25. Juni 2018

Gabriel Fauré: Requiem (André Cluytens, 1962)

„Es ist so sanft wie ich selbst" schrieb Fauré einem Freund über sein Requiem. Zu ihm paßten keine beispielhaften Werke der Klassik wie die von Mozart oder Cherubini, auch nichts Theatralisches wie Verdis dramatisches Requiem und seinen Schreckensbildern von geduckten Menschen, die vom ewigen Tod flüstern und sicherlich nicht die grandiose apokalyptische Vision von Berlioz mit ihren „donnernden Fanfaren“, die Fauré entsetzten. „Mein Requiem bringt nicht so sehr die Todesfurcht zum Ausdruck, sondern den Frieden der ewigen Ruhe, denn so sehe ich den Tod: eine glückliche Erlösung, eine Hoffnung auf überirdische Freuden, kein freudloser Übergang in das drohende Unbekannte.“

Es ist ein gelassen ruhiges und trostreiches Werk, die Musik ist nicht einmal erschreckend, wenn die Stimmen des Chors von der Furcht des Jüngsten Gerichts singen („Tremens factus“), obwohl in „Christe eleison" harmonische Spannungen zu hören sind, und in den fremdartigen Modulationen des Offertoire die verständliche Unruhe beim Gedanken an die Höllenqualen zum Ausdruck kommt. Diese Gottergebenheit in der Grundstimmung wird ergänzt durch eine ungewöhnliche Haltung zur Anlage eines Werkes dieser Art: „Da ich schon lange bei Beerdigungen gespielt habe und die Gottesdienste auswendig kann, wollte ich etwas Neues schaffen“.

So entstand ein Werk, das nicht den liturgischen Erfordernissen entspricht (trotzdem wurde es 1924 nach Faurés eigenem Tod mit besonderem Dispens aufgeführt). Nur die letzten beiden Zeilen von Dies irae kommen vor und ihre Schärfe wird sofort gemildert. Das Benedictus wird durch Pie Jesu aus der Seelenmessse ersetzt; das Libera me und In Paradisum gehören nicht zum Text eines Requiems sondern stammen aus dem Beerdigungsgottesdienst. Auch aus dogmatischen Gründen ergibt sich hier eine Frage, die einigen Theologen Sorgen machte: Warum sollte ein Requiem zur Fürbitte für die Seele nötig sein, wenn hier das Fegefeuer ausgeschlossen wurde und sie sofort ins Paradies entschweben?

Victoria de las Angeles
Ursprünglich war das Requiem im Gedenken an Faurés zwei Jahre davor verstorbenen Vater konzipiert und er begann 1887 mit der Arbeit daran. Er war jedoch gezwungen, seine erste Fassung für ein verkleinertes Orchester fertigzustellen als seine Mutter am Silvesterabend des gleichen Jahres starb. In dieser Version wurde es im Januar 1888 in der Madeleine in Paris (wo er Organist war) erstmals aufgeführt. Im darauffolgenden Jahr komponierte er jedoch das Offertoire mit Baritonsolo, welches er 1892 zusammen mit dem viel früher geschriebenen Libera me dem Werk hinzufügte. Die himmlischen Arpeggien von In Paradisum entstanden durch den vielleicht Fauré nicht bewußten Einfluß der Hostias et preces im Requiem von Saint-Saens, einem seiner Vorgänger in der Madeleine. Im Jahre 1900 verfaßte er die hier wiedergegebene endgültige Fassung für ein vollständiges Orchester mit Violinen, die vorher nur im Sanctus mitwirkten.

Heute ist Faures Requiem ein allseits beliebtes Werk, das wunderschöne Pie Jesu wurde, aus dem Kontext gerissen, beinahe zur Unterhaltungsmusik. Als diese Einspielung jedoch 1962 aufgenommen wurde, war das ganze Werk viel weniger bekannt. Es gab damals nur wenige frühere Einspielungen, eine davon mit dem hier eingesetzten Dirigenten Andréé Cluytens und Duruflé an der Orgel. Zur Zeit sind demgegenüber ungefähr drei Dutzend erhältlich.

André Cluytens wurde 1905 geboren und sollte zuerst Klaviervirtuose werden, im Alter von 22 Jahren folgte er seinem Vater als Chefdirigent des Théâtre-Royal in Antwerpen; vier Jahre später siedelte er sich in Frankreich an und wurde französicher Staatsbürger. Er war der Musikdirektor der Pariser Opéra, dann der Opéra-Comique und Chefdirigent des Pariser Conservatoire Orchesters, später des belgischen Nationalorchestcrs und des französichen National-Radio-Orchesters. Er wurde als erster französicher Dirigent nach Bayreuth berufen. Als ein in Schallplattenaufnahmen oft mitwirkender Künstler machte er sich einen Namen als Interpret des französichen Repertoires.

