuers und der Feuertaufe. Die Falten scheinen getränkt mit feuerflüssiger Substanz: quälend wie ein Dantesches Inferno, bedenkt man's von unten her; jedoch von oben und innen her besehen, ist’s strahlender Jubel, die echte Einkleidung himmlischer Personen.

Es ist schwer einzusehen, daß der Meister solche Arbeiten in unvollendetem Zustand hat stehenlassen können. Wie früher gesagt, dürfte die Antwort nicht einleuchten, er habe sie schon als künstlerisch vollendet angesehen oder er habe es nicht vermocht‚ sie zu vollenden. Sind bereits die ersten Anwandlungen da, die ihm gebieten, von der Kunst als etwas zu irdisch Bedingtem abzurücken? Wir wissen es nicht und können es nicht wissen. Die zu Seiten der Madonna aufgestellten Figuren der mediceischen Hausheiligen Cosmas und Damian sind nicht eigenhändig, wenn auch wohl seinen Entwürfen zu danken. Noch vieles war von ihm für diese Kapelle geplant, etwa eine Auferstehung Christi in der Lünette über der Madonna, aber es soll in diesen Betrachtungen nur von dem die Rede sein, was ist, und nicht von dem, was etwa hätte sein sollen. Der kauernde, so seltsam kubisch geformte Knabe in Petersburg mag auch für die Kapelle bestimmt gewesen sein, aber das ist wenig sicher, noch weniger seine Authentizität. […]

Madonna mit Kind.
1524-1535. Medici-Kapelle, Florenz.
Quelle: Rolf Schott: Michelangelo. Der Mensch und sein Werk. Im Bertelsmann Lesering, ohne Jahr (circa 1963). Zitiert wurden Seite 149-165, leicht gekürzt


Was Sie sich noch anhören und lesen könnten:

Gabriel Fauré: Requiem (André Cluytens, 1962) | Die unantastbaren Rechte des Lesers. Ein Manifest von Daniel Pennac

Verdi: Requiem - Cherubini: Requiem (Riccardo Muti, 1979/80) | Räderuhren und Gangunterschiede Eine Erfindung ohne Erfinder

Schubert: Messe in As-Dur, D 678 - Messe in Es-Dur, D 950 (Harnoncourt, 1995) | Kampl oder Das Mädchen mit Millionen und die Nähterin. Posse mit Gesang von Johann Nestroy

Mozarts Requiem, dirigiert von Eugen Jochum, Wien, Stephansdom, 1955 | Ein Amerikaner beginnt zu malen. Die ersten dreißig Jahre des James Abbott McNeill Whistler

»Jesous ahatonhia« - Charpentiers Christmette von 1694 mit huronischem Noël | Ernst Haas: Wien, 1947: Warten auf Wunder

Michelangelo und die Nase des David. Lesestoff. (Die Musik ist leider nicht mehr verfügbar).



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