André Cluytens
Als Solisten standen Cluytens die beiden hervorragendsten Sänger jener Zeit zur Verfügung, beide in der Blüte ihrer Jahre, noch nicht vierzig. Fischer-Dieskau war in der Tat der am meisten im Schallplattenkatalog genannte Sänger mit einem schon ungeheuer vielseitigen Repertoire von Bachs Matthäuspassion, seinen Kantaten und der h-moll-Messe über Brahms’ „Ein deutsches Requiem“ (in dem er 1947 erstmals aufgetreten war) bis zu Mahlers Lied von der Erde. Es umfaßte auch unzählige Lieder von Beethoven, Schubert, Schumann, Brahms, Wolf und Strauss sowie Opern von Don Giovanno und Figaro, Fidelio, dem Fliegenden Holländer und Tannhäuser bis zu Strauss‘ Capriccio und Elektra und Bartóks Herzog Blaubarts Burg. Außer dem letztgenannten hatte er sich bis 1960 auf das deutsche Repertoire beschränkt, widmete sich dann aber auch den Liedern von Debussy und Ravel, später französichen und italienischen Opernarien und sang Duette mit Victoria de los Angeles. Seine Mitwirkung in dem vorliegenden Werk entsprach größtenteils den Vorstellungen von Fauré, er wünschte sich einen ruhigen Baßbariton vom Typ eines Kantors. Wie immer kennzeichnet Intelligenz Fischer-Dieskaus Gesang, die Kontrolle der Phrasierung und ein Feingefühl für die Ausdruckskraft des Textes.

Victoria de los Angeles wurde durch die Oper berühmt. Sie trat im Alter von 17 Jahren in La boheme auf und vier Jahre später als die Gräfin in Figaros Hochzeit, trotzdem maß sie von Anfang an Liederabenden eine große Bedeutung zu („Ich wollte nicht nur als Opernsängerin gelten, die gelegentlich einen Liederabend gab“). Nach der Verleihung des ersten Preises im Genfer Internationalen Singwettbewerb kam sie nach London, um de Fallas La vida breve für die BBC zu singen und wurde prompt von HMV (EMI) geschnappt. Verständlicherweise konzentrierten sie sich in ihrem Fall hauptsächlich auf das spanische Repertoire — nicht nur auf de Falla und Granados, sondern auch auf weniger bekannte Komponisten wie Turina und Vives und auf alte spanische Musik — sie erweiterte ihr Repertoire aber sehr bald auf französiche, italienische und deutsche Opernarien (sogar Wagner), auf Lieder, Berlioz' Les nuits d’e’te’ und eine bemerkenswerte Serie von Opern. Dazu gehörten 1962 schon Der Barbier von Sevilla, Der Bajazzo, Faust (mit Cluytens), Madame Butterfly (zweimal), Manon, La bohème und eine klassische Carmen (beide mit Beecham), Pelleas et Malisande (wieder mit Cluytens), La traviata, Simon Boccanegra und andere. Ihre reine Stimme bezauberte Publikum und Kritiker, einige fanden ihre Interpretationen jedoch etwas kühl; aber gerade diese Qualitäten waren nötig, um Faurés eindringliche Vision des Paradieses wiedererstehen zu lassen.

Quelle: Lionel Salter (Übersetzung: Helga Ratcliff), im Booklet.

Track 3: Requiem, Op. 48 - III. Sanctus


TRACKLIST

Gabriel Fauré
1845-1924

Requiem, Op. 48

1 Introït et Kyrie             8.09
2 Offertoire *                 9.10
3 Sanctus                      3.19
4 Pie Jesu +                   3.19
5 Agnus Dei                    6.48
6 Libera me *                  5.20
7 In Paradisum                 3.47

                              39.55
                              
+ Victoria de los Angeles, soprano/Sopran
* Dietrich Fischer-Dieskau, baritone/Bariton/baryton

Choeurs Elisabeth Brasseur
Henriette Puig-Roget, organ/Orgel/orgue
Orchestre de la Société des Concerts du Conservatoire
conducted by/Dirigent/direction
André Cluytens

Recorded/Aufgenommen/Enregistré: 14 + 15. II, 25 + 26. V. 1962,
L'Eglise Saint-Roch, Paris
Producers/Produzenten/Directeurs artistiques: René Challan, Victor Olof
Balance Engineer/Tonmeister/Ingénieur du son: Paul Vavasseur
Digital remastered at Abbey Road Studios by Simon Gibson
»Great Recordings of the Century«
(P) 1963 
(C) 1998 


Die unantastbaren Rechte des Lesers


»Die Lektüre«, Fotografie von William H. Fox Talbot, 1841.
1. Das Recht, nicht zu lesen

Wie jede Aufzählung von »Rechten«, die etwas auf sich hält, sollte auch diese hier eröffnet werden mit dem Recht, sie nicht zu gebrauchen — in diesem Fall dem Recht, sie nicht zu lesen —‚ sonst handelt es sich nicht um eine Liste von Rechten, sondern um eine tückische Falle.

Zunächst einmal gewähren sich die meisten Leser täglich das Recht, nicht zu lesen. Ungeachtet unseres Rufs, trägt zwischen einem guten Buch und einem schlechten Fernsehspiel das zweite öfter, als wir zugeben möchten, den Sieg über das erste davon. Und außerdem lesen wir nicht kontinuierlich. Unsere Lesephasen wechseln oft mit langen Phasen der Enthaltsamkeit ab, in denen der bloße Anblick eines Buches die giftigen Ausdünstungen des Überdrusses erweckt.

Aber etwas anderes ist noch wichtiger.

Wir sind umgeben von einer Menge ganz und gar achtbarer, mitunter »herausragender« Menschen, darunter Akademiker — von denen manche sogar recht ansehnliche Bibliotheken besitzen —, die aber nicht lesen oder so wenig, daß wir nie auf den Gedanken kämen, ihnen ein Buch zu schenken. Sie lesen nicht. Entweder weil sie nicht das Bedürfnis haben oder weil sie sonst zuviel anderes zu tun haben (was aber auf dasselbe hinausläuft, da dieses Andere sie ausfüllt oder unzugänglich macht), oder weil sie eine andere Liebe hegen, der sie ausschließlich leben. Kurz, diese Leute lesen nicht gern. Deshalb ist der Umgang mit ihnen nicht weniger empfehlenswert, ja sogar höchst angenehm. (Sie fragen uns wenigstens nicht bei jeder Gelegenheit nach unserer Meinung über das letzte Buch, das wir gelesen haben, ersparen uns ihre ironischen Vorbehalte gegen unseren Lieblingsautor und halten uns nicht für zurückgeblieben, weil wir uns noch nicht auf den letzten Soundso gestürzt haben, der gerade bei Dingsda erschienen ist und dem der Kritiker Dingsbums höchstes Lob gezollt hat.) Sie sind genauso »menschlich« wie wir, äußerst sensibel angesichts des Unglücks auf dieser Welt, in Sorge um die Menschenrechte, die sie in ihrem persönlichen Einflußbereich bewußt beachten, was schon viel ist — aber sie lesen einfach nicht. Das steht ihnen frei.

Die Vorstellung, Lesen »mache den Menschen menschlicher« ist ganz richtig, auch wenn sie einige deprimierende Ausnahmen zuläßt. Man ist wahrscheinlich etwas »menschlicher« - gemeint ist, etwas solidarischer mit der Menschheit (etwas weniger »tierisch«) —, nachdem man Tschechow gelesen hat.

Aber hüten wir uns, diesen Lehrsatz umzukehren, wonach jedes Individuum, das nicht liest, von vornherein als potentieller Unmensch oder als unbrauchbarer Kretin gelten müßte. Andernfalls würden wir das Lesen als moralische Verpflichtung hinstellen, und das wäre der Anfang einer Eskalation, die bald dazu führen würde, zum Beispiel über den sittlichen Wert der Bücher selbst zu urteilen, anhand von Kriterien, die keinerlei Achtung hätten vor jener unantastbaren Freiheit der schöpferischen Freiheit. Dann wären wir, soviel wir auch läsen, der Unmensch. Und an solchen Unmenschen fehlt es weiß Gott nicht auf der Welt.

Mit anderen Worten, die Freiheit zu schreiben darf nicht mit der Pflicht zu lesen einhergehen.

Die achtzehnjährige Colette
im Garten von Chatillon Coligny.
Die Erziehungspflicht besteht im Grunde darin, den Kindern das Lesen beizubringen, sie in die Literatur einzuführen, ihnen die Mittel zur Verfügung zu stellen, daß sie frei beurteilen können, ob sie das »Bedürfnis nach Büchern« empfinden oder nicht. Man kann zwar ohne weiteres zulassen, daß jemand das Lesen ablehnt, aber es ist unerträglich, daß er vom Lesen abgewiesen wird oder sich abgewiesen glaubt.

Es ist unendlich traurig, es ist eine Einsamkeit in der Einsamkeit, von den Büchern ausgeschlossen zu sein — die inbegriffen, auf die man verzichten kann.

2. Das Recht, Seiten zu überspringen

Ich habe Krieg und Frieden zum erstenmal mit zwölf oder dreizehn Jahren gelesen (eher dreizehn, ich war in der fünften Klasse und kaum weiter). Seit dem Beginn der Ferien, der großen Ferien, sah ich meinen Bruder in diesen wahnsinnig dicken Roman vertieft, und sein Blick war so weit weg wie der eines Forschungsreisenden, der schon seit langem jeden Gedanken an sein Heimatland verloren hat.

»Ist das so toll?«

»Ja, prima!«

»Wovon handelt es?«

»Es ist die Geschichte von einem Mädchen, das einen Typ liebt und einen dritten heiratet.«

Mein Bruder hatte immer eine Begabung für Zusammenfassungen. Wenn die Verleger ihn einstellen würden, um ihre »Klappentexte« zu verfassen (diese pathetischen Aufforderungen zu lesen, die auf den Umschlagklappen stehen), würden sie uns viel unnötigen Schmonzes ersparen.

»Leihst du es mir?«

»Ich schenke es dir.«

Für mich als Internatsschüler war es ein unschätzbares Geschenk. Zwei dicke Bände, die mir das ganze Trimester reichen würden. Fünf Jahre älter als ich, war mein Bruder keineswegs blöd und wußte bestimmt, daß Krieg und Frieden sich nicht auf eine Liebesgeschichte reduzieren ließ, so gelungen sie auch sein mochte. Nur kannte er meine Vorliebe für glühende Gefühle und verstand es, meine Neugier durch das rätselhafte Formulieren seiner Zusammenfassungen zu kitzeln. (Ein »Pädagoge« nach meinem Herzen.) Ich glaube, es lag am arithmetischen Geheimnis seines Satzes, daß ich meine Jugend- und Abenteuerbücher und ähnliche Schmöker vorübergehend beiseite legte, um mich auf diesen Roman zu stürzen. »Ein Mädchen, das einen Typ liebt und einen dritten heiratet« . . . wer hätte da widerstehen können? Tatsächlich wurde ich nicht enttäuscht, obwohl mein Bruder sich verrechnet hatte. In Wirklichkeit waren es vier, die Natascha liebte: Fürst Andrej, Anatol, dieser Strolch (aber kann man das Liebe nennen?), Pierre Bezuchow und ich. Da ich keinerlei Chance hatte, mußte ich mich mit den anderen »identifizieren« (Aber nicht mit Anatol, diesem Mistkerl!)

Ein Mönch beim Studium im Bett an einem kalten
Wintertag; französische Buchillumination aus dem
 13. Jahrhundert. Bibliothèque Mazarine, Paris.
Eine um so köstlichere Lektüre, als sie nachts, beim Schein einer Taschenlampe unter meiner zeltartig aufgewölbten Decke mitten in einem Schlafsaal mit fünfzig Träumenden, Schnarchenden und Strampelnden stattfand. Das Zelt des Aufsehers mit dem Nachtlämpchen war ganz in der Nähe, aber was machte das, in der Liebe setzt man immer alles aufs Spiel. Ich spüre noch den Umfang und das Gewicht dieser Bände in den Händen. Es war die Taschenbuchausgabe mit Audrey Hepburns hübschem Köpfchen, auf das ein fürstlicher Mel Ferrer mit den schweren Lidern eines verliebten Raubvogels herabsah. Ich habe drei Viertel des Buchs übersprungen, weil ich mich nur für Nataschas Herz interessierte. Ich habe trotzdem Mitleid mit Anatol gehabt, als man sein Bein amputierte, ich habe diesen Dummkopf von Fürst Andrej dafür verflucht, daß er in der Schlacht von Borodino vor dieser Kanonenkugel stehengeblieben ist . . . »Leg dich doch hin, verdammt noch mal, runter auf den Bauch, das explodiert gleich, das kannst du ihr nicht antun, sie liebt dich!«) . . . Ich habe mich für die Liebe und die Schlachten interessiert und habe die politischen und strategischen Sachen übersprungen. Da Clausewitz’ Theorien weit über meinen Horizont gingen, habe ich Clausewitz’ Theorien ausgelassen. Ich habe Pierre Bezuchows ehelichen Verdruß mit seiner Frau Helene (unsympathisch, die Helene, ich fand sie wirklich unsympathisch) sehr genau verfolgt und habe Tolstoj allein über die landwirtschaftlichen Probleme von Mütterchen Rußland dozieren lassen.

Ich habe einfach Seiten übersprungen.

Und alle Kinder sollten es ebenso machen.

Auf diese Weise könnten sie sich sehr früh fast alle Schätze gönnen, die als für ihr Alter ungeeignet gelten.

Wenn sie Lust haben, Moby Dick zu lesen, sollten sie bei Melvilles Ausführungen über das Gerät und die Technik des Walfangs nicht den Mut verlieren, sie brauchen die Lektüre nicht aufzugeben, sondern sollten diese Seiten überspringen und, ohne sich um das übrige zu kümmern, Ahab folgen, wie er seinen weißen Grund zu leben und zu sterben verfolgt. Wenn sie Iwan, Dimitrij und Aljoscha Karamasow und ihren unglaublichen Vater kennenlernen wollen, sollen sie Die Brüder Karamasow aufschlagen und lesen, es ist für sie, auch wenn sie das Testament des Starez Zosima oder die Legende vom Großinquisitor überspringen müssen.

Wenn sie nicht selber entscheiden, was für sie verständlich ist, und Seiten ihrer Wahl überspringen, lauert eine große Gefahr auf sie: Andere werden es an ihrer Stelle tun. Diese anderen werden zur großen Schere der Dummheit greifen und alles herausschneiden, was sie für zu »schwierig« für sie halten. Da kommen schreckliche Sachen heraus. Moby Dick oder Die Elenden auf 150 Seiten verkürzt, verstümmelt, verkrüppelt‚ versaut, mumifiziert, für sie in eine blutarme Sprache umgeschrieben, die man für die ihre hält! Ungefähr so, wie wenn ich mir herausnähme, Guernica neu zu malen, weil Picasso für ein zwölf- bis dreizehnjähriges Auge angeblich zuviel Einzelheiten hineingepackt hat.

Der heilige Johannes verschlingt das Buch des Engels;
russischer Holzschnitt aus dem 17. Jahrhundert.
 British Library, London.
Und außerdem, auch wenn wir »groß« geworden sind und es nur ungern zugeben, aus Gründen, die nur uns und das Buch, das wir lesen, angehen, kommt es immer noch vor, daß wir Seiten überspringen. Es kommt auch vor, daß wir es uns strikt verbieten und alles bis zur letzten Zeile lesen, um dann zu beurteilen, daß der Autor hier zu lang ist, dort eine ziemlich zweckfreie kleine Flötenmelodie vorspielt, daß er an dieser Stelle der Wiederholung und an jener anderen dem Schwachsinn frönt. Was wir auch sagen mögen, diese eigensinnige Langeweile, die wir uns dann zumuten, ist keine Pflichtübung, sie ist eine Spielart unserer Freude am Lesen.

3. Das Recht, ein Bach nicht zu Ende zu lesen

Es gibt sechsunddreißigtausend Gründe, einen Roman vor dem Ende wegzulegen: das Gefühl von »Dé-jà-vue«, eine Geschichte, die uns nicht fesselt, unsere totale Ablehnung der Thesen des Autors, ein Stil, von dem wir eine Gänsehaut bekommen, oder, im Gegenteil eine Art zu schreiben, bei der es keinen Grund weiterzulesen gibt. Es ist unnötig, die anderen 35995 anderen Gründe aufzuzählen, zu denen auch Zahnschmerzen und die Schikanen unseres Chefs gehören oder ein Herzbeben, das unseren Kopf versteinert.

Fällt uns das Buch aus der Hand?

Soll es doch fallen.

Schließlich ist nicht jeder, der will, ein Montesquieu, daß er sich auf Befehl den Trost eines Lesestündchens gönnen könnte.

Unter den Gründen, die wir haben, ein Buch aufzugeben, ist einer, der es Verdient, etwas genauer betrachtet zu werden: das unbestimmte Gefühl des Scheitern. Ich habe das Buch aufgeschlagen, ich habe gelesen und mich bald von etwas überwältigt gefühlt, was, wie ich fühlte, stärker war als ich. Ich habe meine Neuronen gesammelt, ich habe mit dem Text gekämpft, nichts zu machen, auch wenn ich das Gefühl habe, daß das Geschriebene es verdient, gelesen zu werden, ich kapiere nichts oder soviel wie nichts, ich spüre eine »Fremdheit«, die mir keinen Zugang bietet.

Ich lasse das Buch fallen.

Oder vielmehr, ich lasse es liegen. Ich stelle es mit dem vagen Vorhaben, eines Tages darauf zurückzukommen, in meinen Bücherschrank. Peterburg von Andrej Belyj, Joyce und sein Ulysses, Unter dem Vulkan von Malcolm Lowry haben einige Jahre auf mich gewartet. Es gibt andere, die immer noch auf mich warten, darunter einige, die ich wahrscheinlich nie schaffen werde. Das ist keine Tragödie, das ist einfach so. Der Begriff »Reife« ist, wenn es um Lektüre geht, etwas Eigenartiges. Bis zu einem bestimmten Alter sind wir für manche Bücher nicht alt genug. Aber im Gegensatz zu guten Weinen altern gute Bücher nicht. Sie warten in unseren Regalen auf uns, und wir altern. Wenn wir uns für »reif« genug halten, sie zu lesen, wagen wir uns noch einmal an sie heran. Dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder findet die Begegnung statt, oder es ist wieder ein Fiasko. Vielleicht versuchen wir es weiter, vielleicht nicht. Aber es ist bestimmt nieht Thomas Manns Schuld, daß ich bisher noch nicht den Gipfel seines Zauberbergs erreichen konnte.

»Hospice de Beaune«,
Fotografie von André Kertész, 1929.
Der große Roman, der sich uns widersetzt, ist nicht unbedingt schwieriger als irgendein anderer. Zwischen ihm, so groß er auch sein mag, und uns, durchaus fähig, ihn zu »verstehen«, wie wir meinen, findet eine bestimmte chemische Reaktion nicht statt. Eines Tages nähern wir uns dem Werk von Borges an, der uns bis dahin auf Abstand gehalten hat, aber das Werk Musils bleibt uns unser Leben lang fremd . . .

Dann haben wir die Wahl: Entweder denken wir, daß es unsere Schuld ist, daß uns ein paar graue Zellen fehlen, daß wir ein Stück unheilbare Dummheit in uns haben, oder wir bemühen den sehr umstrittenen Begriff Geschmack und ersuchen, uns über den unseren klarzuwerden.

Es ist klug, unseren Kindern die zweite Lösung zu empfehlen. Zumal diese das seltene Vergnügen bescheren kann, ein Buch noch einmal zu lesen und endlich zu verstehen, warum man es nicht mag. Und das seltene Vergnügen, ungerührt den Bildungsspießer vorn Dienst uns in den Ohren liegen zu hören:

»Wie kann man nur Stendhaaal nicht mögen?«

Man kann.

4. Das Recht, noch einmal zu lesen

Noch einmal lesen, was man beim erstenmal verworfen hat, noch einmal lesen, ohne Abschnitte zu überspringen, noch einmal unter einem anderen Aspekt zu lesen, zur Überprüfung noch einmal lesen, jawohl, all diese Rechte genehmigen wir uns.

Aber wir lesen vor allem zweckfrei, aus Spaß an der Wiederholung, aus Freude am Wieder?nden und um die Vertrautheit auf die Probe zu stellen. »Noch mal, noch mal«‚ sagte das Kind, das wir waren . . . Unser Wiederlesen als Erwachsene geht auf diesen Wunsch zurück: uns an etwas Beständigem zu erfreuen und es jedesmal wieder so reich an neuen Freuden zu finden.

5. Das Recht, irgendwas zu lesen

Beim Thema »Geschmack« leiden manche meiner Schüler erheblich, wenn sie vor dem Aufsatz der erzklassischen Frage sitzen: »Kann man von guten und schlechten Romanen sprechen?« Da sie unter ihrem Äußeren »ich mache keine Konzessionen« eigentlich ganz lieb sind, untersuchen sie das Problem, statt sich seinem literarischen Aspekt zu widmen, von einem ethischen Standpunkt aus und behandeln die Frage nur unter dem Gesichtspunkt der Freiheiten. Damit konnte die ganze Aufgabe mit folgender Formel beantwortet werden: »Nein, nein, man hat das Recht zu schreiben, was man will, und jeder Lesergeschmack ist naturgegeben, ist doch wahr!« Ja, ja, eine durchaus ehrenhafte Position.

Trotzdem gibt es gute und schlechte Romane. Man kann Namen nennen, man kann Beweise anführen.

»Verbotene Früchte«, Kupferstich nach einem Gemälde
von Auguste Toulmouche, 1865.
Bibliothèques des Arts Decoratifs, Paris.
Um es kurz zu machen, sagen wir in groben Zügen, daß es etwas gibt, was ich eine »industrielle Literatur« nennen würde, die sich damit begnügt, die gleichen Erzählformen endlos zu reproduzieren, Klischees vom Fließband ausspuckt, mit guten Gefühlen und großen Empfindungen handelt, auf jeden vom Tagesgeschehen gelieferten Anlaß aufspringt, um ein Gelegenheitsepos auszubrüten, »Marktanalysen« betreibt, um je nach »Konjunktur« ein bestimmtes »Produkt« zu schmieden, das eine bestimmte Kategorie von Lesern begeistern soll.

Das sind mit Sicherheit schlechte Romane.

Warum? Weil sie nicht auf schöpferisches Schreiben zurückgehen, sondern auf die Reproduktion vorgefertigter »Formen«, weil sie mit Vereinfachung (das heißt Lüge) operieren, während der Roman die Kunst der Wahrheit (das heißt der Komplexität) ist, weil sie unsere automatischen Reaktionen bedienen und damit unsere Neugier einschläfern, schließlich und hauptsächlich weil der Verfasser nicht darin zu finden ist noch die Realität, die er uns zu beschreiben vorgibt.

Kurz, eine »leseleichte« Literatur aus einer Gußform, die uns in eine Gußform bringen möchte.

Man darf nicht glauben, daß dieser Schwachsinn ein neues, mit der Industrialisierung des Buches aufgekommenes Phänomen ist. Keineswegs. Die Ausbeutung des Sensationellen, des übermäßig Witzigen, der billigen Erregung in Sätzen ohne Verfasser ist nicht erst von gestern. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Der Ritterroman hat sich in diesem Morast festgefahren, und lange nach ihm die Romantik. Da jedes Unglück zu etwas gut ist, hat uns die Reaktion auf diese vom Weg abgekommene Literatur zwei der schönsten Romane der Welt beschert: Don Quijote und Madame Bovary.

Es gibt also »gute« und »schlechte« Romane.

Meistens sind es letztere, denen wir zuerst über den Weg laufen.

Und wahrhaftig, als die Reihe an mir war, habe ich das »ganz toll« gefunden, wie ich mich erinnere. Ich hatte großes Glück: Man hat sich nicht über mich lustig gemacht, man hat nicht die Augen verdreht, hat mich nicht einen Schwachkopf genannt. Man hat einfach einige »gute« Romane in meiner Nähe herumliegen lassen und sich gehütet, mir die anderen zu verbieten.

Das war weise.

Eine Zeitlang lesen wir gute und schlechte Romane durcheinander. Wie wir auch nicht von einem Tag auf den andern unsere Kinderbücher aufgeben. Alles ver- mischt sich. Man hat Krieg und Frieden durch und stürzt sich wieder auf Abenteuerromane. Man wechselt von Frauen-Romanen (Geschichten von gutaussehenden Ärzten und edlen Krankenschwestern) zu Boris Pasternak und seinem Doktor Schiwago — auch er ein gutaussehender Arzt und Lara eine ach so edle Krankenschwester!

Und dann, eines Tages, trägt Pasternak den Sieg davon. Unmerklich treiben unsere Wünsche uns immer mehr zu den »Guten«. Wir suchen Schriftsteller, wir suchen Stile, Schluß mit den bloßen Spielkameraden, wir verlangen Lebensgefährten. Die Anekdote allein genügt nicht mehr. Der Moment ist da, wo wir vom Roman etwas anderes erwarten als die unmittelbare und ausschließliche Befriedigung unserer Empfindungen.

Rilke im Hotel Biron, Paris.
Rilke-Archiv, Gernsbach, Deutschland.
Eine der großen Freuden der »Pädagogen« ist es, zu erleben, wie ein Schüler — jede Art Lektüre ist erlaubt - von sich aus die Tür zur Bestsellerfabrik zuschlägt und hinaufsteigt, um beim Freund Balzac Luft zu schöpfen.

6. Das Recht auf Bovarysmus
(die buchstäblich übertragbare Krankheit, den Roman als Leben zu sehen)

Das ist, grob gesagt, der »Bovarysmus«‚ diese unmittelbare und ausschließliche Befriedigung unserer Empfindungen. Die Phantasie nimmt überhand, die Nerven vibrieren‚ das Herz rast, das Adrenalin spritzt hervor, die Identifikation funktioniert in alle Himmelsrichtungen, und das Gehirn hält (vorübergehend) ein alltägliches X für ein romanhaftes U . . .

Das ist unser aller ursprünglicher Zustand als Leser.

Himmlisch.

Aber einigermaßen erschreckend für den erwachsenen Beobachter, der sich meistens beeilt, dem jungen »Bovaryisten« ein »gutes Buch« vor der Nase herumzuschwenken und zu rufen:

»Na, hör mal, Maupassant ist doch wohl ›besser‹, oder?«

Ruhe . . .‚ nicht selbst in Bovarysmus verfallen, sich klarmachen, daß Emma schließlich auch nur eine Romanfigur war, das heißt das Produkt eines Determinismus, bei dem die von Gustave gesäten Ursachen nur die von Flaubert gewünschten Wirkungen erzeugten - so wahr sie auch sein mochten.

Anders ausgedrückt, nicht weil dieses junge Mädchen Lore-Romane sammelt, stirbt es daran, daß es Arsen mit dem Schöpflöffel einnimmt.

Ihr bei diesem Lektürestand etwas aufzuzwingen heißt, daß wir uns von ihr entfernen, indem wir unsere eigene Jugend verleugnen. Und es heißt, daß wir sie um das unvergleichliche Vergnügen bringen, morgen selbst die Stereotypen aufzuspüren, bei denen sie heute aus dem Häuschen zu geraten scheint.

Es ist weise, uns mit unserer Jugend zu versöhnen; den Jugendlichen, der wir waren, zu hassen, zu verachten, zu verleugnen oder auch bloß zu vergessen, ist in sich ein jugendliches Verhalten, eine Auffassung von Jugend als einer tödlichen Krankheit.

Deshalb ist es nötig, daß wir uns an unsere ersten beglückenden Gefühle als Leser erinnern und einen kleinen Altar für unseren damaligen Lesestoff errichten, auch für den »dümmsten«. Er spielt eine unschätzbare Rolle: Das, was wir waren, rührt uns, indem wir über das lachen, was uns rührte. Die Jungen und Mädchen, die mit uns zusammenleben, erfahren dadurch mit Sicherheit mehr Achtung und Zuneigung von uns.

Außerdem sollten wir uns klarmachen, daß der Bovarysmus mit die verbreitetste Sache der Welt ist: Wir spüren sie neuerdings immer beim anderen auf. Und während wir die Dummheit des Lesestoffs von Jugendlichen schlechtmachen, tragen wir gleichzeitig nicht selten zum Erfolg eines telegenen Schriftstellers bei, über den wir uns, sobald die Mode vorbei ist, lustig machen. Die literarischen Vorlieben erklären sich weitgehend aus unserem Wechsel zwischen aufgeklärter Schwärmerei und scharfsinniger Verteufelung.

Eine lesende Sklavin; fotografiert etwa 1856 in Aiken,
South Carolina, wahrscheinlich von J. A. Palmer.
 The New York Historical Society.
Wir sind nie die Dummen, immer bei klarem Verstand, und doch die ganze Zeit dabei, uns selbst hinterherzuhinken‚ immer und ewig davon überzeugt, daß Madame Bovary der oder die andere ist.

Emma war bestimmt der gleichen Überzeugung.

[…]

8. Das Recht herumzuschmökern

Ich schmökere, wir schmökern, lassen wir sie schmökern.

Damit geben wir uns die Erlaubnis, irgendein Buch aus unserem Regal zu ziehen, es irgendwo aufzuschlagen und uns einen Moment lang hineinzuvertiefen, weil wir eben nur diesen einen Moment Zeit haben. Manche Bücher, die aus einzelnen kurzen Texten bestehen, eignen sich besser zum Blättern als andere: die gesammelten Werke von Alphonse Allais oder von Woody Allen, die Erzählungen von Kafka oder von Saki, die Papiers collés von Georges Perros, der gute alte La Rochefoucauld und die meisten Dichter.

So kann man Proust, Shakespeare oder Raymond Chandlers Briefe irgendwo aufschlagen, hier und da ein bißchen lesen, ohne das geringste Risiko, enttäuscht zu werden.

Wenn man weder Zeit noch Geld hat, sich eine Woche Venedig zu leisten, warum sollte man sich nicht das Recht gönnen, fünf Minuten dort zu verbringen?

[…]

10. Das Recht zu schweigen

Der Mensch baut Häuser, weil er lebt, aber er schreibt Bücher, weil er weiß, daß er sterblich ist. Er wohnt im Rudel, weil er ein Herdentier ist, aber er liest, weil er weiß, daß er allein ist. Dieses Lesen ist für ihn ein Gefährte, der keinem anderen den Platz wegnimmt‚ der aber auch von keinem anderen ersetzt werden könnte. Es bietet ihm keine endgültige Erklärung seines Geschicks, webt aber ein Netz von Einverständnissen zwischen dem Leben und ihm. Winzig kleinen und geheimen Einverständnissen, die das paradoxe Glück zu leben selbst dann noch ausdrücken, wenn sie die tragische Absurdität des Lebens verdeutlichen. Demnach sind unsere Gründe zu lesen genauso seltsam wie unsere Gründe zu leben. Und niemand ist befugt, von uns über so etwas Vertrauliches Rechenschaft zu Verlangen.

Die wenigen Erwachsenen, die mir etwas zu lesen gegeben haben, sind immer hinter den Büchern zurückgetreten und haben sich gehütet, mich danach zu fragen, was ich verstanden hatte. Mit ihnen habe ich natürlich über die von mir gelesenen Bücher gesprochen. Lebendig oder tot — ihnen widme ich diese Seiten.

Quelle: Daniel Pennac: Wie ein Roman. [Übersetzt von Uli Aumüller]. Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2. Auflage 2006. ISBN 3-462-03390-5. Zitiert wurden die Seiten 165-186, 190-191, 197-198.


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